Posts mit dem Label Tanzen werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Tanzen werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

04.07.2021

Sonst noch was, 2020?! (9) - Deadbeat & Paul St. Hilaire - Four Quarters Of Love And Modern Lash



DEADBEAT & PAUL ST. HILAIRE - FOUR QUARTERS OF LOVE AND MODERN LASH

Vier (grob) viertelstündige Dubtechno-Elegien auf dem zweiten Teamwork-Album von Deadbeat und Paul St.Hilaire massieren das Basis-Chakra und blasen beruhigenden Kräuterduft aufs dritte Auge. 

Bei 35°C im nicht ganz optimal gedämmten Hinterhaus, frischer Wassermelone und einer Elefantendosis Novalgin (der Rücken, das Alter, es ist nicht schön) bummst einem der nach einigen Minuten einsetzende Bass im Opener "War Games" glatt aus der glorreich-glühenden Unnerbüx - ein Hoch auf die echten Könner, die sich für dieses Album um das Vinylmastering kümmerten. 

Dunkel, hypnotisch, manchmal gar wie entfesselt groovend - ich möchte das auf einer pechschwarzen Tanzfläche in einem pechschwarzen Club hören. Mit meinem Kopf im Basshorn und einer 8 Hektar großen Grasplantage in den Bronchien.

    



Erschienen auf Another Moon, 2020.



13.02.2021

Best of 2020 ° Platz 16 ° Ignacio Tardieu - Shadow Dancer



IGNACIO TARDIEU - SHADOW DANCER

The flat earth society is meeting here today
Singing happy little lies
(Bad Religion)


Dieser aurale Zaubertrank führt Dich in ein unterirdisches Labyrinth mit 52°C Kerntemperatur und einer Luftfeuchtigkeit von 340%. Hypnose. Dunst. Freiheit. Sex. Der Bass schon beim ersten Schritt so tief, das Zwerchfell wird zum Trampolin. Die Orientierung ist außer Funktion. Roter Alarm. 

"Shadow Dancer" ist ein geheimnisvoller Ort. Ebene um Ebene verschluckt es jeden in dieser kilometertief in die Erde gebauten Welt, saugt alles ein, lässt nichts mehr los. Freaks huschen durch schmale, nur von einzelnen Fackeln schwach illuminierten Gänge, es riecht nach verbranntem Holz. An den aufgerauten, porösen Steinwänden flackern tanzende Schatten. Vielleicht schanzen auch tackernde Flatten. Ihre Körper sind unsichtbar, nur ihre Silhouetten bewegen sich zu den tribal-artigen, nie enden wollenden Schlägen und Rhythmen. Sie rufen Dich. Sie rufen Dich. Sie rufen Dich...

...die Welt ist weit weg. Tageslicht hat hier unten niemand gesehen. Schon seit Wochen nicht. Oder waren es Jahre?

BANDCAMP


 


Erschienen auf Odrex Music, 2020. 

07.02.2021

Best of 2020 ° Platz 17 ° nthng - Hypnotherapy




NTHNG - HYPNOTHERAPY

So I'ma build a bunker now
In the underground, surviving with that other sound
(Oddisee)


Techno hat's unter Corona vielleicht so hart getroffen wie kein anderes Genre, denn das, was unter normalen Umständen in den Clubs dieser Welt gespielt wird, ist auch genau für diesen Ort produziert worden. Elektronische Tanzmusik ist zum, Achtung, festhalten: Tanzen gemacht, im besten Fall in einer Gemeinschaft, in einem dunklen, heißen, feuchten Raum; die Hände zum Himmel, Koks von der Klobrille, Herpes vom Mojito, geiles Leben, Feierei. Aber was macht man eigentlich mit Techno, wenn niemand mehr tanzt? 

Na logo: man verwächst zu Hause mit der Couch, baut sich ein Rohrpost-System zum Kühlschrank und legt das ungeliebte Techno-Album auf. Autoren-Techno. Prätentiöser Kackmist, wer will sowas denn hören? Elfmeter ohne Tormann: sicherlich sehr viel mehr, wenn es denn nur mehr richtig gute Platten gäbe. 

nthng kann es jedenfalls. Hat er 2015 mit dem Debut "It Never Ends" auf Lobster Theremin bewiesen, einem konzeptionell überraschend stringent arrangierten, motivischen Album. Seitdem gab es vom niederländischen DJ und Produzenten eine Handvoll 12-Inches (u.a. auf Mörk und Delsin) und nun im Corona-Scheißjahr 2020 mit einem extrem miesen Timing die zweite Sammlung "Hypnotherapy". Eine Tour zum Album kann man sich schön in die Haare schmieren, hinzu kam ein Leak bereits Wochen vor dem offiziellen Release. Wie's so geht? NA, EXZELLENT!

"Hypnotherapy" lebt weniger vom Konzept, ich mag darüber hinaus bezweifeln, dass es überhaupt eines gab, als von erstens: einer unglaublichen stilistischen Bandbreite, zweitens: sehr, sehr starken Einzelsongs und drittens einer über dieser Platte schwebenden Leichtigkeit und Freiheit. Und wenn drittens das Konzept ist: bon, approuvé!

Vom luftigen, von skurrilen "Many Men (Wish Death)"-Sprachsamples durchzogenen und damit die Atmosphäre brechenden Ambient-Einstieg "50 Flower" über Trance-Strahlemänner wie den absoluten Höhepunkt "Heifft" mit seinem halsbrecherischem Tempo, straighten Hits wie "I Just Am" (mit Whitney Houston-Sample) und dem funkelnden "Spirit Of Ecstasy" oder den New Age streifenden Titeltrack mit flächig-bebendem Finale bis hin zum Ambient in "Beautiful Love" und dem weich und entrückt wegdämmernden Abschluss "With You" hat das Album durchgängig Stil, Eleganz und Klasse. Jeder Track ein Hit - und alles funktioniert bestens in den eigenen vier Wänden. 

Liegend - oder zappelnd.

--

Pressung: Vielleicht die ärgerlichste Pressung des Jahres 2020. Die beiden großartigen, subtilen Ambienttracks "Beautiful Love" und ganz besonders "With You" sind ohne Tobsuchtsanfall praktisch nicht zu hören. Ich weiß nicht, wie es mit der schwarzen Vinylversion ausschaut, aber es würde mich schwer wundern, wenn die problemfrei liefe. Abhorrent. (+)

Ausstattung: Die reine Optik der colorierten Version ist zum Dahinschmelzen. Keine gefütterten Innenhüllen, kein Downloadcode. Bei Bandcamp kostet der digitale Download nochmal satte 10 Pfund. (++)


   


Erschienen auf Lobster Theremin, 2020. 


