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19.01.2025

Best Of 2024 ° Platz 11: Slomosa - Tundra Rock




SLOMOSA - TUNDRA ROCK


"Irgendwann wird es die Kraft der Polemik gar nicht mehr geben. Nur noch Worthülsen, die im Brackwasser der Beliebigkeit untergegangen sind!“ (Georg Schramm)


Dass mir am Ende des Jahres 2024 tatsächlich nochmal eine Stonerrockband derart die Beine weggrätscht, ist mit Verlaub unerhört. "Tundra Rock" von diesem aus Norwegen stammenden Quartett ist eine von jenen Platten, die schon ab der ersten Sekunde eigentlich keine Chance darauf hatte, sich durchzusetzen -  und fuck me, diese Chance hat sie genutzt. 

Langsam, langsam, laaaangsaaaam - die Barrieren im Kopf müssen erstmal von einem gepanzerten Unimog plattgemacht werden, klar - wurde es aber mit jedem Durchlauf offensichtlicher: das hier ist anders als der Rest der aalglatten Schwiegermuttercombos, die seit 20 Jahren das Genre mit aufgespritzten Bollersounds und manierierter "Echte Männer heiraten ihre Bremsstreifen"-Ästhetik in die nächstbeste Senkgrube manövriert haben. Es ist vor allem echter. Dabei, und ich kann nicht genug darauf herumreiten, ist hier musikalisch praktisch alles zusammengemopst. Und natürlich alles bei Kyuss und Queens Of The Stone Age. Und jetzt kommt's: es ist mir scheißegal. Das macht alles zu viel Spaß, sorry. 

Größtes Wunder ist möglicherweise, dass die Band es irgendwie hinbekommen hat, sich nicht ständig am absoluten Intensitätslimit zu bewegen, ohne dabei den Impact, die Wucht ihrer Grooves und Riffs zu opfern. Hier ist Luft zum Vibrieren. Maximale Heaviness bei maximaler Lässigkeit. Wer sich vom instrumentalen Schlussteil von "Red Thundra" mal aus den Latschen ballern ließ, wird's vermutlich sofort verstehen. Mein heimlicher Favorit auf einer nahezu makellosen Platte ist der Abschlusstrack "Dune" mit seinen beschwörenden Backingchören, die einem tagelang in den Ohren kleben bleiben. Die sind garantiert auch irgendwo geklaut. 

Ist das am End' von Boney M?





Erschienen auf Stickman Records, 2024.

17.01.2025

Best Of 2024 ° Platz 12: Julia Holter - Something In The Room She Moves




JULIA HOLTER - SOMETHING IN THE ROOM SHE MOVES


"I'm from Mars, Mom." (Kory Clarke)


Nach ihrem Album "Ekstasis" aus dem Jahr 2012 ist mir die kalifornische Musikerin Julia Holter ziemlich vom Radar gerutscht. In meinen Einlassungen zu besagtem Album schrub ich damals, noch nicht genau zu wissen, was ich mit der Musik anzufangen habe - und trotz meiner grundlegend positiv geratenen Bewertung fürchte ich heute, dass meine sich in den kommenden Jahren zeigende Ignoranz Gründe hatte. Das neue Album "Something In The Room She Moves" wurde von Kritikern wie Anthony Fantano und Menschen, auf deren Urteil ich mich im Großen und Ganzen verlasse, mit Lob überschüttet, weshalb ich mich nochmal dazu aufschwang, nach einem Eingangstor in ihren musikalischen Kosmos zu suchen. 

Ich kann heute berichten, es möglicherweise gefunden zu haben. So richtig einfach macht sie es mir aber immer noch nicht. Holter schwebt wie gewohnt über alle stilistischen Grenzen hinweg, experimentiert mit dekonstruierten Songarrangements, mehrdimensionalen Stimmungen und Melodien, taucht mal in jazzigen Gefilden auf, dann wieder in diesigen Ambientfeldern ab, setzt poppige Akzente im Kontext elektronischer Musik wie in "Spinning", und hat insgesamt eine dennoch fein austarierte Mischung aus Außenseiter-Pop und Avantgarde entwickelt. 

Die drei Leuchtfeuer des Albums "Sun Girl", "Spinning" und "Evening Mood" sind wie der Titeltrack bei aller Experimentierfreude leichter zugänglich, während Produktionen wie "Meyou", "Ocean" oder "Materia" - letztgenannter glänzt darüber hinaus mit einer besonders beeindruckenden Gesangsperformance - das Pendel in den verkopften Bereich ausschlagen lassen. Im Mittelpunkt steht für mich allerdings die schlicht atemberaubende Produktion, die sowohl die Musiker als auch die Zuhörer gegenwärtig werden lässt und die Aufmerksamkeit unmittelbar in den dreidimensionalen Raum dieser Musik zieht. 

"Something In The Way She Moves" ist eine wahrhaft immersive Erfahrung.


 


Erschienen auf Domino Records, 2024. 


07.01.2025

Best Of 2024 ° Platz 14: Slow Dancing Society - Do We Become Sky?




SLOW DANCING SOCIETY - DO WE BECOME SKY?


"Experiences are the most precious thing you have." (Mark Burgess)


Ein Koloss. Über fast 90 Minuten hat der US-Amerikaner Drew Sullivan glitzernden Sterbenstaub über diese Platte rieseln lassen, der sich in den höchsten Sphären mit den eigenen Lebensreminiszenzen verbindet und sich dort vernetzt, eins wird mit den internen Schaltkreisen, mit Hoffnungen, Ängsten, Glücksgefühlen, Trauer, Liebe. 

Drew nennt seinen Sound "Glambiant" und als ich ihm kürzlich via Instagram mitteilte, wie einzigartig und originell dieser Ansatz ist, antwortete er: "Yes indeed as I’ve always loved the glam esthetic that can be applied to ambient in ways that make everything just bigger!" - und auf "Do We Become Sky?" wirkt tatsächlich alles ein bisschen größer. Nicht notwendigerweise im Sinne eines Brock van Wey/bvdub, der schon im Leerlauf auf der Hochebene operiert und von dort wahre Orkane über das Land zu schicken vermag. Drews Musik existiert im Kern in einem Kokon, sie ist introspektiv, zurückhaltend und fürsorglich. Ihm gelingt auf "Do We Become Sky?" die behutsame Expansion aus diesem Geflecht. Er öffnet damit den kleinen Raum der Einkehr, macht ihn durchlässiger für Austausch, für Wachstum, für Licht. 

Im dreizehnminütigen Herzstück des Albums "Devastation Is The Path To Recreation" trifft dieses Licht mit fast ungebrochener Wucht auf den sich ausdehnenden Raum und macht ihn damit begehbar. Spürbar. Eigentlich schaut man seinem eigenen Universum beim Urknall zu.


 



Erschienen auf Past Inside The Present, 2024.

05.01.2025

Best Of 2024 ° Platz 15: Salvatore Mercatante - Ø




SALVATORE MERCATANTE - Ø


"I like the idea that something’s rare and ‘unobtainable’, and that’s all fine and good and all that shit. But I’m not making this music for the records to sit on the shelf; they’re meant to be heard and shared with other people, they’re meant to be danced to, to be played so much they get worn out and you gotta buy another copy; that’s why I re-press!" (Theo Parrish)


Schon der erste Ton des Openers "OPEN, OPEN" ist ikonisch. Und er ist laut. Er schafft Aufmerksamkeit, Bewusstsein für das, was kommt. Über die nächsten vier Minuten des Tracks bleibt das Thema im Raum und schafft Weite und Tiefe, bevor sich weitere Türen öffnen und sich mittels bedrohlich nähernden Bassdrones erstmals die Farben drastisch ändern. Dunkelheit zieht ein. 

