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06.09.2025

My Nineties Were Better Than Your Nineties - #182: Unida - Coping With The Urban Coyote




UNIDA - COPING WITH THE URBAN COYOTE


“Since the terms "aggression" and "terrorism" are inadequate, some new term is needed for the sadistic and cowardly torture of people caged with no possibility of escape, while they are being pounded to dust by the most sophisticated products of U.S. military technology.” (Noam Chomsky)


Unida waren das zweitbeste Post-Kyuss-Projekt von Sänger John Garcia (über das Beste sprechen wir zu einem späteren Zeitpunkt) und auch wenn festzuhalten bleibt, dass Kyuss größer als die Summe der einzelnen Teile waren und mit ihrer Vita und Diskografie wenigstens in meiner Welt völlig unantastbar sind - man kommt um die quadratquatschigen Vergleiche einfach nicht herum. Ich kann nix dafür, Freunde. Hier singt eben John fucking Garcia. Und wer nicht an Kyuss denkt, wenn John fucking Garcia singt, hat nie im Leben jemals Kyuss gehört. Und bevor es zu Missverständnisse kommt: that's not a good thing. 

Garcias prägnante Stimme, die praktisch ab der Stunde Null nicht nur das ganze Stonerrock-Gewächshaus zum Qualmen brachte, sondern auch tausenden Stonerinnen und Stonern durch's abgestandene Bongwasser in die Glieder fuhr, hält ganz selbstverständlich auch auf Unidas Debutalbum aus dem Jahr 1999 alle Fäden in der Hand. Es ist wie Heimkommen. Dabei ist das Innendesign in der Casa Unida ein bisschen rustikaler und schnörkelloser ausgefallen als die verwaschene, verdrogte, psychedelische Wüsten-Ambiance von Alben wie "Sky Valley". Im Prinzip spielt die Band einen dreckigen, lauten, fuzzigen Bluesrock mit übergroßem 70er Mandat, der nur im fast zehnminütigen Höhepunkt des Albums "You Wish" mit dynamischen Psychedelic-Eskapaden aufgebrochen wird. Die weiteren Hits dieser Platte "Black Woman" und "If Only Two" sind längst im Kanon des Stonerrock eingelassen und dort bombensicher verplombt - sie sind aus dem Set der mittlerweile in veränderter Besetzung - ohne Garcia - wieder live spielenden Kapelle nicht mehr wegzudenken. 

"Coping With The Urban Coyote" ist eines jener Alben, bei denen die nostalgisch gefärbten Aspekte in der Auseinandersetzung 26 Jahre nach der Veröffentlichung eine größere Rolle für mich einzunehmen scheinen, als bei anderen Platten aus dieser Zeit. Der "Pull" von Garcias Stimme ist real. Wahnsinn, wie nah all das bei mir blieb. 



Vinyl und so: Die via Cargo Records erschienene Erstpressung kostet gibt es derzeit ab 70 Euro, für die seit 2014 veröffentlichten Reissues von Cobraside Distribution Inc. - als erweiterte Doppel-LP im Gatefold mit gut klingenden Liveaufnahmen aus dem Jahr 2013 - liegt die Preisspanne je nach Erscheinungsjahr und Vinylfarbe zwischen 40 und 100 Euro. Wer keinen gesteigerten Wert auf die Originalpressung legt, wird damit bestens bedient, zumal Pressung und Sound hervorragend sind.




Erschienen auf Mans Ruin Records, 1999.

03.09.2025

My Nineties Were Better Than Your Nineties - #183: Living Colour - Stain




LIVING COLOUR - STAIN


"I don't want your life, I've got my own needs / A life of my own, a chance to be free / Everything that I want, isn't it everything that you've got?" (Living Colour, "Ausländer")


"Stain" wurde das Etikett angehängt, seiner Zeit voraus gewesen zu sein. Das wird im Rückblick gemeinhin über Platten gesagt, die sich beim Publikum nicht so recht durchsetzen konnten und in erster Linie von Musiknerds nicht selten genau dafür geliebt werden. Dabei hat es oft durchaus Gründe, warum so manches Werk nicht zum Megaseller wurde, selbst wenn die Vorzeichen gar nicht so trübe aussahen. Manche Platten sind einfach schwierig. Manche Platten passen nicht in ihre Zeit. Und "Stain" ist schwierig. Ungewöhnlich. Couragiert. Ich weiß nicht, ob es seiner Zeit voraus war, weil das ja irgendwie bedeutet, dass diese "richtige" Zeit mal kommen wird. Ich frage mich nur, welche Zeit das sein soll?! 

Living Colour hatten mit dem von Mick Jagger co-produzierten Debut "Vivid", ihrem flinken Locker-Wie-Frischkäse-Funkrock und vor allem der Hitsingle "Cult Of Personality" die Tür zum Mainstreamerfolg schon ziemlich weit aufgestoßen, produzierten dann allerdings mit "Time's Up" einen überraschend harten Nachfolger, auf dem schon der Hit fehlte - und gaben mit "Stain" zwei Jahre später endgültig keinen feuchten Flutschi mehr auf Erwartungshaltungen, den Mainstream, Normen und Grenzen. Die Quittung: "Stain" schaffte es als erstes Living Colour-Album nicht in die Top 20 der US-amerikanischen Billboard-Charts und sollte für ganze zehn Jahre das letzte Album der Band sein.

Living Colour hatten in einen höheren Gang geschaltet und riskierten damit, dass ihnen nicht jeder folgen konnte. Es begann beim Albumcover, das auf ihr flippiges Bandlogo und die bunten, knalligen, fröhlichen Farben verzichtete. Damit wurde das erste Signal gesetzt. Es wird dunkel. Es wird ernst. Produzent Ron St.Germain und die Band inszenierten "Stain" klanglich folgerichtig irgendwo zwischen der Metal-Ästhetik eines Neil Kernon und Steve Albini, roh, intim, laut, verletzlich, unmittelbar. Und für Herrn und Frau Ottonormalrock ist der Ofen schon im Opener "Go Away" aus: ein knüppelhartes und übel groovendes Riff, Thrash Metal Vibes, und ein Text, mit dem man sich als schwarze Rockband im Amerika der frühen Neunziger, milde ausgedrückt, nicht nur Freunde macht:


I see the starving Africans on TV
I feel it has nothing to do with me
I sent my twenty dollars to live aid
I've aided my guilty conscience to go away

Now go away
Now go away
Now go away
Go away

I don't want anybody to touch me
I think everybody has aids
What's the point in caring for you?
You're gonna die anyway


Anschließend singen Living Colour in "Bi" über Bisexualität - Gitarrist Vernon Reid dazu: "I'm really proud of the band for taking the song on. To even go there. It was very risky." - "Ausländer" erzählt aus der Sicht eines Flüchtlings, wie es sich anfühlt entwurzelt in einem fremden Land und in einer fremden Kultur gestrandet zu sein und ständig ausgegrenzt und angefeindet zu werden. "Wall" ruft zur Gemeinschaft und Versöhnung auf und will Mauern zwischen den Menschen einreißen. "Postman", selbst auf dem insgesamt düsteren Album der mit einigem Abstand unheimlichste und verstörendste  Song, thematisiert Waffengewalt in den USA aus der Perspektive des Schützen. 

In welche Zeit soll "Stain" nun also passen? So ganz allmählich dämmert's.



Vinyl und so: Das Album war wegen eines von Jon Stainbrook initiierten Rechtsstreits für über 15 Jahre out of print, erst 2013 gab es die erste Nachpressung auf CD. Music on Vinyl veröffentlichten das Album ab 2018 in mehreren Versionen auf farbigem und schwarzem Vinyl, die aktuell manchmal für sogar unter 20 Euro zu haben sind. Die Erstpressung gibt es für etwa 35 bis 40 Euro, mit etwas Glück kommt man auch günstiger davon.


 



Erschienen auf Epic, 1993. 


31.08.2025

My Nineties Were Better Than Your Nineties - #184: Bikini Kill - Pussy Whipped




BIKINI KILL - PUSSY WHIPPED


“I won’t stop talking. I am a girl you have no control over. There is not a gag big enough to handle this mouth.” (Kathleen Hanna)



Knappe 25 Minuten brauchten Bikini Kill auf ihrem 1993 erschienenen Debutalbum, um die riot grrrl Bewegung in das Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit zu schießen. Mit abrasivem, chaotischem, lärmigem Hardcore-beeinflussten Punkrock, einer furios auftrumpfenden und keinen Stein mehr auf dem anderen lassenden Kathleen Hanna am Mikrofon - und feministischen Texten, die zu gleichen Teilen stark, selbstbewusst, wütend wie auch absolut deprimierend sind - oder zumindest sein können, wenn man sich vor Augen führt, in welcher Realität Frauen leben mussten (und immer noch leben müssen), dass es die selbst heute noch spürbaren Backpfeifen und Arschtritte in Text und Musik von Bikini Kill zum Wachrütteln brauchte. Und wie sich trotz des mittlerweile zweifellos prominenter geführten gesellschaftlichen Diskurses immer noch so erschütternd wenig getan hat. 