05.01.2021

Die besten Second Hand-Funde 2020 (2): Jazzanova - In Between




JAZZANOVA - IN BETWEEN


Es war gar nicht so leicht, ein gut erhaltenes Exemplar des Jazzanova-Debuts zu ergattern, wenn man nicht gleich einen japanischen Postdienstleister bemühen wollte, und ich kann nur spekulieren, dass die drei Scheiben von "In Between" auf den Plattenspielern dieser Erde über die letzten 18 Jahre so oft, so lange und mit so viel Begeisterung gespielt wurden, bis mit letzter Kraft und zitternder Hand nur noch ein "G+" in das Feld für die Zustandsbeschreibung auf dem Plattensammlerportal Discogs eingepflegt werden konnte. Ich könnt's verstehen.

"In Between" war neben "The Cosmic Game" der Thievery Corporation mein Einstieg in die Welt elektronischer Musik und trotzdem rutschte es mir bis zum 2018er Comebackalbum "The Pool" unerklärlicherweise vom Radar - und nachdem ich mich angemessen geschämt hatte, begab ich mich für die nächsten zwei Jahre, ich habe ja sonst auch nichts zu tun, auf die Suche nach dieser LP. Und als ich sie endlich fand, fehlten die Original Inlays von zwei der drei Platten. Die Leiden des alternden Plattensammlers im Jahr der globalen Pandemie. Es geht schon wieder, danke für die Nachricht.

Das erste Auflegen in der brütend heißen Behausung im Frankfurter Westen schleuderte mich gefühlsecht in den Frühling des Jahres 2005, ins riesige Wohnzimmer unserer Wiesbadener Altbauwohnung mit den großen Fenstern und den langen weißen Vorhängen, durch die sich der Duft des herannahenden Stadtsommers mit dem sanften Aroma des frisch gebrühten Jasmintees vermählte und dem leichtfüßigen, raffinierten Gemisch aus Downtempo, Broken Beat, Jazz und HipHop einen passenden Rahmen schenkte. "In Between" ist Jazz für den Club, sophisticated, urban, elegant, sexy.

This stuff just never gets old. 

                     

Erschienen auf Jazzanova Compost Records, 2002.

09.05.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: George Fitzgerald - Fading Love




GEORGE FITZGERALD - FADING LOVE


Der Sommer 2015 mit dieser Platte im Reisegepäck wird unvergessen bleiben. Wir verbrachten einige Tage bei der Familie in Lübeck und fuhren jeden Tag mit dem Auto an einen Hundestrand an der Ostsee (Fabbi liebt den Strand!), und was schon auf der sechsstündigen Anreise offensichtlich war, dass wir also unsere Sommerplatte des Jahres gefunden hatten, wurde auf den täglichen Fahrten nur noch bestätigt: es verging keine Sekunde ohne "Fading Love". 

Bittersüße Melodien, Melancholie im Nicki-Strampler mit einem trockenen Martini in der Hand, Sonnenuntergänge im Sepiafilter. Herausragender Moment ist sicher die Single "Full Circle", die mühelos das gesamte Album tragen kann und bis heute Emotionen und Bilder hervorruft, die gegensätzlicher nicht sein könnten. Im Grunde will man die Welt umarmen und dabei Rotz und Wasser heulen. Und weil das gleichzeitig eine sehr akkurate Beschreibung des eigenen Gemütszustandes am Rande des Wahnsinns ist, finde ich, das trifft's auch im Frühjahr 2020 noch ganz anständig. 





Erschienen auf Double Six, 2015.

04.04.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Oddisee - People Hear What They See




ODDISEE - PEOPLE HEAR WHAT THEY SEE


Urban wie ein Solo-Sonntagsbrunch im Hamburger Neustadt-Kiez mit frisch gedruckter Wochenzeitung, intellektuell wie ein tiefes, reflektiertes Gespräch mit einem guten Freund. Ein bisschen Philosophie über guten Kaffee und die sozialen Verwerfungen in den USA, eine Idee über Tanzen und Realitätsflucht, Jazz und Soul. 

Unter der Conscious-Pudelmütze im Arbeitszimmer irgendwo in Brooklyn steckt ein Einzelgänger, ein mutiger, smarter, offener Geist, auf der Bühne steht und derwischt hingegen ein Teamplayer, der mit seiner Begleitband Good Compny jeden Laden in die Knie glühen kann. Ich durfte das Spektakel zwei Mal erleben, und vor allem das Konzert im leider eher unzulänglich besuchten Bett zu Frankfurt im November 2013 wird mir mit seinen positiv geladenen Power-Vibes zwischen klassischem Hip Hop, Soul, RnB und Jazz wohl auf ewig in Erinnerung bleiben. Sicherlich eines der besten Gigs, die ich im vergangenen Jahrzehnt gesehen habe. 

Wer es mit eigenen Augen und Ohren erleben will, klickt das folgende Video vom Into The Great Wide Open Festivals aus dem Jahr 2015 an und hält schon mal den Sack für die Glücksgefühle weit auf):



"People Hear What They See" war möglicherweise Oddisees Durchbruch im Hip Hop Underground - und auch wenn die größeren Hits wie "That's Love" oder "Things" auf den späteren, und darüber hinaus ebenfalls brillianten Alben "The Iceberg" und "The Good Fight" erschienen, ist das 2012 erschienene Soloalbum des (ex-)DC-Mannes nicht nur wegen der umwerfend aussehenden Vinylpressung der Klassiker seiner bisherigen Diskografie. Und es ist für mich bis heute ein Rätsel, wie dieser ultradicke und alles niederpumpende Bass auf "People Hear What They See" die Nadel nicht dazu bringt, nach zwei Sekunden aus der Rille zu flumpfen. 

"Hip Hop never died. It just went underground." 




Erschienen auf Mello Music Group, 2012.

31.03.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Fela Kuti Vs. De La Soul - Fela Soul




Fela Kuti Vs. De La Soul - Fela Soul  


Manchmal hat selbst Herr Blödkommatrübetassenull einen ganz guten Riecher: diesen Mashup aus Fela Kuti-Samples und De La Soul-Raps gab es 2012 lediglich als Download über Amerigo Gazaways Bandcamp-Seite, und als wenig später die Erstpressung des Bootlegs bei meinem Lieblingsmailorder auf die Verkaufsliste gesetzt wurde, in schwarzer Blankohülle, ohne Coverartwork oder gar aufgeklebten Titel, konnte ich unmöglich widerstehen. 