Das Spiel mit Licht und Schatten, Perspektiven und Brennweiten dominiert den weiteren Verlauf von Ø. Von Autechre-inspiriertem IDM, dem das Konzept immanent ist, mit minimalen Verschiebungen den maximalen Effekt der Expansion zu erreichen, über heavy duty Bass-Glitches mit dystopischer Soundtrack-Atmosphäre, trüb und kalt wirkenden Ambientexkursionen, über denen ein seltsam nostalgischer Grauschleier liegt, so als würde man in eine bereits gelebte Parallelwelt hineinschauen bis hin zu Unterwasser-Techno in "Coil", hat Salvatore das Konzept von Ø praktisch am lebenden Objekt durchgespielt: "How do you start from a place of nothingness, again and again?" 

Die erste Frage lautet möglicherweise, ob es denn diesen Ort des Nichts tatsächlich gibt, denn was hier aus jedem Beat, aus jedem Klick, aus jeder angedeuteten Melodie, aus jeder Spannung heraustropft sind Überzeugung und Klarheit. Sie sind das Substrat, aus dem Mercatante seine Tracks baut, sie verästelt - und sie immer weiter unnachgiebig verfeinert. Externe Einflüsse sind genau das: extern. Das Innere lässt sich hingegen weder aufhalten noch ausschalten. 


 



Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2024.

03.01.2025

Best Of 2024 ° Platz 16: Arutani - Who We Used To Be




ARUTANI - WHO WE USED TO BE


"Unsere Existenzform ist die Rasanz. Das ist das Therapeutische am Leben im Medium des Smartphones. Wenn wir in den Städten auf die Straße traten, hatte der Kampf um unsere Aufmerksamkeit schon eingesetzt. Alles Großaufnahme, alles äußere Steigungsform, und wir dazwischen, die umkämpften Abgekämpften.” (Roger Willemsen)


Manchmal erwischt es mich einfach eiskalt. Und zwar mit einem Overkill an Wärme und Geborgenheit. Alles ist Herz, nichts ist Kopf. Arutanis viertes Album, seinem dritten auf Laut & Luise, rannte mir alle offenen Türen ein und wurde zu DER Sommerplatte des Jahres. So simpel es sich auch anhören mag, aber immer, wenn der Himmel rosarot, das Gras saftiggrün und der Kaffee heißschwarz war, wollte ich diese Platte auflegen. Besser noch: ich hab sie dann einfach aufgelegt, ha! Ich habe gerade auch gar keine Lust darauf, das mit besonders tiefsinnigen und verkopften Schachtelsätzen zu erklären, ich habe keine Lust auf Metaebene und gespreizte Metaphern. Weil ich gemerkt habe, dass die Wahrheit an sich viel einfacher ist. Es mag vielleicht etwas heikel sein, dafür die passenden Worte zu finden, aber so geht's einem eben von Zeit zu Zeit. Das Einfachste ist am Schwersten zu erklären. 

Sowohl Songs als auch Sound von "Who We Used To Be" sind - und jetzt kommt doch eine Metapher, fuck it - Wärmelampen für Herz und Seele. Introvertierte Tanzmusik für emotionale, reflektierte, melancholische, liebenswerte Menschen. Für innige Umarmungen. Für blindes Verständnis. Ich konnte mich nicht so recht dagegen wehren, dass sich hier und da dann doch der Kopf einschaltete und ein paar unangenehme Fragen stellte, sowas wie "Ist das nicht alles ein bisschen zu arg Weichzeichner? Willst Du nicht doch lieber die großen Geschichtenerzähler hören, die so ein bisschen artsy sind? Die kompliziert und ausschweifend sind, mit viel Tiefe und Raum?"

Das ist alles Quatsch. Weil: wie viel tiefer kann's denn noch gehen, als die direkte Verbindung dieser Musik zum eigenen Leben zu spüren? Und, bitte: Wie entwaffnender kann eine Wahrheit sein?


             



Erschienen auf Laut & Luise, 2024. 

29.12.2024

Best Of 2024 ° Platz 18: Tren - The Passages Through Space And Time




TREN - THE PASSAGES THROUGH SPACE AND TIME


“I’ve lost a lot of battles, but I’ve never lost sight of the war. My goal is to fight my way to a day when we’re old and gray and she looks at me and says ‘I’m glad you never gave up.’ Until then, I fight. No retreat, baby. No surrender.” (Hank Moody)


Es benötigte nur wenige Sekunden des pluckernden Ambient Technos von "Scalar", um mich hektisch nach Bezugsmöglichkeiten für die Schallplatte umzuschauen - und um im Handumdrehen festzustellen, dass ich für die Version auf transparentem Vinyl bereits zu spät war. Denn wer sich im Kosmos elektronischer Musik ein bisschen auskennt, kennt Tren und kauft ihre Platten. Ich kannte Tren bis dahin nicht, daher dürfen meine geschätzten Leser*innen sich jetzt ihren Teil über meine Kompetenz denken - und zwar im Stillen, bitte sehr! 

Spätestens nach dem Debut "The Rising and Setting of the Heavenly Bodies" war die Zielgruppe jedenfalls angespitzt und wer ein bis zwei Ohren auf den Nachfolger wirft, versteht, warum im spätkapitalistischen Rat Race Geschwindigkeit gefragt war: "The Passages Of Space And Time" ist ein melancholischer, bittersüßer, romantischer Trip. Vom erwähnten Ambient Techno in "Scalar" und "Tensor", über Schlafmohn-IDM in "Sands Of Time" und dem Höhepunkt "Mono No Aware" mit seinem 90er Jahre Autechre/Boards Of Canada-Vibe und der verrückten Reise im fliegenden Untertassensynthie von "The Immensity Of The Heavens" tanzt hier alles in und auf dem obersten Regal. "The Passages Through Space And Time" hat die bemerkenswerte Fähigkeit, die im tiefsten Kern dieser Musik einprogrammierte distinguierte Distanziertheit mit einer empathischen und wärmenden Ansprache zu überwinden. Es ist hier und da ein klein wenig ambivalent, aber ich habe mich übers Jahr oft an dieses Album gekuschelt. 

Eine meiner meistgehörtesten Platten des letzten Jahres. 





Erschienen auf Not Meant To Happen, 2024.

26.12.2024

Best Of 2024 ° Platz 19: Cigarettes After Sex - X's




CIGARETTES AFTER SEX - X's


"I'm not sure if I'm depressed. I mean, I'm not exactly sad. But I'm not exactly happy either. I can laugh and joke and smile during the day, But sometimes when I'm alone at night I forget how to feel." 
(John Green)

Eigentlich war ja nach dem 2017 erschienenen Debutalbum dieses Quartetts aus Texas alles gesagt. Die Infusion mit dem Betäubungsmittel/Viagra-Mix tropfte stoisch in die Blutbahn, alles war warm und feucht, ich hinterfragte nochmal schnell meine Heterosexualität und kaufte mir gleich drei oder dreißig Stangen Kippen. Wer konnte schon wissen, was der Abend noch bringt? Und: "Non-smokers die every day" (Bill Hicks). 

Was mir hingegen völlig klar war: das Konzept mit diesem maximal vernebelten Morphin-Pop wird kaum länger als jene 46 Minuten vom Debut überleben. Das ist ein One-Trick-Pony, die werden noch eine Platte machen und dann wird's das gewesen sein. 

