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17.11.2024

"Da lässt sich noch einer Zeit für Bilder."




FLOATING POINTS, PHAROAH SANDERS 
& THE LONDON SYMPHONY ORCHESTRA - PROMISES


"You have to protect people from incompetent people" (Robert Sapolsky)


DAS Hipsteralbum des Jahres 2021. und zugleich: DAS vereinende Musikalbum des Jahres 2021. 

In Zeiten, in denen vornehmlich die Boomergeneration nur zu oft und - Distinktionsgewinn olé: zu gerne - den Abgesang auf die wahre, echte, schöne alte Musikwelt anstimmt, also die wahre, echte, schöne Auseinandersetzung mit wahrer, echter, schöner Musik in endlosen Kopfhörersessions im wahren, echten, schönen Ohrensessel, bei einer guten Flasche Eigenurin und einem guten Stück Haifischknorpel, weil die nachfolgenden Generationen alles, aber auch wirklich ALLES anders und damit, logo: schlechter machen als es die alten "Furzknoten" (Lagerfeld) es vor circa einer Billion Jahren taten, und das fragile Ego damit nun wirklich überhaupt nicht umgehen kann, produziert die Elektronik-Zaubermaus Sam Shepherd aka Floating Points mit dem Saxofonisten Pharoah Sanders wie es scheint mit links eine Jazz-, Ambient- und Klassik-Platte, deren Ankunft von Menschen jeder Altersgruppe wie der neue Heiland gefeiert wurde - und weiterhin wird. Selbst wenn jene Menschen mit Jazz, Ambient und Klassik zuvor soviel an der Frisur hatten wie H.P.Baxxter mit Atomphysik, Körperhygiene und Frauenrechten.

Über insgesamt neun sogenannte Movements spannt das Duo im Grunde ein einziges Motiv; das ist die Lebensader von "Promises". Und sowohl Sanders, als auch im weiteren Verlauf das London Symphony Orchestra, bleiben über die gesamte Spielzeit in ihrer Nähe, oszillieren, treiben, schweben, drehen und winden sich mit dieser kleinen, so unscheinbar wirkenden Welle aus gerade mal acht Tönen in ein minutenlang aufgeschichtetes Crescendo und sacken gemeinsam wieder ins nächste Diminuendo ab, bis die Intensität schnurstracks auf die Kernschmelze zukriecht. 

Und wenn der Mythos tatsächlich stimmen sollte, dass heute also wirklich niemand mehr so richtig zuhört oder zuhören kann, weil die Aufmerksamkeitsspanne so gering und der Druck so mächtig sind, dann ist's vermutlich genau das: ein Mythos. Denn - Achtung, der Ohrensessel naht - im Prinzip kommt hier nur so richtig dahinter, wer sich auf "Promises" mit Haut und Haaren einlässt. Den Bewegungen folgt. Sich treiben lässt. Die Kontrolle verliert. Und langsam....ganz langsam...in Richtung Ausgang schwebt. 

Angesichts des Erfolgs dieses Projekts, schweben vielleicht mehr im ergiebig-positiven Kontrollverlust umher, als das Narrativ der im Ausnahmezustand delirierenden Generation uns Glauben machen will. 

Was ich sagen will: Hoffnung für Alle. 

     

Vinyl: Die Erstpressung war sehr schnell ausverkauft, und weil davon irgendwie so ziemlich alle überrascht waren, dauerte es fast ein halbes Jahr, bis die nächste Edition in die Läden kam. Hübsches die-cut Cover, 12"-Inlay, schwarzes Vinyl. Es gibt viele gemischte Reaktionen zur Pressqualität, von "totalem Schrott" bis hin zur "bestklingenden Platte aller Zeiten" ist alles dabei, und ich möchte mich mit meinem Exemplar etwa in der Mitte platzieren. Ich bereue den Kauf natürlich nicht, aber "spektakulär" geht eventuell ein bisschen anders.


            


Erschienen auf Luaka Bop, 2021. 

11.08.2024

Keno & Tristan De Liege - Transatlantyk




KENO & TRISTAN DE LIEGE - TRANSATLANTYK


"I have one question and then I have to go." (Larry David)



Fucking hell, wie oft wollte ich schon etwas über diese Platte schreiben? I'm the overlord of the procrastination army. 

Ich lernte die Musik von David Hanke's Downbeat-Flagschiff Keno bereits im Jahr 2018 kennen, damals mit dem Debut "Around The Corner". In meinem damaligen Post auf Instagram schrieb ich:



"Instrumental downbeat and lush electronica from David Hanke. Somewhere between Thievery Corporation, De-Phazz and Bonobo. Beautiful pressing made by Pallas on 140g vinyl. Alina says it makes you yearn for summer - but it also works well at the very beginning of spring with your first cup of coffee on a Sunday morning"


Mittlerweile ist es August 2024, wir stehen knietief im Sommer - und seit einigen Wochen trägt mich "Transatlantyk", bereits im Oktober 2020 veröffentlicht, wie bestellt durch den sonntäglichen Kladderadatsch aus Hausarbeit, gechilltem Durchatmen und der kleinen Angststörung in unserer Straße. Nach "Around The Corner" - immer noch eine wirklich tolle Platte - verlor ich David aber aus den Augen und den Ohren. Erst Anfang 2023 stieß ich über einige bizarre Umwege und wahrscheinlich auch mit einer großen Portion Zufall auf einen Kommentar auf Discogs, dem Epizentrum der prätentiösen Pissnelken aus Schallplattenhausen. User TobiTobsucht schreibt:

"If you like early 2000s relaxed downtempo tracks like from Bonobo or Blockhead, then you have to listen to this little secret."

Und ich erinnerte mich. An Keno, an "Around The Corner" und an den Frühling. "Transatlantyk" musste also mein neuer Mitbewohner werden. Ich werde ja auch stets magisch von Platten angezogen, die niemand auf dem Schirm hat. Die unter aller Radar existieren, die keine Aufmerksamkeit bekamen, die schlicht in dem schier endlosen Meer aus Musik und Geräusch untergingen. Die dem ubiquitären Geplärre von untalentierten, von Marketingagenturen durchgestylten und von Businessmanagern hochgejazzten, von wirtschaftlich abhängigen und dem Großkapital hoffnungslos ergebenen "Redaktionen" auf Spotify, Deezer, Apple Music und wie der ganze verschissene Haufen aus den Arschritzen von Daniel Ek und Steve Jobs noch so heißen mag, hochgepushten Schreihälsen nichts entgegenzusetzen hatten - und die das nicht verdienten. Ich möchte offen sprechen: Wir suchen doch alle diese Platten. Wir suchen doch nach all dem, was nicht sowieso schon überall an jeder Straßenecke rumliegt. Wir suchen nach den Underdogs. Etwas, das außerhalb der Money-Bubble einen Wert hat, eine Verbindung aufbaut, was uns berührt. Was zu uns gehört. "Transatlantyk" ist eine dieser Platten. Die muss gehört werden.

Auf das Gerüst aus eleganten Downbeat-, Future Jazz-, und Hip Hop-Elementen, die den unwiderstehlichen Groove im Layer 1 ausrollen, ihn so leichtfüßig, so erfinderisch, so durchlässig machen, setzen David Hanke (Lübeck) und Tristan De Liege (Los Angeles) melodische Leuchtfeuer in die Architektur, die Melancholie, Sehnsucht, Fernweh und Introspektion an die Wände tapezieren. Emotionale Verdichtung im Sepiafilter seinerseits, andererseits der schwungvolle, klare Verve im Beat- und Groove-Unterholz. Vor allem die C-Seite mit dem leidenschaftlichen "Nikosi" und dem durch alle Aggregatzustände gleitenden Titeltrack, der mir zusätzlich und wie von Geisterhand Nuancen ins dritte Auge hämmert, die ich als "maritim" beschreiben könnte, wenn nicht müsste. Ich weiß nicht, wo's herkommt - aber es ist da. 

Dazu öffnet die französische Sängerin Élodie Rama bei drei Songs zusätzliche Ebenen der Ansprache. Auf "Speak The Language", "Dancing In The Dark" und "To Find A Way" schummelt sie einen verführerischen Pop-Appeal in den Sound, der an die großen Namen des Geschäfts (sic!), wie Morcheeba oder Bonobo denken lässt. 

