Das Cover kam, ich sah, und alle siegten. Ich musste nicht mal vorab in "Big Earth Energy" reinhören.
Beziehungsweise eben doch, aber - ich schwör's! - nur ganz knappe dreikommavier Sekunden und eigentlich auch nur, um sicherzustellen, nicht mit Reggae, Schrebergartenmetal oder tätowierten Karohemden-"Punk" für Bausparer zunächst über- und dann unterrascht zu werden. Über die Stilfrage hinaus musste ich mir indes keine Sorgen machen. Und ich kann meinen Leser*innen versichern, dass auch über ihren Köpfen nur die rosaroteste Wolke schweben wird, wenn diese Platte sich auf dem Plattenteller dreht.
Vielleicht ist die Wolke aber auch eher grünlich (pun intended) anstatt rosarot, denn "Big Earth Energy" ist...grün. Von oben nach unten, rechts nach links, Westen nach Osten, Norden nach Süden: grün. Es klingt grün, es riecht grün, es schmeckt grün, es fühlt sich grün an. Es ist grün. Was es außerdem ist: voller Leben, voller Wärme, voller Wunder, voller Kraft und voller Bilder.
Wir tauchen ein in einen tiefen, dichten, unberührten Urwald. Regenzeit. Über den Baumkronen räkeln sich Dunstfelder und wirken in den diffusen Sonnenstrahlen wie eine funkelnde Aura, eine Schutzschicht. Darunter tobt Leben, tausendfach, millionenfach. Eine Reizüberflutung aus Reflexen, Bewegungen, Intuitionen, Fluchtpunkten. Zur gleichen Zeit findet man in diesem tosenden Wirbel zur eigenen Mitte, spürt die Atmung, den Puls, den Herzschlag. Spürt den Boden unter den Füßen. Setzt vorsichtig einen Fuß vor den anderen, und entwickelt mit jedem Schritt diese fremde, mystische Welt von Neuem. Das Erleben ist unmittelbar.
Der Kalifornier Sean Hellfritsch hat mit "Big Earth Energy" die vergegenwärtigendste Musik der letzten Jahre erfunden. Zwischen New Age und progressiver elektronischer Musik der 1980er Jahre tänzeln warme, perlende Synthie-Arpeggios wie Glühwürmchen durch die Nacht und setzen mit den lebhaften perkussiven Elementen kristalline Akzente voller Verve und Seligkeit. Darüber breitet sich ein Vibe aus, der mit melancholisch nur unzureichend beschrieben ist - es ist eher ein Innehalten, die Wahrnehmung von Zwischentönen, ein Aufsaugen, eine Verdichtung der Existenz. Eine Art universeller "What a time to be alive!"-Moment zwischen Euphorie, Demut, Empathie und Pathos.
Das Universum sind wir.
Vinyl: Obwohl bei der Pressung offenbar GZ Media die Griffel im Spiel hatte, ist meine grüne Vinylversion tadellos. Das Cover-Artwork, ganz besonders in Verknüpfung mit der grünen Schallplatte gehört zum Schönsten, was ich seit "A State Of Becoming" von Lav und Purl gesehen habe. Bekommt einen Ehrenplatz in der Sammlung. Gebe ich nie wieder her. (+++++)
Die Beths waren DIE Entdeckung des letzten Jahres. Und vielleicht sogar noch mehr als das - ich kann mich kaum an eine andere Situation in den letzten zwanzig Jahren erinnern, bei der ich bereits beim Erstkontakt mit einer Band Feuer und Flamme war. Und for fuck's sake: das will bei mir altem und verbittertem Knallsack echt was heißen.
Und das kam so: an einem warmen Juniabend tat ich das, was zu meinen liebsten Freizeitbeschäftigungen zählt - ich goss mir eine warme Cola ein, öffnete eine schöne Flasche Pommes und stöberte nach neuen Platten. Die obligatorischen fünfundzwanzig Browser-Tabs geöffnet, vier Warenkörbe und neun Merkzettel im Anschlag, dazu lerne ich Band-Diskografien, Label-Kataloge und Presswerklisten auswendig. Ich bin praktisch Fluglotse für Schallplatten, und ich kann damit problemlos Stunden, Tage und Wochen verbringen. Ich habe eben nach wie vor die Verdrängungsleistung eines verkackten Öltankers.
So scrollte ich mich also gerade durch das Programm von anost.net, dem Mailorder und Sublabel von Morr Music (u.a. The Notwist und Deaf Center), generell eine exzellente Adresse für die Anschaffung experimenteller und abseitiger Musik, als ich von einem Cover beinahe magisch angezogen wurde. Es war "Future Me Hates Me" der Beths, ihr Debutalbum aus dem Jahr 2018. Ich hatte vorher noch nie von der Band gehört und meine in den frühen bis mittleren Nullern eingeübten Reflexe, wirklich jede "The"-Band zumindest mal gehört haben zu müssen, wurden in den vergangenen Jahren nun auch wirklich nicht weiter trainiert. Aus irgendeinem Grund musste ich hier nun aber unbedingt reinhören. Das Ergebnis: Es brauchte exakt bis zum ersten Chorus des Openers "Great No One", um die Platte in den Warenkorb zu legen. Das war ein Rekord. It really hit different.
Das Geheimnis, was The Beths auch auf ihrem neuen Album "Expert In A Dying Field" so außergewöhnlich macht, ist das beispiellose melodische Gespür von Songschreiberin/Sängerin/Gitarristin Elizabeth Stokes. Hier nur von einem "Händchen" zu sprechen, müsste fast als bodenlose Beleidigung gewertet werden: Stokes schreibt die Songs für die großen, kleinen, funkelnden, melancholischen Melodien in ihrem Bauch, die gleichzeitig sowohl introvertiert und beinahe schüchtern als auch voller Selbstvertrauen und Kraft sind. Und wie es scheint tut sie das am Fließband: es gibt auf den drei bislang erschienenen Studioalben keinen einzigen mediokren Moment, keine Note, die nicht in glitzernden Regenbogenfarben vibriert, keine Gesangsharmonie, die keine Gänsehautwellen über den Astralleib schickt.
Das sind Hymnen zwischen Power-Pop, Indierock und ganz zärtlich eingetreuten Punk-Elementen, wie in einem der Höhepunkte "Head In The Cloud" oder auch der Single "Knees Deep". Immer mitreißend, immer tief bewegend. Wer das Video des unten verlinkten Titeltracks anschaut und beim großen Finale mit den schönsten Gesangsharmonien der Welt, der musikalisch perfekt inszenierten aufreißenden Wolkendecke und den dazu passend feierlich arrangierten Bildern der Musiker:innen nicht vor Ergriffenheit zusammenklappt, hat ein Herz aus Stein. Dazu kommt ein wunderbar doppelbödiger Text, der auf der offensichtlichen Trägerwelle über ausgestorbene Berufe und verloren gegangene Fähigkeiten die versteckten Bilder über erkaltete Liebesbeziehungen schickt, dass sich also zwei Menschen über viele Jahre der Zweisamkeit und Partnerschaft so viel Wissen übereinander und über sich selbst angeeignet haben, das bei einer Trennung sich schlicht in Luft auflöst.
So erfrischend echt, sympathisch, frei von jeglichen Macho-Attitüden und aufgesetzter Härte - für mentale Pullunder-Träger wie meine Wenigkeit kann's kaum besser werden.
