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15.08.2025

My Nineties Were Better Than Your Nineties - #186: Tiamat - A Different Kind Of Slumber




TIAMAT - A DEEPER KIND OF SLUMBER


„Die Eintagsfliege wird bereits zwölf Stunden nach ihrer Geburt von ihrer Midlife-Crisis erwischt. Das muss man sich mal klarmachen!“ (Loriot)


Mir fällt es schwer, die Gedanken zu "A Deeper Kind Of Slumber" zu sortieren. Ich habe auch außerhalb dieser Rückschau auf die neunziger Jahre immer wieder unangenehm häufig von "Anything Goes!" gesprochen, um die Aufbruchstimmung, den kreativen Mut und die Offenheit sowohl von Musikern als auch von Fans in diesem so besonderen Jahrzehnt zu beschreiben - und jedes Mal frage ich mich, ob derlei Charakterisierungsquark möglicherweise nicht doch auch nur ein typisch romantisiertes Narrativ ist, das sich über die Jahre wie eine Nebelbank über die eigene Erinnerung gelegt hat. "A Deeper Kind Of Slumber" war 1997 ein wirklich mutiger Schritt für eine Band, die erst sieben Jahre früher mit tiefschwarz rumpelnden Death Metal auf "Sumerian Cry" debutierte. Selbst wenn die nachfolgenden Alben, allen voran die heute als Klassiker geltenden "Clouds" (1992) und ganz besonders "Wildhoney" (1994), weitgehend mit der Death Metal Vergangenheit brachen und damit die nicht gerade für ihre Toleranz bekannte Fanbase immerhin darauf vorbereiteten, dass Bandgründer und Songschreiber Johan Edlund kein Interesse daran hat, Erwartungen zu erfüllen und sich stilistisch einzuschränken, war der Sprung zum fünften Studioalbum der Band ein gewaltiger. 

Und weil das umgehend in den ersten vier Minuten des Albums klargemacht werden musste, eröffnete Edlund das Werk nicht nur mit dem von einer poppigen Gitarrenmelodie getragenen und sehr eingängigen "Cold Seed", sondern koppelte den Song auch noch als erste (und einzige) Single aus, um wirklich jedes Missverständnis hinsichtlich seiner kreativen Vision aus dem Weg zu räumen. 

Die Mehrheit derer, die sich von "A Deeper Kind Of Slumber" eine Fortführung des auf "Wildhoney" etablierten Black Floyd Pink Sabbath-Stils erhofften, gingen also hier schon über Bord - und sie hätten für die nächsten 55 Minuten des Albums so oder so vor gewaltigen Herausforderungen gestanden. Denn eigentlich legen Tiamat sogar erst nach dem Opener so richtig los: Edlund verarbeitet seine Erfahrungen mit Psilocybin und LSD und erkundet Traumwelten, in die sich Dead Can Dance, Depeche Mode und Pink Floyd für eine psychedelische Orgie zu Midsommar eingebucht haben. "A Deeper Kind Of Slumber" ist außergewöhnlich couragiert und ambitioniert - und fiel zu seiner Zeit erwartungsgemäß beim Publikum durch. Ich sehe knapp dreißig Jahre später Anzeichen einer Rehabilitierung, aber die Frage bleibt: waren die Neunziger am Ende also doch nicht so aufgeschlossen und unvoreingenommen, wie ich sie abgespeichert habe? Ich habe dafür keine endgültige Antwort in der Tasche, zumindest keine, die sich in fünf oder fünfhundert Zeilen ausformulieren ließe, aber immerhin lieferte das Jahrzehnt jenen Nährboden, der Platten wie "A Deeper Kind Of Slumber" überhaupt erst ermöglichte. 

Das mag jetzt ein wenig prätentiös sein, aber ich bin wirklich glücklich darüber, diese Zeiten miterlebt zu haben.


Vinyl und so: Die 1997er Originalpressung mit dem Artwork der europäischen Albumversion bekommt man in gutem Zustand für +/-50 Euro. Erstmal wurde die Platte im Jahr 2009 von Black Sleeves auf Vinyl neu aufgelegt, gefolgt von Century Media-Nachpressungen im Jahr 2018 in vier verschiedenen Farben als Gatefold und mit dem US-Amerikanischen Artwork (das tatsächlich noch diskussionswürdiger ist als die EU-Variante). Gepresst in Deutschland von Optimal Media - und zwar fehlerfrei und mit tollem Sound. Anschließend veröffentlichten Transcending Records aus Chicago (ein äußerst fragwürdiger Laden, Vorsicht ist geboten) und Church Of Vinyl (mit nochmals verändertem Artwork) Nachpressungen.


 



Erschienen auf Century Media, 1997.

02.08.2025

My Nineties Were Better Than Your Nineties - #188: Candlebox - Candlebox




CANDLEBOX - CANDLEBOX


"Das Leben ist eine immer dichter werdende Folge von Finsternissen." (Thomas Bernhard)


Dieser 1990 gegründeten Band aus Seattle haftete für lange Zeit ein ähnlicher Makel wie den Stone Temple Pilots an, dass sie also nur deshalb auf der Erfolgswelle surften und es bis nach ganz oben schafften, weil Majorlabels noch den allerletzten Dollar aus Seattle, Grunge und Flanellhemden herauspressen wollten und dafür Kanonenfutter Bands benötigten, die einen bestenfalls identischen Sound wie die großen Vier - Nirvana, Pearl Jam, Alice In Chains, Soundgarden - spielten, und die vor allem schnell wieder vor die Tür gesetzt werden konnten, wenn die nächste musikalische Sau durchs Dorf getrieben werden musste. Ein Schweinesystem ist eben ein Schweinesystem. 

Musikalisch substanzlos, billig, irrelevant, alles nur geklaut - und dann auch noch schlecht: die Hasswichsorgien in der Musikpresse nahmen kein Ende. Dabei war die Basis für derlei Argumentation in erster Linie ein ganzes Pfund Neid, gefolgt von gekränkten Egos, dem Eros des Verrisses und selbstredend einer schweren Hirninfektion, denn richtig zugehört hatte hier niemand. Bis eben auf die vier Millionen US-Amerikaner, die das Debut von Candlebox kauften und bis auf Platz 7 der Billboard Charts schoben. Zwar erreichte das Album die Top 10 erst im Zuge des Durchbruchs der dritten Single "Far Behind" mit einer Verspätung von einem Jahr, aber dann blieb "Candlebox" für sagenhafte 104 Wochen in den Charts. Je sais, je sais: Ähnliches hat Bohlens musikalischer Penisbruch Modern Talking auch schon geschafft. Ich hör' ja schon auf.

Drei Jahrzehnte später wirken solche Diskussionen in Hinblick auf Seattle-Bands der dritten Welle völlig bizarr. Während ich immer noch darauf warte, dass endlich mal jemand diesen ganzen Quatsch aus der ersten Hälfte der 90er Jahre in einem Buch neu einordnet und mit ein paar der beklopptesten Narrative kurzen Prozess macht, erzähle ich noch schnell etwas über "Candlebox", denn darum sind wir ja alle hier: Wer sich also eine Melange aus Blind Melon, einem Klecks Mother Love Bone und den eingängigen, rockigen Momenten der ersten beiden Pearl Jam-Alben mit einem wirklich herausragenden Sänger (Kevin Martin) vorstellen kann, hat ein ganz stimmiges Bild dessen vor Augen, was auf der Agenda steht. Das Album warf mindestens dreieinhalb erfolgreiche Singles ab, ich bin aber der Ansicht, dass die übrigen Songs mindestens genau so viel Spaß machen - vor allem, wenn die Band wie in "Mothers Dream" mit psychedelischen Elementen herumspielt. Das ist mitnichten gefährlich oder gar eine Grenzverschiebung. Aber es ist über die Maßen vergnüglich. Sorry, not sorry. 


Vinyl und so: "Candlebox" erschien auf Vinyl erstmals 1995 im Doppelpack mit dem zweiten Album der Band "Lucy" (absolut ebenbürtig und ebenfalls überaus empfehlenswert!). Diese Edition war für viele Jahre nicht nur sehr selten, sondern fast schon zwangsläufig sehr teuer. Wenn man mich fragt, ist das genau die Ausgabe, für die es sich am meisten lohnt, die Augen aufzusperren - in erster Linie, weil es für "Lucy" bislang noch kein eigenständiges Reissue gibt. 2017 gab es von der Doppelveröffentlichung einen Re-Release, der aber aktuell vor allem in den USA zu bekommen ist. Das Debut wurde 2020 erstmals von Music On Vinyl als Einzelrelease auf silbernem und schwarzem Plastik wiederveröffentlicht - das schwarze Vinyl bekommt man aktuell mit etwas Glück noch für 30 bis 40 Euro. Wer richtig in die Vollen gehen will, besorgt sich hingegen das auf Rhino erschienene "Maverick Years" Boxset mit vier Alben auf insgesamt sieben LPs.


 




Erschienen auf Maverick, 1993.