Was auch immer in den letzten Jahren passiert ist und unter welchem Stein meine Wenigkeit sein Dasein fristete: sowohl die Band als auch der Rest der Welt hatten offenbar eine andere Sicht auf die Dinge. Die Band spielt mittlerweile ausverkaufte Headlinershows in den großen Arenen dieser Welt, und ich muss zugeben, mich von diesem Schock immer noch nicht erholt zu haben. Deswegen hier nochmal in aller Deutlichkeit: WHAT THE FUCKING FUCK?! Ernsthaft und aufgeräumt Über "X's" zu schreiben lohnt sich im Prinzip nicht, denn wer die beiden Vorgänger kennt, kennt damit ziemlich sicher "X's"; dagegen sind selbst AC/DC experimentelle Avantgardisten. Soviel unerträgliche Redundanz kommt mir eigentlich nicht ins Regal, noch weniger auf den Blog und schon gar nicht in die Jahresbestenliste. Nun steht "X's" im Regal, auf dem Blog und auf meiner Jahresbestenliste. 

Mir hat es schlicht den Kopf verdreht. Verstörend betörend.


 


Erschienen auf Partisan Records, 2024.

24.12.2024

Best Of 2024 ° Platz 20: Xenia Reaper - Luvaphy




XENIA REAPER - LUVAPHY


"Nice guys, but absolutely clueless." (Vic Fontaine)


Ein kompletter Blindflug war zunächst das Debutalbum von Xenia Reaper - und ich weiß bis heute nicht, wer sich hinter dieser Produktion verbirgt. Außer einer Handvoll Singles/EPs seit dem Jahr 2022 (u.a. auf XENOPLEX) gibt es praktisch keine Informationen. Ähnlich rätselhaft ist die Musik. In die mal schwerelosen und eisgekühlten, mal mysteriös und tiefschwarzen Ambientflächen reißen heftige Bass-Exzesse und Drum 'n' Bass-Laser tiefe Schluchten, hinzu wirft Reaper unheilvolles Geknister, tiefes Brodeln und flüchtiges Stimmengewirr in diesen wilden, herausfordernden Mix. Unvergessen jener eindrückliche Moment, als mir der erste Bass von "Sued" in die Glieder fuhr und es sich anfühlte, als würden die umgebenden vier Wände zunächst vibrieren und dann kollabieren. 

Vom wilden Gefuchtel mit brechenden Soundartefakten in "Lust05", Stop-And-Go-Jungle-Reminiszenzen mit eingeschalteten Nebelleuchten in "MxB" bis hin zum intensiven Sci-Fi Geballer im Höhepunkt "Lllaao3", für das ich gerne den Kopf in die größte Bassbox des Universums stecken möchte, während der Alien-Barkeeper mir einen Ketamin-Rucola-Smoothie mixt, wirkt "Luvaphy" einerseits wie eine Dehnungsübung für wilden Zeitgeist-Shit, andererseits baut es irgendwie neue Nervenbahnen ins Dachgeschoss. 

Man fühlt sich hinterher ein ganz kleines bisschen schlauer.




Erschienen auf INDEX: Records, 2024.


17.11.2024

"Da lässt sich noch einer Zeit für Bilder."




FLOATING POINTS, PHAROAH SANDERS 
& THE LONDON SYMPHONY ORCHESTRA - PROMISES


"You have to protect people from incompetent people" (Robert Sapolsky)


DAS Hipsteralbum des Jahres 2021. und zugleich: DAS vereinende Musikalbum des Jahres 2021. 

In Zeiten, in denen vornehmlich die Boomergeneration nur zu oft und - Distinktionsgewinn olé: zu gerne - den Abgesang auf die wahre, echte, schöne alte Musikwelt anstimmt, also die wahre, echte, schöne Auseinandersetzung mit wahrer, echter, schöner Musik in endlosen Kopfhörersessions im wahren, echten, schönen Ohrensessel, bei einer guten Flasche Eigenurin und einem guten Stück Haifischknorpel, weil die nachfolgenden Generationen alles, aber auch wirklich ALLES anders und damit, logo: schlechter machen als es die alten "Furzknoten" (Lagerfeld) es vor circa einer Billion Jahren taten, und das fragile Ego damit nun wirklich überhaupt nicht umgehen kann, produziert die Elektronik-Zaubermaus Sam Shepherd aka Floating Points mit dem Saxofonisten Pharoah Sanders wie es scheint mit links eine Jazz-, Ambient- und Klassik-Platte, deren Ankunft von Menschen jeder Altersgruppe wie der neue Heiland gefeiert wurde - und weiterhin wird. Selbst wenn jene Menschen mit Jazz, Ambient und Klassik zuvor soviel an der Frisur hatten wie H.P.Baxxter mit Atomphysik, Körperhygiene und Frauenrechten.

Über insgesamt neun sogenannte Movements spannt das Duo im Grunde ein einziges Motiv; das ist die Lebensader von "Promises". Und sowohl Sanders, als auch im weiteren Verlauf das London Symphony Orchestra, bleiben über die gesamte Spielzeit in ihrer Nähe, oszillieren, treiben, schweben, drehen und winden sich mit dieser kleinen, so unscheinbar wirkenden Welle aus gerade mal acht Tönen in ein minutenlang aufgeschichtetes Crescendo und sacken gemeinsam wieder ins nächste Diminuendo ab, bis die Intensität schnurstracks auf die Kernschmelze zukriecht. 

Und wenn der Mythos tatsächlich stimmen sollte, dass heute also wirklich niemand mehr so richtig zuhört oder zuhören kann, weil die Aufmerksamkeitsspanne so gering und der Druck so mächtig sind, dann ist's vermutlich genau das: ein Mythos. Denn - Achtung, der Ohrensessel naht - im Prinzip kommt hier nur so richtig dahinter, wer sich auf "Promises" mit Haut und Haaren einlässt. Den Bewegungen folgt. Sich treiben lässt. Die Kontrolle verliert. Und langsam....ganz langsam...in Richtung Ausgang schwebt. 

Angesichts des Erfolgs dieses Projekts, schweben vielleicht mehr im ergiebig-positiven Kontrollverlust umher, als das Narrativ der im Ausnahmezustand delirierenden Generation uns Glauben machen will. 

Was ich sagen will: Hoffnung für Alle. 

     

Vinyl: Die Erstpressung war sehr schnell ausverkauft, und weil davon irgendwie so ziemlich alle überrascht waren, dauerte es fast ein halbes Jahr, bis die nächste Edition in die Läden kam. Hübsches die-cut Cover, 12"-Inlay, schwarzes Vinyl. Es gibt viele gemischte Reaktionen zur Pressqualität, von "totalem Schrott" bis hin zur "bestklingenden Platte aller Zeiten" ist alles dabei, und ich möchte mich mit meinem Exemplar etwa in der Mitte platzieren. Ich bereue den Kauf natürlich nicht, aber "spektakulär" geht eventuell ein bisschen anders.


            


Erschienen auf Luaka Bop, 2021. 

11.08.2024

Keno & Tristan De Liege - Transatlantyk




KENO & TRISTAN DE LIEGE - TRANSATLANTYK


"I have one question and then I have to go." (Larry David)



Fucking hell, wie oft wollte ich schon etwas über diese Platte schreiben? I'm the overlord of the procrastination army. 

Ich lernte die Musik von David Hanke's Downbeat-Flagschiff Keno bereits im Jahr 2018 kennen, damals mit dem Debut "Around The Corner". In meinem damaligen Post auf Instagram schrieb ich:



"Instrumental downbeat and lush electronica from David Hanke. Somewhere between Thievery Corporation, De-Phazz and Bonobo. Beautiful pressing made by Pallas on 140g vinyl. Alina says it makes you yearn for summer - but it also works well at the very beginning of spring with your first cup of coffee on a Sunday morning"


Mittlerweile ist es August 2024, wir stehen knietief im Sommer - und seit einigen Wochen trägt mich "Transatlantyk", bereits im Oktober 2020 veröffentlicht, wie bestellt durch den sonntäglichen Kladderadatsch aus Hausarbeit, gechilltem Durchatmen und der kleinen Angststörung in unserer Straße. Nach "Around The Corner" - immer noch eine wirklich tolle Platte - verlor ich David aber aus den Augen und den Ohren. Erst Anfang 2023 stieß ich über einige bizarre Umwege und wahrscheinlich auch mit einer großen Portion Zufall auf einen Kommentar auf Discogs, dem Epizentrum der prätentiösen Pissnelken aus Schallplattenhausen. User TobiTobsucht schreibt:

"If you like early 2000s relaxed downtempo tracks like from Bonobo or Blockhead, then you have to listen to this little secret."