Vinyl: Keine Ahnung, woran das genau liegt, aber mir ist leider keine fehlerfrei Vinylpressungen ihrer Platten bekannt, und ich habe mittlerweile und immerhin: alle. Carpark scheint's mit der Qualitätskontrolle nicht ganz so eng zu sehen. Hi-Fi-Nerds müssen hier also manchmal sehr stark sein und mit Hintergrundgeraschel und einigen Knacksern leben. Alle anderen, die sich in erster Linie an der tollen Musik und der tollen Aufmachung ergötzen wollen, kommen erneut auf ihre Kosten: das aufklappbare und farbenfrohe Coverartwork mit Prägedruck sowie die Platte in...äh...Kanariengelb sind einfach sensationell gestaltet und fügen der Hörerfahrung eine ganze Menge Spaß zu. Da sind mir die paar Knackser ehrlich gesagt fast schon egal - zumal ich es wenigstens bei meinem Exemplar nicht als überdurchschnittlich störend empfinde. Insgesamt also ambivalent, aber noch knapp erträglich. (++-)
Ich habe gelernt, dass "cringe" Jugendsprache ist, und da sich sowohl Körper als auch Geist von Yours Truly nicht nach Jugend, sondern eher nach einem seit 100 Jahren in der schimmligen Ecke eines feuchten Kellers in Rodgau-Jügesheim vergessenen Sacks alter Wäsche anfühlen, erlaube ich mir die Verwendung des guten deutschen Schrebergartenworts "PEINLICH", um das zu beschreiben, was gleich kommt: ein Pamphlet! Ein Pamphlet gegen...weiß ich noch nicht. Keine Ahnung. Aber wir machen das jetzt wie alle anderen Vollidioten auch: wir entwickeln das jetzt gemeinsam.
Ich habe erwiesenermaßen von praktisch Nichts eine Ahnung. Ich könnte den Kanisterkopp Joe Rogan und seine Selbsteinschätzung zitieren und sagen "I'm just an idiot who occasionally remembers things." und läge damit auch für meinereiner nicht so irre falsch, wenn ich nicht mittlerweile auch immer häufiger alles vergäße...das Alter, das Leben, die Menschen, es ist einfach zum Heulen. Ich habe im Prinzip auch keine Ahnung von elektronischer Musik. Ich mag sie und ich höre sie, aber ich bin ganze Universen von irgendeiner "Szene" entfernt, habe von Geschichte und Entstehungsprozess fast keinen sitzen, bei "Clubkultur" denke ich an den bevorzugten, äh, FKK-Saunaclub oder irgendein Mate-Gesöff, das sich gegeelte Marketingfuzzis ausgedacht haben und, und das Schicksal teilt sie sich mit der guten alten Rockmusik, ich habe ganz oft keinerlei Interesse am alten Kanon, diesem Gewese von "Das MUSS man kennen!!!einself" und "Ohne diese Platte gäbe es keine [hier bitte Band, Genre, Unterhosenmarke einfügen]!". Ich lebe beispielsweise in einem Haushalt, der, und das sage ich durchaus mit einem kleinen Anflug von Stolz, frei von Beatles-, Hendrix-, Dylan- und Beach Boys-Platten ist. Ich kenne auch keine einzige Kraftwerk-LP. Es ist sicherlich nicht über Gebühr originell, den alten Hildebrandt-Spruch über die Fliegen und die Exkremente aus der Mottenkiste zu zerren, auch und vor allem dann nicht, wenn die Nirvana-Sammlung beinahe den kompletten Westflügel meines Anwesens einnimmt, aber ich finde, es ist speziell in solchen Fällen globaler Unterwürfigkeit gegenüber den heiligen Kühen immer vorteilhaft, einen angemessenen Sicherheitsabstand einzuhalten. Lassen Sie es mich auf den einzig gültigen, echten, wahren Punkt bringen: im Prinzip ist alles, was in den Top 50 Listen des Rolling Stone auftaucht, vollumfänglich und aus tiefstem Herzen abzulehnen.
"Shush! Shush! Listen, I don't care." (Ricky Gervais)
So, und jetzt kommt's: dass da draußen immer noch dieser unsägliche, alte Scheiß gehört wird, aber einer wie Felix Laband, einer der originellsten und kreativsten Durchgeknallten, nur einer überschaubaren Gruppe bekannt zu sein scheint, ist doch ein Treppenwitz?! Und andererseits ist's eben komplett und total glasklar: wer aus der Reihe tanzt, hat keine Chance. "Das war doch schon immer so?!" (Friedrich "Fotzenfritz" Merz)
Laband veröffentlicht seit fast 25 Jahren Musik, seit 2004 gar exklusiv auf dem Münchner Label Compost, und nicht nur ist seine Kunst sehr partikular, auch nimmt er sich immer viel Zeit für ein neues Abum. Seit dem mittlerweile als kleinen Klassiker gehandelten "Dark Days Exit" aus dem Jahr 2004 erschienen bis 2022 gerade mal zwei weitere Werke des Südafrikaners.
Ich bin hocherfreut zu berichten, dass seine Musik selbst 2022 noch immer so ambivalent, herausfordernd, träumerisch, brütend und von strahlender Ästhetik durchzogen ist wie eh und je. Möglicherweise hat er nach dem manchmal krawalligen und oftmals bedrückenden "Deaf Safari" ein paar Gänge heruntergeschaltet, was sowohl die Verwendung als auch die Inhalte von obskuren und verwirrenden Sprachsamples betrifft (auch wenn sie nach wie vor integraler Bestandteil seines Sounds sind), aber auch "The Soft White Hand" ist so erzählerisch wie visionär wie seine Vorgänger. Laband verbindet Einflüsse aus dem House, Jazz, Ambient, Downtempo und IDM mit der melodischen Aura klassischer Musik und strickt daraus etwas völlig Einzigartiges, eine spleenige Melange aus futuristischer Clubmusik und nostalgischer Poesie, zwischen naiver, unberührter Schönheit und eskalierenden Momenten großer Verletzlichkeit. Sehnsuchtsvolle Spieluhrensounds, die Kindheitserinnerungen wecken und wie ein Wundpflaster für die Verletzungen der Adoleszenz wirken, staubige Beats und jazzige Vibes für die gegenwärtige Introspektion, Reminiszenzen an verdrogte, durchgetanzte Sommernächte, an Abstürze, Momente großer Erregung, Momente des Rausches. Über all dem schweben Labands Werte, seine Gedanken, seine Politik, unausgesprochen und doch stets präsent:
“I have sampled a lot from documentaries from the 80s crack epidemic in impoverished African American communities and believe my work speaks unapologetically for the lost and marginalised, for those who are the forgotten casualties of the war on drugs. In the past, I have had my issues with substance abuse, and I know first-hand about the nightmares and fears, what it feels like to be isolated and abandoned.”
"The Soft White Hand" ist ein Gefühlswesen.
Vinyl: Die Doppel-LP auf schwarzem Vinyl (hier gibt's keine Extravaganzen) im Gatefold-Cover kommt mit Labands Signature-Collagen Artwork mit Downloadcode, und die Pressung ist vollkommen fehlerfrei. Uneingeschränkte Empfehlung. (+++++)
Alles auf Anfang. Wir lassen den Plüsch hinter uns, das Seifige, den Weichzeichner. Es wird kalt. Denn Kälte macht wach, sagt man. Wir sind aufmerksam und hochkonzentriert.
Eintauchen.
Es ist karg und unwirtlich hier. Was sich im Weitwinkel als diffus zerklüftete Struktur darstellt, in großer Ferne und damit beinahe unerreichbar, entwickelt sich beim Blick durch das Elektronenmikroskop plötzlich zu einem komplexen Muster mit diffiziler Mechanik. Selbst der Weg dorthin, also jeder Schritt der Verdichtung und Fokussierung, verändert das Gebilde. Es lebt. Es lebt in den tieferen Schichten, auf molekularer Ebene. Im Land der Riesen ist es gleichbedeutend mit dem Zwielicht, dem Verborgenen und Unbekannten - aber welche Arroganz ist es, dieser usprünglichsten und klarsten Form der Existenz den Zweifel des Obskuren zu verleihen?
Es ist kathartisch, Teil dieses Nanokosmos zu werden, weil die Vertiefung jeden Raum, jede Zeit und jedes Leben zum Erlischen zwingt. Man spürt, das ist die Stunde Null. Der Autor Roger Willemsen schrieb in seinem Buch "Die Enden der Welt" über ebenjene, dass sie sich anfühlten, als betrachte man die Landschaft nicht frontal, sondern eher über die Rückseite einer Landschaftsstickerei. "Struktura Revisited" vermittelt ein ähnliches Empfinden, nur dass der Blick auf einen winzigen Partikel eines einzelnen Fadens dieser Stickerei fokussiert ist. Das Bewusstsein, Teil eines größeren Ganzen zu sein, ist allerhöchstens noch zu einer Ahnung geschrumpft - und doch ist die Erfahrung existenziell. Als höre man dem Urknall in Zeitlupe zu.