26.07.2025

My Nineties Were Better Than Your Nineties - #189: Corrosion Of Conformity - Wiseblood




CORROSION OF CONFORMITY - WISEBLOOD


"Nicht Merkel hat die Flüchtlingsströme ausgelöst. Der Auslöser war, dass den Millionen von Flüchtlingen in der Türkei, Jordanien und dem Libanon von den reichen Industrienationen die Hilfsgelder für die Nahrungsversorgung aus purem Geiz halbiert wurden, gegen alle Warnungen der Fachleute. Dann haben sich Hunderttausende in Bewegung gesetzt." (Georg Schramm)

 

Corrosion Of Conformity haben in den neunziger Jahren drei Alben veröffentlicht - und die Entscheidung, einfach alle stumpf in die Top 200 zu schmeißen, wäre so grundfalsch nicht. Oder lassen Sie es mich präzisieren: jedes Neunziger-Werk der Band aus North Carolina könnte in den Top 200 stehen. Aber es ist wie im Kapitalismus: jeder kann hier reich werden - aber eben nicht alle. 

Nun ist allzu breitbeinige Rockmusik mit Südstaatenduktus und Macho-Attitüde so ziemlich das letzte, mit dem ich in Verbindung gebracht werden möchte, und wer vor allem ihre Alben ab "Blind" (1991) kennt, könnte angesichts dieses just öffentlich gewordenen Widerspruchs des feinen Herrn Florian die Stirn mal wieder in eine schöne Mondlandschaft verwandeln. Aber kann ich mich gegen diesen unerbittlichen Groove wehren? Gegen diese Gitarrenriffs, die durch Panzerglas marschieren können? Gegen eine Produktion, die so lebhaft, so dreckig, so real ist? Ich lamentiere seit Jahren über den ganzen zeitgenössischen rockmusikalischen "Schmarrn" (Beckenbauer), der vom Bodensatz sowohl moralisch wie künstlerisch heruntergekommener Produzenten, Managern und Musikern so anpassungsfähig und zum Kotzen schmutzabweisend hingestrickt wurde, als sei's eine beige OuTdOoRjAcKe für die Sonntagswanderung auf den Rotzenbiegel oder wohin - da lass' ich mal Fünfe gerade sein, wenn das atmosphärische Testosteronniveau in den roten Bereich ausschlägt. 

Die Entscheidung für DIE_LISTE fiel praktisch im letzten Moment auf "Wiseblood", das damit den vormals gesetzten und im Jahr 1994 erschienenen Vorgänger "Deliverance" aus dem Rennen nahm. Die Herzallerliebste fragte mich zuletzt beim Testhören, was das denn jetzt eigentlich sei: "Läuft das eigentlich unter Metal? Stoner? Alternative? Oder ist es einfach nur...naja....Rock?!" - und "Wiseblood" ist genau das Album ihrer Diskografie mit der eindeutigsten Antwort auf Fragen wie jene: All of the above. Maximal eklektisch - und gleichzeitig genuin und kompromisslos. Und außerdem einfach heavy as fuck! 


Vinyl und so: Das auf Reissues spezialisierte Label Music On Vinyl (MOV) veröffentlichte in den letzten Jahren einige Titel der Band, neben dem ebenfalls als Klassiker geltenden und oben erwähnten "Deliverance" gehört auch "Wiseblood" dazu. Die Version auf schwarzem Vinyl ist aktuell noch für um die 30 Euro erhältlich und auf jeder Ebene absolut empfehlenswert. Es wird gemunkelt, dass Music On Vinyl hinsichtlich der Lizenzierungen für ihre Nachpressungen hier und da im Zwielicht agieren, ihre Qualitätsstandards liegen allerdings auf dem allerhöchsten Regal. Für die 2019, beziehungsweise 2020 erschienenen Varianten auf farbigem Vinyl, ebenfalls über MOV, müssen zwischen 50 und 70 Euro bezahlt werden. Für die Originalpressung in halbwegs gutem Zustand - die Platte ist immerhin mittlerweile auch knapp 30 Jahre alt - kann es dreistellig werden.



Erschienen auf Columbia Records, 1996.

20.07.2025

My Nineties Were Better Than Your Nineties - #190: Benediction - Transcend The Rubicon




BENEDICTION - TRANSCEND THE RUBICON


"Fuck Content. This Is Writing." (Swordfishblog)


Vor fast genau sieben Jahren war "Transcend The Rubicon" schon einmal Gast auf meinen 3,40qm. Anlass war das Geburtstagsgeschenk meiner Blank When Zero-Mitstreiter und langjährigen Freunde Simon und Marek, die mir den sehr liebevoll gestalteten Vinyl-Reissue vom auf Wiederveröffentlichungen spezialisierten Label Cosmic Key Creations überreichten. Im Jahr 2025 würde ich immer noch kein einziges Wort des früheren Textes ersetzen, zumal selbst die Verweise in Richtung meines damaligen Arbeitslebens und des daran gekoppelten Erinnerungsmanagements erschütternderweise auch heute noch Gültigkeit haben. Ich darf mich also für die Erläuterung, welchen Stellenwert "Transcend The Rubicon" für mich hat, kurz selbst zitieren:

"Trotz der mittlerweile zentimeterdicken Patina, ist das immer noch eine besondere Platte für mich: zum einen besuchte ich im Herbst 1993 in Begleitung meines Bruders das erste Death Metal Konzert meines Lebens mit den gerade erfolgreich werdenden Cemetary, den genialen Techno-Death Fummlern von Atheist und eben dem, neben Bolt Thrower, zweiten Aushängeschild des britischen Death Metals Benediction im nur zwei Jahre später geschlossenen "Negativ"-Club in Frankfurt, zum anderen besaß ich damals ein sehr schickes Longsleeve mit dem Albumcover als Motiv und wurde damit im Jahrbuch meiner Schule, neben einer supercoolen und Ernte 23 (!) rauchenden Ramones-Punkerin stehend, fotografiert - mit einer eigentlich verboten aussehenden Frise, die vorne an Roland Kaiser und hinten an Rudi Völler erinnerte. Das Foto ist wie eine Zeitreise in den grauen und verregneten Alltag im Herbst/Winter 1993, und während ich mich dank der mich aktuell völlig überfordernden Lohnarbeit nicht mehr an das erinnern kann, was vor 2 Wochen war, gelingt es mir überraschend gut, mir manchmal den Geschmack der Luft aus dem Schulgebäude oder mein damaliges Lebensgefühl zwischen Heavy Metal, Grunge, Roll- und Eiskunstlauf und der glatten 5 aus der Abiturprüfung in Chemie wieder zu holen. "Transcend The Rubicon" war in dieser Zeit mein fast täglicher Begleiter und ist daher sehr eng mit mir und meinem Leben verbunden. Eigentlich auch eine Art persönlicher Meilenstein."


Dass die hier erwähnte "zentimeterdicke Patina" sieben Jahre später nicht gerade kleiner geworden ist, und sowohl Songs wie Sound im Vergleich mit heutigen Standards - so abgefuckt und langweilig jene in weiten Teilen auch sein mögen - in Sachen Heaviness, Technik und Ausdruck wirken, als höre man Höhlenmenschen beim Kopfrechnen zu, ist mir bei der Bewertung von "Transcend The Rubicon" ziemlich egal. Wer sich in dieser Hinsicht einen Spaziergang durchs Tal der Tränen gönnen möchte, kann ja mal in die letzten beiden viertel- bis halbsteifen Albenversuche der Band eintauchen, die künftig als Blaupause dafür herangezogen werden dürfen, dass 3400% Soundkompression und ein auf 11 gestellter Lautstärkeregler kein Ersatz für Leidenschaft und Energie sind. Benediction hatten auf "Transcend The Rubicon" ein wirklich gutes Gespür für Groove, hielten Abstand von Blastbeats und technischem Firlefanz und schrieben stattdessen überaus eingängige Songs, in die sie - fürs Genre so oder so ungewöhnlich - auffallend viele (und gute!) Hooklines einbauten. 

Es macht einfach immer noch großen Spaß, diese Platte zu hören. Der Mittelpart von "Blood From Stone"?! Ich meine - come one?!


Vinyl und so: Von der weißen Originalpressung auf Nuclear Blast müssen wir heute nicht mehr sprechen, es sei denn, ihr habt eine schöne Erbschaft im Rücken. Auch die Reissues sind mittlerweile teils deutlich im Preis gestiegen. Die 2023er Nachpressung von Back In Black ist aktuell noch am günstigsten zu haben, aber Back In Black Pressungen sind üblicherweise mit Vorsicht zu genießen. Mit mindestens 60 bis 80 Euro ist man dabei.


 


Erschienen auf Nuclear Blast, 1993. 

16.07.2025

My Nineties Were Better Than Your Nineties - #191: Lawnmower Deth - Ooh Crikey, It's...




LAWNMOWER DETH - OOH CRIKEY, IT'S...


"Und das ist voll schlimm, dass so asoziale Typen so 'ne Asi-Lobby sich gebaut haben und man traut sich nicht mehr, was zu sagen." (Olli Schulz)


Metal und Humor sind so eine Sache. Beziehungsweise: eben nicht. Denn "Witzischkeit" (Heinz Schenk) im Metal ist ungefähr so real wie das Ungeheuer von Loch Ness - mit dem Unterschied, dass es bei letzterem Menschen gibt, die es schonmal gesehen haben wollen. Metal-Parodien wie Bad News, Manowar oder Spinal Tap gehen klar, aber da wird in erster Linie auch über Metal und nicht notwendigerweise mit ihm gelacht. 