“White boy, don’t laugh, don’t cry, just die! 
I’m so sorry if I’m alienating some of you 
Your whole fucking culture alienates me”

Und gleichzeitig ist "Pussy Whipped" auch gerade für mich als weißen cis-Mann, der in einem von patriarchalischen Strukturen geprägten familiären Umfeld aufgewachsen ist und sich in den prägenden Jahren des Erwachsenwerdens zudem knietief in der nicht gerade für strahlenden Feminismus bekannten Metalszene herumtrieb, immer wieder eine Erinnerung daran, was hinter uns liegt - aber erst recht auch daran, was noch auf uns zukommen wird. Verständnis. Empathie. Mut. Allianzen. Konfrontation. Fehler - grundgütiger, wir werden alle noch so viele Fehler machen! Und es wird sich ziemlich sicher immer so anfühlen, als hätten wir nicht genug getan. Schlimmer Verdacht: weil wir nicht genug getan haben. Ich bin mir darüber im Klaren, mit der Verwendung des abstrakten "wir" ein rhetorisches Bein gestellt zu bekommen, weil's wieder mal jede Verantwortung mit einem nonchalant gemurmelten "Jaja, is' schon schlimm!" im nächstbesten Klo versenkt. Nur schnell weg hier bevor's ungemütlich wird. Es muss aber so ganz allmählich mal ungemütlich werden. 

Jedes Mal, wenn ich "Pussy Whipped" auflege, toben die Extreme in mir: einerseits komplette Euphorie darüber, dass es diese Aufruhr verursachende, laute, auf ungebremsten Kollisionskurs eingependelte Band gibt, die am liebsten alle Sackgesichter über den Haufen schießen möchte und gleichzeitig die Anerkennung darüber, selber Teil des Problems zu sein - und am Ende ebenfalls über den Haufen geschossen zu werden. 

Indes, wenn die Themen von 1993 im Kern tatsächlich immer noch die gleichen sind wie 2025, sage ich: zu den Waffen! 


Vinyl und so: Das Album hat auf Vinyl grundlegend eine ganz gute Verfügbarkeit, Reissues sollten nicht mehr als 25 Euro kosten, sind aber auch recht schmal aufgemacht. Für die Erstpressung von 1993 geht es aktuell bei etwa 60 Euro los.


 


Erschienen auf Kill Rock Stars, 1993.



24.08.2025

My Nineties Were Better Than Your Nineties - #185: Love/Hate - Wasted In America




LOVE/HATE - WASTED IN AMERICA


"The new wave of doom disco." (Skid Rose)


Es wäre vermutlich nicht komplett falsch, wenn ich an jener Stelle über das Debutalbum "Blackout In The Red Room" dieser aus Los Angeles stammenden Band sprechen würde, aber, und das ist die Sache: es wäre auch nicht komplett richtig. Zwar wirbelte das 1990 erschienene Album ordentlich Staub auf und gilt bei der immer weiter schrumpfenden Gruppe derer, die noch irgendeinen fickenden Fick für 35 Jahre alte Musik geben, als eines der besten Rockdebuts, und ich möchte ein leise gemurmeltes "Mit Recht!" hinzufügen. "Wasted In America" ist dennoch das bessere Album.

Dabei entstand die Platte unter schwierigen Bedingungen. Die erste Songsammlung, die das Quartett für den Nachfolger von  "Blackout In The Red Room" bei Columbia Records einreichte, wurde umgehend abgelehnt. Das Label wollte die Band nach dem Achtungserfolg des Debuts in den Mainstream einsteigen sehen und rief nach der Schleifmaschine, die alle Unebenheiten des Bandsounds beseitigen sollte. Love/Hate zeigten dem Label stattdessen den Mittelfinger und veröffentlichten mit "Wasted In America" ein kratzbürstiges und in Teilen überraschend hartes Statement gegen das Establishment, das sich stilistisch nicht eindeutig kategorisieren lassen wollte. Sleazerock und Glam standen immer noch im Vordergrund, aber zwischen den Zeilen zeigte sich plötzlich ein nur schwer zu dechiffrierender Alternative-Vibe, vielleicht nicht unähnlich zu den Obertönen auf den jeweils ersten beiden Alben von Saigon Kick und Janes Addiction, der die Intensität des Vortrags im Kern erfasste und die Atmosphäre sowohl dunkler als auch gefährlicher einfärbte. "Wasted In America" ist voller Hits, extrem kurzweilig, toll gespielt, toll gesungen und "Yucca Man" - grundgütiger, wollt ihr mich eigentlich verarschen?!

Columbia ließ zunächst das Album und nach eines fehlgeschlagenen Publicity-Stunts von Sänger Jizzy Pearl, der sich am Hollywood-Schriftzug kreuzigen ließ, steckenblieb und in der heißen Sonne Kaliforniens gegrillt wurde, bevor er für ein paar Stunden hinter schwedischen Gardinen saß, auch die komplette Band über die Klinge springen. Kurze Zeit später schlug der Effekt von "Nevermind" endgültig durch und eine ganze Szene landete auf dem Abstellgleis. 


Vinyl und so: Für die Originalpressung in gutem Zustand sollten derzeit 50 Euro angesetzt werden. Ein Reissue ist nicht in Sicht - aber es wird allmählich wirklich mal Zeit. Hey, Music On Vinyl! Macht mal!





Erschienen auf Columbia Records, 1992

15.08.2025

My Nineties Were Better Than Your Nineties - #186: Tiamat - A Different Kind Of Slumber




TIAMAT - A DEEPER KIND OF SLUMBER


„Die Eintagsfliege wird bereits zwölf Stunden nach ihrer Geburt von ihrer Midlife-Crisis erwischt. Das muss man sich mal klarmachen!“ (Loriot)


Mir fällt es schwer, die Gedanken zu "A Deeper Kind Of Slumber" zu sortieren. Ich habe auch außerhalb dieser Rückschau auf die neunziger Jahre immer wieder unangenehm häufig von "Anything Goes!" gesprochen, um die Aufbruchstimmung, den kreativen Mut und die Offenheit sowohl von Musikern als auch von Fans in diesem so besonderen Jahrzehnt zu beschreiben - und jedes Mal frage ich mich, ob derlei Charakterisierungsquark möglicherweise nicht doch auch nur ein typisch romantisiertes Narrativ ist, das sich über die Jahre wie eine Nebelbank über die eigene Erinnerung gelegt hat. "A Deeper Kind Of Slumber" war 1997 ein wirklich mutiger Schritt für eine Band, die erst sieben Jahre früher mit tiefschwarz rumpelnden Death Metal auf "Sumerian Cry" debutierte. Selbst wenn die nachfolgenden Alben, allen voran die heute als Klassiker geltenden "Clouds" (1992) und ganz besonders "Wildhoney" (1994), weitgehend mit der Death Metal Vergangenheit brachen und damit die nicht gerade für ihre Toleranz bekannte Fanbase immerhin darauf vorbereiteten, dass Bandgründer und Songschreiber Johan Edlund kein Interesse daran hat, Erwartungen zu erfüllen und sich stilistisch einzuschränken, war der Sprung zum fünften Studioalbum der Band ein gewaltiger. 

Und weil das umgehend in den ersten vier Minuten des Albums klargemacht werden musste, eröffnete Edlund das Werk nicht nur mit dem von einer poppigen Gitarrenmelodie getragenen und sehr eingängigen "Cold Seed", sondern koppelte den Song auch noch als erste (und einzige) Single aus, um wirklich jedes Missverständnis hinsichtlich seiner kreativen Vision aus dem Weg zu räumen. 