Olga Wojciechowska veröffentlichte "Struktura" im Jahr 2015 unter ihrem Alias Strië auf dem Label Serein in kleiner Auflage exklusiv auf CD. "Struktura" wurde inspiriert von moderner Malerei des 20.Jahrhunderts; so teilt jeder Track seinen Namen mit einem abstrakten Kunstwerk aus jener Epoche. Strië möchte es dem Hörer erlauben, die Musik frei von jedem begleitenden Narrativ zu erfahren, selbstständig zu entdecken und zu interpretieren.
"There is pleasure to be found in viewing or hearing something without a definite narrative, allowing the mind to wander and find its own meaning."
Ryan von A Strangely Isolated Place hat für "Stuktura Revisited" nun Strië und Scanner an einen Tisch gebracht. Scanner ist der Alias von Robin Rimbaud, einem Londoner Produzenten und Multimediakünstler, der seit den 1990er Jahren für einige Meilensteine der elektronischen Musik gesorgt hat. Scanner interpretiert "Struktura" für dieses Projekt an einem Stück im Rahmen eines Live-Settings ohne nachträglich hinzugefügte Overdubs. Der Ansatz verleiht seiner Aufnahme einen unmittelbaren Charakter. Nicht nur erlaubt er neue Perspektiven auf "Struktura", in dem er dessen endlos erscheinende Tiefe auffächert und kinematographisch verbreitert - er fügt der ohnehin bereits beträchtlichen Abstraktion des Originals klandestine, bisweilen dystopische Ebenen hinzu. "Struktura Revisited" flechtet mit seiner Exegese damit ein unheilvolleres, zu gleichen Teilen morbideres wie nervöseres Bild.
Nach der Struktur kommt die Unordnung.
Vinyl: Neben der Musik von Strie und Scanner ist das atemberaubende Coverartwork des niederländischen Künstlers Rep Ringel eine fundamentale Komponente des Gesamtwerks. Rep kreierte seine Kunst zunächst auf sehr großen Leinwänden. Im Laufe der Zeit begann er damit, die Bilder für ein Artbook zu fotografieren, das er exklusiv an seine Kunden verteilte, die eines seiner Werke kauften. In diesem Prozess fiel ihm auf, wie viele neue Perspektiven sich eröffnen, wenn er sehr weit in seine Bilder hineinfokussiert. Eines der Ergebnisse sehen wir auf dem Cover von "Struktura Revisited" und ich hoffe inständig, die Parallelen zwischen der Musik und dem Artwork im obigen Text wenigstens in Ansätzen erfolgreich herausgearbeitet zu haben. Die Platten selbst sind in ihrer grau-schwarzen "Halb und Halb"-Optik ein wichtiger Teil des konzeptionellen Designs. Die Pressung meines Exemplars ist trotz der etwas anfälligen Gestaltung einwandfrei. Darüber hinaus, und wie immer bei ASIP: gefütterte Inlays, Bandcamp-Downloadcode, Album-Flyer. (+++++)
Ab und an muss ich mich ein wenig hüten, nicht gleich ganze Spermatsunamis über so manche Platte schwappen zu lassen - und was sagt es bitte über mich aus, zu glauben, das sei eine gute, angemessene Formulierung, hm? Frag' ich Sie! Zwar habe ich keinerlei Interesse am professionellen und damit emotionslosen "Loggerpeder" (Matthäus) -Schongang, und es so deutlich auszusprechen ist angesichts der letzten...*checks notes*..., uff: 16 Jahre auf diesem Blog, als trage man einen Satz Lobotomiebesteck in die AFD-Parteizentrale, aber der erste und vielleicht einzige Grundsatz, den ich im Jahr 2007 wie Melchior auf den Türrahmen des virtuellen Eingangs zu meinen 3,40qm kritzelte, lautet immer noch, immer nur über das zu schreiben, was mich (unsittlich, im besten Sinne) berührt, inspiriert, bereichert und eskalieren lässt. Und dann gibt's eben Jubelarien in fast jedem Posting. Die folgende Ausgabe einer solchen beginnt mit der Feststellung, eine höhere Platzierung in meiner Jahresbestenliste wäre "unter strengen Maßstäben" (Dr. Wolfgang "Briefumschlag" Schäuble) für das zweite Album von Wardown durchaus zu rechtfertigen gewesen.
Achtung, jetzt:
Eine höhere Platzierung in meiner Jahresbestenliste wäre für das zweite Album von Wardown durchaus zu rechtfertigen gewesen ("unter strengen Maßstäben", Dr.Wollo "Opfer" Schäuble). Diesen Satz bitte gleich wieder vergessen, denn er wird für die nächsten Minuten das letzte professionelle Musikredaktionsgequalle gewesen sein, das die Netzhaut meiner allerschönsten Leser:innen bestrahlt.
Vielleicht wird es erst in ein paar Jahren ins kollektive Langzeitgedächtnis der Elektrofummler hineingelasert, wie wichtig und innovativ die Arbeiten von Pete Rogers zu Beginn der zwanziger Jahre waren. Sein Debut "Wardown" erzählte in einer Zurückführung an den Ort seiner Kindheit von Sehnsucht und Nostalgie, die er mit all jener Ambivalenz herausarbeitete, die aus dem Gefühl warmer Intimität und kühler Distanz entstehen muss - und entwarf so mit einigen Zaubergriffen ein Werk, das das eigene Sentimentalitätszentrum in eine universelle Schwingung versetzte. Mit dem Nachfolger "Wardown II" ist ihm im Grunde ähnliches gelungen, nur kommt Rogers dieses Mal aus der Zukunft.
"Wardown II" reist zurück in eine Zeit, die heute als die optimistischste in Bezug auf unsere Zukunft gesehen wird. Die 50er und 60er Jahre des letzten Jahrhunderts waren randvoll mit der Fazination einer besseren Zukunft, einem besseren Leben für alle. Fantastische Ideen, Utopien, Träume kulminierten in erstaunlich konkret gefasste Vorstellungen und sogar Zeitpläne über den technischen Fortschritt. Visionen von kompletter und in jeden Lebensbereich einziehender Automatisierung, der Einsatz von Robotern und fliegenden Autos waren das eine. Das andere, dass die Lust an der eigenen Berauschtheit angesichts eines solchen herbeigewünschten oder -halluzinierten Fortschritts, sowohl die bereits damals bekannten Probleme als auch jene der Zukunft - und deren Verstärkung - so vollständig ausblenden konnte.
Rogers hat den naiven Optimismus aus jener Zeit zum zentralen Element des Albums gemacht, und er gibt seinen Songs jeden Raum, ihre Geschichten zu erzählen. Rein stilistisch hat sich dabei im Vergleich zum Debut nicht irrsinnig viel getan, die grob formulierte und extrasanft umgesetzte Mischung aus Ambient-Tiefe und Drum'n'Bass und Jungle-Geflacker hat auch auf "Wardown II" nichts von seinem Reiz eingebüßt und wird mit Spoken Word-Passagen aus damaligen Werbe- und Wissenschaftssendungen zusätzlich für das angereichert, was die größte Kompetenz des Albums ist: sein Storytelling. Wie aus jeder Note und jeder Persepktive sowohl Hoffnung und Erwartung wie auch Wehmut und Nostalgie entstehen. Wie sich dabei jeder Erzählstrang wie eine Doppelhelix um die innersten Motive herumwickelt. Wie seine Sounds Farben und Designs entstehen lassen, ganze Gebilde und Architekturen, die wir im kulturellen Bewusstsein als "DIE ZUKUNFT" abgespeichert zu haben scheinen.
"Wardown II" schaut zurück in die Zukunft. Voller Sehnsucht. Voller Traurigkeit. Mit besinnungsloser Hoffnung.