Vielleicht ließe sich in ähnlichem Kontext auch das Debut dieser britischen Durchgeknalltencombo Lawnmower Deth aus dem Jahr 1990 als Parodie bewerten, wenngleich Schnittmengen mit britischem Humor nicht komplett auszuschließen sind. Wer seinen Songs Titel wie "Can I Cultivate Your Groinal Garden?", "Got No Legs? Don't Come Crawling To Me!" oder "Icky Ficky" gibt und dazu musikalisch durch Punk, Thrash, Rap, Reggae und Grindcore wütet, hat sich ohne Zweifel Mühe gegeben, die Trennlinien in Flammen aufgehen zu lassen. 

"Ooh Crikey, It's..." ist vollgepackt mit kreativen und wirklich witzigen Ideen, einer auch 35 Jahre später immer erfrischenden "Uns ist ALLES egal!"-Attitüde und Spaß am Wahnsinn. Ich stieß auf Band und Platte über die Radiosendung "Hard'n'Heavy" im Hessischen Rundfunk, wo Moderator Till Hofmeister den Titel "Flying Killer Cobs From The Planet Bob" spielte - einer der wenigen Songs, mit etwas ähnlichem wie einer konventionellen Songstruktur, und in dem es im Mittelteil heißt: Hey, what's the problem with drugs these days / I mean, what the fuck does it matter / If I get a goddamn acid tablet / And shove it down the end of my penis - und für einen dreizehnjährigen ("Hihi, Penis!") war das zusammen mit den "Wir rufen Dich, Galaktika"-Roboterstimmeneffekt im Chorus Kaufanreiz genug. 

Ähnlich wie bei Bands wie Scatterbrain oder auch Gwar bin ich versucht zu sagen: sowas ging nur in den frühen Neunzigern. Den Beweis dafür traten Lawnmower Death 1994 mit ihrem Album "Billy" mit seinem ernsten Coverartwork und biederem Punkrock selbst an. Gelacht wurde jetzt woanders. 


Vinyl und so: In Deutschland wird's für die Originalpressung mit 50 bis 70 Euro nicht so irre günstig, aus dem Ausland killt einen hingegen das Porto. Der Reissue aus dem Jahr 2014 ist günstiger zu haben. Mein Tipp: Augen aufhalten, Geduld haben (!) und bis es soweit ist den Youtube Stream hören.


 


Erschienen auf Earache, 1990.

12.07.2025

My Nineties Were Better Than Your Nineties - #192: Quicksand - Slip




QUICKSAND - SLIP


“Love heals scars love left” (Henry Rollins)


Ähnlich wie zuletzt im Text zu Anacrusis' "Manic Impressions" über das kleine Zeitfenster der sogenannten Techno Thrash-Bewegung dargelegt, gab es auch für den Sound, den Quicksand über ihre zwei Alben "Slip" und "Manic Compression" bis zur Mitte der neunziger Jahren zusammenbauten, zunächst nur eine kurze Lebensdauer. Dabei ließe sich ein kleines bisschen damit argumentieren, dass immerhin seine Weiterentwicklung zur zweiten Hälfte des Jahrzehnts zunächst zu Nu Metal und Nu Rock führte - aber die noch deutlich dem Hardcore entnommene und machofreie Ästhetik des Quicksand-Sounds, gesättigt mit ohnmächtiger Wut und roher Emotion, mit Verletzbarkeit und Introspektion, spätestens dann perdu war, als eine ganze Generation an rote Baseballkappen verloren ging und Zwischentöne plötzlich nicht nur keine Rolle mehr spielten, sondern den Protagonisten zum Nachteil ausgelegt wurden. Quicksands charakteristischer, transparenter Sound, allen voran die Stimme von Bandgründer Walter Schreifels, sowie ihr ausgefuchstes Spiel mit Laut/Leise Dynamiken und harmonischen Dissonanzen, tauchte nach dem vorübergezogenen Testosteron-Blitzkrieg später in der Musik erfolgreicher Bands wie Cave-In, Thursday, Refused oder Trail Of Dead wieder auf. "Slip" wirkt, als hätten Quicksand die Anfänge von Helmet und deren mathematische und punktuell gesetzte Intensität in alle Richtungen verbreitert und damit die Wucht ihrer Songs noch gesteigert. Am besten verdeutlicht das möglicherweise einer der Höhepunkte "Lie And Wait" mit diesem schlicht unnachahmlichen, sich berohlich verästelnden Riffing und manischem Groove. Oder das kantige "Baphomet" und dem alles durchdringenden und ausufernden Crescendo zum Abschluss. Hot Take bei 37°C Außemperatur: Ich verwette eine Tonne Waldmeistereis mit Sahne, dass Tool zur Ära von "Opiate" besonders diese beide Songs auf very heavy rotation hatten. Aber vielleicht spricht auch gerade nur der Hitzschlag aus mir. 


Vinyl und so: Die Originalpressungen sind unanständig teuer, aber es gibt ein rettendes Ufer im Meer des Schwachsinns: das Album wurde zwischenzeitlich mehrfach neu aufgelegt und just dieser Tage erscheint der nächste Schwung schön aufgemachter Vinyl-Represses. Los, los, los!





Erschienen auf Polydor, 1993. 

06.07.2025

My Nineties Were Better Than Your Nineties - #193: Rodan - Rusty




RODAN - RUSTY


"Ich glaube, dass 90% der Leute nicht definieren können, was Zynismus bedeutet. Ich hab mal gelesen bei Sloterdijk, das falsche aufgeklärte Bewusstsein, das heißt also im Grunde: ab zweieinhalbtausend netto ist jeder Zyniker. Da ist was dran." (Harald Schmidt)


Als Louisville, Kentucky das Kreissaal-Epizentrum für Post Rock und Post Hardcore war. Die beiden Extreme dieser Platte stehen gleich am Anfang: das fast siebenminütige "Bible Silver Corner" eröffnet "Rusty" mit behutsam arrangierten Akustikgitarren, die sich kreuz und quer, über-, gegen und miteinander im Dickicht verlaufen und sich alle Zeit der Welt lassen, die passend ausgeleuchtete Stimmung und die richtige Temperatur zu finden. Direkt im Anschluss folgt das brachiale "Shiner", ein zweieinhalb Minuten dauernder Wutanfall mit dissonantem Noisegetöse und blutiger Nase - und damit sind wir auf alles vorbereitet, was zumindest stilistisch in den kommenden Minuten auf diesem wegweisenden Album aus dem Jahr 1994 passiert. 

Es ist möglicherweise genau eine Platte zu spät, um Patient Zero des Post Rock zu sein, aber der Einfluss dieses Quartetts auf eines der wichtigsten und - ich möchte offen sprechen: coolsten Genres der neunziger Jahre, bleibt davon unberührt. Die Frage, ob intellektuelle Distanzierung oder soziale Unbeholfenheit, grenzauflösende Intimität oder rezessiver Lebenswille die stärksten Druckpunkte dieser Musik sind, beantwortet "Rusty" mit einem bebenden "Ja!" - und zwar vor allem im zwölfminütigen Herzstück "The Everyday World Of Bodies", das sich geradezu manisch durch Hoch- und Tiefebenen bohrt. 

Neverending Hyperfocus. 


Vinyl und so: Das einzige Album Rodans wurde kürzlich zu seinem 30.Geburtstag auf farbigem Vinyl wiederveröffentlicht. Empfehlenswert sind darüber hinaus die bereits im Jahr 1993 aufgenommene und 2019 veröffentlichte Zusammenstellung von späteren "Rusty" Songs mit dem Titel "The Hat Factory '93" sowie "Fifteen Quiet Years" aus dem Jahr 2013 mit bis dato unveröffentlichten Songs, Sampler- sowie 7"-Beiträgen und drei Songs aus den 1994 entstandenen John Peel Sessions. 


Rest In Power, Jason Noble.


 



Erschienen auf Quarterstick Records, 1994.


25.06.2025

My Nineties Were Better Than Your Nineties - #195: Jagged Edge - Fuel For Your Soul




JAGGED EDGE - FUEL FOR YOUR SOUL



"Violent, irrational, intolerant, allied to racism and tribalism and bigotry, invested in ignorance and hostile to free inquiry, contemptuous of women and coercive toward children: organized religion ought to have a great deal on its conscience." (Christopher Hitchens)



