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19.05.2024

Best of 2023 ° Platz 1: Mikkel Rev - The Art Of Levitation




MIKKEL REV - THE ART OF LEVITATION


“I’m sorry to put ‘Ambient’ in quotation marks all the time, but for me in ‘Ambient’ music, everything is possible, and the word ‘Ambient’ does not match all the musical possibilities we have within the music we do nowadays.” (Pete Namlook)


Es gibt Alben, die hinterlassen schon beim Erstkontakt den Eindruck, als würde ich sie schon mein ganzes Leben lang kennen. Was genau in solchen Moment passiert, ist mir bis heute verborgen geblieben, aber irgendeine Tangente zum Erlebten, Erträumten, Erhofften baut sich auf, eine Verbindung ins tiefere, vielleicht unbewusste Ich. Solche Platten weichen mir fortan nur noch selten von der Seite. Sie müssen nicht "erarbeitet", nicht mehr dechiffriert werden. Ihre Wirkung ist klar und unmittelbar. 

Es gibt Alben, die schon nach kurzer Zeit auf den Olymp klettern. So früh jedenfalls stand die Nummer Eins des Jahres selten fest. Schon als "The Art Of Leviation" vom norwegischen Produzenten Mikkel Rev im Frühjahr des vergangenen Jahres seine ersten Kreise durch mein Leben zog und sich die ersten Nervenbahnen miteinander verschweißten, wusste ich, dass hier wohl nicht mehr viel dran vorbeikommt. Und heute, ein gutes Jahr später, zeigt sich: es kam nichts mehr dran vorbei. 

Und dann gibt es Alben, die mich so tief in die Emotionskammer treffen, die solch überschwängliche, beinahe schon rauschhafte Zustände erschaffen und irrationale Momente der Euphorie entwickeln. Manchmal führen diese sehr eindrücklichen Erlebnisse dazu, jenen Alben mit einer merkwürdigen Form der Ehrfurcht zu begegnen. In den letzten zwanzig Jahren erlebte ich ähnliche Situationen beispielsweise mit "Frances The Mute" von The Mars Volta. Oder mit "Geisterfaust" von Bohren Und Der Club Of Gore. Das Gefühl totaler Euphorie, solche Musik hören zu dürfen und dabei eine solch tiefe Verbundenheit zu spüren; so als hätte man just den Code für ewiges Leben geknackt, den Pfad zu den aufgestiegenen Meistern entdeckt, das dritte Auge geöffnet. Es wird zur raison d'etre, zum neuen Fixpunkt. Ich klammere mich an solche Augenblicke mit allem, was ich habe. Ich möchte das nicht nur spüren können, vollständig und bis in alle Ewigkeit, ich möchte das auch nie wieder verlieren. Die beiden oben genannten Alben würden von mir auch heute noch als absolute Sternstunden meiner Laufbahn als Musikbesessener bezeichnet werden, selbst wenn ich sie praktisch nicht mehr auflege. Die Furcht davor, bei jeder neuen Auseinandersetzung dieses frühere Hochgefühl aus den Händen gerissen zu bekommen, sei es vielleicht weil es der falsche Ort und der falsche Zeitpunkt ist, irgendeine Laus, die mir über die Leber gelaufen ist oder der Mond falsch steht, ist real - und zugegeben, es ist schon einigermaßen balla-balla. 

Ähnlich erging es mir mit "The Art Of Levitation": nachdem mich diese Musik an jene so weit entfernt liegenden Orte trug, mich so gefangen nahm, ja geradezu erschütterte, ließ ich sie einfach mit diesen Eindrücken stehen, so wie sie war. Das war meine Nummer 1 des Jahres 2023. Case closed. Ich lasse mir das nicht mehr nehmen.

Nun ging es aber daran, wie immer "pünktich" im Mai 2024, all das in Worte zu kleiden. Dieser Faszination Ausdruck zu verleihen, im besten Fall so formvollendet ausformuliert, dass meine werten Leserinnen und Leser keine körperlichen Schäden davontragen, wenn die Netzhaut mit derlei Gedanken belichtet wird - und so fand "The Art Of Levitation" nach einigen Monaten der Stille erneut den Weg auf den Plattenteller. Tief durchatmen. Allen Mut zusammennehmen. Es geht hier ja nicht um Leben und Tod, vielleicht nur ein kleines bisschen. Aber was passiert, wenn mir jetzt all das schön zurechtgelegte "Album Of The Year"-Getrommel wegbröckelt? Wenn ich's einfach nicht mehr spüre? Mich nicht mehr erinnere? Wenn sich die Zweifel mit einem Schneidbrenner an der versiegelten Bunkertür zu Schaffen machen? 