Vinyl: Nicht nur tadellos und ohne einen einigen Kratzer gepresst, sondern bereits wie beim Debut mit bestechender Dynamik und Tiefe. Ein durch und durch begeisternder Klang. Bestens mit dem Thema des Albums harmonierendes Artwork, dazu vier Drucke mit Zitaten aus dem Albumkontext. Die Platten stecken leider in dünnen, ungefütterten Papierhüllen. (++++)
Die passenden Worte über Tocotronic zu finden gehört mittlerweile zu den schwierigeren Aufgaben des Lebens, egal, ob das auf diesem Blog passiert oder in der oft so furchtbaren "Realität", so mit echt erbrochenen gesprochenen Worten. Maximale Ambivalenz auf der einen, und tiefste, aufrichtigste Zuneigung auf der anderen Seite sind nicht so irre leicht zu vermitteln. Und da geht's nämlich schon los, denn Zuneigung ist das eigentlich nicht zwischen mir und dieser Band. Es ist ja alles viel ernster.
Ich habe viele, viele Jahre gebraucht, um eine Art Nähe zwischen Tocotronic und mir zuzulassen. Ihr Album "Kapitulation" aus dem Jahr 2007 umkreiste ich über Tage und Wochen, bis ich mich hin- und ergeben musste. Bis dahin war es eine Undenkbarkeit, eine ihrer Platten zu hören, ohne einen Tobsuchtanfall zu bekommen. Und, Riesenüberraschung: da war die Sache mit den richtigen Worten total einfach; Nullen und Einsen. Und Tocotronic waren zu jener Zeit ganz sicher immer die Nullen. Heute weiß ich: ich hatte sie nicht verstanden. Und, das sei zu meiner verzweifelt herausgeplärrten Entschuldigung noch schnell gesagt, aus der Ferne ist das auch beinahe unmöglich. Wer lediglich aus den ignoranten 20000 Fuß auf ihre Musik und ihren Duktus schaut, wird nur schwer die Risse und Brüche finden, die eine Schwingung auslösen können, die widerhallen, den eigenen bewohnten Raum befallen und die eigene belebte Zeit ausfüllen. Selbst als ich wegen "Kapitulation" förmlich dazu gezwungen wurde, tiefer zu gehen, hatte ich im Grunde nur eine ungefähre Ahnung davon, was und wie die das alles meinen. Eigentlich, und es ist fast ein bisschen peinlich, dass es SO FUCKING LANGE dauerte, habe ich das erst mit dem letzten Album "Die Unendlichkeit" geschnallt. Das sind Verweigerer. Totale Verweigerer.
Ich spüre Liebe.
Sänger Dirk von Lowtzow hat ihren Kreuzzug gegen den Optimierungswahn in einem Interview mit der taz wie folgt erklärt:
„Es ist in Vergessenheit geraten, dass es einmal eine künstlerische Strategie gab, nichts zu tun. Und die möchten wir formulieren als Antithese zu diesem Leistungsimperativ, der neuerdings in dieser Gesellschaft herrscht. Das Unproduktive wird unterschätzt.“
Tocotronic machen Musik gegen die Kultur der Highperformer. Oder insgesamt: der Performer. Vor ein paar Jahren sangen sie "Im Zweifel für den Zweifel":
Im Zweifel für den Zweifel
Das Zaudern und den Zorn
Im Zweifel fürs Zerreißen
Der eigenen Uniform
Im Zweifel für Verzärtelung
Und für meinen Knacks
Für die äußerste Zerbrechlichkeit
Für einen Willen wie aus Wachs
Im Zweifel für die Zwitterwesen
Aus weit entfernten Sphären
Im Zweifel fürs Erzittern
Beim Anblick der Chimären
Und in "Luft" lautet der erste Vers:
Die Luft ist so nutzlos um mich herum
So schön, vergeht jetzt ein Millennium
Ja, ich habe heute nichts gemacht
Ja, meine Arbeit ist vollbracht
Ich atme nur
Ich atme nur
Ich atme nur
Ich atme nur
Tocotronic machen Musik für mich. Mit all den Rissen und Brüchen. Den Zweifeln, der inneren Zerrissenheit. Der Ausweglosigkeit. Der Ohnmacht. Musik über Rückzug. Über Aufgabe. Kapitulation.
Man sagt das ja oft so leicht dahin, wenn man sagt "Das ist genau meine Welt!", vielleicht noch ein bisschen mit...hUmOr und Zwinkersmiley und haha und hihi. Hier und jetzt gibt's aber mal ausnahmsweise keinen Humor. Und leicht ist es auch nicht, nichts ist leicht, niemals. Mir fällt es manchmal nicht mal leicht, aufs Klo zu gehen, also bitte! Achtung, jetzt kommt's: Das ist genau meine Welt.
"Nie Wieder Krieg" führt diese Linie fort, als Album und Song. Sie singen über die Trostlosigkeit des Lebens in Gestalt einer Tiefkühlpizza, über diffus wahrgenommene Freiheitsmomente im Flug mit den Vögeln durch das nächtliche Berlin. Der Krieg mit sich selbst. Das dauernde Ankämpfen. Sehnsüchtige Selbstmordgedanken, die in einem Kinderlied verwoben sind. Jedes Wort verschlüsselt und mit doppeltem Boden eingepasst. In dem ehrfürchtigen "Ich Tauche Auf" mit Anja Plaschg (Soap & Skin), der ersten Kooperation der Band in ihrer über dreißig Jahre andauernden Karriere, bleibt am Ende ein diffuses Bauchgefühl aus dreizehn labbrigen Ideen und siebenunddreißig Fragezeichen übrig - um was geht es denn hier? Eine verbotene Liebe? Eine vergessene Liebe? Gar keine Liebe? Heringssalat aus der Dose? Dirk von Lowtzow meint, er wolle uns nicht mit "Gefühlsquark" belästigen, und wenn er's schon nicht tut, dann muss ich jetzt wohl ran: als sowohl Single als auch Video an einem herbstlichen Morgen im Oktober des Jahres 2021 erstmals auf Youtube auftaucht (sic!), schmeckte der Morgenkaffee plötzlich deutlich salziger als sonst.
Musikalisch bewegt sich die Band weitgehend im Raum ihrer letzten Arbeiten, und das beinhaltet ausdrücklich auch jene Ambivalenz, die sich stets in ihrem Songwriting finden lässt. Vom zärtlichen Feedbackgefiepe im typischen Uptempo-Kopfnicker "Komm Mit In Meine Freie Welt", oder der hübsch aufstampfenden Single "Jugend Ohne Gott Gegen Faschismus" über, Pardon - aber ich kann nicht anders: vertonter Trucker-Romantik in "Crash" und einem swingendem "Ilona-Christen-moderiert-eine-Benefiz-Gala-im-ZDF"-Vibe im abschließenden "Liebe", bis zu klassisch-elegischem wie "Nachtflug" und komplett reduzierten Balladen ("Ich Tauche Auf"), gibt es die volle Bandbreite Tocotronics. Und das schließt kurioserweise mit ein, dass es eigentlich immer noch nicht so richtig klar ist, was das hier eigentlich alles soll, so insgesamt. Dilettantisch ist es nicht, ganz im Gegenteil - ihre Produktionen sind fast schon volkstümlich anschmiegsam. Seriös und aufgeräumt ist es aber auch nicht, da grätscht die kindliche Begeisterung und Albernheit die Standbeine weg.
Sind's Schlager für Depressive? Für Melancholiker? Für Verweigerer? Protestierer?
Jeder Mensch kennt die Antwort.