"Transatlantyk" ist ein vielschichtig und elegant inszeniertes Album, das viel, viel mehr Zuhörer verdient hat. Am besten zu genießen, wenn sich das "unvergessene" (Schmidt) Motto des "unvergessenen" (Schmidt) Harald Juhnke über einen ruhigen, gemächlich vor sich hin dampfenden Sonntag legt:

"Keine Termine und leicht einen sitzen." 

Light em up!





P.S.1: Keno heißt mittlerweile Lehto. Hier geht's zur Bandcamp-Seite.

P.S.2: Auf Bandcamp gibt es das "Transatlantyk"-Doppelvinyl im Bundle mit der Vinylfassung der ebenfalls prächtigen Remix-Sammlung "Out Past The Current" (ebenfalls eine Doppel-LP) für gerade mal 45 Euro direkt vom Scheff persönlich



Erschienen auf Bathurst, 2020. 


28.07.2024

Sonst noch was, 2023?! - Gesammelte Werke




"Nobody's mad at you
Nobody's mad at you
You're having a private experience
Nobody's mad at you
Nobody's mad at you
Nobody really gives a fuck"
(Neal Brennan)


Ich schwör': ein allerletztes Mal gibt's den Blick zurück ins Jahr 2023. 

Danach...ohjehmine und spoiler alert: geht er sogar noch ein paar Jahre weiter zurück. 


Machen wir also jetzt final den Deckel auf 2023, is' ja auch schon bald August. Grundgütiger.


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EARTH HOUSE HOLD - HOW DEEP IS YOUR DEVOTION


Eigentlich war diese Werkschau von Brock van Wey's Earth House Hold-Projekt für lange Zeit meine Nummer 1 des Jahres 2023, bis ich mich schlussendlich dagegen entschied, eine Compilation in die Bestenliste zu wuchten, noch dazu auf die Spitzenposition. Dann ist es allerdings heute umso wichtiger, über "How Deep Is Your Devotion" zu sprechen. Während ich diese Zeilen schreibe, ist es 10 Uhr an einem Sonntag im Juli 2024. Es ist sonnig, aber glücklicherweise nicht zu warm. Das Fenster ist sperrangelweit offen und in Sossenheim herrscht eine Ruhe, wie ich sie als Kind von den sommerlichen Besuchen bei meinen Großeltern im pfälzischen Nirgendwo kenne. Man spürt das Nichts mehr, als dass man es hört. Es duftet nach schwarzem Kaffee mit einem Hauch Bergamotte. "How Deep Is Your Devotion" läuft, und ich wünsche mir, dass die Zeit stehenbleibt. Die Entwicklung zu verfolgen, die Brock über die vier EHH-Alben auf die muskalische Leinwand gezaubert hat, das Abdriften eines so oder so schon sehr speziellen Deep House-Ansatzes in eine immer weiter gedehnte, dekonstruierte, eigentlich sich in Auflösung befindliche Version mit solch skurriler Schönheit und mehr versteckten, vergrabenen, vernebelten Zwischentönen, als ich jemals hören könnte, ist das Eine. Das andere ist, dass man sich wünscht, diese Musik würde nie enden. Dieser Moment würde nie enden. 


 



Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2023.



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FILM SCHOOL - FIELD


Shoegazing in LA. Das kalifornische Sextett um Bandgründer und Chef im Ring Greg Bertens fiel mir erstmals mit ihrem zweiten Album "Film School" im Jahr 2006 positiv auf, und ich bin hocherfreut, dass die Truppe über die ganzen Jahre durchgehalten hat - das gilt umso mehr, wenn noch so starke Platten wie "Field" in ihren Herzen und Köpfen schlummern. Wer vom aktuellen Slowdive-Album auch so enttäuscht wurde, darf schon mal entspannt das nächste Tütchen drehen: "Field" ist ultrakompakt komponiert, hat einen guten Drive und trotzdem soviel Tiefe, dass einem Songs wie "Up Spacecraft" oder "Don't You Ever" (mit einem 1995er Monster Magnet-Gedächtnisriff) sofort unter die Haut kriechen.


 



Erschienen auf Felte, 2023.



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RAY ALDER - II


Soloalben sind immer so eine Sache. Eigentlich stehen sie schon ab dem Moment der Ankündigung ein paar Stufen unter dem Output der Hauptband. Das Solodebut von Fates Warning-Wundersänger Ray Alder "What The Water Wants" aus dem Jahr 2019 war im Rückblick und abgesehen von Alders gewohnt brillantem Gesang eine Enttäuschung. Zu zahm, zu oberflächlich, und irgendwie auch zu egal. Folglich waren meine an "II" geknüpften Erwartungen von leichter Unterkühlung geprägt, aber siehe da - "II" ist um Welten besser als das Debut, ist zu gleichen Teilen emotionaler als auch heavier. Insgesamt inszeniert Alder seine Musik natürlich gradliniger als im Kontext von Fates Warning, und sein immer noch vollkommen intaktes Gespür für einnehmende Gesangsmelodien im Zusammenspiel mit bisweilen satt tiefergelegtem Unterwasser-Riffing, erzeugen ein ums andere Mal echte Überraschungsmomente. Das gilt mittlerweile nicht mehr für Alders Gesangsleistung: man erwartet Übermenschliches - und das bekommt man dann auch. Weiß Gott keine Selbstverständlichkeit, aber das hat er nun davon, so fucking gut zu sein. SO FUCKING GUT!


 



Erschienen auf Inside Out, 2023. 



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DANNY PAUL GRODY - ARC OF DAY


Und nochmal Kalifornien, dieses Mal San Francisco. Sein Album "In Search Of Light" aus dem Jahr 2011 hatte ich seinerzeit als "Sorgenbrecher" bezeichnet, und seine Musik ist auch 13 Jahre später noch immer genau das. Ich hatte es leider versäumt, über sein 2021er Werk "Furniture Music II" zu berichten, das mir in der Pandemie Hoffnung und Licht ins Sossenheimer Outback brachte, aber das passiert mir nicht nochmal. Die Ruhe und die Kontemplation, die vom inneren Kern von "Arc Of Day" ausstrahlt, macht mein Leben besser. Ich schmecke die Luft an der US-amerikanischen Nordwestküste, spüre den Sand zwischen den Zehen, die Sonne auf der Haut. Eigentlich ist das Psychotherapie, nur ohne Reden. Zuhören sollte man aber. 





Erschienen auf Three Lobed Recordings, 2023.



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AYAAVAAKI & PURL - ANCIENT SKIES


Purl sagte kürzlich über "Ancient Skies", es sei eine der einzigartigsten Platten, die er je aufgenommen hat - und wer sich darüber im Klaren ist, wie viele Alben dieser Kosmopolit schon veröffentlichte und wie bescheiden er für gewöhnlich auftritt, mag erahnen, wie wichtig ihm ausgerechnet dieses Werk ist. Gleichzeitig kann der Eindruck entstehen, "Ancient Skies" sei ein wenig vom Radar der Ambientfans gerutscht und damit also unterschätzt und/oder übersehen - und das muss ich für meine Wenigkeit leider bestätigen. Es gibt einfach viel zu viel Musik und das Leben raubt mir viel zu viel Zeit - und dann legt Purl eben noch immer ein atemberaubendes Veröffentlichungstempo vor. Hinzu kommt: "Ancient Skies" ist in der (digitalen) Orginalfassung fast zweieinhalb Stunden lang, und einfach zu hören ist das nicht unbedingt. "Ancient Skies" ist einerseits dramatisch und opulent, andererseits spielt sich so viel unter den hörbaren Schwingungen dieser Musik ab, ist subtil, manchmal mystisch. Wenn der halbe westliche Planet damit beschäftigt zu sein scheint, das durchs Social Media-Dauerfeuer schön herangezüchtete ADHS zu füttern, erscheint es lohnenswerter denn je, sich einfach mal für zwei Stunden auszuklinken. 