Und ich erinnerte mich. An Keno, an "Around The Corner" und an den Frühling. "Transatlantyk" musste also mein neuer Mitbewohner werden. Ich werde ja auch stets magisch von Platten angezogen, die niemand auf dem Schirm hat. Die unter aller Radar existieren, die keine Aufmerksamkeit bekamen, die schlicht in dem schier endlosen Meer aus Musik und Geräusch untergingen. Die dem ubiquitären Geplärre von untalentierten, von Marketingagenturen durchgestylten und von Businessmanagern hochgejazzten, von wirtschaftlich abhängigen und dem Großkapital hoffnungslos ergebenen "Redaktionen" auf Spotify, Deezer, Apple Music und wie der ganze verschissene Haufen aus den Arschritzen von Daniel Ek und Steve Jobs noch so heißen mag, hochgepushten Schreihälsen nichts entgegenzusetzen hatten - und die das nicht verdienten. Ich möchte offen sprechen: Wir suchen doch alle diese Platten. Wir suchen doch nach all dem, was nicht sowieso schon überall an jeder Straßenecke rumliegt. Wir suchen nach den Underdogs. Etwas, das außerhalb der Money-Bubble einen Wert hat, eine Verbindung aufbaut, was uns berührt. Was zu uns gehört. "Transatlantyk" ist eine dieser Platten. Die muss gehört werden.

Auf das Gerüst aus eleganten Downbeat-, Future Jazz-, und Hip Hop-Elementen, die den unwiderstehlichen Groove im Layer 1 ausrollen, ihn so leichtfüßig, so erfinderisch, so durchlässig machen, setzen David Hanke (Lübeck) und Tristan De Liege (Los Angeles) melodische Leuchtfeuer in die Architektur, die Melancholie, Sehnsucht, Fernweh und Introspektion an die Wände tapezieren. Emotionale Verdichtung im Sepiafilter seinerseits, andererseits der schwungvolle, klare Verve im Beat- und Groove-Unterholz. Vor allem die C-Seite mit dem leidenschaftlichen "Nikosi" und dem durch alle Aggregatzustände gleitenden Titeltrack, der mir zusätzlich und wie von Geisterhand Nuancen ins dritte Auge hämmert, die ich als "maritim" beschreiben könnte, wenn nicht müsste. Ich weiß nicht, wo's herkommt - aber es ist da. 

Dazu öffnet die französische Sängerin Élodie Rama bei drei Songs zusätzliche Ebenen der Ansprache. Auf "Speak The Language", "Dancing In The Dark" und "To Find A Way" schummelt sie einen verführerischen Pop-Appeal in den Sound, der an die großen Namen des Geschäfts (sic!), wie Morcheeba oder Bonobo denken lässt. 

"Transatlantyk" ist ein vielschichtig und elegant inszeniertes Album, das viel, viel mehr Zuhörer verdient hat. Am besten zu genießen, wenn sich das "unvergessene" (Schmidt) Motto des "unvergessenen" (Schmidt) Harald Juhnke über einen ruhigen, gemächlich vor sich hin dampfenden Sonntag legt:

"Keine Termine und leicht einen sitzen." 

Light em up!





P.S.1: Keno heißt mittlerweile Lehto. Hier geht's zur Bandcamp-Seite.

P.S.2: Auf Bandcamp gibt es das "Transatlantyk"-Doppelvinyl im Bundle mit der Vinylfassung der ebenfalls prächtigen Remix-Sammlung "Out Past The Current" (ebenfalls eine Doppel-LP) für gerade mal 45 Euro direkt vom Scheff persönlich



Erschienen auf Bathurst, 2020. 


28.07.2024

Sonst noch was, 2023?! - Gesammelte Werke




"Nobody's mad at you
Nobody's mad at you
You're having a private experience
Nobody's mad at you
Nobody's mad at you
Nobody really gives a fuck"
(Neal Brennan)


Ich schwör': ein allerletztes Mal gibt's den Blick zurück ins Jahr 2023. 

Danach...ohjehmine und spoiler alert: geht er sogar noch ein paar Jahre weiter zurück. 


Machen wir also jetzt final den Deckel auf 2023, is' ja auch schon bald August. Grundgütiger.


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EARTH HOUSE HOLD - HOW DEEP IS YOUR DEVOTION


Eigentlich war diese Werkschau von Brock van Wey's Earth House Hold-Projekt für lange Zeit meine Nummer 1 des Jahres 2023, bis ich mich schlussendlich dagegen entschied, eine Compilation in die Bestenliste zu wuchten, noch dazu auf die Spitzenposition. Dann ist es allerdings heute umso wichtiger, über "How Deep Is Your Devotion" zu sprechen. Während ich diese Zeilen schreibe, ist es 10 Uhr an einem Sonntag im Juli 2024. Es ist sonnig, aber glücklicherweise nicht zu warm. Das Fenster ist sperrangelweit offen und in Sossenheim herrscht eine Ruhe, wie ich sie als Kind von den sommerlichen Besuchen bei meinen Großeltern im pfälzischen Nirgendwo kenne. Man spürt das Nichts mehr, als dass man es hört. Es duftet nach schwarzem Kaffee mit einem Hauch Bergamotte. "How Deep Is Your Devotion" läuft, und ich wünsche mir, dass die Zeit stehenbleibt. Die Entwicklung zu verfolgen, die Brock über die vier EHH-Alben auf die muskalische Leinwand gezaubert hat, das Abdriften eines so oder so schon sehr speziellen Deep House-Ansatzes in eine immer weiter gedehnte, dekonstruierte, eigentlich sich in Auflösung befindliche Version mit solch skurriler Schönheit und mehr versteckten, vergrabenen, vernebelten Zwischentönen, als ich jemals hören könnte, ist das Eine. Das andere ist, dass man sich wünscht, diese Musik würde nie enden. Dieser Moment würde nie enden. 


 



Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2023.



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FILM SCHOOL - FIELD


Shoegazing in LA. Das kalifornische Sextett um Bandgründer und Chef im Ring Greg Bertens fiel mir erstmals mit ihrem zweiten Album "Film School" im Jahr 2006 positiv auf, und ich bin hocherfreut, dass die Truppe über die ganzen Jahre durchgehalten hat - das gilt umso mehr, wenn noch so starke Platten wie "Field" in ihren Herzen und Köpfen schlummern. Wer vom aktuellen Slowdive-Album auch so enttäuscht wurde, darf schon mal entspannt das nächste Tütchen drehen: "Field" ist ultrakompakt komponiert, hat einen guten Drive und trotzdem soviel Tiefe, dass einem Songs wie "Up Spacecraft" oder "Don't You Ever" (mit einem 1995er Monster Magnet-Gedächtnisriff) sofort unter die Haut kriechen.


 



Erschienen auf Felte, 2023.