Vinyl: Von vorne bis hinten perfekt gepresste, dicke schwarze Scheiben auf 45rpm. Tolles, glossy Gatefold-Cover. Wie es schon bei "Die Unendlichkeit" der Fall war, ist es aus klanglicher und haptischer Sicht ein echtes Erlebnis, "Nie Wieder Krieg" auf Vinyl zu hören. (+++++)
An einer anderen Stelle in diesem Internet schrub ich zur Veröffentlichung von "An Hour Before It's Dark" im März 2022:
"An album that feels like four warm blankets, 12 hot-water bottles, 38 umbrella heaters, 97 gallons of hot chocolate and 239 baking trays of fresh and warm apple pie all at once."
und zugegebenermaßen schrub ich im gleichen Atemzug, es schon im März mit der Platte des Jahres zu tun zu haben - und jetzt sind wir auf Platz 15. "Da sind wir jetzt ganz schön angeschissen, hm?!" (Hagen Rether, Zitat ähnlich)
Wo ich mich im Kontext von "Uff, Rockmusik!" normalerweise vollkotzen müsste, so warm, weich, flauschig und reibungslos sich das Flagschiff britischen Progressive Rocks durch die knapp 55 Minuten neuer Musik mäandert, so beeindruckt bin ich immer wieder aufs Neue von dieser Band - und ironischerweise nicht zuletzt aus den gleichen Gründen. In den außergewöhnlichen Momenten ihrer Karriere kann ihnen, so verraten es mir meine Aufzeichnungen auch noch im Jahr 2023, immer noch nichts und niemand das Wasser reichen. Solche Momente sind auf ihrem 18.Studioalbum im direkten Vergleich mit dem Vorgänger "FEAR" ein Spürchen dünner gesät, denn auch für diese Götter ist irgendwann mal sechste Stunde. Dennoch zählt "An Hour Before It's Dark" zu ihren besten Alben, an manchen Tagen sogar zu den besten fünf.
Dabei ist das Grundgerüst mit "FEAR" durchaus vergleichbar. Das sehr wahrscheinlich kommerziell erfolgreichste Werk seit ihren goldenen Jahren in den 1980ern ist der konzeptionelle Fixpunkt: drei in mehrere Abschnitte aufgeteilte Longtracks, ein eklatantes Zugeständnis an Shitify und ein volleres Bandkonto (und zumindest letzteres sei ihnen gegönnt, just for the record), zwei leichter zu verdauende und also kürzere Standards - und weil vielleicht noch das ein oder andere Schippchen Erfolg draufgepackt werden sollte, mit "Murder Machines" eine ungewöhnlich offenherzig auf den Mainstream zugeschnittene Singleauskopplung, deren von trivialer Metaphorik durchzogener Text vor allem bei der Herzallerliebsten einen lange ausgehaltenen Seufzer der Misbilligung auslöst. Aber auch darüber hinaus scheint mir "An Hour Before It's Dark" von jedem überflüssigen Ballast befreit und mit unkomplizierter Eingängigkeit beschenkt worden zu sein. Die Band erlaubt sich selbst in den drei Longtracks keine einzige Sekunde Leerlauf, sondern vertieft ihre Themen mit rigoroser Hochverdichtung. Die 55 Minuten vergehen wie im Flug - und während das eine große Qualität dieser Platte ist, bleibt folgerichtig jene Komplexität auf der Strecke, die für gewöhnlich für die ungebrochene Lust an der Auseinandersetzung mit ihrer Musik verantwortlich ist. "An Hour Before It's Dark" ist vergleichsweise schnell entschlüsselt.
Auch textlich gibt es wenig Raum für Interpretation und angesichts der drei großen Themen dieses Albums mag man beinahe ein "glücklicherweise" in dem Satz verbauen: der Klimawandel, unser außer Kontrolle geratenes Konsumverhalten und natürlich das Virus, das seit dem Frühjahr 2020 die Welt verändert hat, sind nicht nur Themen von schneidender Relevanz, sie sind inhaltlich auch miteinander verbunden, haben Abhängigkeiten, gemeinsame Wahrheiten und Ursachen. Sie bilden den roten Faden, der sich mit Ausnahme des Tributs an Leonard Cohen in "The Crow & The Nightingale" (am Wegesrand: STEVE FUCKING ROTHERY!) durch jeden Song zieht und sich im abschließenden "Care" möglicherweise zu einer Zusammenführung der einzelnen Erzählstränge bündelt. Sänger Steve Hogarth sagt über "Care":
"Care is really a reflection on our mortality. No one knows how much time they’ve got left. None of us do. The middle section of the song (ii An Hour Before it’s Dark, and iii. Every Cell) represents someone reconciling themselves to dying, treasuring his sacred memories and acknowledging and being grateful to those who have loved him and those he loves. The third section represents the journey out of life but is also a thank you to the healthcare professionals who dedicate their lives and sometimes give their lives in the cause of caring for others. The angels in this world are not rendered in bronze or stone. They are working while we’re all sleeping. They’re caring."
Das Gekrähe aus Boomerhausen, man möge doch bitte von derlei Ernsthaftigkeiten verschont bleiben, wenn man sich mal unbeschwert von Musik berieseln lassen möchte, ist natürlich die perfekte Rechtfertigung dafür, sich mit solchen Realitäten auch und ganz besonders in der Kultur auseinanderzusetzen. Offenbar haben vor allem die früheren Generationen (inklusive meiner eigenen) den Schuss noch nicht so ganz deutlich gehört, und die dort ausgelösten Reflexe, von all dem Übel doch bitte unbehelligt bleiben zu wollen, wenn der schwere Rote im Glas und das schwere Weiße im Ohrensessel herumgeleetiert, sind nur ein weiterer Ausdruck grotesker Hilflosigkeit und Ignoranz.
Ich muss an dieser Stelle zugeben, kein zweites oder in der Wirkung neues "FEAR" erwartet zu haben. Die Band schreibt in meiner Realität ein Mal pro Jahrzehnt einen unantastbaren Meilenstein: das Debut "Script For A Jester's Tear" in den achtziger Jahren, "Afraid Of Sunlight" in den Neunzigern, "Marbles" in den Nullern und eben "FEAR" in der vergangenen Dekade - und ich rechnete wirklich nicht damit, dass sie bereits mit dessen Nachfolger diese Serie fortsetzen werden. Aber die Zwanziger werden ja voraussichtlich noch ein paar Jährchen andauern, und ich habe keinerlei Zweifel an der nach wie vor ungebrochenen kreativen Kraft der besten Band der Welt. There, I said it!
Bis dahin ist "An Hour Before It's Dark" ein erstklassiges und hochkonzentriert inszeniertes (Progressive) Rock-Album, das sich in etwa im selben Qualitäts-Stockwerk mit "Anoraknophobia" aufhält - und wer sich noch daran erinnert, wie sehr ich die Platte aus dem Jahr 2001 schätze, wird mein Urteil ziemlich akkurat einordnen können.
Vinyl: Ihre Standardpressungen sind fast nie komplett frei von Problemen, und so ist es auch mit meiner schwarzen Vinylversion, immerhin von Optimal. Nichts wirklich Schwerwiegendes, aber eben auch nicht frei von Knacksern und kleineren Störgeräuschen. In meiner Welt reicht das nicht aus, um vor einer Anschaffung Abstand zu nehmen. Bedruckte und ungefütterte Innenhüllen, Gatefold-Cover und ein fabelhaftes Artwork. Das in einigen Rezensionen anzutreffende Gerede vom angemuffelten Sound der Aufnahmen scheint mir eher ein Reflex von mittelalterlichen Dudes zu sein, die mit der frisch gewichsten Spitze ihres Pimmels uns allen mal unbedingt aufschreiben wollen, was sie sich für eine ULTRAGEILES UND ULTRATEURES Equipment leisten können. Die mit der Renaissance des Vinyls parallel verlaufende Erfolgswelle für Hi-Fi-Equipment ist ein ärgerlicher Kollateralschaden.
Was auf Sean Careys "Hundred Acres" aus dem Jahr 2018 zunächst auf dem Cover-Artwork, später in seiner Musik ein nachglühender Sommertag im August war, ein Naturbild voller Leben, mit dem ausströmenden Duft einer Blumenwiese, dem leisen Plätschern eines Bachlaufs, zirpenden Grillen und zwitschernden Vögeln, ist auf "Break Me Open" eine kalte, tiefe Winternacht. Ein eisig schneidender Wind, der einem durch gleich drei Paar Wollsocken pfeift und dabei das Herz schockfrostet. Und wenn Sie noch mehr metaphorische Allerweltsbilder und Beobachtungen aus der Kategorie "Primark-Unterhosenset, handgebatikt & mundgeblasen" benötigen, rufen Sie mich einfach an.