Mein allererstes Rockkonzert war der Auftritt von Bruce Dickinson am 5.Juli 1990. Exakt einen Monat zuvor wurde ich 13 Jahre alt, und mein Bruder und seine damalige Freundin nahmen mich mit in die komplett überfüllte Frankfurter Batschkapp. Die erste Rockband, die ich in meinem Leben also live erlebte, und mich damit auch erstmals mit der überwältigenden Sensation der enormen Lautstärke eines Rockkonzerts konfrontierte, war allerdings nicht die Band des Sängers von Iron Maiden, sondern eine junge Truppe aus England: Jagged Edge. Deren Schagzeuger Fabio Del Rio spielte auf Dickinsons erstem Soloalbum "Tattooed Millionaire", außerdem wurden Jagged Edge vom Maiden Management Sanctuary Music betreut, was ihnen vermutlich ein paar Türen öffnete, um den Anheizer für Dickinson zu geben. Ich sah praktisch nichts von der Show, aber Jagged Edge kamen an dem Abend gut an - und ich war tief beeindruckt, von allem. Von der Lautstärke, dem lauten Applaus und Geschrei des Publikums und natürlich der Musik. Eine Woche später kaufte ich mir die EP "Trouble" im Saturn-Hansa auf der Berger Straße in Frankfurt Bornheim, dessen legendäre Musikabteilung - man verzeiht mir die folgende Übertreibung, aber mit 13 hatte ich noch kein Gefühl für sowas wie Dimensionen - so groß wie ein halbes Fußballfeld war. Ein paar Monate später erschien mit "Fuel For Your Soul" das erste Album, und ich wurde zum Fan. So gesehen wäre es angesichts der Auswahl von "Fuel For Yor Soul" als eine der besten Platten der 1990er Jahre vielleicht nicht über Gebühr absurd, mich geteert und gefedert ins tumbe Nostalgieabseits laufen zu lassen. Aber haltet ein, die ihr beheugabelt und befackelt vor meiner Türe stehet! "Fuel For Sour Soul" ist ganz möglicherweise in die rosarote Watte eines 13-jährigen eingewickelt, der so hoffnungsvoll wie vergeblich auf die einsetzende Pubertät wartet, aber es ist auch einfach ein toll komponiertes, brillant produziertes und mit starken Hooklines ausgebautes, von Matti Alfonzetti (später übrigens bei der schwedischen Alternativeband Skintrade am Mikro) glänzend gesungenes, melodisches AOR/Hardrockalbum mit mindestens fünf absoluten Volltreffern - soviel hat eine Einzellercombo wie Mötley Crüe in ihrer ganzen Scheißkarriere nicht auf die Reihe bekommen. 

Vinyl und so: Für die 1990er Originalpressung müssen mittlerweile zwischen 40 und 50 Euro gezahlt werden, und ein Reissue ist leider so gar nicht in Sicht. Die CD kostet zwischen 10 und 15 Euro. Einige Versionen erschienen unter dem Namen "Jagged Edge U.K.".


  




Erschienen auf Polydor, 1990. 

27.04.2025

Sonst noch was, 2024?! (5): Nala Sinephro - Endlessness




NALA SINEPHRO - ENDLESSNESS


"Ich esse überhaupt nur noch, um danach mit umso größerem Vergnügen rauchen zu können." 
(Thomas Mann)


Am Ufer eines Sees. Eingebettet zwischen Bergen, deren schneebedeckte Gipfel sich im Wasser spiegeln. Stille. Windstille. Stillleben. Auf dem Wasser: keine Konturen, keine Bewegung, kein Wellchen. Fast ein wenig surreal. Hat jemand den Pauseknopf gedrückt, oder buffert mein Gehirn noch die Eindrücke? Give me something to cling to. 

Der Stein trifft die Wasseroberfläche. Rasch breiten sich die Wellen über die gesamte Oberfläche aus. Sehr schnell direkt um die Eintrittsstelle, mit langsamer werdendem Tempo je weiter sie sich in die Tiefe des Wassers graben. Und in die Breite. Fokus. Nicht blinzeln. Wir suchen das Bild im Bild. Dimensionen-Bingo im Schatten des Großglockners. Ayahuasca, DMT - olé, olé. 

Im peripheren Sichtfeld ist nun alles vor uns liegende in sanfter Bewegung. Ein zartes Schaukeln überall, in vollem Einklang mit der Umgebung. Mehr noch: es schluckt die Umgebung, es macht sie ganz. Und es wird damit so offensichtlich, dass erst die von der Erschütterung ausgelöste Schwingung das zusammenfügen kann, was durch die Unbeweglichkeit, die Starre nicht zusammenfinden konnte. Erst jetzt sind sie zu erkennen, die feinen Details, die tieferen Ebenen, die subtilen Turbulenzen - aber auch die Unberührtheiten. Was ehemals Alles und gleichzeitig Nichts war, weil das eingefrorene Bild auf der großen Leinwand keinerlei Impuls zur Durchlässigkeit preisgab, erleben wir nun Entfaltung und Verdichtung durch Bewegung und Überwindung. 

Das zweite Album der britischen Musikerin, Produzentin, Multi-Instrumentalistin Nala Sinephro heißt "Endlessness". Zehn Titel, allesamt unter dem Namen "Continuum" durchnummeriert. Der Stein fällt zur Sekunde 1 ins Wasser und möglicherweise endet die Schwingung mit dem atemberaubenden Crescendo im abschließenden "Continuum 10", möglicherweise endet sie aber auch in der Unendlichkeit. Das große Ensemble, das "Endlessness" stets auch über das triviale Ende des Werks hinaus in der Bewegung hält, unter anderem mit der Saxofonistin Nubya Garcia, dem Schlagzeuger Morgan Simpson (u.a. bei Black Midi), Ezra Collectives James Mollison, Lyle Barton am Piano, Sheila Maurice-Grey am Flügelhorn, Natcyet Wakili, Dwayne Kilvington und dem 21-köpfigen Streichorchester Orchestrate, definiert stets nur den Auftakt, niemals das Ende. So gesehen besteht "Endlessness" auch lediglich aus Ursprüngen, aus immer neu erkannten und aufgenommenen Ideen und Impulsen, die stets die kreative Stunde Null wiedergeben und sich ununterbrochen in die Breite verästeln. Beinahe fühlt es sich so an, als müsse man sich wegen des unwiderstehlichen Sogs selbst mitverästeln. Die Natur der Dinge. 

Alles hört irgendwann einmal auf zu existieren. Aber Nichts hat ein Ende.   


           



Erschienen auf Warp Records, 2024.



19.04.2025

Sonst noch was, 2024?! (4): Inhmost & Owl - Beyond A Moonless Night




INHMOST & OWL - BEYOND A MOONLESS NIGHT


“We are all connected; To each other, biologically. To the earth, chemically. To the rest of the universe atomically.” (Neil DeGrasse Tyson)



Ich bin geneigt, an dieser Stelle von einem "brandheißen Tipp" für alle Ambient-Jünger*innen zu schreiben, aber so brandheiß ist diese im vergangenen Sommer erschienene Platte im Frühling 2025 dann leider auch nicht mehr. Und ich bitte davon abzusehen, mir die zwar berechtigte Frage zu stellen, warum "Beyond A Moonless Night" denn nicht in meiner Top 20 auftauchte, weil ich außer der Feststellung, dass die Konkurrenz nun wirklich groß war, keine passende Antwort ausformuliert habe. 

Inhmost's Simon Huxtable ist auf 3,40qm kein Unbekannter mehr, hatte ich hier doch schon mehrfach auf das außergewöhnliche Talent des britischen Produzenten hingewiesen. Der aus Belgien stammende Pierre Nesi aka Owl kam mir erstmals mit seinem 2021 auf Silent Season erschienene Album "Infinite Horizon" aufs Radar. Die Wege der Herren kreuzten sich in den letzten Jahren unter anderem über Veröffentlichungen auf den Labels re:st und Huinali. "Beyond A Moonless Night" ist die erst Zusammenarbeit der beiden Musiker. 

Ich möchte heute auf dieses kleine Juwel hinweisen, nicht zuletzt deshalb, weil ich die Befürchtung habe, hier könnte ein bemerkenswertes Album in der Flut von Veröffentlichungen schlicht untergehen. Wie eingangs ausgeführt, weiß ich leider, wovon ich spreche. Der US-Amerikanische Musikkritiker Anthony Fantano berichtete vor wenigen Monaten, dass an einem Tag des Jahres 2024 soviel Musik veröffentlicht wurde wie im ganzen Jahr 1989. Welche Auswirkungen die schiere Menge an neuer Musik in Verbindung mit den programmierten Algorithmen sozialer Medien, einer gesunkenen Aufmerksamkeitsspanne und veränderten Lebensrealitäten der Zielgruppe auf Aspekte wie Vermittlung und Einordnung, also auf den generellen Diskurs haben, sehen wir seit einigen Jahren in der immer weiter voranschreitenden Auflösung von ehemals etablierten Medien und Plattformen und damit letzten Endes Diskursräumen, sowie gesellschaftlichen und kulturellen Strukturen und Standards. Ich bin beispielsweise immer (noch) überrascht, wenn die eigene Recherche zu Musikern und ihren Werken mittlerweile in den meisten Fällen auf den Seiten von Mailorderplattformen endet, stets lediglich kombiniert mit den übernommenen Promotexten der Plattenfirmen. Das ist oft diktiert von den jeweiligen Genres; über das letzte Album von The Cure schreibt natürlich immer noch jede*r, auch mit der Gewissheit, dass die Texte wenn schon nicht gelesen, dann immerhin angeklickt werden. Über Ambientproduktionen gleichermaßen zu lesen und zu schreiben kann hingegen ein bisschen einsam machen. 

Nun ist Einsamkeit ja traditionell eines der großen Markenzeichen auf 3,40qm, und auch das verraten mir sowohl die Zugriffszahlen als auch meine Postingfrequenz auf diesem seit 18 Jahren existierenden Blog, und ich bin mir völlig darüber im Klaren, dass zwischen diesen beiden Messgrößen ein kausaler Zusammenhang besteht. Neben den viel zu langen, ungelenk formulierten, mit diskussionswürdigem Humor und permanenter Überwärmung versehenen Texten und ihren stilistischen Katastrophen, versteht sich. Und bevor uns allen, und ganz besonders mir, jeden Moment die Tränen in die Augen schießen, lassen Sie mich noch schnell einige Worte zu "Beyond A Moonless Night" verlieren.