Hinweis: die Doppel-LP hat lediglich acht (statt vierzehn) Songs in zum Vergleich zur digitalen Version editierten Fassungen.


  



Erschienen auf LILA लीला, 2023 




23.06.2024

Sonst noch was, 2023?! - Pablo Bolivar & Nacho Sanchez - Distances




PABLO BOLIVAR & NACHO SANCHEZ - DISTANCES


"Don't let the voices in your head stop you from feeling free." (Rick Rubin)


Achtung, Achtung! Unkontrollierte, unreflektierte Lobhudelei incoming - und ich schäme mich nicht mal. Einfach nur ganz viel Liebe für ein umwerfendes Album. Es gibt im Prinzip auch nichts anderes zu berichten.

Aber so manches geht eben übers Prinzip hinaus und wenn ich jedes Mal nach dreieinhalb holzig formulierten Sätzen den Reviewladen wieder verrammeln würde, hätten wir zwar alle gemeinsam mehr Gehirnzellen übrig, aber ich kann darauf keine Rücksicht nehmen, man mag's mir bittschön nachsehen. Ich bin außerdem der Auffassung, dass "Distances" viel zu wenig Aufmerksamkeit erhält und erhielt und das muss sich ändern. Musikrezensionen sind nun wirklich nicht mehr en vogue, und in Zeiten, in denen die meisten Mailorder schlicht den mitgelieferten Promotext copy/pasten und es irgendwie als redaktionellen Inhalt aussehen lassen, ist es ja auch viel zu anstrengend, die eigenen Gedanken mal Gassi gehen und sie an die nächste Straßenlaterne strullen zu lassen. Und wer soll's denn in Gottes Namen auch lesen, "jetzt bleiben se mal ernst!" (Pispers)

Wo es doch vor allem gehört werden muss. 

Mir ist das alles egal, es muss einfach raus. Dabei wäre mir "Distances" beinahe wieder durch die Lappen gegangen. Pablo und sein großartiges "Seven Villas" Label waren schon einige Male zu Gast in meinem literarisch gefluteten Kellerverlies der ästhetischen Absonderlichkeiten, unvergessen beispielsweise "Details Am Rande" mit seinem Buddy Sensual Physics aka Jörg Schuster - aber obwohl ich in Fällen, in welchen ich aufgrund vorangegangener Verdienste bereits den prunkvollen Loyalitätstempel gebaut und sogar mal feucht durchgewischt habe und also ganz besonders aufmerksam bin, erfuhr ich von "Distances" gar so spät, dass die auf nur 300 Stück limitierte Vinylausgabe in den einschlägigen Mailordern entweder bereits ausverkauft oder aber so unfassbar fucking teuer war. Nun habe ich grundlegend nur eine schwach ausgeprägte Impulskontrolle hinsichtlich neuer Schallplatten - Geld muss weg und das letzte Hemd hat keine Taschen, es stimmt, stop your internal dialogue - aber bei 50 Euro pro Exemplar bekomme ich einen Schlaganfall (Jochbeinbruch,  Nasenbluten). Erst vor wenigen Wochen bekam ich endlich die Gelegenheit, "Distances" mit seinem wunderbaren Coverartwork und dem violett-weiß-marmorierten Doppelvinyl für einen Preis zu ergattern, bei dem ich mich nicht selbst vollkotzen muss. Und damit wir uns richtig verstehen: für die volle Experience braucht's einfach die Schallplatte. 

Verliebt hatte ich mich in diese so introspektive und doch so leb- und bildhafte Musik jedoch schon sehr früh nach dem Erstkontakt über die Nullen und Einsen der digitalen Welt. Der Verbindungsaufbau in den Emo-Maschinenraum erfolgt unmittelbar, weil da so viel Vertrauen aus dieser Musik entspringt. Zumindest dieser Teil funktioniert also auch ohne den ganzen prätentiösen "Vinyl hier, Vinyl da"-Scheißdreck. Kann man mal sehen! 

In Spannungsdreieck von Deep House, Ambient und Dubtechno setzt "Distances" ein ganzes Rudel bekiffter Ausrufezeichen, und es hätten viel, viel mehr Menschen mitbekommen sollen. Die beiden Produzenten Pablo Bolivar und Nacho Sanchez zollen auf ihrer ersten gemeinsam gestalteten LP den beiden großen Fixpunkten Detroit und Berlin Respekt und haben einen expansiven Ballungsraum für die entsprechenden Spielarten erschaffen, der zu gleichen Teilen den bereits erlebten wie auch den kommenden Zeiten Beachtung und Anerkennung schenkt. Ein sich ständig neu konfiguriendes Kaleidoskop aus Klang, Bedeutung, Farben und Emotionen. 

"Distances" liefert mystische Science Fiction-Vibes, zaubert Vernebelung im Deep Space, schleudert Kältedruckwellen und purpur-glühende Lichtfäden in den freien Raum, die sich unter Langzeitbelichtung in der Atmosphäre einbrennen und dort Wegweiser und Monument sind. Ein majestätisch und bedächtig durch die Zeit treibendes Generationenschiff mit Bewusstheit und -sein für den Kontext der frühen Meisterinnen und Meister, und verstandenem Auftrag für das Übermorgen. 

Immer daran erinnern: Akustische Levitation ist möglich.


 


Erschienen auf Seven Villas, 2023. 

16.06.2024

Sonst noch was, 2023?! - Overkill - Scorched




OVERKILL - SCORCHED


"Heavy Metal is the most conservative of all loud music. Let's face it, not even a gym teacher could get as many people to dress alike." (Jello Biafra)



Über meine besondere Liebesbeziehung zu Overkill habe ich zuletzt vor zwei Jahren im Rahmen meines Reviews zum ihrem "The Atlantic Years"-Boxset referiert, und wer sich diesen unfassbar langen und -weiligen, gut fünfzehnminütigen Monolog noch nicht angeschaut/angehört haben sollte, well: "Enjoy!"





Nun ist es aber auch so, dass ich mit meiner Abneigung sowohl gegen zeitgenössichen Metal als auch gegen jene Bande von abgehalfterten Geronten, die vor vierzig Jahren mal eine Handvoll Songs auf die Reihe bekommen haben, nun am Nasenring durch die kapitalistischen Endverwerterfestivals des "Häffi Meddl" (Loddar) geschleift werden, um sich mit ein paar Euro den knittrigen Rentensack aufbügeln zu lassen und praktisch nur für die Stagetime aus dem Krankenhausbett und/oder Nachttopf geschweißt werden, nicht unbedingt hinterm Berg halte und sie damit also auch nicht zum ersten Mal äußere - was mir stets nur die allerfeierlichsten Liebesbriefe von den Kuttenadolfs mit bioelektrischem Gewitter in der Großhirnrinde beschert. Und auch wenn Overkill weder in die eine, noch in die andere Kategorie so richtig hineinpassen - (1) zeitgenössichen Metal machte die Band zuletzt circa 1991 und (2) trotz ihrer nur schwer aushaltbaren Schwächephase in den nuller Jahren waren sie einfach IMMER da und spielten konsequent ihren Stiefel - so lassen sich dennoch Elemente davon ihrer Musik und ihrem Auftreten finden; es scheint ihnen allerdings in meiner Welt weniger als anderen Metalboomern etwas anzuhaben. Daher gilt das eiserne Gesetz im Hause Dreikommaviernull: in jede neue Overkill-Platte wird wenigstens reingehört. Ihr ureigener, hochspezialierter Thrash Metal-Stil mit den typischen Punk- und Hardcorevibes der US-amerikanischen Ostküste, ihre kaum glattpolierte Räudigkeit mit seltsamerweise immer noch authentischer "Fuck You!"-Attitüde, ihr immer noch sehr hohes Energielevel - mein vierzehnjähriges Reptiliengehirn findet vieles davon auch heute noch sehr, sehr anziehend. 