Mittlerweile hat "Fela Soul" einen derartigen Kultstatus im Untergrund erreicht, dass es regelmäßigen Nachschub mit einer nun hübsch aufgemachten, wenngleich angeblich immer noch mindestens halblegalen Vinylversion (und einer zusätzlichen Tape-Edition!) gibt, die sich auch immer noch hervorragend verkauft. Und das mit Recht, denn jede Jubelarie, die sich jeder coole Hipster über diese 33 Minuten ans dürre H&M-Hütchen steckt, ist wahr. "Fela Soul" ist aus meinem Leben nicht mehr wegzudenken und ist eine jener Platten, die ich immer (IMMER!) in greifbarer Nähe habe - und das in jedem vorstellbaren und passenden Format.




---

BONUS TRACKS

Dass Amerigo nach diesem Meisterwerk noch weitere Mashups veröffentlichte, ist Lesern dieses Blogs natürlich geläufig. Zwei Alben davon sind absolutes Pflichtprogramm, und daran geht auch einfach kein Weg vorbei. Sorry, not sorry.


Erstens: A Tribe Called Quest & The Pharcyde - Bizarre Tribe

  


Zweitens: Yasiin Bey & Marvin Gaye - Yasiin Gaye




Ich verfahre wie immer mit der "Linke Reihe anstellen, jeder nur ein Kreuz"-Regel, daher ist nur Fela Soul in diese Liste gerutscht. Die beiden zusätzlich genannten sind, Achtung, ich sag's nochmal: absolutes Pflichtprogramm.

23.03.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Bonobo - Black Sands




BONOBO - BLACK SANDS


Wenn's mir eh keiner glaubt, kann mir ja eigentlich ab sofort alles egal sein: nach der ersten Minute von "Black Sands" wusste ich, wie außergewöhnlich die Patte, diese Musik ist. Ich war sofort an Plattenspieler und Lautsprecher gefesselt und schrie(b) Freund Jens umgehend auf allen erdenklichen Kanälen an: "ALTER! BONOBO! BLACK SANDS! MUSST DU HABEN!" - dabei wusste ich vor zehn Jahren schon nicht, was dieses gewisse Etwas ist, das dieses Album so besonders macht. Die umwerfende Stimme von Andreya Triana? Die klassischen Arrangements in Verbindung mit experimentellen Dubstep-Beats und jazzy TripHop-Vibes? Dass es verspielter und eindringlicher ist als die großen Momente der Thievery Corporation, dabei aber mindestens genauso lässig und unprätentiös? 

Hinter jedem Ton auf dieser Platte leuchtet auch zehn Jahre später ein Regenbogen aus purem Gold - und der damit ausgelöste Durchbruch war so folgerichtig wie verdient. Dass Bonobo aka Simon Green trotz des mit den beiden folgenden Alben "The North Borders" und "Migration" nebst triumphaler Tourneen sogar weiter ausgebauten Erfolgs an diesen zeitlosen Klassiker seitdem nicht mehr anknüpfen konnte, ist aber mindestens genauso wahr. 





Erschienen auf Ninja Tune, 2010.

07.03.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Minus The Bear - Omni




MINUS THE BEAR - OMNI


Der erste ernsthafte Versuch dieser, und es darf mittlerweile so gesagt werden: Indierock-Ikone aus Seattle, jeden in ihren Augen überflüssigen Ballast aus ihren Songs zu entfernen, führte zu einem Album, über das ich bereits vor acht Jahren dachte, man sei nur noch einen Katzensprung von einem unveröffentlichten Genesis-Album aus den 1980er Jahren entfernt - und bevor die Frage aufkommt, wie das jetzt schon wieder zu verstehen sei: natürlich nur im allerbesten Sinne. 

Ganz vielleicht wollten sowohl Band als auch Label mit "Omni" auch den Weg in Richtung Mainstream und damit Weltherrschaft gehen, bis ein paar Jahre später klar war, dass dafür schon so einiges zusammenkommen und -passen muss. Dabei hätte es meinethalben gerne klappen können - und ihr fünftes Album wäre geradezu dafür prädestiniert gewesen. Sänger Jake Snider sang auch auf "Omni" immer noch von allerlei Anzüglichem, während er sich bekifft in den Bettlaken räkelte, hatte aber nun die Mathrock-Hühnerbrust mit einem Holzfällerhemd verdeckt und ließ sich außerdem einen stattlichen Vollbart stehen, in dem sich die Sünden der vergangenen Nacht sammelten. 

Für unbeschwerte Sommertage mit Hanfplantage in Hanglage und einem handgepressten Pferdeapfelburger aus der Hipster-Manufaktur gibt es fast nichts Besseres. 



Erschienen auf Dangerbird Records, 2010.



26.01.2020

Best Of 2019 ° Platz 6 ° Illuvia - Milla




ILLUVIA - MILLA


Ludvig Cimbrelius ist mit seiner Musik schon seit langer Zeit ein Stammgast auf Dreikommaviernull und meinen Jahresbestenlisten. Egal unter welchem Namen der nimmermüde Schwede arbeitet und praktisch ohne Unterlass Alben, EPs und Einzelsongs veröffentlicht, ist sein Sound mittlerweile unverkennbar. 

Es gibt vielleicht keinen anderen Künstler im zeitgenössischen Ambient, der das Spiel mit Licht und Liebe, mit Spiritualität und der Lust am Leben und Erleben so in sein Werk einbringt wie Ludvig. "Milla" erschien im letzten Jahr unter seinem Alias Illuvia und wer das gleichnamige Album aus dem Jahr 2017 gehört hat, erkennt viele Merkmale dieses Projekts auch auf "Milla": tanzende Herzen, Seelentiefe, Bewusstseinswunder, der Fluss des Lebens zwischen Euphorie und Melancholie, die Berauschtheit an der Schönheit der Natur, Demut vor der Existenz. 

Alles ist hell. Alles strahlt. Alles in Ultra-HD mit Sonnenuntergangsfilter. Let the healing begin. 

P.S.: die Vinylversion bietet lediglich vier Songs (darunter ein Remix der genialen Primal Code), die Digitalversion hat dagegen alle Tracks im Sack. Zu haben auf Bandcamp.



Erschienen auf Hypnus Records, 2019.



18.01.2020

Best Of 2019 ° Platz 9 ° Yagya - Stormur



YAGYA - STORMUR


Es sind nicht nur Metal-Fans, die ungemütlich werden können, wenn sich die Lieblingsband kreativ austobt und Schema F über den Haufen wirft - auch in elektronischen Gefilden tut man sich bei aller Offenheit und Liberalität offenbar schwer mit Veränderungen. Yagya ist vor allem für seine Dub- und Ambient-Techno Produktionen bekannt und mit seinem Debut für A Strangely Isolated Place schubst er die eben noch in Watte eingekuschelte Fanbase mit Verve auf die Techno-Tanzfläche. Grelles Licht, Lasergeflacker und Strobos bis das zentrale Nervensystem schlapp macht. 