In den vier Jahren seit "Hundred Acres" musste Carey miterleben, wie seine Ehe zerbrach und sein Vater starb. Roger Willemsen schrieb einige Jahre vor seinem viel zu frühen Tod den Bestseller "Der Knacks", eine Auseinandersetzung mit dem einen Atemzug, "ab dem nichts mehr so sein sollte, wie es mal war". Dieser feine Riss im Leben, von dem man in genau jenem Moment weiß, dass er sich nicht mehr schließen, sondern weiter ausbreiten und in der Fläche verzweigen wird. "Break Me Open" ist nicht nur durch die Parallele im Titel die musikalische Aufarbeitung eines solchen Risses, es ist mehr noch eine Nachverfolgung, sowohl eine Suche nach den Ursachen, als auch eine Ahnung, in welche Ecken und Räume er sich noch ausbreiten wird. Am Eindrücklichsten zeigt sich diese Vertiefung in die an seine Kinder gerichteten Textzeilen wie
If I ever lost you
I'd throw myself into the deepest riverbend
And pray that I might find you
In places that I don't even believe in
des Openers "Dark", der musikalisch nach einem dürren, desolaten Beginn in ein kräftig stampfendes Crescendo mit Bläsern und üppigen Syntiewallungen kippt, als sei es die doppelt unterstrichene Versicherung sich selbst gegenüber, eine Vergegenwärtigung der eigenen Moral, wie ein Echtheitszertifikat.
Nun bin ich üblicherweise mit einer gesunden Ambivalenz für einen solchen Sound einerseits und jene über-emotionalen Inhalte andererseits ausgestattet. Es finden traditionell nur wenige Platten mit einer derartigen Ausrichtung den Weg in die Sammlung, und noch viel weniger den Weg auf diesen Blog. Mir erscheint das all zu zu oft als volkstümliche Unterhaltung, als eine klebrige Befindlichkeitssoße, kalkuliert, redundant, glatt und ranschmeißerisch. Ich möchte damit eigentlich nichts zu tun haben. "Break Me Open" von all jenem Pathos freizusprechen, wäre auf den ersten Blick unpassend; besonders die hymnischen, opulenten Momente tragen bisweilen eine dicke Gefühlswatte auf. Die Grundsubstanz indes ist bei näherer Betrachtung zierlich und fragil, und manches Arrangement scheint sich nur mit letzter Kraft auf den Beinen halten zu können. Das spärlich instrumentierte "Waking Up" begleitet Careys Lyrik nur mit einer getupften Pianomelodie, die zudem so intim aufgenommen wurde, dass sogar das Treten der Pedale des Instruments zu hören sind.
Well, I'm waking up
Just a shell of who I was
But I want to shake you
It's me, it's me, it's me
Carey sagt , "Break Me Open" sein kein "Scheidungsalbum". Es handele von Liebe, von Hoffnung, von Aufrichtigkeit und Wachstum, es sei ein Aufruf dazu, sich verletzlich zu zeigen. Der Weg, den er wählte, um diese Themen zu verarbeiten, bewegt mich sehr. Fast jede Textzeile löst ein Gefühl der Verbundenheit in mir aus - mal, weil mir die Gedanken selbst so nahe stehen, mal weil die Empathie sämtliche Schleusen öffnet und ich mich plötzlich an seiner Stelle sehe. Ich war an diesem Ort schon einmal, vielleicht in einer anderen Zeit, vielleicht unter anderen Vorzeichen - aber ich spüre die Schwingung, den Schmerz, die Leere. Viel wichtiger aber ist die Rekonstruktion jenes Empfindens und das Wissen darüber, sich hier nicht lange aufhalten zu müssen. Da ist kein Vergessen und kein Verdrängen - da ist Einheit und Verständnis. Und irgendwie auch die vage Vermutung, auf das nächste Level gesprungen zu sein.
Am Ende singt Carey in "Crestfallen"
I love you anyway
Don't be afraid
I'll be here till the end
I'll be a friend
Don't be afraid
Our time is paramount
We're running parallel
Und man ahnt, eine sehr grundsätzliche Komponente dessen, was Leben bedeutet, verstanden zu haben.
Vinyl: Pressungen von Jagjaguwar sind traditionell mit Vorsicht zu genießen, oder besser: zu kaufen. Audiophile Giganerds, für die ein einzelnes Knacken zwischen zwei Songs ausreicht, um mit einem Atomschlag gegen das Presswerk zu drohen, halten besser Abstand. Meine Version auf schwarzem Vinyl fühlt sich bereits am Schnitt des Plattenrands dodgy an, sieht mit einigen, auch nach einer Wäsche nicht verschwindenden Schlieren auf der Platte dodgy aus und und hört sich angesichts einiger Hintergrundraspler manchmal auch dodgy an. Das ist keine desaströse Pressung, aber man spürt, dass hier was nicht komplett in der Reihe ist. Bedruckte (ungefütterte) Innenhülle mit Texten, kein Downloadcode. Das Cover empfinde ich vor allem im Vergleich mit dem Vorgänger als eine kleine Enttäuschung. (++)
"Space And Awareness" ist kein reines Ambient-Album. Sollte es auch nicht sein; Simon Huxtable wollte die Vielschichtigkeit seiner Eindrücke und Empfindungen aus jener Zeit einfangen, in der er ein sehr ausgeprägtes Bewusstsein für sein Umfeld entwickelte, für Menschen, Räume, Zeiten. So lassen sich hier, wie auch schon auf seinem Album "Everything Is New", Anleihen aus dem Downtempo sowie IDM-kompatible Beats finden. Sie sind Inhmosts Chiffre auf einem Album, dessen Nährflüssigkeit von einem Cocktail aus elegischer Nostalgie einerseits und den Verheißungen der Gegenwärtigkeit andererseits durchzogen ist.
Das Gefühl, das "Space And Awareness" vermittelt, ist folgerichtig ambivalent - nicht zuletzt, weil die Ansprache über die Musik so klar, so unkompliziert ist. Ich nehme dennoch stets Schwingungen von Traurigkeit wahr, des Verlusts, des Vergangenen und Zerfallenen und zu gleichen Teilen die Sensation des Aufbruchs und der Jetztzeit. Ich rieche frisch gemähtes, nasses Gras genauso wie die Ausdünstungen ausgefranster Couchgarnituren, spüre den frischen Tau eines glasklaren Morgens auf der Haut und zeitgleich die Berührung des ausgeblichenen, beinahe durchsichtig gewordenen Hemds, das sich so weich und vertraut anfühlt. Und zwischen all das passt: Nichts. Da kommt eine Welle auf mich zu, die ich nur fühlen, aber nicht aufteilen, nicht differenzieren kann. Auf "Everything Is New" war das Überhangmandat zum lockeren Sepia-Sundowner am Strand klarer in diesen einnehmenden Sound gehängt - auf "Space And Awareness" hingegen ist Ganzheitlichkeit das bestimmende Element.
Und Eleganz. Das ausgerechnet in diesem Kontext zu äußeren, ist eigentlich nicht ganz fair, weil der Eindruck entstehen könnte, als sei "Everything Is New" ein Haufen lauwarmer Schlamm gewesen - und das war es natürlich nicht. Allerdings empfinde ich den ästhetischen Sprung, angefangen beim stilvollen Coverartwork bis hin zu den geschmackvollen Sounds als durchaus substantiell. "Space And Awareness" wirkt bisweilen kühl, als hätte man einem Bild im Temperaturfilter ein paar Grad abgezogen. Distinguiert, weil Reduktion für Klarheit sorgt. Introvertiert, weil Vergegenwärtigung nie im Außen passiert.
Vor einigen Jahren machte ich die Bekanntschaft mit einem Parfum von Andrée Putman. "Prépération Parfumée" war ein auf jeder Ebene unscheinbarer Duft. Kein Marketinggetöse. Ungewöhnlich leise und mit feiner, subtiler Struktur; mit Noten von Treibholz und weißem Pfeffer fast durchsichtig. Als ein dazu passendes Bild erschien mir ein Frühlingsspaziergang entlang eines kleinen Bachlaufs in grauem Nieselregen als angemessen. Ich finde, "Space And Awareness" würde sich als Soundtrack für einen solchen Spaziergang geradewegs aufdrängen.