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RAY ALDER - II


Soloalben sind immer so eine Sache. Eigentlich stehen sie schon ab dem Moment der Ankündigung ein paar Stufen unter dem Output der Hauptband. Das Solodebut von Fates Warning-Wundersänger Ray Alder "What The Water Wants" aus dem Jahr 2019 war im Rückblick und abgesehen von Alders gewohnt brillantem Gesang eine Enttäuschung. Zu zahm, zu oberflächlich, und irgendwie auch zu egal. Folglich waren meine an "II" geknüpften Erwartungen von leichter Unterkühlung geprägt, aber siehe da - "II" ist um Welten besser als das Debut, ist zu gleichen Teilen emotionaler als auch heavier. Insgesamt inszeniert Alder seine Musik natürlich gradliniger als im Kontext von Fates Warning, und sein immer noch vollkommen intaktes Gespür für einnehmende Gesangsmelodien im Zusammenspiel mit bisweilen satt tiefergelegtem Unterwasser-Riffing, erzeugen ein ums andere Mal echte Überraschungsmomente. Das gilt mittlerweile nicht mehr für Alders Gesangsleistung: man erwartet Übermenschliches - und das bekommt man dann auch. Weiß Gott keine Selbstverständlichkeit, aber das hat er nun davon, so fucking gut zu sein. SO FUCKING GUT!


 



Erschienen auf Inside Out, 2023. 



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DANNY PAUL GRODY - ARC OF DAY


Und nochmal Kalifornien, dieses Mal San Francisco. Sein Album "In Search Of Light" aus dem Jahr 2011 hatte ich seinerzeit als "Sorgenbrecher" bezeichnet, und seine Musik ist auch 13 Jahre später noch immer genau das. Ich hatte es leider versäumt, über sein 2021er Werk "Furniture Music II" zu berichten, das mir in der Pandemie Hoffnung und Licht ins Sossenheimer Outback brachte, aber das passiert mir nicht nochmal. Die Ruhe und die Kontemplation, die vom inneren Kern von "Arc Of Day" ausstrahlt, macht mein Leben besser. Ich schmecke die Luft an der US-amerikanischen Nordwestküste, spüre den Sand zwischen den Zehen, die Sonne auf der Haut. Eigentlich ist das Psychotherapie, nur ohne Reden. Zuhören sollte man aber. 





Erschienen auf Three Lobed Recordings, 2023.



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AYAAVAAKI & PURL - ANCIENT SKIES


Purl sagte kürzlich über "Ancient Skies", es sei eine der einzigartigsten Platten, die er je aufgenommen hat - und wer sich darüber im Klaren ist, wie viele Alben dieser Kosmopolit schon veröffentlichte und wie bescheiden er für gewöhnlich auftritt, mag erahnen, wie wichtig ihm ausgerechnet dieses Werk ist. Gleichzeitig kann der Eindruck entstehen, "Ancient Skies" sei ein wenig vom Radar der Ambientfans gerutscht und damit also unterschätzt und/oder übersehen - und das muss ich für meine Wenigkeit leider bestätigen. Es gibt einfach viel zu viel Musik und das Leben raubt mir viel zu viel Zeit - und dann legt Purl eben noch immer ein atemberaubendes Veröffentlichungstempo vor. Hinzu kommt: "Ancient Skies" ist in der (digitalen) Orginalfassung fast zweieinhalb Stunden lang, und einfach zu hören ist das nicht unbedingt. "Ancient Skies" ist einerseits dramatisch und opulent, andererseits spielt sich so viel unter den hörbaren Schwingungen dieser Musik ab, ist subtil, manchmal mystisch. Wenn der halbe westliche Planet damit beschäftigt zu sein scheint, das durchs Social Media-Dauerfeuer schön herangezüchtete ADHS zu füttern, erscheint es lohnenswerter denn je, sich einfach mal für zwei Stunden auszuklinken. 

Hinweis: die Doppel-LP hat lediglich acht (statt vierzehn) Songs in zum Vergleich zur digitalen Version editierten Fassungen.


  



Erschienen auf LILA लीला, 2023 




23.06.2024

Sonst noch was, 2023?! - Pablo Bolivar & Nacho Sanchez - Distances




PABLO BOLIVAR & NACHO SANCHEZ - DISTANCES


"Don't let the voices in your head stop you from feeling free." (Rick Rubin)


Achtung, Achtung! Unkontrollierte, unreflektierte Lobhudelei incoming - und ich schäme mich nicht mal. Einfach nur ganz viel Liebe für ein umwerfendes Album. Es gibt im Prinzip auch nichts anderes zu berichten.

Aber so manches geht eben übers Prinzip hinaus und wenn ich jedes Mal nach dreieinhalb holzig formulierten Sätzen den Reviewladen wieder verrammeln würde, hätten wir zwar alle gemeinsam mehr Gehirnzellen übrig, aber ich kann darauf keine Rücksicht nehmen, man mag's mir bittschön nachsehen. Ich bin außerdem der Auffassung, dass "Distances" viel zu wenig Aufmerksamkeit erhält und erhielt und das muss sich ändern. Musikrezensionen sind nun wirklich nicht mehr en vogue, und in Zeiten, in denen die meisten Mailorder schlicht den mitgelieferten Promotext copy/pasten und es irgendwie als redaktionellen Inhalt aussehen lassen, ist es ja auch viel zu anstrengend, die eigenen Gedanken mal Gassi gehen und sie an die nächste Straßenlaterne strullen zu lassen. Und wer soll's denn in Gottes Namen auch lesen, "jetzt bleiben se mal ernst!" (Pispers)

Wo es doch vor allem gehört werden muss. 

Mir ist das alles egal, es muss einfach raus. Dabei wäre mir "Distances" beinahe wieder durch die Lappen gegangen. Pablo und sein großartiges "Seven Villas" Label waren schon einige Male zu Gast in meinem literarisch gefluteten Kellerverlies der ästhetischen Absonderlichkeiten, unvergessen beispielsweise "Details Am Rande" mit seinem Buddy Sensual Physics aka Jörg Schuster - aber obwohl ich in Fällen, in welchen ich aufgrund vorangegangener Verdienste bereits den prunkvollen Loyalitätstempel gebaut und sogar mal feucht durchgewischt habe und also ganz besonders aufmerksam bin, erfuhr ich von "Distances" gar so spät, dass die auf nur 300 Stück limitierte Vinylausgabe in den einschlägigen Mailordern entweder bereits ausverkauft oder aber so unfassbar fucking teuer war. Nun habe ich grundlegend nur eine schwach ausgeprägte Impulskontrolle hinsichtlich neuer Schallplatten - Geld muss weg und das letzte Hemd hat keine Taschen, es stimmt, stop your internal dialogue - aber bei 50 Euro pro Exemplar bekomme ich einen Schlaganfall (Jochbeinbruch,  Nasenbluten). Erst vor wenigen Wochen bekam ich endlich die Gelegenheit, "Distances" mit seinem wunderbaren Coverartwork und dem violett-weiß-marmorierten Doppelvinyl für einen Preis zu ergattern, bei dem ich mich nicht selbst vollkotzen muss. Und damit wir uns richtig verstehen: für die volle Experience braucht's einfach die Schallplatte. 

Verliebt hatte ich mich in diese so introspektive und doch so leb- und bildhafte Musik jedoch schon sehr früh nach dem Erstkontakt über die Nullen und Einsen der digitalen Welt. Der Verbindungsaufbau in den Emo-Maschinenraum erfolgt unmittelbar, weil da so viel Vertrauen aus dieser Musik entspringt. Zumindest dieser Teil funktioniert also auch ohne den ganzen prätentiösen "Vinyl hier, Vinyl da"-Scheißdreck. Kann man mal sehen! 

In Spannungsdreieck von Deep House, Ambient und Dubtechno setzt "Distances" ein ganzes Rudel bekiffter Ausrufezeichen, und es hätten viel, viel mehr Menschen mitbekommen sollen. Die beiden Produzenten Pablo Bolivar und Nacho Sanchez zollen auf ihrer ersten gemeinsam gestalteten LP den beiden großen Fixpunkten Detroit und Berlin Respekt und haben einen expansiven Ballungsraum für die entsprechenden Spielarten erschaffen, der zu gleichen Teilen den bereits erlebten wie auch den kommenden Zeiten Beachtung und Anerkennung schenkt. Ein sich ständig neu konfiguriendes Kaleidoskop aus Klang, Bedeutung, Farben und Emotionen. 