Allerdings: er macht's behutsam im Flow des Albums und auch ein bisschen mit Ansage. Erst ab "Fjögur" fackelt's heißer im Meth-Lab  Unterleib und mit Ausnahme des noch etwas Luft zum Atmen gebenden "Sex" schlagen die Flammen im weiteren Verlauf und bis zum finalen "Rettungsschuss" (Manfred Kanter) "Tiu" immer höher. Die hypnotische Kick drückt unnachgiebig aufs Tempo, die Sounds sind kühl, die Stimmung vereist-nokturn und die partiell eingestreuten, verhuschten Vocals sorgen für zusätzliche Fluchtpunkte in dem Beat-Dickicht. Für viele seiner alten Fans ist "Stormur" vermutlich eine Ecke zu hart und zu "four on the floor", für mich war es für die Sommernächte im Sossenheimer Kiez genau das richtige. 

Und man kann es sich denken: die Vinylversion von "Stormur" war natürlich bei all meinen Anlaufstellen in Europa in nullkommanix ausverkauft. ASIP-Gründer und -Boss Ryan kontaktierte mich nach meinem unwürdigen Geflenne via Instagram und war dann sogar so freundlich, mir ein Exemplar von seinem kleinen Restefundus direkt aus Kalifornien zuzuschicken. Hier kümmert sich der Scheff noch selbst um die Kundschaft. Ich darf also auch vor diesem Hintergrund festhalten: geile Platte, geiles Label, geiler Typ!




Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2019.


02.01.2020

Best Of 2019 ° Platz 17 ° Orgone - Reasons




ORGONE - REASONS


Der sehr geschätzte und vor allem loyale Leser dieses Blogs weiß es: ich habe einen Narren an dieser Band gefressen. Seit ihrem "Cali Fever" Album aus dem Jahr 2010 verfolge ich die Wege des Funk-Kollektivs und belästige es auf allen verfügbaren Kanälen des Internets (bislang erfolglos) mit der unterwürfigen Bettelei, doch bitte endlich eine Tour durch Deutschland zu buchen. Stattdessen nehmen sie regelmäßig neue Platten auf, die in erster Linie als Standortbestimmung zu dienen scheinen, als Skizze des derzeitigen Entwicklungsstands. Seit einiger Zeit marschiert die Combo aus den noch etwas räudigen San Francisco-Funkbecken in den etwas smootheren Bereich der Bar, in dem die Sessel mit rotem Samt bezogen sind. Vielleicht steht man mittlerweile mit einem Bein sogar in den 1980er Jahren - und das nicht nur wegen der Extraportion Weichzeichner-Aura des Coverartworks: Was die Entwicklung für den Vorgänger "Beyond The Sun" bereits andeutete, zieht bei "Reasons" nun noch etwas weiter in Richtung Disco und California Rock durch. Und während ich noch die Stirn in Falten lege, ob das möglicherweise dieses Mal nicht vielleicht doch ein bisschen zu viel des Guten ist, überfällt mich der unwiderstehliche Groove dieser Götterband schon im Opener "All Good Things" wie eine amoklaufende Adrenalinspritze auf der Tanzfläche. Alles gekrönt von der immer noch atemberaubend singenden Queen Adryon de Leon, die die kalifornische Sonne in ihren Stimmbändern eingebrannt hat. 

Süchtig machende Energie im Zeichen der Discokugel. 



Erschienen auf Killion Sound, 2019.

30.12.2019

Best Of 2019 ° Platz 19 ° Araceae - Resonance Of The Absolute




ARACEAE - RESONANCE OF THE ABSOLUTE


Die Sache mit Dub Techno ist und bleibt eine Schwierige. Im Trend liegt das Genre nicht (mehr) wirklich; ich habe eher das Gefühl, dass es sich nur noch um eine relativ kleine, dafür eingeschworene Community handelt, die diesen Sound sowohl produziert als auch immer noch hört. Teil des Problems ist die überschaubare Anzahl jener Produzenten, die einen Ausweg aus dem Dilemma des straffen stilistischen Korsetts suchen und sich um Weiterentwicklung bemühen. Araceae geht sicher nicht so weit wie beispielsweise das belgische Duo Wanderwelle, dafür lässt die auf "Resonance Of The Absolute" präsentierte Bandbreite mein Herz höher schlagen: Ambient, Drone, Field Recordings und Modern Classical/Minimal mischt sich mit naturnahem, rauem und urwüchsigem Dub Techno wie im Highlight "Rocky Shore". Über ein Jahr hat Ryan Malony an diesem Album gearbeitet, das Archves-Sublabel Faint hat es auf Tape, CD und Digital veröffentlicht (leider kein Vinyl). Ein mit viel Liebe zum Detail und einem exzellenten Gespür für dramaturgische Texturen zusammengestelltes Werk.  



Erschienen auf Faint, 2019.

29.12.2019

Best Of 2019 ° Platz 20 ° Melchior Sultana - Deeper Than It Sounds




MELCHIOR SULTANA - DEEPER THAN IT SOUNDS


Ein Teilnehmer der diesjährigen Folge "Es ist Frühling und ich möchte tanzen!": Melchior Sultana aus Malta mit einem Albumtitel, der das naheliegend schlechteste aus jedem Musikjournalisten herauskitzeln könnte. Meine Lust nach positiv aufgeladenen, euphorisierend-elektronischen Sounds, wenn die ersten Sonnenstrahlen das eben noch erstarrte Winterleben wachküssen, wurde mittlerweile zur lieb gewonnenen Tradition im Hause Dreikommaviernull. Anders als die Konkurrenz hielt sich "Deeper Than It Sounds" indes bis in den Dezember hinein in der Playlist, und das muss mit einem Platz in den Top 20 belohnt werden. Sultana liefert ein melancholisch-schaukelndes Deep House Album ab, auf dem sich mediterran getupfte Klangwärmekörper auf einem Bett aus dunstigen Grooves ausbreiten und entlang räkeln können. Kommt am besten zum ersten Kaffee im Bett an einem bekifft-launigen Sonntag Mitte Mai zur prachtvollen Morgenerektion.

Keine Termine und leicht einen sitzen (und stehen)(vielleicht).




Erschienen auf deepArtSounds, 2019.


14.05.2019

Alive In New Light





IAMX - ALIVE IN NEW LIGHT



Die Herzallerliebste hatte den veganen Rollbraten zuerst gerochen und quittierte meine Ignoranz gegenüber des aktuellen IAMX-Albums Ende des letzten Jahres mit geharnischtem und obszön lautem Trommelfeuer aus ihrem Musikzimmer, denn "wenn der Alte das nicht hören will, dann lasse ich ihn es einfach mithören - und mit ihm darf auch die Landbevölkerung auf der Hochplateauebene Chiles noch zuhören!" Und so kam es, wie es so oft kommt: mit Lautstärke, Repetition und Liebesentzug zerbröselten meine zunächst vorbehaltlos validen Vorbehalte wie das Ehrgefühl von Julian "8,8cm" Reichelt beim verzweifelten liebevollen Gedanken an Moritz Hürtgen.