Vinyl: Single LP in schwarz. Kein Downloadcode. Einwandfreie Pressung. Das Design des Cover-Artworks sieht im LP-Format und mit der schwarzen Schallplatte einfach hinreißend gut aus. (+++++)
Ich hatte an anderer, früherer Stelle dieses Countdowns ganz möglicherweise schon das ein oder andere Mal durchblicken lassen, dass 2022 das abgefuckteste Scheißjahr seit exakt zwanzig Jahren war, und als im Februar das ganze Unheil seinen Lauf nahm, ich also von Arztpraxis zu Arztpraxis lief und wieder jene lähmende Angst spürte, die mich bereits früher um Schlaf, Energie, Lebenskraft und -freude brachte, war "Memorial" beinahe jeden Tag und über volle zwei Monate Bestandteil meiner musikalischen Morgenroutine. Weil es mich so beruhigte wie es keine andere Musik vermochte.
Meine erste Begegnung mit David Sabels Projekt fand im Laufe des ersten Coronajahres statt. 2020 begann ich damit, mich noch tiefer mit den über das Ambientgenre hinausgehenden Spielarten elektronischer Musik auseinanderzusetzen und schaute mich beim im Süden Deutschlands ansässigen Mailorder deejay.de um. Und nicht nur ist ihr Reservierungs- und Sammelsystem mein Ruin, sondern auch die sehr bequemen Möglichkeit, in neue Platten reinzuhören. Bei Birds Ov Paradise' "Köpp", der 12-inch aus dem April 2020, war es nach wenigen Sekunden klar: das ist sehr spezielle Musik. Sehr hypnotischer, sehr treibender Techno - und doch melodisch flackernd und durchlässig für die emotionale Tiefengrundierung, die elektronischer Musik nicht selten kategorisch abgesprochen wird. Meistens von Menschen mit eigener Tiefengrundierung in der Stärke eines Stücks recycelten Toilettenpapiers, das selbst in unbenutztem Zustand seine olfaktorische Herkunft nie so ganz verschleiern kann. Mit "Köpp" war also die Tür weit offen für die Anwendung meiner aus dem Metal herübergeretteten Loyalität. Wer mich als Fan erstmal am Arsch kleben hat, bekommt mich so leicht nicht mehr los.
"Memorial" ist nach einer Reihe von 12-inches das Debut von Birds Ov Paradise. Erschienen auf dem schwedischen Label Hypnus, die in der Vergangenheit unter anderem das nach wie vor brillante Debut "La Via Della Seta" des italienischen Duos Primal Code veröffentlichten. Vermutlich gibt es kein Label, bei dem diese Musik besser aufgehoben wäre. "Memorial" entstand während des ersten, praktisch weltweiten Corona-Lockdowns im Frühjahr 2020. David entwickelte in dieser Zeit ein Klangtagebuch für die Menschen um ihn herum, die ihm nahe stehen. Jedes Stück trägt den Namen einer geliebten Person. Eine Ode an die Freundschaft, an die Verbundenheit, die Gemeinschaft, den Zusammenhalt - und die Liebe. Vielleicht findet das Konzept auch deshalb so viel Widerhall in mir, weil meine emotionale Entwicklung zu all jenem Klimbim mittlerweile eher in der untersten Schublade des Eisfachs angekommen ist. Zwei Jahre Corona haben für einen, der all zu argem zwischenmenschlichen "Gedöns" (Gerhard "Gecht" Schröder) seit jeher, ich formuliere es sehr zurückhaltend: skeptisch gegenüberstand, endlich genau jene nun völlig akzeptierten Entschuldigungen parat gehabt, die im prä-pandemischen Zeitalter als verschroben und eigenbrötlerisch galten. Diese Platte stellt dieser Tendenz einen unironischen und überraschend unkitschigen Kontrapunkt gegenüber. Ich kann zwar auch als professioneller Ja-Sager und "Gummimann" (Antitainment) nicht aus meiner Haut, aber ich kann diese Musik darunterkriechen lassen. Fürs gute Gefühl.
Und scheißrein, es macht mir ein gutes Gefühl! Die emotionale Wärme, die "Memorial" über den konzeptionellen Überbau einerseits, und den Klang und die hypnotischen Tracks andererseits ausstrahlt, ist unwiderstehlich. Es knistert wie ein frisch entzündetes Kaminfeuer, rollt den flauschigsten (Asbest-)Flokati des Universums auf den Boden der Waldhütte in den schwedischen Wäldern aus, Saunaaufguss Lavendel-Melisse, Glühwürmchen. Hochverdichtete Tiefsinnigkeit im Zeichen des Stechapfels.
Ich will hier nie wieder weg.
Vinyl: Meine Version auf schwarzem Vinyl (neben der es auch noch eine in Pink/Rosa/Lachs/Magenta/wasweißdennich gibt) ist hey-okay. Platten von Hypnus können machmal Probleme haben, aber meistens sind die dann nicht schwerwiegend. Das Cover-Artwork ist angemessen abstrakt, und vor allem die für Hypnus typischen abgerundeten Kanten des Covers sind immer wieder ein echter Hingucker. (++++)
Ein großes Versäumnis, das der Verzicht auf eine Bestenliste fürs Jahr 2021 auf diesem Blog mit sich brachte, ist die bisherige Nichterwähnung von marine eyes, einem Ambientprojekt von Cynthia Bernard. Ihr Debutalbum "idyll" brachte mich auf meinem Instagramkanal ins rhetorische Trudeln:
"Sounds as if the vibes from The Sea And Cake's music have an out of body experience under an almond tree in full blossom on the Samoan Islands, right after getting a serious dose of muscle relaxants (life goals, btw!). So peaceful and soothing, you can't help but get lost in it."
Und auch wenn's in so illustren wie professionellen Zirkeln ein bisschen cringe wirkt, sich erstens selbst zu zitieren und sich zweitens dann auch noch selbst auf die Schulter zu klopfen, sei's drum: da stimmt ja immer noch jedes Wort. "idyll" war das reinste, sanfteste, friedvollste Weiß der Welt. Cynthias zweites Album, das im gleichen Jahr veröffentlichte "Unfailing Love", ist in Zusammenarbeit mit Past Inside The Present-Gründer zaké entstanden (gemastered übrigens von niemand Geringerem als Stephan Mathieu) und bekam im direkten Vergleich ein wenig mehr Erdung und Melancholie unter die Schwerelosigkeit gelegt.
Als im Oktober des letzten Jahres unser Hund Fabbi schwer krank wurde, und ich unter seelischer Betäubung versuchte, die Tage ohne einen oder dreizehn Nervenzusammenbrüche zu überstehen, wurde mir "chamomile" ein Begleiter in dieser von Schlaflosigkeit und großer Traurigkeit geprägten Zeit. Mir erschien die Ansprache dieser Musik als intuitiv unemotional. Sie war einfach...da. Sie forderte nichts ein, sie kam mir nicht ungefragt zu nahe - sie tröstete einfach nur. Sie füllte den Raum um mich herum mit einem Kokon aus tausenden kleinen Lichtpunkten, mit Verständnis und Zuspruch, damit ich nicht fallen konnte. Ein Seraphim.
"chamomile" kann mir meine Angst vor Krankheit, Tod und Verlust nicht nehmen. Aber es macht den Umgang mit den Erlebnissen und Erfahrungen einfacher. Es ist magische Musik, die das Leben, den Augenblick und das Universum feiert.
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Vinyl: Meine Past Inside The Present-Pressungen sind leider nicht immer makellos, was bei der im Allgemeinen sehr verhaltenen Musik problematisch werden kann. Meine "Cocoon White"-Version von "chamomile" ist insgesamt zufriedenstellend, aber nicht perfekt. Das Cover-Artwork ist ein Träumchen und so friedvoll und transparent-schimmernd wie die Musik.