Die Mehrheit derer, die sich von "A Deeper Kind Of Slumber" eine Fortführung des auf "Wildhoney" etablierten Black Floyd Pink Sabbath-Stils erhofften, gingen also hier schon über Bord - und sie hätten für die nächsten 55 Minuten des Albums so oder so vor gewaltigen Herausforderungen gestanden. Denn eigentlich legen Tiamat sogar erst nach dem Opener so richtig los: Edlund verarbeitet seine Erfahrungen mit Psilocybin und LSD und erkundet Traumwelten, in die sich Dead Can Dance, Depeche Mode und Pink Floyd für eine psychedelische Orgie zu Midsommar eingebucht haben. "A Deeper Kind Of Slumber" ist außergewöhnlich couragiert und ambitioniert - und fiel zu seiner Zeit erwartungsgemäß beim Publikum durch. Ich sehe knapp dreißig Jahre später Anzeichen einer Rehabilitierung, aber die Frage bleibt: waren die Neunziger am Ende also doch nicht so aufgeschlossen und unvoreingenommen, wie ich sie abgespeichert habe? Ich habe dafür keine endgültige Antwort in der Tasche, zumindest keine, die sich in fünf oder fünfhundert Zeilen ausformulieren ließe, aber immerhin lieferte das Jahrzehnt jenen Nährboden, der Platten wie "A Deeper Kind Of Slumber" überhaupt erst ermöglichte. 

Das mag jetzt ein wenig prätentiös sein, aber ich bin wirklich glücklich darüber, diese Zeiten miterlebt zu haben.


Vinyl und so: Die 1997er Originalpressung mit dem Artwork der europäischen Albumversion bekommt man in gutem Zustand für +/-50 Euro. Erstmal wurde die Platte im Jahr 2009 von Black Sleeves auf Vinyl neu aufgelegt, gefolgt von Century Media-Nachpressungen im Jahr 2018 in vier verschiedenen Farben als Gatefold und mit dem US-Amerikanischen Artwork (das tatsächlich noch diskussionswürdiger ist als die EU-Variante). Gepresst in Deutschland von Optimal Media - und zwar fehlerfrei und mit tollem Sound. Anschließend veröffentlichten Transcending Records aus Chicago (ein äußerst fragwürdiger Laden, Vorsicht ist geboten) und Church Of Vinyl (mit nochmals verändertem Artwork) Nachpressungen.


 



Erschienen auf Century Media, 1997.

02.08.2025

My Nineties Were Better Than Your Nineties - #188: Candlebox - Candlebox




CANDLEBOX - CANDLEBOX


"Das Leben ist eine immer dichter werdende Folge von Finsternissen." (Thomas Bernhard)


Dieser 1990 gegründeten Band aus Seattle haftete für lange Zeit ein ähnlicher Makel wie den Stone Temple Pilots an, dass sie also nur deshalb auf der Erfolgswelle surften und es bis nach ganz oben schafften, weil Majorlabels noch den allerletzten Dollar aus Seattle, Grunge und Flanellhemden herauspressen wollten und dafür Kanonenfutter Bands benötigten, die einen bestenfalls identischen Sound wie die großen Vier - Nirvana, Pearl Jam, Alice In Chains, Soundgarden - spielten, und die vor allem schnell wieder vor die Tür gesetzt werden konnten, wenn die nächste musikalische Sau durchs Dorf getrieben werden musste. Ein Schweinesystem ist eben ein Schweinesystem. 

Musikalisch substanzlos, billig, irrelevant, alles nur geklaut - und dann auch noch schlecht: die Hasswichsorgien in der Musikpresse nahmen kein Ende. Dabei war die Basis für derlei Argumentation in erster Linie ein ganzes Pfund Neid, gefolgt von gekränkten Egos, dem Eros des Verrisses und selbstredend einer schweren Hirninfektion, denn richtig zugehört hatte hier niemand. Bis eben auf die vier Millionen US-Amerikaner, die das Debut von Candlebox kauften und bis auf Platz 7 der Billboard Charts schoben. Zwar erreichte das Album die Top 10 erst im Zuge des Durchbruchs der dritten Single "Far Behind" mit einer Verspätung von einem Jahr, aber dann blieb "Candlebox" für sagenhafte 104 Wochen in den Charts. Je sais, je sais: Ähnliches hat Bohlens musikalischer Penisbruch Modern Talking auch schon geschafft. Ich hör' ja schon auf.

Drei Jahrzehnte später wirken solche Diskussionen in Hinblick auf Seattle-Bands der dritten Welle völlig bizarr. Während ich immer noch darauf warte, dass endlich mal jemand diesen ganzen Quatsch aus der ersten Hälfte der 90er Jahre in einem Buch neu einordnet und mit ein paar der beklopptesten Narrative kurzen Prozess macht, erzähle ich noch schnell etwas über "Candlebox", denn darum sind wir ja alle hier: Wer sich also eine Melange aus Blind Melon, einem Klecks Mother Love Bone und den eingängigen, rockigen Momenten der ersten beiden Pearl Jam-Alben mit einem wirklich herausragenden Sänger (Kevin Martin) vorstellen kann, hat ein ganz stimmiges Bild dessen vor Augen, was auf der Agenda steht. Das Album warf mindestens dreieinhalb erfolgreiche Singles ab, ich bin aber der Ansicht, dass die übrigen Songs mindestens genau so viel Spaß machen - vor allem, wenn die Band wie in "Mothers Dream" mit psychedelischen Elementen herumspielt. Das ist mitnichten gefährlich oder gar eine Grenzverschiebung. Aber es ist über die Maßen vergnüglich. Sorry, not sorry. 


Vinyl und so: "Candlebox" erschien auf Vinyl erstmals 1995 im Doppelpack mit dem zweiten Album der Band "Lucy" (absolut ebenbürtig und ebenfalls überaus empfehlenswert!). Diese Edition war für viele Jahre nicht nur sehr selten, sondern fast schon zwangsläufig sehr teuer. Wenn man mich fragt, ist das genau die Ausgabe, für die es sich am meisten lohnt, die Augen aufzusperren - in erster Linie, weil es für "Lucy" bislang noch kein eigenständiges Reissue gibt. 2017 gab es von der Doppelveröffentlichung einen Re-Release, der aber aktuell vor allem in den USA zu bekommen ist. Das Debut wurde 2020 erstmals von Music On Vinyl als Einzelrelease auf silbernem und schwarzem Plastik wiederveröffentlicht - das schwarze Vinyl bekommt man aktuell mit etwas Glück noch für 30 bis 40 Euro. Wer richtig in die Vollen gehen will, besorgt sich hingegen das auf Rhino erschienene "Maverick Years" Boxset mit vier Alben auf insgesamt sieben LPs.


 




Erschienen auf Maverick, 1993.

26.07.2025

My Nineties Were Better Than Your Nineties - #189: Corrosion Of Conformity - Wiseblood




CORROSION OF CONFORMITY - WISEBLOOD


"Nicht Merkel hat die Flüchtlingsströme ausgelöst. Der Auslöser war, dass den Millionen von Flüchtlingen in der Türkei, Jordanien und dem Libanon von den reichen Industrienationen die Hilfsgelder für die Nahrungsversorgung aus purem Geiz halbiert wurden, gegen alle Warnungen der Fachleute. Dann haben sich Hunderttausende in Bewegung gesetzt." (Georg Schramm)

 

Corrosion Of Conformity haben in den neunziger Jahren drei Alben veröffentlicht - und die Entscheidung, einfach alle stumpf in die Top 200 zu schmeißen, wäre so grundfalsch nicht. Oder lassen Sie es mich präzisieren: jedes Neunziger-Werk der Band aus North Carolina könnte in den Top 200 stehen. Aber es ist wie im Kapitalismus: jeder kann hier reich werden - aber eben nicht alle. 

Nun ist allzu breitbeinige Rockmusik mit Südstaatenduktus und Macho-Attitüde so ziemlich das letzte, mit dem ich in Verbindung gebracht werden möchte, und wer vor allem ihre Alben ab "Blind" (1991) kennt, könnte angesichts dieses just öffentlich gewordenen Widerspruchs des feinen Herrn Florian die Stirn mal wieder in eine schöne Mondlandschaft verwandeln. Aber kann ich mich gegen diesen unerbittlichen Groove wehren? Gegen diese Gitarrenriffs, die durch Panzerglas marschieren können? Gegen eine Produktion, die so lebhaft, so dreckig, so real ist? Ich lamentiere seit Jahren über den ganzen zeitgenössischen rockmusikalischen "Schmarrn" (Beckenbauer), der vom Bodensatz sowohl moralisch wie künstlerisch heruntergekommener Produzenten, Managern und Musikern so anpassungsfähig und zum Kotzen schmutzabweisend hingestrickt wurde, als sei's eine beige OuTdOoRjAcKe für die Sonntagswanderung auf den Rotzenbiegel oder wohin - da lass' ich mal Fünfe gerade sein, wenn das atmosphärische Testosteronniveau in den roten Bereich ausschlägt. 