Und so höre ich seit dem 1999er Album "Necroshine" in jedes neue Album rein, schätze fast immer den Drive und die Frische, finde ebenfalls fast immer ein paar Höhepunkte und ein paar solide Overkill-Generika, wundere mich darüber, wie gut die Stimme von Blitz immer noch klingt, und sinniere darüber, wie sie ihn wohl fürs Studio immer wieder so gut hingebogen bekommen (die Antwort: reiner Sauerstoff!), ärgere mich über den heutzutage leider typischen, lauten, undynamischen, phantasielosen Plastiksound, ärgere mich noch mehr über die seit vielen Jahren ubiquitären Einflüsse klassischen Metals mit eingängigen, kitschigen, hypermelodischen Refrains und Soli, wirklich der allerschlimmste Offenbarungseid eines ganzen Genres gegenüber des mental tiefergelegten ADHS-Publikums, und freue mich dennoch schlussendlich, dass sie immer noch da sind. Denn eine Metalszene ohne Overkill ist zwar möglich, aber sinnlos. Ich entschuldige mich für das absolut frische und unverbrauchte Zitat aus dem Loriot-Pleistozän. 

Seit 1999 und also "Necroshine" hat es allerdings kein einziges neues Album des New Yorker-Quintetts mehr in die Sammlung geschafft - und wie anhand dieses Reviews zu erkennen ist, änderte sich dieser Zustand mit "Scorched". Wer hätte das gedacht?

Ich jedenfalls nicht, aber sei's drum: mindestens die Hälfte der Songs auf dieser Platte sind so gut wie seit des 1994 erschienenen Albums "W.F.O." nicht mehr. Der Titeltrack, "The Surgeon", "Wicked Place", "Fever" und "Bag O' Bones" sind knallharte, funkensprühende, energiegeladene Granaten, die jeden Thrashfreak in den Wahnsinn treiben können. Dazu gibt es einige Experimente, die zwar im Kontext Ihres Lebenswerks nicht umwerfend revolutionär erscheinen - die Band hatte vor allem in der Frühphase ihrer Karriere sowohl den Mut wie auch die Fähigkeiten, ihrer Liebe zu Black Sabbath mittels einiger sehr doomigen, schleppenden Songs wie zum Beispiel "Playing With Spiders/Skullkrusher" Ausdruck zu verleihen  - die aber vor dem Hintergrund des Zustands aktuellen Metals fast schon wie ein "Aufstand der Anständigen" (Gerhard "Acker" Schröder) wirken. "Fever" ist beispielsweise eine harzige Huldigung an Ozzy/Sabbath, die angesichts der stimmlichen Ähnlichkeit zum Oppa of Darkness beinahe meinem bislang erfolgreich verlaufenden Unterfangen, einen Ozzy-freien Haushalt zu führen, gefährlich wird. Und obwohl "Fever" hier und da einen ganzen Gang runterschaltet, verursacht es keine Schäden an der wuchtigen Gesamtwirkung des Albums. Toll! "Wicked Place" bringt uns im Chorus ebenfalls einen doomigen Touch mit viel Macht, viel Druck, viel Neunziger. Viel Gut!

Die übrigen Songs sind im besten Fall solide wie "Harder They Fall" oder "Twist Of The Wick", im weniger guten Fall unnötig bis ärgerlich: "Going Home" startet eigentlich als guter, straighter Thrasher mit Reminiszenzen an die "W.F.O."-Ära, bevor er vom melodischen Chorus und den ultrapeinlichen Kosackenchor-Shouts gekidnappt und mit Handschellen gefesselt ins niederste Bierzelt gezerrt wird, wo sich schon Jürgen und Annika das Prosit zur Gemütlichkeit gegenseitig ins Genital singen. Einziger echter Tiefpunkt ist für mich "Won't Be Coming Back" und ich fürchte, ich muss es dabei schon belassen - das ist für Overkill-Verhältnisse schlicht ein unwürdiges Nichts von einem Song. Mir fällt dazu nicht viel ein. 

Insgesamt aber, und abgesehen von zwei, drei heiklen oder gar unterwältigenden Momenten, ist "Scorched" eine echte Überraschung. Ein hartes und gewaltiges, in einigen Passagen sogar intensives Thrashalbum und ziemlich sicher das beste Genrewerk seit Toxik's "Dis Morta" aus dem Jahr 2022. In Hinblick auf den Backkatalog der Band lasse ich mich mittlerweile sogar dazu hinreißen, "Scorched" als bestes Overkill-Album seit 1994 ins Karteikästchen einzusortieren. 

In voller Anerkennung dessen, dass meine Wenigkeit nicht dafür bekannt ist, solche Sätze allzu leichtfertig ins Weltnetz zu häkeln: ich empfehle Ihnen dringend, "Scorched" auf Urknall-Lautstärke zu hören. 

Herzlichst, 
Ihre Ilona Christen 




Erschienen auf Nuclear Blast, 2023.

01.06.2024

Sonst noch was, 2023?! - Radio Citizen - Lost & Found




RADIO CITIZEN - LOST & FOUND


„Ich habe nicht einen einzigen Sklaven in Katar g‘sehn. Die laufen alle frei ‘rum.“ (Franz Beckenbauer)


Fast aus dem Nichts erschien im Frühjahr 2023 diese Zusammenstellung von Niko Schabel's Radio Citizen Projekt, das von Mitte der nuller bis in die zehner Jahre hinein einigen Staub aufwirbeln konnte. Vor allem das umwerfende Debut "Radio Serengeti" aus dem Jahr 2006 (erschienen auf Ubiquity Records) mit den Hits "The Hop" und "Birds" versüßte mir so einige Tage und Nächte in meiner Wiesbadener Hood, und auch der Nachfolger "Hope And Despair"null war nach der sich aufgrund leicht angezogener Komplexität zeigenden Eingewöhnungszeit ein totales Highlight. Danach verlor ich Radio Citizen unerklärlicherweise aus den Augen, vielleicht einhergehend mit meinem sich immer stärker zeigenden Hang in Richtung Ambient und Dubtechno. Irgendwas rutscht ja immer vom Radar und hinterher hat man dann den Salat. 

Auf "Lost & Found" stehen zehn bislang unveröffentlichte Tracks, die sich an genau jenem Sound der ersten beide Alben orientieren: eine betörende, unwiderstehlich groovende Mischung aus krautigem Soul und Funk mit jazzigen Nuancen und einem freien, urbanen Electronica-Vibe. Wie schon auf den früheren Alben setzt Sängerin Bajka die prominentesten Akzente in diesem so breitbandig inszenierten, an allen Ecken und Enden brodelnden Sound: ihre an Jazzgrößen wie Nina Simone erinnernde Stimme hat soviel Tiefe und Charisma, ihre Phrasierung soviel Einzigartigkeit, dass sich damit praktisch jede gespielte Note in jene Sphären schrauben lässt, die üblicherweise nur von echten Legenden bewohnt werden. Auch die instrumentalen Songs wie beispielsweise "Mountains" lassen mich mit smarten Arrangements und den akzentuierten Dynamiken für verdiente Standing Ovations auf den Wohnzimmertisch klettern. "Lost & Found" ist eine der schönsten Überraschungen des letzten Jahres. Ich weiß nicht, ob man diesen Sound im Kontext der musikalischen Entwicklungen der letzten Jahre mittlerweile schon anachronistisch nennen darf, aber in meinem Buch klingen diese Songs - auch wenn sie einige Jahre auf dem Buckel haben dürften - immer noch frisch und sind mit ihrer funkensprühenden Lebendigkeit absolut zeitlos. 

Eigentlich bin ich geneigt zu sagen: wir brauchen heute mehr denn je genau diese Vibes. Herr Schabel, bitte übernehmen Sie. Ich bin bereit für mehr. 





Erschienen auf Rauschen Records, 2023.