Dabei erschienen mir jene Vorbehalte gar nicht so balla-balla wie sie es sonst üblicherweise tun, sondern im Gegentum recht sorgfältig begründet: Chris Corner, Sänger, Produzent, Erfinder, Designer, Hirn und Herz des IAMX Kosmos ist ein getriebener Workaholic, der seine inneren Dämonen jahrelang versuchte mit Drogen zu bekämpfen. Von schweren Depressionen geplagt, auf der Suche nach Erlösung, Frieden und Liebe. Seine Musik erschien mir immer als bipolares Abbild seines Lebens, manisch zuckend zwischen einer bizarr überzeichneten Lust am Hedonismus und der sich anschließend zeigenden tiefen Agonie. Der Thrill des Untergangs. Drama, Baby! Nun findet in meinem Leben als bald 42-jähriger Golf-Fahrer mit Ersatzhundedecke im Kofferraum hingegen ziemlich wenig Drama und Verzweiflung statt, sieht man mal vom emotionalen Totalausfall ab, wenn der Kaffee zu dünn geraten ist oder wenn mal wieder morgens nach dem Aufstehen Wetter ist, denn so ist sie, die deutsche Kartoffel: es ist zu kalt, zu warm, zu nass oder zu trocken - und außerdem, und in erneuter Anlehnung an den unsterblichen Polt: "Ich bin schon früher zusammengebrochen, ich weiß wie's geht." Chris Corner weiß es auch - und auf dem zuletzt gehörten Album "Metanoia" aus dem Jahr 2015 legte er erneut ein ausführliches Zeugnis davon ab, wie das eigene Ich einem auch mit Mitte 40 noch böse an den Kragen gehen kann - aber mir war's dieses Mal schlicht zuviel. Zuviel Pose, zu wenig Echtheit, zu weit entfernt von meinem Erleben, meiner Realität. 

Dabei habe ich ja grundlegend eine Affinität zum Selbstzweifel und -mitleid, ich bin schließlich in den prachtvoll inszenierten Opferrollen des Heavy Metal groß geworden - außerdem war ich mal katholisch und noch schlimmer: Messdiener. Beides drängt die Denkmurmel nicht immer in Richtung einer positiven Selbstwahrnehmung, macht sie aber empfänglich für die Lust an der Apokalypse. "The Alternative" aus dem Jahr 2006 war der erste Berührungspunkt mit Corners zwei Jahre zuvor aus der Taufe gehobenem Projekt, nachdem seine Band Sneaker Pimps auf dem Erfolgszenith verglühte, und entwickelte sich über die Jahre zu einem Klassiker im Casa Dreikommaviernull, nicht zuletzt und -sätzlich gefördert von zwei nicht weniger als legendär zu bezeichnenden Konzerten im Frankfurter Bett. Vor allem der zweite Auftritt in der locker 50°C heißen und komplett ausverkauften Halle im Hochsommer verbleibt bis heute als erotisch aufgeladener, wild durchdrehender Zirkus mit Konfetti, goldigem Glitzer-Glitter, Schweiß und viel nackter Haut in bester Erinnerung. Abende, die man einfach nicht vergisst. Trotzdem räumte ich nach "Metanoia" zunächst alles beiseite, was aus dem Hause IAMX kam. No hard feelings - ich bin eben rausgewachsen. Das kann ich akzeptieren.

Angesichts von "Alive In New Light" scheint es nun drei Jahre später, als müsste zaghaft der Rückwärtsgang eingelegt werden. Corner hat nach Jahren tiefer Depressionen seinen Weg zurück ins Licht gefunden: 

‘Part of being a creative artist is tied to deep self-confidence issues and self-doubt and ego waves. You are navigating that constantly because of what you do. And you do it because you are navigating it constantly. It’s a cycle of feeling great and feeling worthless. That can be a little bit challenging to stabilize the mind. I did work a lot on self-surrender, acceptance and self-love as well as self-compassion. That can be a huge step in relaxing into healing because one of the biggest problems is just coming down and being able to heal. Self-love is a big part of that.’ (Chris Corner)


Und somit wirkt das Album als das Produkt eines Heilungsprozesses, ist lyrisch optimistischer, versöhnlicher und ja: gereinigt. Es ist vor diesem Hintergrund nur konsequent, dieser Platte den vielsagenden Titel "Alive In New Light" zu geben  und die Livekonzerte mit dem Titelsong zu eröffnen: 


There's a power much bigger than hate
Still lost in the urge to annihilate
But I know I will overcome this
You dragged me through the darkest days
By the skin of my teeth you restored my fate
And I raised myself out of the ashes
Now I'm alive in new light
I'm alive in new light




Spätestens nach dem zu Jahresbeginn stattfindenden Konzert im Frankfurter Gibson (signifikant größer als das Bett und trotzdem ausverkauft) lag ich dann leise wimmernd in den Armen der Herzallerliebsten - mit dem gerade frisch vom Merchandisestand erworbenen Album und einem T-Shirt - und alle drei eben erwähnten Komponenten lassen sich übrigens auf dem obigen Bild erkennen. "Alive In New Light" ist, abgesehen von der etwas optimistischeren Ausrichtung, stilistisch immer noch ein lupenreines IAMX Album: sexy, theatralisch, hymnisch; und vielleicht das qualitativ homogenste und hochklassigste IAMX-Album seit dem Klassiker "The Alternative". Und wäre ich erstens nicht so vernagelt gewesen und außerdem zweitens früher auf die Idee gekommen, der Platte eine Chance zu geben, wäre "Alive In New Light" mit (gelbem) Schmackes in die Top Ten gerauscht. 

Blame it on the Flow. Wie immer. 




P.S.: IAMX veranstalten auf der immer noch laufenden "Mile Deep Hollow"-Tournee sogenannte Mental Health Gatherings und spenden die daraus entstandenen Einnahmen Stiftungen und Organisationen, die auf fortschreitende gesellschaftliche Epidemien wie Depressionen, Angstzustände und Suizid aufmerksam machen. 



Erschienen auf Orphic, 2018.

20.04.2019

Hedonilacholie




ROOSEVELT - YOUNG ROMANCE


Jetzt, da wir dem sich wieder ewig und vier Monate hinziehenden Jahresbestenlistenwahnsinn entronnen sind, ist es an der Zeit, die alten Kleider abzustreifen, sich neu aufzustellen und fokussiert nach vorne zu blicken - Haha, Quatsch mit Soße: noch ein bisschen Resteverwertung aus 2018 zu betreiben. 