Was sich auf diesem Album bereits gleich zu Beginn offenbart, ist der außergewöhnlich immersive Klang dieser Aufnahme. Das ist der erste Anker, den "Beyond A Moonless Night" setzt. Das Eintauchen in dieses Universum ist unmittelbar. Es ist warm und weich, dabei kristallklar und durchlässig. Die sich überlagernden Schichten ihrer Musik öffnen unentwegt neue Räume für Visionen. Ich habe bei der Auseinandersetzung bemerkt, dass die Platte sich ganz hervorragend für die Momente des Zwielichts eignet, für die Augenblicke zwischen Wachen und Schlafen, zwischen Bewusstheit und Intuition. Ich sehe große Vogelschwärme, die in der Dämmerung wie von einer unsichtbaren Entität geführt in Bruchteilen von Sekunden Flugrichtungen wechseln, ich sehe sich in einer sanften Brise wiegenden Palmen, ich spüre die Verbindung und das Miteinander. In "Dusk Settled Over The Mountains" stehe ich mit Lisa Gerrard und Brendan Perry in einer gotischen Kathedrale auf dem Saturn. Das kann eine außerordentlich befreiende, angstlösende Wirkung haben. Dabei hilft es, dass Inhmost und Owl sich viel Zeit für die Entwicklung ihrer Ideen lassen und die Musik behutsam expandieren, ohne dafür die Struktur zu opfern. Hier fließt nichts in Ungewisse, weil jede Bewegung Richtung und Bestimmung hat. 

In funkelnden Astralnebeln zwitschern Vögel. 


 



Erschienen auf Stasis Recordings, 2024.


11.04.2025

Sonst noch was, 2024?! (3): Soela - Dark Portrait




SOELA - DARK PORTRAIT


“Consensus Programming is dangerous to your health. The brainwashed do not know they are being brainwashed.” (Wendy O'Williams)



Es lebt etwas ungemein Anziehendes in dieser Musik. In den vergangenen vier Monaten kam mir keine andere Platte so oft auf den Plattenspieler wie "Dark Portrait" und es hatte bisweilen den Anschein, als könne die Platte zunächst mein Innenleben scannen und anschließend die aufgenommenen Schwingungen ganz selbstverständlich in genau die Töne umwandeln, die mein System gerade benötigte. Du findest diese Platte nicht, sie findet Dich. 

Und das tut sie mit Präzision. Was umso erstaunlicher ist, denn hier ist zunächst mal fast alles Vibe, alles Schwebung. In die Aura getupft, hintergründig, in sich versunken. Vernebelte Zeitlupensounds im Teilchenbeschleuniger. Bereits im somnabulen Eröffnungsstück "Unsuitable" wird mit dem Kontrast zwischen kargen Trip Hop-Reflexen in Verbindung mit dem Selbstzweifel in Text und Stimme erstmals die Indifferenz deutlich, die sich durch das gesamte Album zieht. "I was just trying to accept that I'm not a good person towards everyone all the time" sagt Soela im Interview mit Bruce Tantum (DJ Mag). "I'm somtimes not even a good person to myself." 

Und selbst die lebhaften Momente wie in "Through The Windows" oder die Kollaboration mit Dial-Gründer Lawrence in "February Is Not Going To Be Forever", in denen die Beats mehr Raum einnehmen und die Energie in Richtung Tanzfläche ziehen, sind niemals gerade, sondern stets gebrochen vom emotionalen Treibholz, sie halten inne und schauen sich um. Alles geht nach innen - und über jene Einkehr werden die Brücken zum sinistren Grundrauschen gebaut, das ständig in uns allen zu hören ist. Wir spüren, dass wir uns fallen lassen können in diesen tiefen, melancholischen Strudel. Mit Grundvertrauen. 

"Dark Portrait" ist der elegische Blick über nächtliches Großstadtgeflacker und gleichzeitig mystischer Ambientnebel auf einer Waldlichtung. Der Soundtrack für die schier endlose Suche nach dem innersten Kern des Lebens. Wer wir waren - und wer wir sind. Und, vielleicht noch wichtiger, wer wir sein wollen.


 


Erschienen auf Scissor & Thread, 2024. 



Über Soelas Albumdebut "Genuine Silk" berichteten wir bereits HIER.

08.04.2025

Sonst noch was, 2024?! (2): Amblare - Amblare




AMBLARE - AMBLARE


"Matt and Alex especially want to thank Bryan for his love, encouragement, friendship, excitement, and passion. This recording is dedicated to his life and memory. We will miss him forever." (Amblare)


RIP Bryan St. Pere

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Das könnte die kürzeste Rezension aller Zeiten auf diesem Blog werden. Die Sache ist nämlich wirklich schreiend einfach: Du magst eine (!) der folgenden Bands, und Du wirst "Amblare" lieben. Das ist die Dreikommaviernull-Zufriedenheitsgarantie im Best Practice und Service Excellence Cluster. 


A Perfect Circle, Hum, The Life And Times, Helmet, Failure, Shiner.


Jep, eine reicht. 


Vielen Dank, Merci Beacoup, Mille Grazie -  das war's, schönen Abend noch, hoabe d'Ehre!
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Ich habe gesagt, es "KÖNNTE" die kürzeste Rezension aller Zeiten auf diesem Blog werden. Aber nicht mit mir, Freunde der Sonne!

Alles, was ich da just ins Weltnetz erbrochen habe stimmt freilich, und ich nehme davon auch keine Nanosilbe zurück. Es fehlt allerdings noch eine Kleinigkeit. Denn es wäre nun ebenso freilich ein Leichtes, mir so unschöne Repliken wie "aufgewärmter Kaffee", "nicht gerade originell", "also alles schonmal dagewesen", "wer will denn so 'ne alte Scheiße heute noch hören?" vor die Tür zu karren, und bevor ich den ganzen Plunder mit einem rasenden Raketenfurz von Angus Youngs Gardinenstange in die Luft gehen lasse, sei noch eine Frage erlaubt: was ist denn an aufgewärmten Kaffee auszusetzen? Hm? Schön in den Edelstahlkochtopf, bisschen Ziegenkäse, bisschen Melasse, bisschen Bärlauch, schnell aufkochen lassen und dann ab damit ins Klo, aber Vorsicht: es könnte das Porzellan angreifen! Huch, ich bin im Rezept verrutscht, KEINE MELASSE, das versaut einem echt alles. Senf! Senf muss rein!

"Amblare" wurde von den drei Musikern Matt McGuyer (u.a. bei Mock Orange), Alex Wallwork von den Stonern Faerie Ring und Bryan St.Pere der 90er-Alterna-Stars HUM (pun intended!) erdacht und wird jedem Kind der Neunziger die Freudentränen in die Augen treiben. Emotional, melancholisch, drückend, zerbrechlich, heavy, deep, groovend, dazu mit einer gewissen Nerdigkeit, die bionatürlich jedes Klischee draußen vor der Tür lässt. Breaks, die einen Quantum Break verursachen können. Gitarren, die untenrum ganze Planeten wegschieben und obenrum Glühwürmchen im Weltall unsittlich berühren. Ein Schlagzeuger, der mit Ambossen auf die Kessel drischt. Eine an das letzte Hum-Meisterwerk "Inlet" erinnernde Produktion, was wenig Raum für Überraschungen lässt, wenn der Mann an den Reglern Matt Talbott heißt und bei Hum die Gitarre bedient und am Mikrofon steht - ein außergewöhnliches Gespür für Raum und Tiefe, für spaciges Geflacker und gleichzeitig für die Verdichtung von Sound und Vision. Wenn's einen Beweis benötigt: ich habe keine Vorstellung davon, wem bei einem absoluten Monstrum wie "Mine'd" nicht die Knie weich werden würden. 

Und wo ich jetzt schon einen Titel explizit erwähnte, muss ich zwangsläufig auf den zweiten Smash-Hit dieses Albums hinweisen, genau genommen ist es DER Hit, der in anderen Zeiten Leben verändern könnte: "Underest" hat alles für die Tanzfläche und alles fürs Gefühl, eine Hymne für Generationen. Warum hört hier keiner zu? Warum läuft das so komplett unter jedem Radar? Warum ist Rockmusik so kolossal am Arsch? 

Nun, darum: Die Herzallerliebste und meine Wenigkeit wohnten die Tage einer Nirvana Tribute-Party in einer Frankfurter Diskothek bei, Todestag und Tralala, Untertitel "Hardcore, Garage, Grunge". Ich wiederhole das besser nochmal: eine Nirvana Tribute-Party mit dem Untertitel: "Hardcore, Garage, Grunge". Unendliche Möglichkeiten, einen fantastischen Abend zu haben. Ein ganzes Jahrzehnt vollgestopft mit der besten Musik der Welt zur Auswahl. Ich könnte - Uhrenvergleich: JETZT - mit dem Aufzählen von Songs und Bands und Alben in den Sektoren "Hardcore, Garage, Grunge" beginnen und wenn Du mich in 72 Stunden wieder siehst, werde ich immer noch nicht damit aufgehört haben. Right? Right!

Was stattdessen passierte: Der DJ ballerte zur besten Sendezeit gegen halb eins die neunminütige (!) Guns'n'Roses-Saftgranate "Estranged" auf eine leere Tanzfläche. Für volle neun Minuten. N-E-U-N.