Die Entscheidung für DIE_LISTE fiel praktisch im letzten Moment auf "Wiseblood", das damit den vormals gesetzten und im Jahr 1994 erschienenen Vorgänger "Deliverance" aus dem Rennen nahm. Die Herzallerliebste fragte mich zuletzt beim Testhören, was das denn jetzt eigentlich sei: "Läuft das eigentlich unter Metal? Stoner? Alternative? Oder ist es einfach nur...naja....Rock?!" - und "Wiseblood" ist genau das Album ihrer Diskografie mit der eindeutigsten Antwort auf Fragen wie jene: All of the above. Maximal eklektisch - und gleichzeitig genuin und kompromisslos. Und außerdem einfach heavy as fuck! 


Vinyl und so: Das auf Reissues spezialisierte Label Music On Vinyl (MOV) veröffentlichte in den letzten Jahren einige Titel der Band, neben dem ebenfalls als Klassiker geltenden und oben erwähnten "Deliverance" gehört auch "Wiseblood" dazu. Die Version auf schwarzem Vinyl ist aktuell noch für um die 30 Euro erhältlich und auf jeder Ebene absolut empfehlenswert. Es wird gemunkelt, dass Music On Vinyl hinsichtlich der Lizenzierungen für ihre Nachpressungen hier und da im Zwielicht agieren, ihre Qualitätsstandards liegen allerdings auf dem allerhöchsten Regal. Für die 2019, beziehungsweise 2020 erschienenen Varianten auf farbigem Vinyl, ebenfalls über MOV, müssen zwischen 50 und 70 Euro bezahlt werden. Für die Originalpressung in halbwegs gutem Zustand - die Platte ist immerhin mittlerweile auch knapp 30 Jahre alt - kann es dreistellig werden.



Erschienen auf Columbia Records, 1996.

20.07.2025

My Nineties Were Better Than Your Nineties - #190: Benediction - Transcend The Rubicon




BENEDICTION - TRANSCEND THE RUBICON


"Fuck Content. This Is Writing." (Swordfishblog)


Vor fast genau sieben Jahren war "Transcend The Rubicon" schon einmal Gast auf meinen 3,40qm. Anlass war das Geburtstagsgeschenk meiner Blank When Zero-Mitstreiter und langjährigen Freunde Simon und Marek, die mir den sehr liebevoll gestalteten Vinyl-Reissue vom auf Wiederveröffentlichungen spezialisierten Label Cosmic Key Creations überreichten. Im Jahr 2025 würde ich immer noch kein einziges Wort des früheren Textes ersetzen, zumal selbst die Verweise in Richtung meines damaligen Arbeitslebens und des daran gekoppelten Erinnerungsmanagements erschütternderweise auch heute noch Gültigkeit haben. Ich darf mich also für die Erläuterung, welchen Stellenwert "Transcend The Rubicon" für mich hat, kurz selbst zitieren:

"Trotz der mittlerweile zentimeterdicken Patina, ist das immer noch eine besondere Platte für mich: zum einen besuchte ich im Herbst 1993 in Begleitung meines Bruders das erste Death Metal Konzert meines Lebens mit den gerade erfolgreich werdenden Cemetary, den genialen Techno-Death Fummlern von Atheist und eben dem, neben Bolt Thrower, zweiten Aushängeschild des britischen Death Metals Benediction im nur zwei Jahre später geschlossenen "Negativ"-Club in Frankfurt, zum anderen besaß ich damals ein sehr schickes Longsleeve mit dem Albumcover als Motiv und wurde damit im Jahrbuch meiner Schule, neben einer supercoolen und Ernte 23 (!) rauchenden Ramones-Punkerin stehend, fotografiert - mit einer eigentlich verboten aussehenden Frise, die vorne an Roland Kaiser und hinten an Rudi Völler erinnerte. Das Foto ist wie eine Zeitreise in den grauen und verregneten Alltag im Herbst/Winter 1993, und während ich mich dank der mich aktuell völlig überfordernden Lohnarbeit nicht mehr an das erinnern kann, was vor 2 Wochen war, gelingt es mir überraschend gut, mir manchmal den Geschmack der Luft aus dem Schulgebäude oder mein damaliges Lebensgefühl zwischen Heavy Metal, Grunge, Roll- und Eiskunstlauf und der glatten 5 aus der Abiturprüfung in Chemie wieder zu holen. "Transcend The Rubicon" war in dieser Zeit mein fast täglicher Begleiter und ist daher sehr eng mit mir und meinem Leben verbunden. Eigentlich auch eine Art persönlicher Meilenstein."


Dass die hier erwähnte "zentimeterdicke Patina" sieben Jahre später nicht gerade kleiner geworden ist, und sowohl Songs wie Sound im Vergleich mit heutigen Standards - so abgefuckt und langweilig jene in weiten Teilen auch sein mögen - in Sachen Heaviness, Technik und Ausdruck wirken, als höre man Höhlenmenschen beim Kopfrechnen zu, ist mir bei der Bewertung von "Transcend The Rubicon" ziemlich egal. Wer sich in dieser Hinsicht einen Spaziergang durchs Tal der Tränen gönnen möchte, kann ja mal in die letzten beiden viertel- bis halbsteifen Albenversuche der Band eintauchen, die künftig als Blaupause dafür herangezogen werden dürfen, dass 3400% Soundkompression und ein auf 11 gestellter Lautstärkeregler kein Ersatz für Leidenschaft und Energie sind. Benediction hatten auf "Transcend The Rubicon" ein wirklich gutes Gespür für Groove, hielten Abstand von Blastbeats und technischem Firlefanz und schrieben stattdessen überaus eingängige Songs, in die sie - fürs Genre so oder so ungewöhnlich - auffallend viele (und gute!) Hooklines einbauten. 

Es macht einfach immer noch großen Spaß, diese Platte zu hören. Der Mittelpart von "Blood From Stone"?! Ich meine - come one?!


Vinyl und so: Von der weißen Originalpressung auf Nuclear Blast müssen wir heute nicht mehr sprechen, es sei denn, ihr habt eine schöne Erbschaft im Rücken. Auch die Reissues sind mittlerweile teils deutlich im Preis gestiegen. Die 2023er Nachpressung von Back In Black ist aktuell noch am günstigsten zu haben, aber Back In Black Pressungen sind üblicherweise mit Vorsicht zu genießen. Mit mindestens 60 bis 80 Euro ist man dabei.


 


Erschienen auf Nuclear Blast, 1993. 

16.07.2025

My Nineties Were Better Than Your Nineties - #191: Lawnmower Deth - Ooh Crikey, It's...




LAWNMOWER DETH - OOH CRIKEY, IT'S...


"Und das ist voll schlimm, dass so asoziale Typen so 'ne Asi-Lobby sich gebaut haben und man traut sich nicht mehr, was zu sagen." (Olli Schulz)


Metal und Humor sind so eine Sache. Beziehungsweise: eben nicht. Denn "Witzischkeit" (Heinz Schenk) im Metal ist ungefähr so real wie das Ungeheuer von Loch Ness - mit dem Unterschied, dass es bei letzterem Menschen gibt, die es schonmal gesehen haben wollen. Metal-Parodien wie Bad News, Manowar oder Spinal Tap gehen klar, aber da wird in erster Linie auch über Metal und nicht notwendigerweise mit ihm gelacht. 

Vielleicht ließe sich in ähnlichem Kontext auch das Debut dieser britischen Durchgeknalltencombo Lawnmower Deth aus dem Jahr 1990 als Parodie bewerten, wenngleich Schnittmengen mit britischem Humor nicht komplett auszuschließen sind. Wer seinen Songs Titel wie "Can I Cultivate Your Groinal Garden?", "Got No Legs? Don't Come Crawling To Me!" oder "Icky Ficky" gibt und dazu musikalisch durch Punk, Thrash, Rap, Reggae und Grindcore wütet, hat sich ohne Zweifel Mühe gegeben, die Trennlinien in Flammen aufgehen zu lassen. 

"Ooh Crikey, It's..." ist vollgepackt mit kreativen und wirklich witzigen Ideen, einer auch 35 Jahre später immer erfrischenden "Uns ist ALLES egal!"-Attitüde und Spaß am Wahnsinn. Ich stieß auf Band und Platte über die Radiosendung "Hard'n'Heavy" im Hessischen Rundfunk, wo Moderator Till Hofmeister den Titel "Flying Killer Cobs From The Planet Bob" spielte - einer der wenigen Songs, mit etwas ähnlichem wie einer konventionellen Songstruktur, und in dem es im Mittelteil heißt: Hey, what's the problem with drugs these days / I mean, what the fuck does it matter / If I get a goddamn acid tablet / And shove it down the end of my penis - und für einen dreizehnjährigen ("Hihi, Penis!") war das zusammen mit den "Wir rufen Dich, Galaktika"-Roboterstimmeneffekt im Chorus Kaufanreiz genug. 