Es gehört zu den tragischeren Momenten der Symbiose einer über den eigenen Kopf wachsenden Lohnarbeit mit einer Beinahe-Verstummung oder wenigstens signifikanten Reduzierung von Texten auf diesem Blog, dass ich bislang noch nichts über Roosevelt geschrieben habe. Das Schicksal teilt der junge Mann aus Köln zwar mit einer Legion an Musikern, Bands und Platten, die alle ebenfalls noch in der viel zu langen Warteschlange für einen Beitrag stehen, und geteiltes Leid ist ja halbes Leid - aber besser wird es damit ja auch nicht.

Das selbstbetitelte Debut aus dem Jahr 2016 hat sich mittlerweile im Hause Dreikommaviernull, und das schließt explizit die Herzallerliebste nebst Vierbeiner-Entourage mit ein, nach einer Phase des indifferenten Beschnupperns zu Beginn der Auseinandersetzung zu einer Art Lieblingsplatte gemausert. Vor allem für die sonnigeren Tage ist die Mischung aus 80er Synthiegewürmel, elektronischem Indiepop und dem Musikprogramm des ZDF-Fernsehgartens so erfrischend und euphorisierend wie ein eiskalter und in guter Gesellschaft eingenommener Gin Tonic (natürlich ohne Gurke, Ihr verwirrten, verwirrten Menschen!). 




Im letzten Herbst erschien nun also der Nachfolger "Young Romance" und ich stellte mich auf einen ähnlichen Effekt wie beim Debut ein: Zunächst erscheinen Andrea Kiewel und die untote Ilona Christen vor dem geistigen Auge, Busladungen beige-tragender Silberzwiebeln überfallen fist-raisend Autobahnraststätten und sehnen sich nach einer Nacht mit Florian Silberschwengel oder wenigstens einer Gewürzgurke, und wo zur Hölle ist mein Notfall-Insulin abgeblieben? Nach erfolgreichem Überstehen dieser Phase kann es eigentlich nur in Richtung Tanzfläche, Hawaiihemd und Limettenbaum gehen. Und dann sollte es auch endlich mit der Jahresbestenliste 2018 klappen.

Wir wissen nun: es klappte nicht. 

"Young Romance" erschien Ende September und erwischte mich trotz (oder wegen - you decide!) der immer noch anhaltenden Dauerhitze des vergangenen Jahres auf dem falschen Fuß. Ich hatte einfach genug vom Sommer, war zudem Dank andauernden 50+ Stundenwochen energetisch völlig ausgelaugt und ging zum Weinen in den Keller, wo es dann auch immerhin mal vier Grad kühler war. Lässig auf der Terrasse mit Leinenhemd an der eigenen prachtvollen Erektion lehnen und dazu melancholisch-beschwingte Popmusik hören war indes undenkbar. Ich wollte Winter, ich wollte eiskalten, Haut verätzenden Wind, Hagel, Graupel, Regen - oh fucking hell, ich wollte alles mit sich reißenden Regen. Und Roosevelt nahm darauf natürlich keine Rücksicht; der Mann liegt ganzjährig am Strand und hat 24/7 einen Sex on the Beach in der Hand, wenigstens mental. 

Im Frühjahr 2019 zeichnet sich aber mittlerweile das ursprünglich zu erwartende Bild ab: ich bin bereit für Roosevelt. Ich bin bereit für "Young Romance". Ich bin bereit für den Frühling. Ich bin bereit für die Sonne. Ich bin bereit für synthetisch schmeckendes Eis am Stiel aus den Laboren der Lebensmittelmafia. Für kurze Hosen und Byredos Sunday Cologne bis Oktober. Für eine auf einem Schimmel sitzende Prinzessin im Modern Talking Shirt, die in den Sonnenuntergang reitet und dabei die Bohlen-Faust zeigt. Für vollgesoffene Idioten mit Biermixgetränken in durchtanzten Clubnächten. Für vegane Blowjobs unter Autobahnbrücken. Für Hornissen so groß wie der Reichstag. Für Bio-Limetten und für Rapsölmotoren. Leben, here I come.

Roosevelts Musik ist eine süchtig machende Mixtur aus Melancholie und Euphorie, sie ist zu gleichen Teilen mitreißend wie träumerisch, romantisch wie hedonistisch. Wer immer noch dem pubertären Missverständnis aufsitzt, nur auf dem Nährboden aus Trauer, Dunkelheit, Verzweiflung und (Selbst)Mitleid erwachse relevantes kreatives Schaffen: get help, srsly!




Erschienen auf City Slang, 2018.


01.04.2019

Best Of 2018 ° Platz 4 ° Earth House Hold - Never Forget Us




EARTH HOUSE HOLD - NEVER FORGET US


"Memories. Because that's what we are, really. Memories." (Penelope Wilton)

Vielleicht liegt's an meiner katholischen Erziehung und der endgültigen Demütigung, gar in der Funktion als Messdiener Gottesdiensten beigewohnt und erwachsenen Menschen beim Ausleben ihrer zerebralen (und immerhin nicht erektilen) Dysfunktion erlebt zu haben, vielleicht ist es der Wunsch nach Vertrautem und am Ende des Tages: nach Sicherheit, Rituale so anziehend zu finden, dass ihre erfolgreiche oder -lose Integration in den Alltag über meine Gemütslage entscheiden können. Und vielleicht kommt es auch mit dem fortgeschrittenen Alter, denn noch vor fünf Jahren wäre das mit der Herzallerliebsten gemeinsame Einnehmen des ersten Kaffees am Morgen wegen unterschiedlicher Prioritäten und daraus resultierendem Zeitmangel unvorstellbar gewesen - heute ist es im besten Fall eine ganze Stunde quality time, die wir für die restliche Zeit des Tages nur selten im Überfluss kredenzt bekommen. Zumal in einem morgendlichen Setting, das einerseits noch so viel Verheißung und Hoffnung auf das, was da heute noch kommen mag verspricht (verbunden mit der nachhallenden Freude darüber, dass es dem "lieben Gott" (Rudi Assauer) offensichtlich noch nicht einfiel, unserer Existenz über Nacht ein jähes Ende zu bereiten), und andererseits noch ohne den nach Feierabend auf Seele und Herz verspritzen Klärschlamm der Lohnarbeit auskommt, der zur Ausführung halbwegs strukturierter menschlicher Interaktion und kognitiver Prozesse bisweilen etwas hinderlich sein kann. 

"Warum erzähle ich ihnen das, Hundskrüppel?" (Polt, o.s.ä.) 