"Distances" liefert mystische Science Fiction-Vibes, zaubert Vernebelung im Deep Space, schleudert Kältedruckwellen und purpur-glühende Lichtfäden in den freien Raum, die sich unter Langzeitbelichtung in der Atmosphäre einbrennen und dort Wegweiser und Monument sind. Ein majestätisch und bedächtig durch die Zeit treibendes Generationenschiff mit Bewusstheit und -sein für den Kontext der frühen Meisterinnen und Meister, und verstandenem Auftrag für das Übermorgen. 

Immer daran erinnern: Akustische Levitation ist möglich.


 


Erschienen auf Seven Villas, 2023. 

16.06.2024

Sonst noch was, 2023?! - Overkill - Scorched




OVERKILL - SCORCHED


"Heavy Metal is the most conservative of all loud music. Let's face it, not even a gym teacher could get as many people to dress alike." (Jello Biafra)



Über meine besondere Liebesbeziehung zu Overkill habe ich zuletzt vor zwei Jahren im Rahmen meines Reviews zum ihrem "The Atlantic Years"-Boxset referiert, und wer sich diesen unfassbar langen und -weiligen, gut fünfzehnminütigen Monolog noch nicht angeschaut/angehört haben sollte, well: "Enjoy!"





Nun ist es aber auch so, dass ich mit meiner Abneigung sowohl gegen zeitgenössichen Metal als auch gegen jene Bande von abgehalfterten Geronten, die vor vierzig Jahren mal eine Handvoll Songs auf die Reihe bekommen haben, nun am Nasenring durch die kapitalistischen Endverwerterfestivals des "Häffi Meddl" (Loddar) geschleift werden, um sich mit ein paar Euro den knittrigen Rentensack aufbügeln zu lassen und praktisch nur für die Stagetime aus dem Krankenhausbett und/oder Nachttopf geschweißt werden, nicht unbedingt hinterm Berg halte und sie damit also auch nicht zum ersten Mal äußere - was mir stets nur die allerfeierlichsten Liebesbriefe von den Kuttenadolfs mit bioelektrischem Gewitter in der Großhirnrinde beschert. Und auch wenn Overkill weder in die eine, noch in die andere Kategorie so richtig hineinpassen - (1) zeitgenössichen Metal machte die Band zuletzt circa 1991 und (2) trotz ihrer nur schwer aushaltbaren Schwächephase in den nuller Jahren waren sie einfach IMMER da und spielten konsequent ihren Stiefel - so lassen sich dennoch Elemente davon ihrer Musik und ihrem Auftreten finden; es scheint ihnen allerdings in meiner Welt weniger als anderen Metalboomern etwas anzuhaben. Daher gilt das eiserne Gesetz im Hause Dreikommaviernull: in jede neue Overkill-Platte wird wenigstens reingehört. Ihr ureigener, hochspezialierter Thrash Metal-Stil mit den typischen Punk- und Hardcorevibes der US-amerikanischen Ostküste, ihre kaum glattpolierte Räudigkeit mit seltsamerweise immer noch authentischer "Fuck You!"-Attitüde, ihr immer noch sehr hohes Energielevel - mein vierzehnjähriges Reptiliengehirn findet vieles davon auch heute noch sehr, sehr anziehend. 

Und so höre ich seit dem 1999er Album "Necroshine" in jedes neue Album rein, schätze fast immer den Drive und die Frische, finde ebenfalls fast immer ein paar Höhepunkte und ein paar solide Overkill-Generika, wundere mich darüber, wie gut die Stimme von Blitz immer noch klingt, und sinniere darüber, wie sie ihn wohl fürs Studio immer wieder so gut hingebogen bekommen (die Antwort: reiner Sauerstoff!), ärgere mich über den heutzutage leider typischen, lauten, undynamischen, phantasielosen Plastiksound, ärgere mich noch mehr über die seit vielen Jahren ubiquitären Einflüsse klassischen Metals mit eingängigen, kitschigen, hypermelodischen Refrains und Soli, wirklich der allerschlimmste Offenbarungseid eines ganzen Genres gegenüber des mental tiefergelegten ADHS-Publikums, und freue mich dennoch schlussendlich, dass sie immer noch da sind. Denn eine Metalszene ohne Overkill ist zwar möglich, aber sinnlos. Ich entschuldige mich für das absolut frische und unverbrauchte Zitat aus dem Loriot-Pleistozän. 

Seit 1999 und also "Necroshine" hat es allerdings kein einziges neues Album des New Yorker-Quintetts mehr in die Sammlung geschafft - und wie anhand dieses Reviews zu erkennen ist, änderte sich dieser Zustand mit "Scorched". Wer hätte das gedacht?

Ich jedenfalls nicht, aber sei's drum: mindestens die Hälfte der Songs auf dieser Platte sind so gut wie seit des 1994 erschienenen Albums "W.F.O." nicht mehr. Der Titeltrack, "The Surgeon", "Wicked Place", "Fever" und "Bag O' Bones" sind knallharte, funkensprühende, energiegeladene Granaten, die jeden Thrashfreak in den Wahnsinn treiben können. Dazu gibt es einige Experimente, die zwar im Kontext Ihres Lebenswerks nicht umwerfend revolutionär erscheinen - die Band hatte vor allem in der Frühphase ihrer Karriere sowohl den Mut wie auch die Fähigkeiten, ihrer Liebe zu Black Sabbath mittels einiger sehr doomigen, schleppenden Songs wie zum Beispiel "Playing With Spiders/Skullkrusher" Ausdruck zu verleihen  - die aber vor dem Hintergrund des Zustands aktuellen Metals fast schon wie ein "Aufstand der Anständigen" (Gerhard "Acker" Schröder) wirken. "Fever" ist beispielsweise eine harzige Huldigung an Ozzy/Sabbath, die angesichts der stimmlichen Ähnlichkeit zum Oppa of Darkness beinahe meinem bislang erfolgreich verlaufenden Unterfangen, einen Ozzy-freien Haushalt zu führen, gefährlich wird. Und obwohl "Fever" hier und da einen ganzen Gang runterschaltet, verursacht es keine Schäden an der wuchtigen Gesamtwirkung des Albums. Toll! "Wicked Place" bringt uns im Chorus ebenfalls einen doomigen Touch mit viel Macht, viel Druck, viel Neunziger. Viel Gut!

Die übrigen Songs sind im besten Fall solide wie "Harder They Fall" oder "Twist Of The Wick", im weniger guten Fall unnötig bis ärgerlich: "Going Home" startet eigentlich als guter, straighter Thrasher mit Reminiszenzen an die "W.F.O."-Ära, bevor er vom melodischen Chorus und den ultrapeinlichen Kosackenchor-Shouts gekidnappt und mit Handschellen gefesselt ins niederste Bierzelt gezerrt wird, wo sich schon Jürgen und Annika das Prosit zur Gemütlichkeit gegenseitig ins Genital singen. Einziger echter Tiefpunkt ist für mich "Won't Be Coming Back" und ich fürchte, ich muss es dabei schon belassen - das ist für Overkill-Verhältnisse schlicht ein unwürdiges Nichts von einem Song. Mir fällt dazu nicht viel ein. 