26.05.2024

Sonst noch was, 2023?! - Packed Rich - Warp Fields




PACKED RICH - WARP FIELDS


“Right now, however, the extreme asymmetries of knowledge and power that have accrued to surveillance capitalism abrogate these elemental rights as our lives are unilaterally rendered as data, expropriated, and repurposed in new forms of social control, all of it in the service of others’ interests and in the absence of our awareness or means of combat." (Shoshana Zuboff)



Ich hab drauf geschlafen. Nicht wörtlich, bon - aber ich habe es verpennt, "Warp Fields" für die Bestenliste 2023 zu nominieren, und selten hat mich ein solcher Umstand mehr geärgert als hier. Sowas passiert manchmal - und vor allem dann, wenn ich, ganz banal, ein Album schlicht zu spät in die Finger bekomme. Hier war's im Dezember und ich stand bereits knietief in den sowohl geplanten als auch schon geschriebenen Reviews für das abgelaufene Musikjahr. Unter normalen Umständen ist "Warp Fields" ohne eine Nanosekunde des Zögerns ein Kandidat für die Top 5, vielleicht sogar Top 3. Daher müssen wir also jetzt im fuckin' Mai 2024 eine kurze Rückschau organisieren, verbunden mit der ziemlich vehementen Aufforderung, sich auf Bandcamp umgehend die 180g-Schallplatte für nur 16 Euro zu besorgen. Es sind noch fünf Exemplare direkt vom Label zu haben,  und alleine das ist ja schon ein mittelschwerer Skandal. Ich glaube, es geht los?! Was stimmt denn nicht mit Euch?!

Ich falle auch gleich mit der Tür ins Haus, wenn's genehm ist: "Warp Fields" klingt wie eine tiefenentspannte Frischkäse-Version eines Blue Hour-Sets von Flying Lotus, inklusive des Marijuananebels, der aus jeder Rille dieser Platte zu strömen scheint. Konzentriertes Drum'n'Bass-Gefuchtel, Lo-Fi Hip Hop-Kopfnicker, jazzy Broken Beats mit ätherischen Krautanteilen und verwinkelten Thundercat-Basslines verknoten sich mit einem hintergründigen, mehrdimensionalen Melodieverständnis, expansiven Ambient-Soundcollagen aus dem Katzenaugennebel und einer mystischen Science Fiction-Ästhetik als dicht gewebte Unterbodenstruktur. An den Rändern nehme ich überraschenderweise sehr subtile Nuancen aus dem Spiritual Jazz wahr, aber die zeigen sich in erster Linie in der Aura der Produktion, im Ansatz des Miteinanders (als Gäste dabei: Jessica Pham, Marvz, Marco Zenker und Robin Jermer), der Offenheit, der Umarmung. 

Denn auch wenn bei ich "Warp Fields" eine aus den entsprechenden Genres adaptierte intellektuelle Distanz oder meinetwegen "Verkopftheit" (note to self: muss aus dem eigenen Sprachgebrauch entfernt werden, und zwar schnell!) spüren kann, liegt das möglicherweise attraktivste Angebot dieses Albums darin, eine emotionale Verbindung aufzubauen. "Warp Fields" kann einerseits über die Abstraktion und die technisch anspruchs- und eindrucksvollen Aspekte der Musik einen Connect realisieren, aber der Magnetismus der Wärme, des Kollektivs und der Faszination über die Möglichkeiten des gemeinsamen Erlebens, der im Kern dieser Musik pulsiert und strahlt, ist schlicht unwiderstehlich. "Warp Fields" batikt Dir neue Nervenbahnen ins energetische Netz Deines Lebens. Das muss man zulassen wollen - oder auch nur können. Aber ich bezweifle, dass Gegenwehr eine Option ist.

Resistance is futile.


 


Erschienen auf Ilian Tape, 2023.

19.05.2024

Best of 2023 ° Platz 1: Mikkel Rev - The Art Of Levitation




MIKKEL REV - THE ART OF LEVITATION


“I’m sorry to put ‘Ambient’ in quotation marks all the time, but for me in ‘Ambient’ music, everything is possible, and the word ‘Ambient’ does not match all the musical possibilities we have within the music we do nowadays.” (Pete Namlook)


Es gibt Alben, die hinterlassen schon beim Erstkontakt den Eindruck, als würde ich sie schon mein ganzes Leben lang kennen. Was genau in solchen Moment passiert, ist mir bis heute verborgen geblieben, aber irgendeine Tangente zum Erlebten, Erträumten, Erhofften baut sich auf, eine Verbindung ins tiefere, vielleicht unbewusste Ich. Solche Platten weichen mir fortan nur noch selten von der Seite. Sie müssen nicht "erarbeitet", nicht mehr dechiffriert werden. Ihre Wirkung ist klar und unmittelbar. 

Es gibt Alben, die schon nach kurzer Zeit auf den Olymp klettern. So früh jedenfalls stand die Nummer Eins des Jahres selten fest. Schon als "The Art Of Leviation" vom norwegischen Produzenten Mikkel Rev im Frühjahr des vergangenen Jahres seine ersten Kreise durch mein Leben zog und sich die ersten Nervenbahnen miteinander verschweißten, wusste ich, dass hier wohl nicht mehr viel dran vorbeikommt. Und heute, ein gutes Jahr später, zeigt sich: es kam nichts mehr dran vorbei. 

Und dann gibt es Alben, die mich so tief in die Emotionskammer treffen, die solch überschwängliche, beinahe schon rauschhafte Zustände erschaffen und irrationale Momente der Euphorie entwickeln. Manchmal führen diese sehr eindrücklichen Erlebnisse dazu, jenen Alben mit einer merkwürdigen Form der Ehrfurcht zu begegnen. In den letzten zwanzig Jahren erlebte ich ähnliche Situationen beispielsweise mit "Frances The Mute" von The Mars Volta. Oder mit "Geisterfaust" von Bohren Und Der Club Of Gore. Das Gefühl totaler Euphorie, solche Musik hören zu dürfen und dabei eine solch tiefe Verbundenheit zu spüren; so als hätte man just den Code für ewiges Leben geknackt, den Pfad zu den aufgestiegenen Meistern entdeckt, das dritte Auge geöffnet. Es wird zur raison d'etre, zum neuen Fixpunkt. Ich klammere mich an solche Augenblicke mit allem, was ich habe. Ich möchte das nicht nur spüren können, vollständig und bis in alle Ewigkeit, ich möchte das auch nie wieder verlieren. Die beiden oben genannten Alben würden von mir auch heute noch als absolute Sternstunden meiner Laufbahn als Musikbesessener bezeichnet werden, selbst wenn ich sie praktisch nicht mehr auflege. Die Furcht davor, bei jeder neuen Auseinandersetzung dieses frühere Hochgefühl aus den Händen gerissen zu bekommen, sei es vielleicht weil es der falsche Ort und der falsche Zeitpunkt ist, irgendeine Laus, die mir über die Leber gelaufen ist oder der Mond falsch steht, ist real - und zugegeben, es ist schon einigermaßen balla-balla. 

Ähnlich erging es mir mit "The Art Of Levitation": nachdem mich diese Musik an jene so weit entfernt liegenden Orte trug, mich so gefangen nahm, ja geradezu erschütterte, ließ ich sie einfach mit diesen Eindrücken stehen, so wie sie war. Das war meine Nummer 1 des Jahres 2023. Case closed. Ich lasse mir das nicht mehr nehmen.

Nun ging es aber daran, wie immer "pünktich" im Mai 2024, all das in Worte zu kleiden. Dieser Faszination Ausdruck zu verleihen, im besten Fall so formvollendet ausformuliert, dass meine werten Leserinnen und Leser keine körperlichen Schäden davontragen, wenn die Netzhaut mit derlei Gedanken belichtet wird - und so fand "The Art Of Levitation" nach einigen Monaten der Stille erneut den Weg auf den Plattenteller. Tief durchatmen. Allen Mut zusammennehmen. Es geht hier ja nicht um Leben und Tod, vielleicht nur ein kleines bisschen. Aber was passiert, wenn mir jetzt all das schön zurechtgelegte "Album Of The Year"-Getrommel wegbröckelt? Wenn ich's einfach nicht mehr spüre? Mich nicht mehr erinnere? Wenn sich die Zweifel mit einem Schneidbrenner an der versiegelten Bunkertür zu Schaffen machen? 

"Dann wären wir wohl ganz schön angeschissen, was?!" (Hagen Rether)

Nun ist es Mai 2024, und Du liest gerade ebenjenes "Album Of The Year"-Getrommel. Nichts ist weggebröckelt, nichts ist vergessen, nichts ist abgedunkelt. "The Art Of Levitation" ist unkaputtbar. 