Es ist einfach alles egal geworden.  

Alles. Ist. Einfach Fucking. Scheiß. Egal. 

Hört diese Platte. 


 



Erschienen auf Melodic Virtue, 2024.


06.04.2025

Sonst noch was, 2024?! (1): Wardown - III




WARDOWN  - III


"Most of us will reach a certain point in our living where if we can't figure out how and where to place our nostalgia it will completely overwhelm us." (Renee Gladman)


NOSTALGIE
Substantiv, feminin [die]
vom Unbehagen an der Gegenwart ausgelöste, von unbestimmter Sehnsucht erfüllte Gestimmtheit, die sich in der Rückwendung zu einer vergangenen, in der Vorstellung verklärten Zeit äußert, deren Mode, Kunst, Musik o. Ä. man wieder belebt


Der dritte und letzte Teil der Wardown-Trilogie des britischen Produzenten Pete Rogers erschien Mitte Dezember des vergangenen Jahres und kam mir damit für die offizielle Bestenliste leider zu spät auf den Plattenteller. Die beiden Vorgänger I und II zählen für mich zu den beeindruckendsten Elektronik-Alben der letzten fünf Jahre. Zum einen, weil die hier behandelten Themen der "Sehnsucht", ein Begriff, den Rogers in Interviews oftmals explizit auf Deutsch verwendet, weil die englische Sprache keine adäquate Übersetzung vorhält, sich bis in die hintersten Ecken meiner eigenen Echokammer ausbreiten konnten und dort sofort Verbindung mit mir aufnahmen. Zum anderen, weil die gesamte Ästhetik, von den Cover-Artworks bis hin zu den ausgewählten Sounds für diesen Ambient- und Drum 'n' Bass-Hybriden, sein Storytelling so überzeugend und transparent machte. Ich verstand damit tief im Innern, was Rogers mit diesen Projekten aussagen wollte, und je älter ich werde und je klarer sich damit das Sentiment der Nostalgie auch in mir selbst zeigt, desto größer wird die Anziehung, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen. 

Das war und ist erstens nicht immer angenehm - das eigene Spiegelbild zeigt bei entsprechenden Lichtverhältnissen und Perspektiven leider nur zu ungnädig auch jene Bereiche, die man am liebsten gar vor sich selbst versteckt hält, ganz zu schweigen von der Außenwelt. Was sagt es über mich, wenn die Gegenwart offenbar so unerträglich scheint, dass selbst die Reise ins bereits Ge- und Erlebte, ins Vergilbte, Ausgegraute und Vergangene mehr Attraktion verspricht, mehr Reizpunkte triggert und gleichzeitig paradoxerweise als stark wirkendes Sedativum Einsatz findet? Es zeigt mir zweitens auch, wie flüchtig diese Empfindungen tatsächlich sind. Sie offenbaren sich im Grunde fast immer nur als diffuses Grundrauschen, das sich einer konzentrierten Anschauung stets in dem Moment entzieht, in dem eine Struktur oder ein Muster vergrößert werden will. Rogers beschreibt dieses Phänomen in seinem lesenswerten Interview mit Ryan Griffin von A Strangely Isolated Place wie folgt:

"But it’s a very hard thing to accurately pin down and describe. I sometimes feel as though to get a sense of it I have to look out of the corner of my eye, as when I try and focus directly on it, it disappears. It’s often a very fleeting feeling brought on by certain scenes in the world, weather, photographs, old films. A kind of bittersweet, melancholy feeling about the past and things that have been lost. But quite often it’s a longing for things I’ve never personally experienced or may never have even happened."

Wardown III erscheint mir im Vergleich mit den beiden Vorgängern etwas schwieriger zu dechiffrieren zu sein. Blickte Rogers auf dem Debut in seine eigene Vergangenheit zurück und vertonte weichgezeichnete Kindheitserinnerungen mit bittersüßem Schmelz, beschrieb er für "II" die Zukunft aus der Perspektive früherer Generationen und stellte damit eine Form der Nostalgie in den Mittelpunkt, die als seitenverkehrtes Negativ die unbekümmerte Naivität und Euphorie aus der Vergangenheit mit einer trostlosen Gegenwartsanschauung verknüpfte, in der all die hoffnungsvollen Visionen als unerreichbare Utopien, als Fiktion entlarvt wurden. Für "III" zeichnet es sich hingegen ab, als sei Rogers nun endgültig auf der Rückseite einer Landschaft angekommen. Die Stimmung ist trüber als zuvor, so als wäre man von der Erkenntnis überrannt worden, dass der zweite Teil des Wortes "Sehnsucht" der eigentliche Bedeutungsvektor ist: eine Sucht. Eine Flucht. Ein Eskapismus. Vielleicht auch eine Überlebensstrategie; der letzte Strohhalm, an den sich geklammert wird, weil die Kälte und Gleichgültigkeit der Gegenwart mit der Erinnerung an eine Vergangenheit kollidiert, in der Bedeutung und Bestimmung die zumindest virtuellen Grenzen der Zielkorridors waren. "Everything has their cycle. They have their beginning, they have their end." heißt es in "39 to Beam Up". Und anschließend, über unheilbeschwörendes Sirenengeheul: "Planet Earth. About to be recycled. Your only chance to evacuate is to leave...with us."


Der Klappentext zu "III" liefert zusätzlich zwei Zitate als potentielle Leuchtfeuer. 

Nummer eins stammt aus dem Buch "The Ruins Of Nostalgia" der Autorin Donna Stonecipher aus dem Jahr 2024:

"We felt like nostalgic futurists, one half of our bodies aimed with hope at the prospect of future utopias, one half aimed with dread at the prospect of future utopias, torquing ever backward at an inexorably receding past"


Nummer zwei wurde dem im Jahr 1975 erschienenen Buch "Light Years" des US-amerikanischen Schriftstellers James Salter entnommen:

“We’re entering the underground river,” she said. “Do you know what I mean?”
“Yes, I know.”
“It’s ahead of us. All I can tell you is, not even courage will help..."

Mir erscheint vor allem der Verweis auf "Light Years" zentral für die Entschlüsselung zu sein. Salters Roman beschreibt vordergründig den langsamen Zerfall einer Ehe und erzählt von einem scheinbar perfekten und idyllischen Leben einer Familie im Osten Amerikas, über das sich über die Jahre flächendeckend Risse ausbreiten, das sich entzweit und immer weiter in Kleinpartikel zerstreut bis hin zur schlussendlichen Auflösung und Auslöschung. Die Unterströmung von "Light Years" hinterfragt hingegen jene Aspekte unseres Lebens, den wir als essentiell an- und hinnehmen, denen wir eine oberflächliche Relevanz beimessen, ohne die eigentliche Tragweite ihrer existenziellen Bedeutung erfassen zu können. Deren Gewicht bestimmt ist von performativem Verhalten, von falscher Loyalität, vom Festhalten am Status Quo. Und deren Betrachtung letzten Endes von Zukunftsängsten und von der oft so tiefsitzenden Furcht von Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung bestimmt ist. 

Ich empfinde das Eintauchen in die Themenwelt der Wardown-Alben als großes Glück. Es fordert mich heraus. Es provoziert mich. Gleichzeitig gibt es mir einen Anker zur Reflektion und einen Ausblick darauf, wie ich leben möchte. 

Und wer sich jetzt fragt, ob's denn nicht auch eine Nummer kleiner ginge...?! 

Nein, eigentlich nicht.


 



Erschienen auf Blu Mar Ten, 2024. 

23.03.2025

Best Of 2024 ° Platz 1: Chelsea Wolfe - She Reaches Out To She Reaches Out To She




CHELSEA WOLFE - SHE REACHES OUT TO SHE REACHES OUT TO SHE


"I wish I could be invisible and just play music and not have to worry about anyone looking at me." (Chelsea Wolfe)



Die Platte des Jahres kommt von einer Künstlerin, deren frühere Arbeiten ich ganz offensichtlich auf eine beinahe schon groteske Art fehleinschätzte, und die deswegen in all den Jahren keinen Fuß in die Tür zur Casa Dreikommaviernull bekam. Ich habe das schon öfter betont, wie komplett irre so eine intellektuelle Generalverriegelung sein kann, wenn also irgendwas zwickt, irgendwas verzerrt ist - und sei's nur die eigene Wahrnehmung. Andererseits passiert sowas eben manchmal. Und dann hole ich das große Feigenblatt raus und sage: es gibt für alles den richtigen Moment, die richtige Zeit, den richtigen Ort. Musik findet Dich einfach, wenn es soweit ist. 

Im Falle von Chelsea Wolfe war das Wirken der in Kalifornien lebenden Musikerin stets in erster Linie mit ihren Kollaborationen mit den Hardcore-Superstars von Converge verbunden. Und so gerne ich mir von Zeit zu Zeit mit Geschrei und Gebrüll das Kleinhirn auf halbacht fönen lasse, kam ich an Converge nie ran, nichtmal in die Nähe. Und wenn ich mich mal dazu entschlossen habe, Abstand zu halten, dann bin ich wenigstens in dieser Hinsicht so richtig behämmert deutsch und also konsequent. Aus Gründen, die ich mir heute nicht mehr selbst erklären kann, halluzinierte ich also eine stilistische Nähe zwischen Converge und ihrer eigenen Musik herbei, was dazu führte, Chelseas Soloscheiben schlicht zu ignorieren. Weil eine Mauer alleine ja nicht ausreicht, wird eben selbst der ganze Dunstkreis ausgesperrt. Was soll ich sagen?!