Insgesamt aber, und abgesehen von zwei, drei heiklen oder gar unterwältigenden Momenten, ist "Scorched" eine echte Überraschung. Ein hartes und gewaltiges, in einigen Passagen sogar intensives Thrashalbum und ziemlich sicher das beste Genrewerk seit Toxik's "Dis Morta" aus dem Jahr 2022. In Hinblick auf den Backkatalog der Band lasse ich mich mittlerweile sogar dazu hinreißen, "Scorched" als bestes Overkill-Album seit 1994 ins Karteikästchen einzusortieren. 

In voller Anerkennung dessen, dass meine Wenigkeit nicht dafür bekannt ist, solche Sätze allzu leichtfertig ins Weltnetz zu häkeln: ich empfehle Ihnen dringend, "Scorched" auf Urknall-Lautstärke zu hören. 

Herzlichst, 
Ihre Ilona Christen 




Erschienen auf Nuclear Blast, 2023.

01.06.2024

Sonst noch was, 2023?! - Radio Citizen - Lost & Found




RADIO CITIZEN - LOST & FOUND


„Ich habe nicht einen einzigen Sklaven in Katar g‘sehn. Die laufen alle frei ‘rum.“ (Franz Beckenbauer)


Fast aus dem Nichts erschien im Frühjahr 2023 diese Zusammenstellung von Niko Schabel's Radio Citizen Projekt, das von Mitte der nuller bis in die zehner Jahre hinein einigen Staub aufwirbeln konnte. Vor allem das umwerfende Debut "Radio Serengeti" aus dem Jahr 2006 (erschienen auf Ubiquity Records) mit den Hits "The Hop" und "Birds" versüßte mir so einige Tage und Nächte in meiner Wiesbadener Hood, und auch der Nachfolger "Hope And Despair"null war nach der sich aufgrund leicht angezogener Komplexität zeigenden Eingewöhnungszeit ein totales Highlight. Danach verlor ich Radio Citizen unerklärlicherweise aus den Augen, vielleicht einhergehend mit meinem sich immer stärker zeigenden Hang in Richtung Ambient und Dubtechno. Irgendwas rutscht ja immer vom Radar und hinterher hat man dann den Salat. 

Auf "Lost & Found" stehen zehn bislang unveröffentlichte Tracks, die sich an genau jenem Sound der ersten beide Alben orientieren: eine betörende, unwiderstehlich groovende Mischung aus krautigem Soul und Funk mit jazzigen Nuancen und einem freien, urbanen Electronica-Vibe. Wie schon auf den früheren Alben setzt Sängerin Bajka die prominentesten Akzente in diesem so breitbandig inszenierten, an allen Ecken und Enden brodelnden Sound: ihre an Jazzgrößen wie Nina Simone erinnernde Stimme hat soviel Tiefe und Charisma, ihre Phrasierung soviel Einzigartigkeit, dass sich damit praktisch jede gespielte Note in jene Sphären schrauben lässt, die üblicherweise nur von echten Legenden bewohnt werden. Auch die instrumentalen Songs wie beispielsweise "Mountains" lassen mich mit smarten Arrangements und den akzentuierten Dynamiken für verdiente Standing Ovations auf den Wohnzimmertisch klettern. "Lost & Found" ist eine der schönsten Überraschungen des letzten Jahres. Ich weiß nicht, ob man diesen Sound im Kontext der musikalischen Entwicklungen der letzten Jahre mittlerweile schon anachronistisch nennen darf, aber in meinem Buch klingen diese Songs - auch wenn sie einige Jahre auf dem Buckel haben dürften - immer noch frisch und sind mit ihrer funkensprühenden Lebendigkeit absolut zeitlos. 

Eigentlich bin ich geneigt zu sagen: wir brauchen heute mehr denn je genau diese Vibes. Herr Schabel, bitte übernehmen Sie. Ich bin bereit für mehr. 





Erschienen auf Rauschen Records, 2023.

26.05.2024

Sonst noch was, 2023?! - Packed Rich - Warp Fields




PACKED RICH - WARP FIELDS


“Right now, however, the extreme asymmetries of knowledge and power that have accrued to surveillance capitalism abrogate these elemental rights as our lives are unilaterally rendered as data, expropriated, and repurposed in new forms of social control, all of it in the service of others’ interests and in the absence of our awareness or means of combat." (Shoshana Zuboff)



Ich hab drauf geschlafen. Nicht wörtlich, bon - aber ich habe es verpennt, "Warp Fields" für die Bestenliste 2023 zu nominieren, und selten hat mich ein solcher Umstand mehr geärgert als hier. Sowas passiert manchmal - und vor allem dann, wenn ich, ganz banal, ein Album schlicht zu spät in die Finger bekomme. Hier war's im Dezember und ich stand bereits knietief in den sowohl geplanten als auch schon geschriebenen Reviews für das abgelaufene Musikjahr. Unter normalen Umständen ist "Warp Fields" ohne eine Nanosekunde des Zögerns ein Kandidat für die Top 5, vielleicht sogar Top 3. Daher müssen wir also jetzt im fuckin' Mai 2024 eine kurze Rückschau organisieren, verbunden mit der ziemlich vehementen Aufforderung, sich auf Bandcamp umgehend die 180g-Schallplatte für nur 16 Euro zu besorgen. Es sind noch fünf Exemplare direkt vom Label zu haben,  und alleine das ist ja schon ein mittelschwerer Skandal. Ich glaube, es geht los?! Was stimmt denn nicht mit Euch?!

Ich falle auch gleich mit der Tür ins Haus, wenn's genehm ist: "Warp Fields" klingt wie eine tiefenentspannte Frischkäse-Version eines Blue Hour-Sets von Flying Lotus, inklusive des Marijuananebels, der aus jeder Rille dieser Platte zu strömen scheint. Konzentriertes Drum'n'Bass-Gefuchtel, Lo-Fi Hip Hop-Kopfnicker, jazzy Broken Beats mit ätherischen Krautanteilen und verwinkelten Thundercat-Basslines verknoten sich mit einem hintergründigen, mehrdimensionalen Melodieverständnis, expansiven Ambient-Soundcollagen aus dem Katzenaugennebel und einer mystischen Science Fiction-Ästhetik als dicht gewebte Unterbodenstruktur. An den Rändern nehme ich überraschenderweise sehr subtile Nuancen aus dem Spiritual Jazz wahr, aber die zeigen sich in erster Linie in der Aura der Produktion, im Ansatz des Miteinanders (als Gäste dabei: Jessica Pham, Marvz, Marco Zenker und Robin Jermer), der Offenheit, der Umarmung. 

Denn auch wenn bei ich "Warp Fields" eine aus den entsprechenden Genres adaptierte intellektuelle Distanz oder meinetwegen "Verkopftheit" (note to self: muss aus dem eigenen Sprachgebrauch entfernt werden, und zwar schnell!) spüren kann, liegt das möglicherweise attraktivste Angebot dieses Albums darin, eine emotionale Verbindung aufzubauen. "Warp Fields" kann einerseits über die Abstraktion und die technisch anspruchs- und eindrucksvollen Aspekte der Musik einen Connect realisieren, aber der Magnetismus der Wärme, des Kollektivs und der Faszination über die Möglichkeiten des gemeinsamen Erlebens, der im Kern dieser Musik pulsiert und strahlt, ist schlicht unwiderstehlich. "Warp Fields" batikt Dir neue Nervenbahnen ins energetische Netz Deines Lebens. Das muss man zulassen wollen - oder auch nur können. Aber ich bezweifle, dass Gegenwehr eine Option ist.

Resistance is futile.


 


Erschienen auf Ilian Tape, 2023.