Ähnlich wie bei Bands wie Scatterbrain oder auch Gwar bin ich versucht zu sagen: sowas ging nur in den frühen Neunzigern. Den Beweis dafür traten Lawnmower Death 1994 mit ihrem Album "Billy" mit seinem ernsten Coverartwork und biederem Punkrock selbst an. Gelacht wurde jetzt woanders. 


Vinyl und so: In Deutschland wird's für die Originalpressung mit 50 bis 70 Euro nicht so irre günstig, aus dem Ausland killt einen hingegen das Porto. Der Reissue aus dem Jahr 2014 ist günstiger zu haben. Mein Tipp: Augen aufhalten, Geduld haben (!) und bis es soweit ist den Youtube Stream hören.


 


Erschienen auf Earache, 1990.

12.07.2025

My Nineties Were Better Than Your Nineties - #192: Quicksand - Slip




QUICKSAND - SLIP


“Love heals scars love left” (Henry Rollins)


Ähnlich wie zuletzt im Text zu Anacrusis' "Manic Impressions" über das kleine Zeitfenster der sogenannten Techno Thrash-Bewegung dargelegt, gab es auch für den Sound, den Quicksand über ihre zwei Alben "Slip" und "Manic Compression" bis zur Mitte der neunziger Jahren zusammenbauten, zunächst nur eine kurze Lebensdauer. Dabei ließe sich ein kleines bisschen damit argumentieren, dass immerhin seine Weiterentwicklung zur zweiten Hälfte des Jahrzehnts zunächst zu Nu Metal und Nu Rock führte - aber die noch deutlich dem Hardcore entnommene und machofreie Ästhetik des Quicksand-Sounds, gesättigt mit ohnmächtiger Wut und roher Emotion, mit Verletzbarkeit und Introspektion, spätestens dann perdu war, als eine ganze Generation an rote Baseballkappen verloren ging und Zwischentöne plötzlich nicht nur keine Rolle mehr spielten, sondern den Protagonisten zum Nachteil ausgelegt wurden. Quicksands charakteristischer, transparenter Sound, allen voran die Stimme von Bandgründer Walter Schreifels, sowie ihr ausgefuchstes Spiel mit Laut/Leise Dynamiken und harmonischen Dissonanzen, tauchte nach dem vorübergezogenen Testosteron-Blitzkrieg später in der Musik erfolgreicher Bands wie Cave-In, Thursday, Refused oder Trail Of Dead wieder auf. "Slip" wirkt, als hätten Quicksand die Anfänge von Helmet und deren mathematische und punktuell gesetzte Intensität in alle Richtungen verbreitert und damit die Wucht ihrer Songs noch gesteigert. Am besten verdeutlicht das möglicherweise einer der Höhepunkte "Lie And Wait" mit diesem schlicht unnachahmlichen, sich berohlich verästelnden Riffing und manischem Groove. Oder das kantige "Baphomet" und dem alles durchdringenden und ausufernden Crescendo zum Abschluss. Hot Take bei 37°C Außemperatur: Ich verwette eine Tonne Waldmeistereis mit Sahne, dass Tool zur Ära von "Opiate" besonders diese beide Songs auf very heavy rotation hatten. Aber vielleicht spricht auch gerade nur der Hitzschlag aus mir. 


Vinyl und so: Die Originalpressungen sind unanständig teuer, aber es gibt ein rettendes Ufer im Meer des Schwachsinns: das Album wurde zwischenzeitlich mehrfach neu aufgelegt und just dieser Tage erscheint der nächste Schwung schön aufgemachter Vinyl-Represses. Los, los, los!





Erschienen auf Polydor, 1993. 

06.07.2025

My Nineties Were Better Than Your Nineties - #193: Rodan - Rusty




RODAN - RUSTY


"Ich glaube, dass 90% der Leute nicht definieren können, was Zynismus bedeutet. Ich hab mal gelesen bei Sloterdijk, das falsche aufgeklärte Bewusstsein, das heißt also im Grunde: ab zweieinhalbtausend netto ist jeder Zyniker. Da ist was dran." (Harald Schmidt)


Als Louisville, Kentucky das Kreissaal-Epizentrum für Post Rock und Post Hardcore war. Die beiden Extreme dieser Platte stehen gleich am Anfang: das fast siebenminütige "Bible Silver Corner" eröffnet "Rusty" mit behutsam arrangierten Akustikgitarren, die sich kreuz und quer, über-, gegen und miteinander im Dickicht verlaufen und sich alle Zeit der Welt lassen, die passend ausgeleuchtete Stimmung und die richtige Temperatur zu finden. Direkt im Anschluss folgt das brachiale "Shiner", ein zweieinhalb Minuten dauernder Wutanfall mit dissonantem Noisegetöse und blutiger Nase - und damit sind wir auf alles vorbereitet, was zumindest stilistisch in den kommenden Minuten auf diesem wegweisenden Album aus dem Jahr 1994 passiert. 

Es ist möglicherweise genau eine Platte zu spät, um Patient Zero des Post Rock zu sein, aber der Einfluss dieses Quartetts auf eines der wichtigsten und - ich möchte offen sprechen: coolsten Genres der neunziger Jahre, bleibt davon unberührt. Die Frage, ob intellektuelle Distanzierung oder soziale Unbeholfenheit, grenzauflösende Intimität oder rezessiver Lebenswille die stärksten Druckpunkte dieser Musik sind, beantwortet "Rusty" mit einem bebenden "Ja!" - und zwar vor allem im zwölfminütigen Herzstück "The Everyday World Of Bodies", das sich geradezu manisch durch Hoch- und Tiefebenen bohrt. 

Neverending Hyperfocus. 


Vinyl und so: Das einzige Album Rodans wurde kürzlich zu seinem 30.Geburtstag auf farbigem Vinyl wiederveröffentlicht. Empfehlenswert sind darüber hinaus die bereits im Jahr 1993 aufgenommene und 2019 veröffentlichte Zusammenstellung von späteren "Rusty" Songs mit dem Titel "The Hat Factory '93" sowie "Fifteen Quiet Years" aus dem Jahr 2013 mit bis dato unveröffentlichten Songs, Sampler- sowie 7"-Beiträgen und drei Songs aus den 1994 entstandenen John Peel Sessions. 


Rest In Power, Jason Noble.


 



Erschienen auf Quarterstick Records, 1994.


25.06.2025

My Nineties Were Better Than Your Nineties - #195: Jagged Edge - Fuel For Your Soul




JAGGED EDGE - FUEL FOR YOUR SOUL



"Violent, irrational, intolerant, allied to racism and tribalism and bigotry, invested in ignorance and hostile to free inquiry, contemptuous of women and coercive toward children: organized religion ought to have a great deal on its conscience." (Christopher Hitchens)



Mein allererstes Rockkonzert war der Auftritt von Bruce Dickinson am 5.Juli 1990. Exakt einen Monat zuvor wurde ich 13 Jahre alt, und mein Bruder und seine damalige Freundin nahmen mich mit in die komplett überfüllte Frankfurter Batschkapp. Die erste Rockband, die ich in meinem Leben also live erlebte, und mich damit auch erstmals mit der überwältigenden Sensation der enormen Lautstärke eines Rockkonzerts konfrontierte, war allerdings nicht die Band des Sängers von Iron Maiden, sondern eine junge Truppe aus England: Jagged Edge. Deren Schagzeuger Fabio Del Rio spielte auf Dickinsons erstem Soloalbum "Tattooed Millionaire", außerdem wurden Jagged Edge vom Maiden Management Sanctuary Music betreut, was ihnen vermutlich ein paar Türen öffnete, um den Anheizer für Dickinson zu geben. Ich sah praktisch nichts von der Show, aber Jagged Edge kamen an dem Abend gut an - und ich war tief beeindruckt, von allem. Von der Lautstärke, dem lauten Applaus und Geschrei des Publikums und natürlich der Musik. Eine Woche später kaufte ich mir die EP "Trouble" im Saturn-Hansa auf der Berger Straße in Frankfurt Bornheim, dessen legendäre Musikabteilung - man verzeiht mir die folgende Übertreibung, aber mit 13 hatte ich noch kein Gefühl für sowas wie Dimensionen - so groß wie ein halbes Fußballfeld war. Ein paar Monate später erschien mit "Fuel For Your Soul" das erste Album, und ich wurde zum Fan. So gesehen wäre es angesichts der Auswahl von "Fuel For Yor Soul" als eine der besten Platten der 1990er Jahre vielleicht nicht über Gebühr absurd, mich geteert und gefedert ins tumbe Nostalgieabseits laufen zu lassen. Aber haltet ein, die ihr beheugabelt und befackelt vor meiner Türe stehet! "Fuel For Sour Soul" ist ganz möglicherweise in die rosarote Watte eines 13-jährigen eingewickelt, der so hoffnungsvoll wie vergeblich auf die einsetzende Pubertät wartet, aber es ist auch einfach ein toll komponiertes, brillant produziertes und mit starken Hooklines ausgebautes, von Matti Alfonzetti (später übrigens bei der schwedischen Alternativeband Skintrade am Mikro) glänzend gesungenes, melodisches AOR/Hardrockalbum mit mindestens fünf absoluten Volltreffern - soviel hat eine Einzellercombo wie Mötley Crüe in ihrer ganzen Scheißkarriere nicht auf die Reihe bekommen. 