Mein Text zu "Hidden History Of The Human Race", dem Durchbruchsalbum von Blood Incantation aus dem Jahr 2019, endete mit der Einschätzung, gerade einem der ungewöhnlichsten und visionärsten Death Metal Alben aller Zeiten zugehört zu haben. Die Inszenierung mittels technischem Death Metal, sphärischen Ambientsounds, spirituell-kosmischen Texten und des Science Fiction-Artworks, bestäubt mit dem süßen Pulver psychoaktiver Substanzen ist einzigartig, die Überzeugung und die Kompromisslosigkeit, die aufgebracht werden muss, um eine solche Platte zum Leben zu erwecken, inspirierend. In Zeiten, in denen Rockbands im Allgemeinen und Metalbands im Besonderen, vor allem darauf bedacht sind, möglichst wenig Mut, Identität (die eigene, zumal), und Vision zu zeigen, weil das Publikum mittlerweile so konditioniert ist, bei der kleinsten Normabweichung entweder den Vorgesetzten sprechen oder gleich den ganzen Laden in die Luft jagen zu wollen, sind Bands wie Blood Incantation Gold wert. Sie müssen wie ein Spix Ara in Obhut derer genommen werden, die sich der kreativen Freiheit und dem Überleben von Abseitigem, Extremen, Obskurem verschrieben haben.
Damit sind wir bei "Timewave Zero", einem reinen Ambientalbum in Stile der progressiven und noch in den Kinderschuhen steckenden elektronischen Musik der 1970er Jahre. Gitarrist Paul Riedl weist darauf hin, dass die Band schon vor über zehn Jahren wusste, dass ihr drittes Album ein reines Ambientprojekt werden sollte:
"Our band since 2011 was saying we're going to make Morbid Angel, Gorguts, Disincarnate, and Death-style death metal mixed with the eccentricity of Lykathea Aflame, later Gorguts, mystical death metal like StarGazer. Our second record is going to have a green logo like "Domination" [dem vierten Album von Morbid Angel - Anmerkung d. Redaktion], and our third record is going to be ambient. Literally over 10 years ago we said that in the practice space."
Schon lange ein fundamentaler Bestandteil ihres Death Metal Sounds und vielleicht noch wichtiger: ihres Selbstverständnisses, erstrecken sich die über zwei Movements verteilten acht Kompositionen nun über ein ganzes Werk. Riedl sagt "We don't play games, man", und es ist klar, dass "Timewave Zero" kein Gimmick ist, keine schnell eingeschobene Nummer, die schlicht die Wartezeit zur nächsten Death Metal-Kanone verkürzen soll. Es gibt auch keine Diskussionen darüber, einen neuen Projektnamen zu verwenden. Das ist die Band Blood Incantation, und die Mitglieder der Band Blood Incantation mögen elektronischen Ambient - und dann macht die Band Blood Incantation eben ein elektronisches Ambientalbum. So einfach ist das manchmal. Ich weiß nicht, ob die Verantwortlichen A&Rs bei Century Media die Angstattacken mittlerweile in den Griff bekommen haben, aber an dieser Stelle darf man das Label ruhig mal für das Vertrauen und den Mut beglückwünschen.
Die Sache ist die: eigentlich hat mich die Band mit so einer Geschichte schon im Sack, bevor ich auch nur einen Ton von "Timewave Zero" gehört habe. Dass mir Ambient einstweilen näher steht als Death Metal oder Rockmusik insgesamt, hilft natürlich dabei, jede Vorbehalte hinsichtlich der stilistischen Ausrichtung und des zumindest temporären Stilwechsels abzulegen. Mehr noch, ich umarme dieses knapp über der Grasnarbe schwebende und mit Drogen eingenebelte Raumschiff mit Haut und Haaren. Dabei ist "Timewave Zero" kein heller, leichter, ätherischer Ambient, er ist nicht "relaxt" oder "gelassen". Ganz im Gegenteil. Es liegt Schwermut über und Mystik unter dieser Platte, Haltung und Gravitas. Es ist unvertraut, außerweltlich - und fordert deshalb Konzentration ein. Die Band weist in Interviews etwas bemutternd darauf hin, dass sie für "Timewave Zero" nicht ziellos durchs Nichts delirieren, sondern sich in einem durchkomponierten Werk aufhalten; vielleicht auch eine Art Gebrauchsanweisung für die rockige Fanbase, die nur allzu schnell diesen einen despektierlichen Begriff verwendet, den sie aus Funk & Fernsehen kennt und also "Fahrstuhlmusik" krakeelt, wenn das ADHS kickt und Headbanging eher unangebracht erscheint.
Man muss "Timewave Zero" keine Aufmerksamkeit schenken. Schließlich gibt es keine Regeln. Tut man es dennoch, lernt man fürs Leben. Es dehnt sich aus.
Vinyl: Einzel-LP in der "Orange in Black"-Version in matt-texturiertem Cover. Stilistisch sehr ansprechend. Die Pressung ist von kleineren Stögeräuschen abgesehen okay, keine Non-Fills. Kein Downloadcode. (+++)
Vor etwa sechs Jahren habe ich mich darauf geeinigt, ab sofort Schallplatten von A Strangely Isolated Place zu sammeln. Möglicherweise war "A State Of Becoming" von Lav und Purl der Auslöser für jene Entscheidung. Nicht nur die Musik erschien außerweltlich, auch das hinreißende Coverartwork und die darauf farblich abgestimmten Schallplatten in blassrosa lassen mich noch heute Jubelschreie ausstoßen. Seitdem wird jede Veröffentlichung blind gekauft - komme, was wolle. Und es kam so einiges, vor allem im letzten Jahr. Denn so wunderschön und mit solcher Liebe zum Detail, zur Musik und zur Vision des Labels die Platten auch gestaltet sind, so teuer sind sie leider auch. In Europa sind Preise von über 40 Euro für eine Doppel-LP des Labels mittlerweile der Standard und da muss ich bei aller Liebe zugeben: dann wird die Luft selbst für einen Sammel-Kasper schon ziemlich dünn.
Das wurde sie auch für "Konec", die erste Zusammenarbeit von Luke Entelis (Viul) und Thomas Meluch (Benoît Pioulard), aber spätestens als die Post aus England eintraf und man diese Schönheit mit dem künstlerischen Artwork von Liz Harris in den Händen hält, ist alles vergessen. Gibt's eben am Monatsende die verbrannten Krümel aus dem Toaster und bestes Aqua Hahna. Mir doch egal.
Liegt die Platte auf dem Plattenspieler, wird's wenig überraschend sogar noch besser. Die beiden Musiker haben "Konec" in der Isolation des New Yorker Covid-Lockdowns im Jahr 2020 geschrieben und mit dick verhangenen, nebligen Loops, grobkörnigen Texturen und zerschossenen Melodien voller Tristesse und Melancholie die Stimmung in der Stadt eingefangen. Vor allem das melodische Element Pioulards, in seinem Fundament sicher nicht weit von den sonoren Orcas-Klassikern entfernt, die er mit Rafael Anton Irisarri produzierte, verleiht den verzerrten und auf Raufaser entworfenen Beobachtungen von Viul eine zusätzliche Ebene der Emotionalität. Nachzuhören bei dem überraschenden Gitarrenoutro von "Flaxen" oder dem vergleichsweise offensiv-harmonischem "Catalune" - neben dem elegischen "Returning Clear Voice" so oder so einem der Herzstücke des Album.
Es sind Miniaturen der Einsamkeit und des Zerfalls, die sich in ihren besonderen Momenten aus der beengenden und furchteinflößenden Isolation befreien und die Seelenstimmung einer ganzen Stadt aufsaugen können. Und vielleicht ist "Konec" am Ende weniger Beobachtung und Zeitdokument, als Transformation und Gemeinschaft. Dass es dazu immerzu Momente der Agonie und der Verwüstung braucht, um Empathie und Verständnis zu finden, sagt Wesentlicheres über uns aus als uns allen lieb sein kann.
Vinyl: Das Gesamtkonzept, der Dreiklang aus Musik, Cover-Artwork und Vinylfarbe, ist nahe an der Perfektion. Die Pressung ist ordentlich, gefütterte Inners, Bandcamp-Download. Dazu legt das Label seinen Vinylausgaben seit einiger Zeit einen gedruckten Flyer bei, der Auskunft über das Konzept, den Aufnahmeprozess, die Artworkgestaltung und die Pressung gibt. Ich möchte Labelchef Ryan hiermit offiziell dazu ermutigen, mit der Arbeit an einem Artbook über alle bislang erschienenen ASIP-Releases, mit großen Coverabbildungen und Hintergrundgeschichten zu beginnen. Die Legende lebt. (+++++)