19.05.2024

Best of 2023 ° Platz 1: Mikkel Rev - The Art Of Levitation




MIKKEL REV - THE ART OF LEVITATION


“I’m sorry to put ‘Ambient’ in quotation marks all the time, but for me in ‘Ambient’ music, everything is possible, and the word ‘Ambient’ does not match all the musical possibilities we have within the music we do nowadays.” (Pete Namlook)


Es gibt Alben, die hinterlassen schon beim Erstkontakt den Eindruck, als würde ich sie schon mein ganzes Leben lang kennen. Was genau in solchen Moment passiert, ist mir bis heute verborgen geblieben, aber irgendeine Tangente zum Erlebten, Erträumten, Erhofften baut sich auf, eine Verbindung ins tiefere, vielleicht unbewusste Ich. Solche Platten weichen mir fortan nur noch selten von der Seite. Sie müssen nicht "erarbeitet", nicht mehr dechiffriert werden. Ihre Wirkung ist klar und unmittelbar. 

Es gibt Alben, die schon nach kurzer Zeit auf den Olymp klettern. So früh jedenfalls stand die Nummer Eins des Jahres selten fest. Schon als "The Art Of Leviation" vom norwegischen Produzenten Mikkel Rev im Frühjahr des vergangenen Jahres seine ersten Kreise durch mein Leben zog und sich die ersten Nervenbahnen miteinander verschweißten, wusste ich, dass hier wohl nicht mehr viel dran vorbeikommt. Und heute, ein gutes Jahr später, zeigt sich: es kam nichts mehr dran vorbei. 

Und dann gibt es Alben, die mich so tief in die Emotionskammer treffen, die solch überschwängliche, beinahe schon rauschhafte Zustände erschaffen und irrationale Momente der Euphorie entwickeln. Manchmal führen diese sehr eindrücklichen Erlebnisse dazu, jenen Alben mit einer merkwürdigen Form der Ehrfurcht zu begegnen. In den letzten zwanzig Jahren erlebte ich ähnliche Situationen beispielsweise mit "Frances The Mute" von The Mars Volta. Oder mit "Geisterfaust" von Bohren Und Der Club Of Gore. Das Gefühl totaler Euphorie, solche Musik hören zu dürfen und dabei eine solch tiefe Verbundenheit zu spüren; so als hätte man just den Code für ewiges Leben geknackt, den Pfad zu den aufgestiegenen Meistern entdeckt, das dritte Auge geöffnet. Es wird zur raison d'etre, zum neuen Fixpunkt. Ich klammere mich an solche Augenblicke mit allem, was ich habe. Ich möchte das nicht nur spüren können, vollständig und bis in alle Ewigkeit, ich möchte das auch nie wieder verlieren. Die beiden oben genannten Alben würden von mir auch heute noch als absolute Sternstunden meiner Laufbahn als Musikbesessener bezeichnet werden, selbst wenn ich sie praktisch nicht mehr auflege. Die Furcht davor, bei jeder neuen Auseinandersetzung dieses frühere Hochgefühl aus den Händen gerissen zu bekommen, sei es vielleicht weil es der falsche Ort und der falsche Zeitpunkt ist, irgendeine Laus, die mir über die Leber gelaufen ist oder der Mond falsch steht, ist real - und zugegeben, es ist schon einigermaßen balla-balla. 

Ähnlich erging es mir mit "The Art Of Levitation": nachdem mich diese Musik an jene so weit entfernt liegenden Orte trug, mich so gefangen nahm, ja geradezu erschütterte, ließ ich sie einfach mit diesen Eindrücken stehen, so wie sie war. Das war meine Nummer 1 des Jahres 2023. Case closed. Ich lasse mir das nicht mehr nehmen.

Nun ging es aber daran, wie immer "pünktich" im Mai 2024, all das in Worte zu kleiden. Dieser Faszination Ausdruck zu verleihen, im besten Fall so formvollendet ausformuliert, dass meine werten Leserinnen und Leser keine körperlichen Schäden davontragen, wenn die Netzhaut mit derlei Gedanken belichtet wird - und so fand "The Art Of Levitation" nach einigen Monaten der Stille erneut den Weg auf den Plattenteller. Tief durchatmen. Allen Mut zusammennehmen. Es geht hier ja nicht um Leben und Tod, vielleicht nur ein kleines bisschen. Aber was passiert, wenn mir jetzt all das schön zurechtgelegte "Album Of The Year"-Getrommel wegbröckelt? Wenn ich's einfach nicht mehr spüre? Mich nicht mehr erinnere? Wenn sich die Zweifel mit einem Schneidbrenner an der versiegelten Bunkertür zu Schaffen machen? 

"Dann wären wir wohl ganz schön angeschissen, was?!" (Hagen Rether)

Nun ist es Mai 2024, und Du liest gerade ebenjenes "Album Of The Year"-Getrommel. Nichts ist weggebröckelt, nichts ist vergessen, nichts ist abgedunkelt. "The Art Of Levitation" ist unkaputtbar. 

Wenn meine musikalische Libido nicht nach wie vor pausenlos die Konfettikanone zündete und ich mich also auf ein etwas rationaleres Niveau runterkühlen könnte, würde ich gegebenenfalls schreiben, dass die eigentliche Magie dieses Albums etwa ab Beginn der C-Seite startet und mit "Xistence" die Tür für das öffnet, was anschließend über "Regrets", "Sub Sea (Peace Mix) und "Insula" zum allerbesten zählt, was ich in den letzten zwanzig Jahren gehört habe, ein unnachahmlicher Ritt durch den Deepspace, der dich spiralförmig in die Höhe schießt und dabei aus allen Rohren Endorphine ins Wurzelchakra ballert, dich in den Seelennebel im Kassiopeia schickt, wo Dir Alf und Willy Tanner eine eiskalte Cola mit einem Schüsschen Ketamin servieren. It's THAT good.

Andererseits kühlt hier gar nichts auf irgendein Niveau runter und die Rationalität kann mir gerne einen Roberto Blanco-Text ins Ohr flüstern, wenn ich 2 Meter unter der Erde liege - bis dahin heißt es: die Magie beginnt freilich ab der ersten Sekunde. Labelchef Ryan führt in den Linernotes zum Album aus, dass er Mikkel darum bat, ihm doch ein paar Ideen für ein Demo zukommen zu lassen - und er anschließend unendlich viel atemberaubendes Material aus Norwegen erhielt, womit er für die Sequenzierung von "The Art Of Levitation" aus dem Vollen schöpfen konnte. Für Ryan keine Überraschung: Mikkels Beteiligung an dem Kollektiv Ute Records, deren Fokussierung auf Ambient und Trance, inklusive der Organisation von Trance Revival-Partys in den Wäldern Norwegens, ließ vermutlich schon an dieser Stelle Großes erwarten, verbinden sich doch hier die zwei großen musikalischen Vorlieben des Gründers von A Strangely Isolated Place. Vom ersten Vorantasten im Intro "Xpress 2 Planet Earth" mit seinem spannungsgeladenen Arrangement und futuristischen, außerweltlichen Sounds, die irgendwo zwischen Dystopie und Hoffnung hin und her schwingen, über den zwölfminütigen und lebhaft vibrierenden Titeltrack, der durch unzählige Sphären führt und stets ein neues musikalisches Backdrop in Deine Phantasiewelten tapeziert, oder das introspektive "Crater" bis hin zu den erwähnten, druckvollen Trance-Exkursionen, bei denen man sich wirklich wünscht, sie würden nie, nie, nie zu einem Ende kommen, ist die Story des Albums mit einem so feinen wie souveränen Händchen gestrickt. Es mag sich im Jahr 2024 abgeschmackt lesen, aber sei's drum: man ist wirklich auf einer Reise. 

"The Art Of Levitation" ist ein beeindruckendes, inspirierendes Zeugnis zeitgenössicher elektronischer Musik. Findet man in ein paar Jahren im "Muss man gehört haben!"-Kanon der ewigen Klassiker des Genres - und sogar darüber hinaus. Mark my words.


 



Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2023.