Wenn meine musikalische Libido nicht nach wie vor pausenlos die Konfettikanone zündete und ich mich also auf ein etwas rationaleres Niveau runterkühlen könnte, würde ich gegebenenfalls schreiben, dass die eigentliche Magie dieses Albums etwa ab Beginn der C-Seite startet und mit "Xistence" die Tür für das öffnet, was anschließend über "Regrets", "Sub Sea (Peace Mix) und "Insula" zum allerbesten zählt, was ich in den letzten zwanzig Jahren gehört habe, ein unnachahmlicher Ritt durch den Deepspace, der dich spiralförmig in die Höhe schießt und dabei aus allen Rohren Endorphine ins Wurzelchakra ballert, dich in den Seelennebel im Kassiopeia schickt, wo Dir Alf und Willy Tanner eine eiskalte Cola mit einem Schüsschen Ketamin servieren. It's THAT good.

Andererseits kühlt hier gar nichts auf irgendein Niveau runter und die Rationalität kann mir gerne einen Roberto Blanco-Text ins Ohr flüstern, wenn ich 2 Meter unter der Erde liege - bis dahin heißt es: die Magie beginnt freilich ab der ersten Sekunde. Labelchef Ryan führt in den Linernotes zum Album aus, dass er Mikkel darum bat, ihm doch ein paar Ideen für ein Demo zukommen zu lassen - und er anschließend unendlich viel atemberaubendes Material aus Norwegen erhielt, womit er für die Sequenzierung von "The Art Of Levitation" aus dem Vollen schöpfen konnte. Für Ryan keine Überraschung: Mikkels Beteiligung an dem Kollektiv Ute Records, deren Fokussierung auf Ambient und Trance, inklusive der Organisation von Trance Revival-Partys in den Wäldern Norwegens, ließ vermutlich schon an dieser Stelle Großes erwarten, verbinden sich doch hier die zwei großen musikalischen Vorlieben des Gründers von A Strangely Isolated Place. Vom ersten Vorantasten im Intro "Xpress 2 Planet Earth" mit seinem spannungsgeladenen Arrangement und futuristischen, außerweltlichen Sounds, die irgendwo zwischen Dystopie und Hoffnung hin und her schwingen, über den zwölfminütigen und lebhaft vibrierenden Titeltrack, der durch unzählige Sphären führt und stets ein neues musikalisches Backdrop in Deine Phantasiewelten tapeziert, oder das introspektive "Crater" bis hin zu den erwähnten, druckvollen Trance-Exkursionen, bei denen man sich wirklich wünscht, sie würden nie, nie, nie zu einem Ende kommen, ist die Story des Albums mit einem so feinen wie souveränen Händchen gestrickt. Es mag sich im Jahr 2024 abgeschmackt lesen, aber sei's drum: man ist wirklich auf einer Reise. 

"The Art Of Levitation" ist ein beeindruckendes, inspirierendes Zeugnis zeitgenössicher elektronischer Musik. Findet man in ein paar Jahren im "Muss man gehört haben!"-Kanon der ewigen Klassiker des Genres - und sogar darüber hinaus. Mark my words.


 



Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2023. 

12.05.2024

Best of 2023 ° Platz 2: bvdub - Fumika Fades




bvdub - FUMIKA FADES


"Shoulder deep within the borderline" (Maynard James Kennan)


Ich bin immer wieder froh, kein echter Musikjournalist zu sein. Eigentlich bin ich ja nicht mal ein unechter. Bitte nicht als Koketterie missverstehen; was ich damit sagen will: ich bin Fan. Und das ist praktisch alles, was ich bin. Ich verbringe viel Zeit mit der Recherche, springe wie ein vom ADS-Affen gebissenes und bis unters Dach mit Crack vollgepumptes Eichhörnchen von einer Stimulanz zur nächsten, kaufe meine Schallplatten, höre, höre, höre, recherchiere weiter - wer hat mit mit wem gespielt und gesprochen, wo wurde das aufgenommen, wer hat die Kabel aufgerollt und das Essen gebracht, wer produzierte, wer hat das Coverdesign gestaltet - und wenn alles gut läuft, schreibe ich irgendwann mal darüber. Nun bin ich in manchen Fällen ein bisschen mehr als nur ein Fan. Es wird mitunter ein bisschen ernster. 

Wenn beispielsweise Brock van Wey, Ludvig Cimbrelius oder Agus Mena neue Musik veröffentlichen oder wenn ein neues Album auf A Strangely Isolated Place ansteht, dann weiß ich um die Wichtigkeit, diese Musik in mein Leben zu lassen. Weil ich weiß, dass sie wie ein Kompass für ein besseres Leben funktioniert. Es ist Reinigung, Re-Kalibrierung, Erinnerung. Und ich versuche, von diesen Erfahrungen, die sich in der Auseinandersetzung mit dieser Musik entwickeln, so viel wie möglich in meinen Alltag zu integrieren. Hochgefühle erleben. Weniger, weil ich unentwegt im Endorphinrausch existieren will, sondern weil ich die Reminiszenz an jene Wahrnehmungen benötige, die mein Leben bereichern, anstatt vom stumpfen Getöse des Alltags geflutet zu werden. Es ist echtes Lebenselixier.

Nun sind Künstler wie Brock, Ludvig und Agus, als auch Labelmanager wie Ryan Griffin ausgesprochen umtriebig. Sie veröffentlichen mehrmals im Jahr neue Musik und ich versuche, immer auf dem Laufenden zu bleiben und den Überblick zu behalten - angesichts der Menge ihres Outputs gibt es indes leichter zu meisternde Herausforderungen. Und selbst wenn mir das gelänge, muss das dann nicht auch immer alles für die Bestenliste herangezogen werden? Und ich meine...wirklich alles?! Dabei sag ich's doch die ganze Zeit: wenn doch alles so toll, wichtig, überwältigend, inspirierend ist, dann ist es nicht nur naheliegend, sondern gar zwingend erforderlich, die Top 20 mit ihren Platten zuzuballern. Oder ist es am End' doch etwas komplizierter?

Freilich ist es das. Ich könnte von den neun (!) Alben, die Brock unter seinem bekanntesten Projekt bvdub im vergangenen Jahr veröffentlicht hat, alle in DIE_LISTE aufnehmen, aber was passiert dann mit den anderen 60 Platten, die mir 2023 zu neuen Mitbewohnern wurden? Und wenn ich gerade eh schon dabei bin, das Thema unnötig zu verkomplizieren: wie zum fickenden Fick wähle ich aus den neun Platten denn die "richtige" aus, ohne es komplett beliebig werden zu lassen? 

In meinem Buch gab es im Jahr 2023 zwei herausragende bvdub-Alben. Das eine ist "Days Of Gold", erschienen auf dem englischen Label Quiet Details und ist in der Ansprache so deutlich anders als so ziemlich alles, was Brock bislang zusammenstellte, dass alleine jener Umstand wenigstens eine Erwähnung an dieser Stelle notwendig macht. "Days Of Gold" ist euphorisch, ausgekleidet mit goldenem Funkenregen, hell, expansiv, einnehmend. Ich bin stets aufs Neue verblüfft, wie sehr es die Atmosphäre im Raum manipuliert, ins Humaninterieur hineinkriecht und dort herumwirbelt.  