Als im Februar des vergangenen Jahres "She Reaches Out To She Reaches Out To She" angekündigt wurde, und die ersten Berichte elektronische, trip-hoppige, sogar in den Bereich von Drum'n'Bass reichende Einflüsse erwähnten, wurde ich allerdings hellhörig. Und schon beim Erstkontakt mit "House Of Self-Undoing" war ich hoffnungslos verloren. Die Folgen: die gesamte Diskografie wurde nachgekauft, wir besuchten ihr Gastspiel in der Kölner Kantine, die Herzallerliebste reiste sogar nochmal solo zum Konzert nach München, und meine allerliebsten Lieblingsleserinnen und -leser quälen sich gerade durch die Rezension zu meiner Lieblingsplatte des Jahres 2024. 

Zusammen mit dem Produzenten Dave Sitek betreten Wolfe und ihre Band im Vergleich zu ihren früheren Werken auf mehreren Ebenen Neuland. Aus technischer Sicht war die Industrialästhetik zwar auch schon auf einem Album wie beispielsweise "Abyss" (2015) wahrnehmbar, durch den neu gesetzten Schwerpunkt auf elektronische Elemente wirken einerseits Songs wie der irrlichtende Opener "Whisper In The Echo Chamber" oder das experimentelle "Eyes Like Nightshade" noch abrasiver als zuvor. Das mit Breakbeat-Elementen spielende "House Of Self-Undoing", dessen hypnotische Ästhetik bisweilen sogar an Siteks Band TV On The Radio erinnert und clever die ganze Dynamikklaviatur aus Härte und bohrenden Ambientdrones bespielt, ist trotz stilistischer Öffnung auch noch recht gut zu entschlüsseln. Aber dann wird die Sache komplizierter zu erläutern, wenn man nicht in Allerweltsgefasel abrutschen will.

Für meinen Geschmack ist es vor allem die zweite Hälfte des Albums, auf der die visionäre, stilprägende Kraft dieser Produktion klar wird. Im Grunde sind Songs wie "The Liminal", "Salt", "Place In The Sun" oder ganz besonders "Dusk" dunkle Popsongs, die problemlos auch in einem akustischen, eher Folk-betonten Kontext funktionieren würden, durch die elektronische Ausrichtung aber plötzlich die Tore zu neuen Welten aufstoßen. Die verrauchten Trip Hop Beats, die gebrochenen Akzente vom Geflacker eines Pianos, die inszenierte Tiefe und Weite machen die Musik dunkler, bedrohlicher, mystischer, außerweltlicher. Paradoxerweise dehnt sie sich in dieser atmosphärischen Verdichtung weiter aus und macht Räume frei für Anschauung. Das Arrangement von Chelseas Stimme spielt dabei ebenfalls eine zentrale Rolle, sie ist das vermittelnde Element zwischen Anziehung und Abstoßung, Licht und Schatten. Sie ist stets im Vordergrund und dirigiert durch das Dickicht, tatsächlich macht sie jene Räume erst wahrnehmbar. Und gleichzeitig spürt man: dieser Raum ist Unendlichkeit. Dieser Raum ist Heilung. Dieser Raum ist kein Raum. Er ist Leben. 

Visionär. Majestätisch. Transzendental.


 


Erschienen auf Loma Vista, 2024.

15.03.2025

Best Of 2024 ° Platz 2: Dool - The Shape Of Fluidity




DOOL - THE SHAPE OF FLUIDITY


"Immer weiter abgeschwiffen. Alles schrumpft. Stetig." (Antitainment)


Jetzt haben sie mich endlich doch noch gekriegt. 

Ihr Auftritt auf dem Rockhard-Festival 2018, der vom WDR Rockpalast mitgeschnitten wurde und HIER auf Youtube verfügbar ist, war mein Erstkontakt mit diesem Quintett aus Rotterdam. Und ich war beeindruckt, vor allem davon, wie geil die alle auf der Bühne aussahen. Outfits, Bewegungen und Attitüde schienen zwar durchaus choreografiert, wovon die Authentizität jedoch keinen Kratzer abbekam. Die Band platzt vor Selbstbewusstsein und spielt mit einer Überzeugung, als hänge ihr Leben von jedem gespielten Ton ab. Damit bekommt man mich immer an den Haken. Und mit diesem etwas vernebelt wirkenden progressiv-verschnörkelten Doomrock dann eben irgendwie auch. 

Auf ihrem Debut "Here Now, There Then" konnte ich von dieser Magie leider nur noch wenig spüren. Auch Dool kämpften offensichtlich seinerzeit damit, das Durchsetzungsvermögen von der Bühne ins Studio zu rollen. Als 2021 der Nachfolger "Summerland" erschien, und ich immer noch keinerlei Verbindung zu ihren Studioalben aufbauen konnte, strich ich die Segel. Sowas gibt's eben manchmal, aber im Falle Dool war das schon ein bisschen tragisch. Ich gebe zu, dass ich ab der ersten Minute des Rockhard Mitschnitts fasziniert war von der Band. Dass es musikalisch zunächst nicht funken wollte, nagte ein bisschen an mir. Ich wollte die doch gut finden?!

Mit "The Shape Of Fluidity" änderte sich das alles. 

Die Eindringlichkeit, der Drang, der "Pull" des Openers "Venus In Flames" steht exemplarisch für das ganze Album, gerät der Einstieg in den siebenminütigen Song doch zu einem der unwiderstehlichsten Momente der Rockmusik der letzten 25 Jahre. Der Drive mit seiner derart viehischen und nach vorne peitschenden Urgewalt nach dem kurzen Intro lässt Dich durch fucking Panzerglas marschieren, bevor der praktisch ansatzlos aufs Spielfeld geworfene Refrain trotz seiner melodischen Öffnung die Intensität unglaublicherweise noch weiter nach oben schraubt. Eine kleine Erlösung erlebt man erst zur Songmitte, wenn sich sowohl die Wucht als auch das Tempo etwas einbremsen und sich gemeinsam auf das große, hymnische Finale vorbereiten, das mit großer erzählerischer Raffinesse inszeniert wird: atmosphärisch stehen wir am Ende der Geschichte, am Ziel einer langen und beschwerlichen Reise. Wir sind angekommen. Wir können durchatmen. Emotional hingegen fühlen wir die Spannung, die Friktion. Es fühlt sich paradoxerweise nach Aufbruch an, nach Öffnung, vielleicht ist sogar ein wenig provozierend.  

Kompositorisch ist Dools Musik nicht gerade unterkomplex, das war sie noch nie. Ein paar Schlenker muss man also schon mit ihnen mitlaufen, um nicht abgehängt zu werden. Aber sie können es sich aus gleich zwei Gründen leisten. Erstens spielen hier technisch herausragende Musiker, die stets in der Lage sind, die Metaphorik von Ravens Texten für die große Bühne musikalisch zu inszenieren und sie sicher durch sämtliche emotionale Aggregatzustände zu leiten. Zweitens sind die Songs auf "The Shape Of Fluidity" mit Hooklines geradewegs übersäht. Das hilft zunächst bei der Orientierung, bevor darüber hinaus erkennbar wird, wie vielschichtig diese Kompositionen tatsächlich sind; so als würden erst die hymnischen und verschwenderisch arrangierten Melodien die Türen in die unterirdischen Labyrinthe des Albums öffnen. 

Der/Die über allem thronende Zeremonienmeister*in ist Raven van Dorst. Im Jahre 1984 intergeschlechtlich geboren und anschließend als Frau aufgewachsen, ist "The Shape Of Fluidity" vor allem textlich eine bis auf die Knochen ehrliche, zu gleichen Teilen niederschmetternde und kraftvolle Erzählung über die Auseinandersetzung darüber, sich über Jahrzehnte in dieser Ausnahmesituation zu befinden. Über die inneren und äußeren Konflikte, über Identität und Isolation. Aber auch über das Erwachen und über die Verantwortung. 

"Would you bathe in my love / Now the time has come?" singt Raven in "Venus In Flames" und das Beben, die Sehnsucht - ja, die Erlösung springt mich förmlich an.

Ein Album voll rasender Dramatik.


 



Erschienen auf Prophecy Records, 2024.

08.03.2025

Best Of 2024 ° Platz 3: Blood Incantation - Absolute Elsewhere




BLOOD INCANTATION - ABSOLUTE ELSEWHERE


"That's a challenging wank." (Sean Locke)



Wenn etwas aussieht wie eine Deppenfrage, es sich liest wie eine Deppenfrage und es außerdem nach Deppenfrage schmeckt (Überbacken, 200°C in Backofen), dann ist es eine Deppenfrage mit dem Markus Lanz-Qualitätssiegel: 

Sind "wir" eigentlich "noch" in der "Lage", einen "Klassiker" zu "erkennen"? 