"Never Forget Us", beziehungsweise die Auseinandersetzung mit "Never Forget Us" ist in meinem Emotionszentrum eng mit dem beschriebenen Ritual und den darin gemalten Bildern verknüpft. Das liest sich banal, und ich muss sie enttäuschen: vermutlich werden Sie, werter Leser, das schale Gefühl ebenjenes Banalen auch mit den nächsten Sätzen weder von der Netzhaut noch von ihrem Lebenszeitkonto kratzen beziehungsweise streichen können. Es muss sein, halten Sie sich fest: ein leichter Nieselregen an einem trüben, aber dennoch atmosphärischen topgelaunten und üerraschenderweise hellen Frühlingstag (jetzt besonders stark sein: ich teile diese helle Toplaune nur ganz selten!), eine leichte Brise Petrichor durchs gekippte Fenster, die sich mit dem Duft einer frisch gebrühtem Tasse Kaffee verbindet. Dazu - jetzt wird's final so richtig Punkrock: ein Spritzer Acqua di Parma aufs frischgebügelte und mittlerweile drei Nummern zu große hellblaue Hemd und "Never Forget Us" von Earth Hose Hold auf dem Plattenteller - das Vinyl selbstverständlich in enger farblicher Abstimmung mit der Oberbekleidung, nämlich auch in blau, wenn auch etwas deutlicher ins türkise/petrolige marschierend. Earth House Hold ist ein Alias von Brock van Wey - auf diesem Blog hauptsächlich Stammgast unter seinem Moniker bvdub - und nach langen Jahren des Planens und Wartens endlich auf A Strangely Isolated Place vertreten. 

Ich kann nicht mal sagen, ob sich das eben beschriebene Szenario wirklich eines Tages mal so abspielte; ich meine, wann bitte hat letzten Frühling mal geregnet, "LOL"(Till Schweiger), aber die emotionale Bindung zu dem Moment, der für mich grob unter "pures Glück" abgespeichert ist, ist stark - so stark, dass selbst der dunkle und nasskalte November in die Flucht geschlagen würde. Jedes neuerliche Hören von "Never Forget Us" bringt mich an einen guten Ort. Einen Ort der Ruhe und Kontemplation. Meditation. 

Wie klingt es? Vielleicht tatsächlich wie etwas, was bisher noch nicht zu hören war. In meinem letztjährigen Instagram Beitrag zu "Never Forget Us" schrub ich von atemberaubenden "next level sounds", weil ich die Kombination aus Brocks opulenter Ambientbühne, seinen klassischem Deephouse-Erinnerungen und den typisch souligen Vocalsamples einerseits, und der daraus erwachsenden Atmosphäre aus schwebender Melancholie und funkelnder Euphorie andererseits in dieser Form vorher noch nie gehört hatte. Möglicherweise gibt es aus diesem Grund auch einen Anteil in dieser Musik, der fremdartig erscheint, wie nicht von dieser Welt. Und ebenfalls möglicherweise ist es kein Zufall, eine weitere, eine zweite Platte in dieser einen entdecken zu können. Spielt man "Never Forget Us" nicht wie vorgesehen auf 33rpm, sondern auf 45rpm ab, morpht die Aura des Albums deutlich in Richtung House und entwickelt eine ganz eigene Dynamik, ohne dabei aber auch nur einen Beat der eigenen Identität zu verlieren. Auf links umgekrempelt, aber immer noch derselbe Stoff, aus dem die Träume sind. 





Eine auf mehreren Ebenen außergewöhnliche Platte, die angesichts Brock's bisherigem Schaffen mit der deutlichen Fixierung auf House unter diesem Projektnamen besonders stilistisch überrascht. A Strangely Isolated Place Labelboss Ryan Griffin berichtet, dass er und Brock schon lange über eine Zusammenarbeit nachdachten und nur auf den richtigen Moment warteten, bis Brocks Musik endlich (und erstmals) auf ASIP erscheinen sollte. "Never Forget Us" teilt die Leidenschaft und den Respekt der beiden Männer an den frühen klassischen House-Sound, der sowohl Inspiration als auch Basis für Brocks Musik ist und ist damit die perfekte Ergänzung zum Labelportfolio: Für mich ist "Never Forget Us" ein Gamechanger - ein Album, das in seiner Ausrichtung, seiner Ausstrahlung neues, bisher unberührtes Terrain betritt - im Außen und im Innern. Die Einführung in Brocks Musik mit dem Album "The Art Of Dying Alone" hat mein Leben verändert, und es hat auch neun Jahre später nicht aufgehört. Wie so viele seiner Veröffentlichungen hat auch "Never Forget Us" an meinem Lebensrad gedreht und wenn ich ich die Kamera von hier auf das große Bild aufziehe, dann hat es sich vermutlich schon lange nicht mehr so schnell gedreht. 


Pressung: ++++ (Bisweilen leise Pops, die aber das Gesamtbild nicht stören)
Ausstattung: +++++ (Klappcover, dicke, aber ungefütterte Papp-Innenhüllen, türkisblaues Vinyl. Fantastisches Art-Design)





Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2018.

17.02.2019

Best Of 2018 ° Platz 12 ° Nik Bärtsch's Ronin - Awase




NIK BÄRTSCH'S RONIN - AWASE


"Awase" ist das erste Studioalbum Ronins seit "Llyria" aus dem Jahr 2010 und die erste Veröffentlichung der Band seit der 2012 erschienenen Liveplatte "Live". Seitdem hat sich einiges getan: der langjährige Perkussionist Andi Pupato hat die Band mittlerweile verlassen und folgte damit dem bereits zuvor ausgestiegenen Bassisten Björn Meyer (der 2018 sein fantastisches Solodebut "Provenence" veröffentlichte, dessen Vinylversion durch eine wirklich granatenschlechte Pressung seitens ECM jedoch völlig in den Sand gesetzt wurde). Pianist und Bandleader Nik Bärtsch sagt über die lange Pause, er wollte der Band "Frieden und Raum" für ihre Entwicklung geben, und sie nicht unter Druck setzen. Das ist dem Album anzuhören. 

Dabei ist nicht alles neu, was hier glänzt: "Modul 60" wurde bereits auf "Continuum", dem letzten Werk von Bärtsch's zweiter Formation Mobile, präsentiert. "Modul 36" stammt vom immer noch umwerfenden ECM-Debut "Stoa" und erhält zehn Jahre später eine Neubehandlung, auf der vor allem Neu-Basser Thomy Jordi mit toller Dynamik brilliert, "Modul 34" wurde bereits 2003/2004 geschrieben und wird auf "Awase" erstmals auf einem Tonträger veröffentlicht. Darüber hinaus darf noch eine weitere Neuerung beklatscht werden: erstmals lässt sich auf einem Ronin-Werk eine Komposition des Saxofonisten Sha finden, die dann auch gleich für einen bislang ungeahnten Emotionsausbruch sorgt. 