Das andere unbedingt erwähnenswerte und also zu lobende Werk ist "Fumika Fades", als Vinyledition auf EC Underground erschienen und ähnlich wie "Days Of Gold" geprägt von einigen Merkmalen, die nicht alle Tage auf Alben von bvdub zu finden sind. Die vier langen, rund um die 20 Minuten-Marke endenden Tracks sind nicht nur überraschend abwechslungsreich und zeigen trotz des nach wie vor sehr ambienthaften Charakters etwas deutlicher ihre Wurzeln in der elektronischen Tanzmusik, sie sind auch mit Bedacht kuratiert und offenbaren aus 2000 Fuß betrachtet einen Spannungsbogen, der viel zur Dynamik und Intensität des Albums beiträgt. Anders als die stets subtil inszenierten House-Flashbacks, die sich auf nicht wenigen Songs von Brock finden lassen und vielleicht am stärksten auf seinen Arbeiten als Earth House Hold heraustreten, sind die zusätzlichen Jungle und Breakbeatelemente auf "Fumika Fades" der Gamechanger. Der Einstieg mit "Fade To Flow" gerät noch ziemlich traditionell und verläuft im Rahmen dessen, was man mittlerweile von einem bvdub Album erwarten darf, bekommt aber im letzten Viertel bereits die ersten, hier noch diesig verhuschten, Breakbeats ins Soundbild tapeziert. Die folgenden "Fade To Find" und "Fade To Feel" nehmen die Spur auf und drehen sowohl die pastoralen Momente seiner Musik, die sich so oft als Offenbarung im Sinne einer schier endlos verlaufenden Erlösung zeigen, als auch den Fokus auf den Rhythmus und das Flackern ein paar Grad nach oben. Das abschließende "Fade To Fall" äschert dann sämtliche im Vorfeld eh schon wackligen Grenzen und Hüllen ein: das betörende Vocalsample, die mäandernden Pianotupfer und der immer präsenter werdende Beat verfolgen allesamt nur ein Ziel: Eindringlichkeit. 

Für die Bewusstheit über die höchsten Höhen - und die tiefsten Tiefen. Für alles mittendrin. Für alles Äußere. Für alles Innere. Für die Erinnerung an den eigenen Herzschlag. Für die Unendlichkeit.


             



Erschienen auf EC Underground, 2023. 

27.04.2024

Best of 2023 ° Platz 4: Allen Epley - Everything



ALLEN EPLEY - EVERYTHING


“Forget the future, these times are such a mess
Tune out the past, and just say yes.”
(Sonic Youth)


Die Musik von Allen Epley schlägt immer eine ganz spezielle Saite im Nukleus meines Emotionskadavers an, und ich bin immer wehrlos dagegen. Nicht, dass ich mich wirklich wehren würde - seit dem Debut seiner Band The Life And Times aus dem Jahr 2005 bin ich bekennender Fanboy und habe das Power-Spacerock-Trio nicht nur ein Mal als "beste aktive Rockband des Planeten" bezeichnet. Mittlerweile müsste strenggenommen überdacht werden, ob "aktiv" noch das Wort der Wahl wäre, denn die Gruppe schweigt seit der vor sieben Jahren erschienenen letzten Platte, und es sieht aus der Ferne betrachtet nicht so aus, als solle sich an jenem Schwebezustand - eine Auflösung wurde offiziell nie bestätigt - mittelfristig etwas ändern. Nun ist es aber dennoch eine Realität, dass es selbst bei meinen Lieblingsbands einen Moment in ihren Karrieren gibt, an dem bei mir eine Art Übersättigung eintritt, sei es, weil ich mich stilistisch, ästhetisch, emotional oder sonst was/wie fortbewegt habe und mich außer einer imaginierten Loyalität nicht mehr viel hält, oder aber weil die Musiker selbst ihr Mojo verloren haben, oftmals einhergehend mit einer Verschiebung von Prioritäten (Haus, Familie, Job) und dem damit verbundenen Erlischen der Leidenschaft und des Feuers für die eigene Kunst. Ich werfe das niemandem vor, das sind schließlich in der Regel normal verlaufende Lebenslinien - und egal, wie hart einen die Nostalgie manchmal ficken mag: es gibt für alles und jeden eine Zeit und einen Ort, für die juvenile Entflammbarkeit wie für das erkaltete "Adieu". 

Für Allen Epley gilt das alles nicht. Was auch immer er aus seiner Stimme und seiner Gitarre herausholt, setzt meist umgehend einen Anker. Mit seiner legendären 1990er Band Shiner im etwas ruppigeren Grunge, Noise und Alternative-Teilchenbeschleuniger, mit The Life And Times und ihrer Shoegaze, Spacerock und Wall of Sound-Ästhetik - und nun erstmals solo mit all den so liebgewonnenen Merkmalen seiner Musik: der sich tief eingrabenden Melancholie und der Introvertiertheit, die sich in intensiven Momenten entlädt, einem so außergewöhnlichen wie einzigartigen Melodieverständnis, für das Epley in erster Linie den schwierigen, verborgenen, verwinkelten Weg sucht, anstatt an der Oberfläche zu bleiben und die Simpletons mit Eingängigkeit zwangszuernähren. Oder den mit allerlei Effekten überladenen, sirupartig aus den Lautsprechern quillenden Gitarren, die in Kombination mit seiner mehrfach gelayerten Stimme, den langgezogenen Melodiebögen und den ungewöhnlichen Gesangsharmonien eine psychedelische Qualität erreichen, die Erinnerungen an die Hippiegeneration wachkitzeln. Ohne das Powerdrumming von The Life And Times-Schlagzeuger Chris Metcalf und dem massiven Ampeg-Bass-Knurren von Eric Abert steht "Everything" mit einem viertel Bein tatsächlich etwas mehr in der entrückteren Ecke geparkten Abteilung der Singer/Songwriter Tradition. Oder, um präziser zu sein, weist im Fundament subtile Schattierungen von jener Musik auf, die in Nordamerika unter dem Rubrum "AM Gold" gelistet wird: Softrock und Top 40 Songs der 1960er und 1970er Jahre von The Carpenters, James Taylor, Scott McKenzie, Aretha Franklin, The Hollies, Dionne Warwick, America. Musik also, für die eine vordergründige Leichtigkeit so essentell war wie eine zwischenweltliche Schwermut und der die Anerkennung des eigenen Standorts so wichtig war wie die Hoffnung auf ein besseres Leben. Und die darüber hinaus vor allem in den psychedelischen Momenten geprägt war von einem neu entdeckten und erweiterten Begriffs der Selbstbewusstheit, von einer Expansion ins Surreale, auch ins Abgründige. 

Epleys Musik hatte stets ein eskapistisches Moment. Weniger im Sinne einer potemkinschen Scharade, die im Außen Herrlichkeit suggeriert, während ein paar Meter dahinter ein Atomkraftwerk vor sich hinglüht, sondern im Sinne einer Suche, einer über den status quo hinausgehenden Erkundung neuer Welten und Perspektiven. Die Schwermut, die über seiner Musik liegt, findet die richtigen Frequenzen so unmittelbar, weil sie uns in der Enttäuschung über die Wirklichkeit eint. Wir spüren: wir müssen hier raus. Und im gleichen Moment trifft es uns wie ein Blitz: wir kommen hier nicht raus.

Außer natürlich, man legt "Everything" auf und zieht ein Ticket für die Rundreise durchs große, weite Universum.


  


Erschienen auf Spartan Records, 2023.


22.04.2024

Best of 2023 ° Platz 5: Alex Albrecht - Coles Ridge




ALEX ALBRECHT - COLES RIDGE


"You know, if you take everything I've accomplished in my entire life and condense it down into one day, it looks decent." (George Costanza)


Erinnert sich noch jemand an Seaworthys "Map In Hand"-Meisterwerk aus dem Jahr 2006? Vieles, was ich damals (und heute eigentlich immer noch) über dieses so leise und subtile aber mit großer emotionaler Wucht inszenierte Album schrieb, gilt auch für das zweite Album des ebenfalls aus Australien stammenden Produzenten Alex Albrecht - obwohl "Coles Ridge" zumindest vordergründig nicht immer leise und subtil ist. Stattdessen wird es bisweilen sogar überraschend lebhaft, wie im sechsminütigen Ambient House-Schwoofer "Behind The Break", wie gemacht für die berüchtigten Panflöten-Ketamin-Bärlauch-Smoothies bei der After-Work-Party im Frankfurter Bankenviertel Bahnhofsviertel. Dennoch geht es hier nicht um sowas banales wie Tempo. It's the vibe, dude! Was "Map In Hand" und "Coles Ridge" eint, ist die Fähigkeit, diese ganz spezifisch aus der Natur entnommenen Atmosphären einzufangen und sie so präzise zu vertonen. Das erscheint mir beinahe einmalig zu sein. 