Vinyl und so: Für die 1990er Originalpressung müssen mittlerweile zwischen 40 und 50 Euro gezahlt werden, und ein Reissue ist leider so gar nicht in Sicht. Die CD kostet zwischen 10 und 15 Euro. Einige Versionen erschienen unter dem Namen "Jagged Edge U.K.".


  




Erschienen auf Polydor, 1990. 

27.04.2025

Sonst noch was, 2024?! (5): Nala Sinephro - Endlessness




NALA SINEPHRO - ENDLESSNESS


"Ich esse überhaupt nur noch, um danach mit umso größerem Vergnügen rauchen zu können." 
(Thomas Mann)


Am Ufer eines Sees. Eingebettet zwischen Bergen, deren schneebedeckte Gipfel sich im Wasser spiegeln. Stille. Windstille. Stillleben. Auf dem Wasser: keine Konturen, keine Bewegung, kein Wellchen. Fast ein wenig surreal. Hat jemand den Pauseknopf gedrückt, oder buffert mein Gehirn noch die Eindrücke? Give me something to cling to. 

Der Stein trifft die Wasseroberfläche. Rasch breiten sich die Wellen über die gesamte Oberfläche aus. Sehr schnell direkt um die Eintrittsstelle, mit langsamer werdendem Tempo je weiter sie sich in die Tiefe des Wassers graben. Und in die Breite. Fokus. Nicht blinzeln. Wir suchen das Bild im Bild. Dimensionen-Bingo im Schatten des Großglockners. Ayahuasca, DMT - olé, olé. 

Im peripheren Sichtfeld ist nun alles vor uns liegende in sanfter Bewegung. Ein zartes Schaukeln überall, in vollem Einklang mit der Umgebung. Mehr noch: es schluckt die Umgebung, es macht sie ganz. Und es wird damit so offensichtlich, dass erst die von der Erschütterung ausgelöste Schwingung das zusammenfügen kann, was durch die Unbeweglichkeit, die Starre nicht zusammenfinden konnte. Erst jetzt sind sie zu erkennen, die feinen Details, die tieferen Ebenen, die subtilen Turbulenzen - aber auch die Unberührtheiten. Was ehemals Alles und gleichzeitig Nichts war, weil das eingefrorene Bild auf der großen Leinwand keinerlei Impuls zur Durchlässigkeit preisgab, erleben wir nun Entfaltung und Verdichtung durch Bewegung und Überwindung. 

Das zweite Album der britischen Musikerin, Produzentin, Multi-Instrumentalistin Nala Sinephro heißt "Endlessness". Zehn Titel, allesamt unter dem Namen "Continuum" durchnummeriert. Der Stein fällt zur Sekunde 1 ins Wasser und möglicherweise endet die Schwingung mit dem atemberaubenden Crescendo im abschließenden "Continuum 10", möglicherweise endet sie aber auch in der Unendlichkeit. Das große Ensemble, das "Endlessness" stets auch über das triviale Ende des Werks hinaus in der Bewegung hält, unter anderem mit der Saxofonistin Nubya Garcia, dem Schlagzeuger Morgan Simpson (u.a. bei Black Midi), Ezra Collectives James Mollison, Lyle Barton am Piano, Sheila Maurice-Grey am Flügelhorn, Natcyet Wakili, Dwayne Kilvington und dem 21-köpfigen Streichorchester Orchestrate, definiert stets nur den Auftakt, niemals das Ende. So gesehen besteht "Endlessness" auch lediglich aus Ursprüngen, aus immer neu erkannten und aufgenommenen Ideen und Impulsen, die stets die kreative Stunde Null wiedergeben und sich ununterbrochen in die Breite verästeln. Beinahe fühlt es sich so an, als müsse man sich wegen des unwiderstehlichen Sogs selbst mitverästeln. Die Natur der Dinge. 

Alles hört irgendwann einmal auf zu existieren. Aber Nichts hat ein Ende.   


           



Erschienen auf Warp Records, 2024.



19.04.2025

Sonst noch was, 2024?! (4): Inhmost & Owl - Beyond A Moonless Night




INHMOST & OWL - BEYOND A MOONLESS NIGHT


“We are all connected; To each other, biologically. To the earth, chemically. To the rest of the universe atomically.” (Neil DeGrasse Tyson)



Ich bin geneigt, an dieser Stelle von einem "brandheißen Tipp" für alle Ambient-Jünger*innen zu schreiben, aber so brandheiß ist diese im vergangenen Sommer erschienene Platte im Frühling 2025 dann leider auch nicht mehr. Und ich bitte davon abzusehen, mir die zwar berechtigte Frage zu stellen, warum "Beyond A Moonless Night" denn nicht in meiner Top 20 auftauchte, weil ich außer der Feststellung, dass die Konkurrenz nun wirklich groß war, keine passende Antwort ausformuliert habe. 

Inhmost's Simon Huxtable ist auf 3,40qm kein Unbekannter mehr, hatte ich hier doch schon mehrfach auf das außergewöhnliche Talent des britischen Produzenten hingewiesen. Der aus Belgien stammende Pierre Nesi aka Owl kam mir erstmals mit seinem 2021 auf Silent Season erschienene Album "Infinite Horizon" aufs Radar. Die Wege der Herren kreuzten sich in den letzten Jahren unter anderem über Veröffentlichungen auf den Labels re:st und Huinali. "Beyond A Moonless Night" ist die erst Zusammenarbeit der beiden Musiker. 

Ich möchte heute auf dieses kleine Juwel hinweisen, nicht zuletzt deshalb, weil ich die Befürchtung habe, hier könnte ein bemerkenswertes Album in der Flut von Veröffentlichungen schlicht untergehen. Wie eingangs ausgeführt, weiß ich leider, wovon ich spreche. Der US-Amerikanische Musikkritiker Anthony Fantano berichtete vor wenigen Monaten, dass an einem Tag des Jahres 2024 soviel Musik veröffentlicht wurde wie im ganzen Jahr 1989. Welche Auswirkungen die schiere Menge an neuer Musik in Verbindung mit den programmierten Algorithmen sozialer Medien, einer gesunkenen Aufmerksamkeitsspanne und veränderten Lebensrealitäten der Zielgruppe auf Aspekte wie Vermittlung und Einordnung, also auf den generellen Diskurs haben, sehen wir seit einigen Jahren in der immer weiter voranschreitenden Auflösung von ehemals etablierten Medien und Plattformen und damit letzten Endes Diskursräumen, sowie gesellschaftlichen und kulturellen Strukturen und Standards. Ich bin beispielsweise immer (noch) überrascht, wenn die eigene Recherche zu Musikern und ihren Werken mittlerweile in den meisten Fällen auf den Seiten von Mailorderplattformen endet, stets lediglich kombiniert mit den übernommenen Promotexten der Plattenfirmen. Das ist oft diktiert von den jeweiligen Genres; über das letzte Album von The Cure schreibt natürlich immer noch jede*r, auch mit der Gewissheit, dass die Texte wenn schon nicht gelesen, dann immerhin angeklickt werden. Über Ambientproduktionen gleichermaßen zu lesen und zu schreiben kann hingegen ein bisschen einsam machen. 