Der Musik-Kanon im Allgemeinen und der Metal-Kanon im Besonderen sind selbst in den abseitigen Nischen vollgestopft mit Alben, auf die sich die Mehrheit der Szenegänger über die letzten fünf Jahrzehnte in Hinblick auf Parameter wie außergewöhnliche Qualität, dem Willen und Mut zur Innovation und dem wegweisenden Einfluss auf die künftige musikalische Entwicklung einigen konnten, oder weniger hoheitlich formuliert: Alben, die von der Musikjournaille so lange nach oben gejazzt wurden, bis es auch den letzten Neil Dylan-Harrison-Überlebenden, James Hetfield-Yeeeaaah-Yeaaaah-Kuttenjürgens und Eddie Vedders Surflehrern ins kollektive Gedächtnis eingehämmert wurde, was dIe_SzEnE gefälligst für die nächsten Dekaden für einen "Klassiker" halten soll. Seit dem Auftauchen des Bermuda-Dreiecks aus "Musik ist überverfügbar", "Kein Mensch unter 40 liest Musikmagazine" und "Social Media - Der Todesstoß" hat sich DiE_sZeNe allerdings längst in Luft aufgelöst, sieht man von den üblichen ein, zwei gallischen Subkultur-Dörfern ab, in denen aber auch schon länger nicht mehr jeden Abend gemeinsam ums Feuer sitzend Wildschweine gefressen werden, sondern jede*r Wurzelsepp*in mit W-LAN und Shitify-Abo alleine in der frisch geklinkerten Höhle hockt und sich via TikTok das anhört, was man mit einigem Hang zum Absurden als die letzten noch dampfenden Ruinen dessen bezeichnen könnte, was in der Eisenzeit mal unter "Musik" verstanden wurde. Die Gemeinschaft ist am Arsch, liebe Freunde! Und wo die Gemeinschaft am Arsch ist, wird sich auch auf nix mehr geeinigt. Vereinzelung olé! Als ob wir heute noch ein zweites "Reign In Blood" oder "The Number Of The Beast" entdecken könnten, oder auch nur entdecken wollten. Ich beantworte mir die eingangs gestellte Quatschfrage mal flott selbst, sonst gibt's Hirnverknotung mit Sahne: Nein, "wir" "erkennen" keine "Klassiker" mehr. 

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Plot-Twit: außer diesem hier, natürlich. Auf "Absolute Elsewhere" konnten sich im letzten Jahr eigentlich alle einigen. Ein Umstand, dem ich üblicherweise mit ausgeprägter Skepsis begegne; man sieht's mir bittschön nach, nicht schon wieder das olle Hildebrandt-Zitat zu bringen. Und wenn dann auch noch die Feuilletons plötzlich aufwachen und ausgerechnet in jenem Genre große Kunst wittern, das traditionell im besten Fall allerhöchstens belächelt wird - und ich füge hinzu: Zurecht! Wenn vor allem der heutige Heavy Metal eines verdient hat, dann dass man sich 24/7 über ihn lustig macht, for fuck's sake - jedenfalls: es wird dann sehr ernst. 

Wer die Entwicklung Blood Incantations besonders angesichts des 2019er Albums "Hidden History Of The Human Race" und dem reinen Ambientprojekt "Timewave Zero" begleitet hat, wird von der stilistischen Bandbreite, die "Absolute Elsewhere" abdeckt, eventuell nicht mehr ganz so vehement aus den Schuhen gesprengt werden. Die Band hatte seit jeher ein Faible für Science Fiction in ihren Texten und kosmische Nuancen in ihrer Musik, und präsentierte jene Einflüsse sehr anschaulich in der überaus empfehlenswerten "What's In My Bag"-Folge des in Los Angeles ansässigen Plattenladens Amoeba Music. "We don't play games, man!" sagte Sänger und Gitarrist Paul Riedl zur Veröffentlichung des kontrovers diskutierten "Timewave Zero" Werks - und um das Zitat im Jahr 2024 weiterzuführen, könnte man im Zuge von "Absolute Elsewhere" ein "Now it's getting serious." hinzufügen. 

Die Band hat für das in der Berliner Hansa Studios aufgenommene aktuelle Album in jeder Hinsicht alles aus sich herausgeholt. In knapp 44 Minuten und zwei Songs, die in jeweils drei sogenannte Tablets unterteilt sind, sprengen Blood Incantation im Prinzip ein ganzes Genre in die Luft. Wir sitzen auf den Trümmern und fliegen mit diesen vier Irren ins Weltall - man verzeiht mir bitte die abgeschmackte Metapher, aber sorry: sie haben's ja auch irgendwie provoziert. "Absolute Elsewhere" ist ein fremder, weit entfernter Ort. Death Metal der etwas älteren Schule, von der ehemals Bands wie Morbid Angel, Gorguts und Death in den 1990er Jahren abgingen (ich habe möglicherweise relativ exklusiv die Wahrnehmung, dass insbesondere letztgenannte in jenen Momenten, deren Farbauftrag den klassischen Heavy Metal etwas deutlicher durchscheinen lässt, häufiger als Referenz auftauchen), amalgamiert sich mit den Haschkrümeln, die aus den Zottelbärten Pink Floyds, Tangerine Dreams und King Crimsons herausgepurzelt sind, also kosmischer Musik und Progressive Rock der 1970 Jahre, tippt den Hut in Richtung der wegweisenden Science Fiction Metal-Legende Voivod (The Stargate Tablet III, ab Minute 3:42) und lässt obendrein Tangerine Dreams Thorsten Quaesching auf "The Star „The Stargate [Tablet II]“ sich über ein paar Minuten an der Synthiebatterie austoben. Das Songwriting ist dabei derart raffiniert, dass der Band trotz der beiden überlangen Kompositionen zu keiner Sekunde weder der Spannungsbogen abhanden kommt, noch die eigentlich unmöglich zu meisternden Übergänge zwischen dem Death- und Grind-Gehacke und den außerweltlichen, psychedelischen Klangsphären aus der Pilzpfanne des Druiden Deines Vertrauens misslingen. Ich mag mir kaum vorstellen, wie viel Arbeit in diese 44 Minuten geflossen sein muss, um das so punktgenau in unsere Realität zu bugsieren. Ein Wahnsinn. 

Ich darf abschließend anmerken:

Erstens: das Break und dessen Aufbau in "The Stargate [Tablet II]" bei Minute 4:11 gehören zum besten, was ich in 40 Jahren Rockmusik gehört habe. 

Zweitens: das Abschlussriff von "The Stargate [Tablet III]" ab Minute 4:59 dampfwalzt mich jedes fucking Mal in Richtung Erdkern. Möchte ich auf Lautsprechern hören, die so groß sind wie die Cheops-Pyramide. 

Drittens: was für ein Sound! Was für eine Produktion! Achtung, sprechen Sie mir jetzt laut nach: "WAS FÜR EIN SOUND! WAS FÜR EINE PRODUKTION!" 

Viertens: Der Übergang von "The Message [Tablet II]" in das einleitende klassische Speed Metal Riff von "The Message [Tablet III] verursacht schwere Schweißausbrüche. Darf man eigentlich nur unter Aufsicht und nach der Starkstromtherapie hören.

Fünftens: das wird womöglich niemand so recht nachvollziehen können, aber das Ende von "The Stargate" klingt für mich, als wäre eine eben noch heißlaufende und kurz vor der Explosion stehende Höllenmaschine (schlimmer Verdacht: das Stargate?) im allerletzten Moment vor der Vernichtung des Universums mittels Plastik-Kippschalter (Hornbach, 99 cent) ausgeschaltet worden und wäre nun allmählich dabei, zunächst herunterzufahren und anschließend abzukühlen. Die Videosequenzen (siehe unten) verstärken den Eindruck noch und ich kann mich daran weder satthören noch sattdenken. Es gibt keinen Zweifel: ich bin wieder 13 Jahre alt. 

Sechstens: Die (Death) Metal-Passagen sind bei weitem nicht so abgedreht, technisch und verkopft, wie in so mancher Besprechung zu lesen ist, und wer mit den früh- bis mittneunziger Alben von Death und Morbid Angel sozialisiert wurde, wird hier sehr sanft gebettet. Fans von beispielsweise Nile oder Beneath The Massacre könnten hingegen wegschnarchen.

Siebtens: Der Eros des Überlegenen, umgehend alles in Schubladen einzusortieren und Vergleiche zu finden, ist erstens laaaaangweilig und zweitens vor allem im vorliegenden Fall auch obsolet - mit was willst Du so eine Platte bitte vergleichen? Ich habe aus meiner Hirnverletzung indes nie einen Hehl gemacht, weshalb ich zum großen ABER ansetze: in einem Musikforum stolperte ich letzthin über einen Ansatz, der für mich bis heute so viel Sinn ergibt, dass ich mir nicht zu schade bin, ihn hier zu erwähnen. Obliveons "From This Day Forward" (1990, Active Recrds) klingt in Sachen Vision und Vibe wie ein Prototyp dessen, was 35 Jahre später als das große Universums-Upgrade von Blood Incantation eingespielt wurde. Sowohl Band als auch Album sollten die Zielgruppe so oder so kennen, ganz besonders im Kontext mit "Absolute Elsewhere" könnten vielleicht ein paar Lampen angehen. Hopp-Hopp!

Ich hab's nun schon ein paar Mal ins Internet reingeschrieben und fuck it, ich mach's nochmal: Mutige und visionäre Bands wie Blood Incantation sind Weltkulturerbe. Es scheint, als hätten wir endlich die geistigen Nachfolger Voivods gefunden.


 



Erschienen auf Century Media, 2024.