Eine Idee zur Auflösung: Die Romantik infiltriert die Ratio, der Wille zur Exaktheit diffundiert das Pathos. Nichts davon ist statisch, besonders Albrechts Musik ist eine einzige Elastizitätsübung: vom perlenden Piano-Sepia zu komplexen rythmischen Figuren, vom jazzig gehackten Downbeatkraut aus Richard Dorfmeisters Stash hin zu auf die Tanzfläche drängenden House-Akzenten spannt "Coles Ridge" aus musikalischer Sicht einen weiten Bogen. Das ist das eine. 

Das andere ist, wie die Perspektive von Erlebnissen und Situationen sich innerhalb dieses inneren Klanguniversums ändert and anpasst, ohne dabei die Erzählung zu verfälschen; dem Bild also plötzlich eine andere Tönung, ein anderes Licht zu geben, aber die emotionale Spannung zu fixieren. So entstehen zwei unterschiedliche Ebenen der Ansprache, deren Unabhängigkeit voneinander nur in der engsten Verbindung und gleichzeitig der größtmöglichen Freiheit existieren. 

Die Inspiration zu "Coles Ridge" entnahm Alex seinen Reisen durch die Dandenong Ranges, einer etwa 35 Kilometer östlich von Melbourne liegenden Bergkette. Selbst wenn ich noch nie in Australien war, und ich bezweifle, diesen Status jemals ändern zu können oder auch nur zu wollen, kann ich beinahe die feuchte Luft auf dem Gipfel des Mount Dandenong schmecken. 

Was für ein Trip!





Erschienen auf Analogue Attic Recordings, 2023.

23.03.2024

Best of 2023 ° Platz 9: Jonny Nash - Point Of Entry




JONNY NASH - POINT OF ENTRY


"As you get older, the questions come down to about two or three. How long? And what do I do with the time I've got left?" (David Bowie)


Es gibt Platten, die in derart glühender Schönheit strahlen, dass sie beinahe Schmerzen verursachen - und sei es aus Sehnsucht. Und es gibt Platten, die mein aus dem selbt gewählten Trommelfeuer aus Reizüberflutung, schwer zu stillender Neugier und einem Schuss Flucht und Prokrastination herangezüchtetes ADS wenigstens für kurze, flüchtige Momente narkotisieren können. Das Eintauchen in "Point Of Entry", dem sechsten Soloalbum des in Amsterdam lebenden Musikers Jonny Nash, verbindet diese beiden Zustände, und in seinen besten Momenten passieren sie simultan. In Einigkeit. Und sie sorgen damit für jene so großen wie seltenen Momente der Klarheit, die manches Mal zu echten Lebensrettern werden. Die zurückwerfen, neu justieren, reinigen. 

Nash bezeichnet seine Musik als "Personal Folk Music". Sein Lieblingsinstrument ist die Gitarre, die er mal mit zärtlich-sprödem Picking durch eine abgelegene Dünenlandschaft navigiert, mal in übereinanderliegenden Schichten arrangiert und so mehrdimensionale Räume erschafft, die eine erstaunliche Tiefe entwickeln können. In einem der Höhepunkte des Albums "All I Ever Needed" verschrauben sich die Gitarrenfiguren miteinander und gegeneinander, levitieren und kreiseln so lange, bis das aus der Ferne herbeigerufene Feedback beschwichtigt und glättet. Dabei behält Nash die Einfachheit jederzeit im Zentrum seiner Musik, und das berühmte Zitat von Mark Hollis "Learn how to play one note." kommt mir nicht von ungefähr in den Sinn: Stimmung und Duktus von "Point Of Entry" lassen Erinnerungen sowohl an das Spätwerk Talk Talks als auch das legendär reduzierte Soloalbum Hollis' aus dem Jahr 1998 wach werden. Es ist die Weite, die Stille, das Aufziehen der Brennweite, die zu gleichen Teilen die tiefen Schichten vergrößert, wie sie das Verständnis für das umliegende Grenzgewebe in feiner Körnung vermittelt. Das teilt "Point Of Entry" mit jenen Werken, die den Mut zur totalen Reduktion aufbrachten und damit die Zeit gerinnen ließen. 

Nashs genuschelter, gehauchter, manchmal wie gelallt wirkender Gesang in "Silver Sand" und "Eternal Life" erinnert darüber hinaus an einen, der in seinen Mitteln ähnlich radikal vorging, wenngleich die Ausgangslagen sicherlich unterschiedlicher nicht sein könnten: Lewis Baloue, der zunächst vergessene und später durch das Label Light In The Attic wiederentdeckte Troubadour, verewigte auf seinen beiden Alben "Lewis" und "Romantic Times" ähnlich brüchige Momente des Disengagements, die keine Loslösung, sondern im Gegenteil Zuwendung und Umarmung bewirken sollten. Das ist nicht immer elegant, aber die sich in der Konsequenz zeigende Verbindung zur Schwingung dieser Musik, zu ihren Bildern und ihrer vernebelten Elegie, braucht keine Kultiviertheit. Sie braucht das Leben, den Sand in den Augen, den Wind in den Haaren, das Angeknackste, das Verwitterte. 

Die Freiheit solcher Orte hat eine große Wucht. 


      



Erschienen auf Melody As Truth, 2023.

16.03.2024

Best of 2023 ° Platz 10: Max Würden - Landmark




MAX WÜRDEN - LANDMARK


"Musik kann – vor allem, wenn sie ein bisschen spirituell ist – eine gute Verbindung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und dem, was noch kommt, sein. Weil sie ein starker Erinnerungsträger ist." (Dirk von Lowtzow)


"Landmark" ist das symbolreichste Ambientalbum des Jahres, eine Unterrichtsstunde in Storytelling, das Leben in der Breitwand, der Puls an der Goldader. Einerseits bis ans Ende der Welt mit spielerischer Kreativität aufgeladen, andererseits so streng auf Kurs, dass keine Millisekunde zufällig erscheint; jeder Kratzer, jedes Schnarren, jeder hingetupfte Herzschlag hat Bedeutung - selbst die, die aus Zeit und Raum fallen. Unbemerkt. Das ist vielleicht die Hürde, die es zu nehmen gilt: den Versuchungen zu widerstehen, hier nicht mit ungeteilter Aufmerksamkeit bei der Sache zu sein. "Landmark" fordert sie nämlich ein, die Vergegenwärtigung - und es kann recht ungnädig werden, wenn nebenher im, sagen wir: Nagelstudio das "Schwarzbuch Kapitalismus" studiert wird. 

Das zweite Album des Kölner Produzenten für A Strangely Isolated Place ist, wie schon "Format" aus dem Jahr 2019, nicht mit einem Handstreich gehört und erfasst. "Format" empfand ich zunächst als experimentell-ruppig und zerrissen, es fiel mir schwer, eine Verbindung, einen Anker zu finden. Erst die weitere Auseinandersetzung glättete den verstrubbelten ersten Eindruck und öffnete schlussendlich die ehemals noch verschlossenen Türen. Max Würden macht keine Musik für Jederfrau und Jedermann, und ich weiß, dass mit solchen Sätzen vorsichtig umgegangen werden muss - als schwierig zu gelten, ist schwierig und im aktuellen Klima des watteweichen Schönklangs wird's damit nicht leichter. Wer sich indes auf seine Musik einlässt, wird reich belohnt. 

Dabei macht "Landmark" es in meiner Wahrnehmung einfacher, schneller die richtigen Schlüssel für die richtigen Schlösser zu finden - und das gelingt in erster Linie über die sich durch den Klang ausbreitende Aura des Albums. Es leuchtet. In Gold. Und es taucht den Raum, den es bewohnt, in das Licht der Ewigkeit und der Unendlichkeit. Der erste Verbindungsaufbau geschieht damit ganz unmittelbar, weil sich die Frequenzen gegenseitig sofort für- und aufeinander ausrichten. "Landmark" entwickelt ab diesem Punkt eine außergewöhnliche Eleganz in der Beobachtung und Darstellung, weil es sich so geschmeidig zwischen den Perspektiven bewegt und es plötzlich keine Rolle mehr spielt, an welchem Punkt wir in seine Realität eintauchen. 

Wir sehen, wir hören, wir fühlen. In Echtzeit. Das ist die Meisterklasse. 


   



Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2023.