Nun ist Einsamkeit ja traditionell eines der großen Markenzeichen auf 3,40qm, und auch das verraten mir sowohl die Zugriffszahlen als auch meine Postingfrequenz auf diesem seit 18 Jahren existierenden Blog, und ich bin mir völlig darüber im Klaren, dass zwischen diesen beiden Messgrößen ein kausaler Zusammenhang besteht. Neben den viel zu langen, ungelenk formulierten, mit diskussionswürdigem Humor und permanenter Überwärmung versehenen Texten und ihren stilistischen Katastrophen, versteht sich. Und bevor uns allen, und ganz besonders mir, jeden Moment die Tränen in die Augen schießen, lassen Sie mich noch schnell einige Worte zu "Beyond A Moonless Night" verlieren.

Was sich auf diesem Album bereits gleich zu Beginn offenbart, ist der außergewöhnlich immersive Klang dieser Aufnahme. Das ist der erste Anker, den "Beyond A Moonless Night" setzt. Das Eintauchen in dieses Universum ist unmittelbar. Es ist warm und weich, dabei kristallklar und durchlässig. Die sich überlagernden Schichten ihrer Musik öffnen unentwegt neue Räume für Visionen. Ich habe bei der Auseinandersetzung bemerkt, dass die Platte sich ganz hervorragend für die Momente des Zwielichts eignet, für die Augenblicke zwischen Wachen und Schlafen, zwischen Bewusstheit und Intuition. Ich sehe große Vogelschwärme, die in der Dämmerung wie von einer unsichtbaren Entität geführt in Bruchteilen von Sekunden Flugrichtungen wechseln, ich sehe sich in einer sanften Brise wiegenden Palmen, ich spüre die Verbindung und das Miteinander. In "Dusk Settled Over The Mountains" stehe ich mit Lisa Gerrard und Brendan Perry in einer gotischen Kathedrale auf dem Saturn. Das kann eine außerordentlich befreiende, angstlösende Wirkung haben. Dabei hilft es, dass Inhmost und Owl sich viel Zeit für die Entwicklung ihrer Ideen lassen und die Musik behutsam expandieren, ohne dafür die Struktur zu opfern. Hier fließt nichts in Ungewisse, weil jede Bewegung Richtung und Bestimmung hat. 

In funkelnden Astralnebeln zwitschern Vögel. 


 



Erschienen auf Stasis Recordings, 2024.


11.04.2025

Sonst noch was, 2024?! (3): Soela - Dark Portrait




SOELA - DARK PORTRAIT


“Consensus Programming is dangerous to your health. The brainwashed do not know they are being brainwashed.” (Wendy O'Williams)



Es lebt etwas ungemein Anziehendes in dieser Musik. In den vergangenen vier Monaten kam mir keine andere Platte so oft auf den Plattenspieler wie "Dark Portrait" und es hatte bisweilen den Anschein, als könne die Platte zunächst mein Innenleben scannen und anschließend die aufgenommenen Schwingungen ganz selbstverständlich in genau die Töne umwandeln, die mein System gerade benötigte. Du findest diese Platte nicht, sie findet Dich. 

Und das tut sie mit Präzision. Was umso erstaunlicher ist, denn hier ist zunächst mal fast alles Vibe, alles Schwebung. In die Aura getupft, hintergründig, in sich versunken. Vernebelte Zeitlupensounds im Teilchenbeschleuniger. Bereits im somnabulen Eröffnungsstück "Unsuitable" wird mit dem Kontrast zwischen kargen Trip Hop-Reflexen in Verbindung mit dem Selbstzweifel in Text und Stimme erstmals die Indifferenz deutlich, die sich durch das gesamte Album zieht. "I was just trying to accept that I'm not a good person towards everyone all the time" sagt Soela im Interview mit Bruce Tantum (DJ Mag). "I'm somtimes not even a good person to myself." 

Und selbst die lebhaften Momente wie in "Through The Windows" oder die Kollaboration mit Dial-Gründer Lawrence in "February Is Not Going To Be Forever", in denen die Beats mehr Raum einnehmen und die Energie in Richtung Tanzfläche ziehen, sind niemals gerade, sondern stets gebrochen vom emotionalen Treibholz, sie halten inne und schauen sich um. Alles geht nach innen - und über jene Einkehr werden die Brücken zum sinistren Grundrauschen gebaut, das ständig in uns allen zu hören ist. Wir spüren, dass wir uns fallen lassen können in diesen tiefen, melancholischen Strudel. Mit Grundvertrauen. 

"Dark Portrait" ist der elegische Blick über nächtliches Großstadtgeflacker und gleichzeitig mystischer Ambientnebel auf einer Waldlichtung. Der Soundtrack für die schier endlose Suche nach dem innersten Kern des Lebens. Wer wir waren - und wer wir sind. Und, vielleicht noch wichtiger, wer wir sein wollen.


 


Erschienen auf Scissor & Thread, 2024. 



Über Soelas Albumdebut "Genuine Silk" berichteten wir bereits HIER.

08.04.2025

Sonst noch was, 2024?! (2): Amblare - Amblare




AMBLARE - AMBLARE


"Matt and Alex especially want to thank Bryan for his love, encouragement, friendship, excitement, and passion. This recording is dedicated to his life and memory. We will miss him forever." (Amblare)


RIP Bryan St. Pere

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Das könnte die kürzeste Rezension aller Zeiten auf diesem Blog werden. Die Sache ist nämlich wirklich schreiend einfach: Du magst eine (!) der folgenden Bands, und Du wirst "Amblare" lieben. Das ist die Dreikommaviernull-Zufriedenheitsgarantie im Best Practice und Service Excellence Cluster. 


A Perfect Circle, Hum, The Life And Times, Helmet, Failure, Shiner.


Jep, eine reicht. 


Vielen Dank, Merci Beacoup, Mille Grazie -  das war's, schönen Abend noch, hoabe d'Ehre!
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Ich habe gesagt, es "KÖNNTE" die kürzeste Rezension aller Zeiten auf diesem Blog werden. Aber nicht mit mir, Freunde der Sonne!

Alles, was ich da just ins Weltnetz erbrochen habe stimmt freilich, und ich nehme davon auch keine Nanosilbe zurück. Es fehlt allerdings noch eine Kleinigkeit. Denn es wäre nun ebenso freilich ein Leichtes, mir so unschöne Repliken wie "aufgewärmter Kaffee", "nicht gerade originell", "also alles schonmal dagewesen", "wer will denn so 'ne alte Scheiße heute noch hören?" vor die Tür zu karren, und bevor ich den ganzen Plunder mit einem rasenden Raketenfurz von Angus Youngs Gardinenstange in die Luft gehen lasse, sei noch eine Frage erlaubt: was ist denn an aufgewärmten Kaffee auszusetzen? Hm? Schön in den Edelstahlkochtopf, bisschen Ziegenkäse, bisschen Melasse, bisschen Bärlauch, schnell aufkochen lassen und dann ab damit ins Klo, aber Vorsicht: es könnte das Porzellan angreifen! Huch, ich bin im Rezept verrutscht, KEINE MELASSE, das versaut einem echt alles. Senf! Senf muss rein!

"Amblare" wurde von den drei Musikern Matt McGuyer (u.a. bei Mock Orange), Alex Wallwork von den Stonern Faerie Ring und Bryan St.Pere der 90er-Alterna-Stars HUM (pun intended!) erdacht und wird jedem Kind der Neunziger die Freudentränen in die Augen treiben. Emotional, melancholisch, drückend, zerbrechlich, heavy, deep, groovend, dazu mit einer gewissen Nerdigkeit, die bionatürlich jedes Klischee draußen vor der Tür lässt. Breaks, die einen Quantum Break verursachen können. Gitarren, die untenrum ganze Planeten wegschieben und obenrum Glühwürmchen im Weltall unsittlich berühren. Ein Schlagzeuger, der mit Ambossen auf die Kessel drischt. Eine an das letzte Hum-Meisterwerk "Inlet" erinnernde Produktion, was wenig Raum für Überraschungen lässt, wenn der Mann an den Reglern Matt Talbott heißt und bei Hum die Gitarre bedient und am Mikrofon steht - ein außergewöhnliches Gespür für Raum und Tiefe, für spaciges Geflacker und gleichzeitig für die Verdichtung von Sound und Vision. Wenn's einen Beweis benötigt: ich habe keine Vorstellung davon, wem bei einem absoluten Monstrum wie "Mine'd" nicht die Knie weich werden würden. 

Und wo ich jetzt schon einen Titel explizit erwähnte, muss ich zwangsläufig auf den zweiten Smash-Hit dieses Albums hinweisen, genau genommen ist es DER Hit, der in anderen Zeiten Leben verändern könnte: "Underest" hat alles für die Tanzfläche und alles fürs Gefühl, eine Hymne für Generationen. Warum hört hier keiner zu? Warum läuft das so komplett unter jedem Radar? Warum ist Rockmusik so kolossal am Arsch? 