Die Grundstruktur ihres Sounds hat sich indes nicht verändert. Was Bärtsch schon ab den ersten Häutungen Ronins als "Ritual Groove Music" beschreibt, bleibt auch auf "Awase" eisernes Gesetz: kristallklar, dürr, asketisch in den Kopfnoten, während das Herz Bewegung, Licht, Humor aus hunderten purpur glühenden Kammern in die Lebensbahnen dieser Band pumpt und sich in der Basis mit Lust und Verlangen paart. Nach zehn Jahren mit ihrer Musik und drei erlebten Livehaftigkeiten dieser einzigartigen Formation sind die zentralen Gegensätze ihrer Musik auf "Awase" so gut spürbar wie noch nie: ihre raffinierte Subtilität, die sich in so feinem Nebel über alle Töne und Bewegungen setzt, kurz vor dem Verdampfen in die Ewigkeit auf der einen Seite und ihre Stärke und ihr Mut in der Ausführung auf der anderen Seite, die ganze Kathedralen zum Wanken bringen können. So mächtig und zugleich so diffizil, gespielt mit einer euphorisierten Lässigkeit in zwischenweltlichem Hochgefühl, die meine Ratio bis heute in ungläubiges Staunen versetzt, meinen Körper in einen reflexartig zuckenden Sack voller Schrauben verwandelt. 

Das unten eingebettete Video des live dargebotenen Albumhighlights "Modul 58" werden die besten 20 Minuten sein, die Du dieses Jahr gesehen und gehört hast. Höre, Staune, Siehe und Tanze.


Pressung: ++++ (Schrammt aufgrund eines etwa zehnsekündigen Kratzrauschens am allerletzten Ende auf Seite C haarscharf an der Höchstpunktzahl vorbei - perfekter Klang, tolles Mastering. Dürfen sich meinetwegen auch all die Weini-Weini-Nerdis mal anhören, die der Meinung sind, die Qualität nehme ab 8 oder 18 Minuten pro Vinylseite ab)
Ausstattung: ++++ (Gewohnt tolles ECM-Artwork und -Design, Gatefold, gefütterte Innenhüllen)




Erschienen auf ECM, 2018.

18.01.2019

Best Of 2018 ° Platz 18 ° Rhi - Reverie




RHI - REVERIE


"Reverie" ist das Debutalbum der mittlerweile in England lebenden Kanadierin Rhi und erschien streng genommen bereits Ende des Jahres 2017 - allerdings entschlossen sich die Macher des Tru Thoughts Labels, das Album zum letztjährigen Record Store Day erstmals auf Vinyl zu pressen. Tru Thoughts ist nicht nur Heimat solch teils bahnbrechender und sowieso fantastischer Musik von Bonobo, Quantic, Moonchild, The Seshen oder Nostalgia 77, sondern auch ein sicherer Hafen für Qualität im Bereich Hip Hop, Electronica, Downtempo, Funk und Soul. 

"Reverie" lässt keine Ausnahme dieser Regel zu: deep, hypnotisch, verhuscht, sexy, mystisch. Tiefgekühlte Hip Hop-Beats, über die mehrere Ebenen narkotisierter Melodien gespannt sind, tief pumpende Basslines und eine entrückte Stimme, die über den heißen Kessel Buntes erotisch hinweghaucht. In aller Kürze: shut up and take my money! Mit einem ganz kleinen bisschen Phantasie könnten feine Parallelen zu Jessy Lanza's Debut "Pull My Hair Back" gezogen werden, allerdings ist "Reverie" weniger experimentell und ätherisch, sondern tatsächlich song- und poporientiert. 

Sehr empfohlen für nächtliche Autobahnfahrten, Sommernächte unter freiem Himmel und Sex. Bestenfalls ließe sich all das ja auch kombinieren.    


Pressung: +++++ 
Ausstattung: +++ (keine Linernotes oder Fotos - dafür wunderbar ausschauendes Purple Vinyl)




Erschienen auf Tru Thoughts, 2018.

14.01.2019

Best Of 2018 ° Platz 19 ° Chip Wickham - Shamal Wind




CHIP WICKHAM - SHAMAL WIND


Aus mir ehrlicherweise unbekannten Gründen schaffte es das Debutalbum "La Sombra" des britischen Flötisten Chip Wickham im vergangenen Jahr nicht mal in die künstlich aufgeprotzte Liste der 30 besten Alben des Jahres. Ich weiß manchmal ja auch nicht, was mit mir los ist. 

"Shamal Wind" ist sowohl stilistisch als auch qualitativ nicht weit von "La Sombra" entfernt: Spiritual Jazz, Latin Funk, Hardbop, mal elegisch glänzend, seidig, mit viel Raum für atmosphärische Träumereien, mal mit furiosem Drive groovend und swingend. Der mittlerweile in Spanien lebende Musiker ist Teil der seit etwa fünf Jahren geradewegs explodierenden Jazzszene Englands und besonders der Keimzelle in London im Dunstkreis von Matthew Halsall und seinem Gondwana Label und dem von Tausendsassa Gilles Peterson gegründeten Brownswood Recordings mit seinen Vorzeigekünstlern Shabaka Hutchings, Maisha, Moses Boyd und Kokoroko, um nur ein paar Namen zu nennen. Wickhams Arbeiten sind stilvolle und vor allem zeitlose Exponate moderner Jazzkultur, die einerseits problemlos in den späten 1960ern und frühen bis mittleren 1970ern hätten erscheinen können, andererseits aber den Geist des Frischen und Wilden atmen und nicht mal ein Sekündchen nach tragischem Kellerclub klingen. Nach überstandener lebensbedrohlicher Krankheit hat Chip angekündigt, fünf Alben in ebenso vielen Jahren aufzunehmen - "Shamal Wind" ist Nummer 2 und ich freue mich auf die drei folgenden. Wer nicht mit seinen ollen Miles und Coltrane Alben begraben werden will, dem empfehle ich ein Eintauchen in die aktuell so pulsierende Jazzszene Englands. 


Warum nicht mit "Shamal Wind" starten?


Pressung: +++ (ein paar non-fills auf dem ersten Track der B-Seite, die mich nicht sonderlich stören, ansonsten zufriedenstellend. Angaben beziehen sich auf die Standardversion, die auf 390 Stück limitierte 180g Ausführung kenne ich nicht)
Ausstattung: ++ (tolles Coverdesign, gefütterte Innenhülle, Danksagungen auf dem Backcover, aber keine Linernotes oder zusätzliche Features)




Erschienen auf Lovemonk, 2018.