Nun, darum: Die Herzallerliebste und meine Wenigkeit wohnten die Tage einer Nirvana Tribute-Party in einer Frankfurter Diskothek bei, Todestag und Tralala, Untertitel "Hardcore, Garage, Grunge". Ich wiederhole das besser nochmal: eine Nirvana Tribute-Party mit dem Untertitel: "Hardcore, Garage, Grunge". Unendliche Möglichkeiten, einen fantastischen Abend zu haben. Ein ganzes Jahrzehnt vollgestopft mit der besten Musik der Welt zur Auswahl. Ich könnte - Uhrenvergleich: JETZT - mit dem Aufzählen von Songs und Bands und Alben in den Sektoren "Hardcore, Garage, Grunge" beginnen und wenn Du mich in 72 Stunden wieder siehst, werde ich immer noch nicht damit aufgehört haben. Right? Right!

Was stattdessen passierte: Der DJ ballerte zur besten Sendezeit gegen halb eins die neunminütige (!) Guns'n'Roses-Saftgranate "Estranged" auf eine leere Tanzfläche. Für volle neun Minuten. N-E-U-N.


Es ist einfach alles egal geworden.  

Alles. Ist. Einfach Fucking. Scheiß. Egal. 

Hört diese Platte. 


 



Erschienen auf Melodic Virtue, 2024.


06.04.2025

Sonst noch was, 2024?! (1): Wardown - III




WARDOWN  - III


"Most of us will reach a certain point in our living where if we can't figure out how and where to place our nostalgia it will completely overwhelm us." (Renee Gladman)


NOSTALGIE
Substantiv, feminin [die]
vom Unbehagen an der Gegenwart ausgelöste, von unbestimmter Sehnsucht erfüllte Gestimmtheit, die sich in der Rückwendung zu einer vergangenen, in der Vorstellung verklärten Zeit äußert, deren Mode, Kunst, Musik o. Ä. man wieder belebt


Der dritte und letzte Teil der Wardown-Trilogie des britischen Produzenten Pete Rogers erschien Mitte Dezember des vergangenen Jahres und kam mir damit für die offizielle Bestenliste leider zu spät auf den Plattenteller. Die beiden Vorgänger I und II zählen für mich zu den beeindruckendsten Elektronik-Alben der letzten fünf Jahre. Zum einen, weil die hier behandelten Themen der "Sehnsucht", ein Begriff, den Rogers in Interviews oftmals explizit auf Deutsch verwendet, weil die englische Sprache keine adäquate Übersetzung vorhält, sich bis in die hintersten Ecken meiner eigenen Echokammer ausbreiten konnten und dort sofort Verbindung mit mir aufnahmen. Zum anderen, weil die gesamte Ästhetik, von den Cover-Artworks bis hin zu den ausgewählten Sounds für diesen Ambient- und Drum 'n' Bass-Hybriden, sein Storytelling so überzeugend und transparent machte. Ich verstand damit tief im Innern, was Rogers mit diesen Projekten aussagen wollte, und je älter ich werde und je klarer sich damit das Sentiment der Nostalgie auch in mir selbst zeigt, desto größer wird die Anziehung, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen. 

Das war und ist erstens nicht immer angenehm - das eigene Spiegelbild zeigt bei entsprechenden Lichtverhältnissen und Perspektiven leider nur zu ungnädig auch jene Bereiche, die man am liebsten gar vor sich selbst versteckt hält, ganz zu schweigen von der Außenwelt. Was sagt es über mich, wenn die Gegenwart offenbar so unerträglich scheint, dass selbst die Reise ins bereits Ge- und Erlebte, ins Vergilbte, Ausgegraute und Vergangene mehr Attraktion verspricht, mehr Reizpunkte triggert und gleichzeitig paradoxerweise als stark wirkendes Sedativum Einsatz findet? Es zeigt mir zweitens auch, wie flüchtig diese Empfindungen tatsächlich sind. Sie offenbaren sich im Grunde fast immer nur als diffuses Grundrauschen, das sich einer konzentrierten Anschauung stets in dem Moment entzieht, in dem eine Struktur oder ein Muster vergrößert werden will. Rogers beschreibt dieses Phänomen in seinem lesenswerten Interview mit Ryan Griffin von A Strangely Isolated Place wie folgt:

"But it’s a very hard thing to accurately pin down and describe. I sometimes feel as though to get a sense of it I have to look out of the corner of my eye, as when I try and focus directly on it, it disappears. It’s often a very fleeting feeling brought on by certain scenes in the world, weather, photographs, old films. A kind of bittersweet, melancholy feeling about the past and things that have been lost. But quite often it’s a longing for things I’ve never personally experienced or may never have even happened."

Wardown III erscheint mir im Vergleich mit den beiden Vorgängern etwas schwieriger zu dechiffrieren zu sein. Blickte Rogers auf dem Debut in seine eigene Vergangenheit zurück und vertonte weichgezeichnete Kindheitserinnerungen mit bittersüßem Schmelz, beschrieb er für "II" die Zukunft aus der Perspektive früherer Generationen und stellte damit eine Form der Nostalgie in den Mittelpunkt, die als seitenverkehrtes Negativ die unbekümmerte Naivität und Euphorie aus der Vergangenheit mit einer trostlosen Gegenwartsanschauung verknüpfte, in der all die hoffnungsvollen Visionen als unerreichbare Utopien, als Fiktion entlarvt wurden. Für "III" zeichnet es sich hingegen ab, als sei Rogers nun endgültig auf der Rückseite einer Landschaft angekommen. Die Stimmung ist trüber als zuvor, so als wäre man von der Erkenntnis überrannt worden, dass der zweite Teil des Wortes "Sehnsucht" der eigentliche Bedeutungsvektor ist: eine Sucht. Eine Flucht. Ein Eskapismus. Vielleicht auch eine Überlebensstrategie; der letzte Strohhalm, an den sich geklammert wird, weil die Kälte und Gleichgültigkeit der Gegenwart mit der Erinnerung an eine Vergangenheit kollidiert, in der Bedeutung und Bestimmung die zumindest virtuellen Grenzen der Zielkorridors waren. "Everything has their cycle. They have their beginning, they have their end." heißt es in "39 to Beam Up". Und anschließend, über unheilbeschwörendes Sirenengeheul: "Planet Earth. About to be recycled. Your only chance to evacuate is to leave...with us."


Der Klappentext zu "III" liefert zusätzlich zwei Zitate als potentielle Leuchtfeuer. 

Nummer eins stammt aus dem Buch "The Ruins Of Nostalgia" der Autorin Donna Stonecipher aus dem Jahr 2024:

"We felt like nostalgic futurists, one half of our bodies aimed with hope at the prospect of future utopias, one half aimed with dread at the prospect of future utopias, torquing ever backward at an inexorably receding past"


Nummer zwei wurde dem im Jahr 1975 erschienenen Buch "Light Years" des US-amerikanischen Schriftstellers James Salter entnommen:

“We’re entering the underground river,” she said. “Do you know what I mean?”
“Yes, I know.”
“It’s ahead of us. All I can tell you is, not even courage will help..."

Mir erscheint vor allem der Verweis auf "Light Years" zentral für die Entschlüsselung zu sein. Salters Roman beschreibt vordergründig den langsamen Zerfall einer Ehe und erzählt von einem scheinbar perfekten und idyllischen Leben einer Familie im Osten Amerikas, über das sich über die Jahre flächendeckend Risse ausbreiten, das sich entzweit und immer weiter in Kleinpartikel zerstreut bis hin zur schlussendlichen Auflösung und Auslöschung. Die Unterströmung von "Light Years" hinterfragt hingegen jene Aspekte unseres Lebens, den wir als essentiell an- und hinnehmen, denen wir eine oberflächliche Relevanz beimessen, ohne die eigentliche Tragweite ihrer existenziellen Bedeutung erfassen zu können. Deren Gewicht bestimmt ist von performativem Verhalten, von falscher Loyalität, vom Festhalten am Status Quo. Und deren Betrachtung letzten Endes von Zukunftsängsten und von der oft so tiefsitzenden Furcht von Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung bestimmt ist. 

Ich empfinde das Eintauchen in die Themenwelt der Wardown-Alben als großes Glück. Es fordert mich heraus. Es provoziert mich. Gleichzeitig gibt es mir einen Anker zur Reflektion und einen Ausblick darauf, wie ich leben möchte. 

Und wer sich jetzt fragt, ob's denn nicht auch eine Nummer kleiner ginge...?! 

Nein, eigentlich nicht.


 



Erschienen auf Blu Mar Ten, 2024.