"Dann wären wir wohl ganz schön angeschissen, was?!" (Hagen Rether)

Nun ist es Mai 2024, und Du liest gerade ebenjenes "Album Of The Year"-Getrommel. Nichts ist weggebröckelt, nichts ist vergessen, nichts ist abgedunkelt. "The Art Of Levitation" ist unkaputtbar. 

Wenn meine musikalische Libido nicht nach wie vor pausenlos die Konfettikanone zündete und ich mich also auf ein etwas rationaleres Niveau runterkühlen könnte, würde ich gegebenenfalls schreiben, dass die eigentliche Magie dieses Albums etwa ab Beginn der C-Seite startet und mit "Xistence" die Tür für das öffnet, was anschließend über "Regrets", "Sub Sea (Peace Mix) und "Insula" zum allerbesten zählt, was ich in den letzten zwanzig Jahren gehört habe, ein unnachahmlicher Ritt durch den Deepspace, der dich spiralförmig in die Höhe schießt und dabei aus allen Rohren Endorphine ins Wurzelchakra ballert, dich in den Seelennebel im Kassiopeia schickt, wo Dir Alf und Willy Tanner eine eiskalte Cola mit einem Schüsschen Ketamin servieren. It's THAT good.

Andererseits kühlt hier gar nichts auf irgendein Niveau runter und die Rationalität kann mir gerne einen Roberto Blanco-Text ins Ohr flüstern, wenn ich 2 Meter unter der Erde liege - bis dahin heißt es: die Magie beginnt freilich ab der ersten Sekunde. Labelchef Ryan führt in den Linernotes zum Album aus, dass er Mikkel darum bat, ihm doch ein paar Ideen für ein Demo zukommen zu lassen - und er anschließend unendlich viel atemberaubendes Material aus Norwegen erhielt, womit er für die Sequenzierung von "The Art Of Levitation" aus dem Vollen schöpfen konnte. Für Ryan keine Überraschung: Mikkels Beteiligung an dem Kollektiv Ute Records, deren Fokussierung auf Ambient und Trance, inklusive der Organisation von Trance Revival-Partys in den Wäldern Norwegens, ließ vermutlich schon an dieser Stelle Großes erwarten, verbinden sich doch hier die zwei großen musikalischen Vorlieben des Gründers von A Strangely Isolated Place. Vom ersten Vorantasten im Intro "Xpress 2 Planet Earth" mit seinem spannungsgeladenen Arrangement und futuristischen, außerweltlichen Sounds, die irgendwo zwischen Dystopie und Hoffnung hin und her schwingen, über den zwölfminütigen und lebhaft vibrierenden Titeltrack, der durch unzählige Sphären führt und stets ein neues musikalisches Backdrop in Deine Phantasiewelten tapeziert, oder das introspektive "Crater" bis hin zu den erwähnten, druckvollen Trance-Exkursionen, bei denen man sich wirklich wünscht, sie würden nie, nie, nie zu einem Ende kommen, ist die Story des Albums mit einem so feinen wie souveränen Händchen gestrickt. Es mag sich im Jahr 2024 abgeschmackt lesen, aber sei's drum: man ist wirklich auf einer Reise. 

"The Art Of Levitation" ist ein beeindruckendes, inspirierendes Zeugnis zeitgenössicher elektronischer Musik. Findet man in ein paar Jahren im "Muss man gehört haben!"-Kanon der ewigen Klassiker des Genres - und sogar darüber hinaus. Mark my words.


 



Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2023. 

25.02.2024

Best of 2023 ° Platz 13: Mary Yalex - Fantasy Zone




MARY YALEX - FANTASY ZONE

„Jemand, der es über vierzig Jahre mit Helmut Kohl aushält, der kann nicht harmlos sein.“
(Elke Heidenreich)

Der Auswahlprozess für die auf meinem Lieblingslabel A Strangely Isolated Place erschienenen Alben für die jährliche Bestenliste ist, um einem Blick in innere Zerwürfnisse die Ehre zu geben, dank meiner liebevoll gehegten charakterlichen Unzulänglichkeiten im beinahe sekündlichen Entscheidungskampf des Lebens: ein völliger Clusterfuck. Vor einigen Jahren hatte ich mich bewusst dazu entschlossen, mich einfach kopfüber in den Fluss zu werfen und also alles zu kaufen, was Ryan auf dem seit 2008 operierenden Label veröffentlicht. Der Name, das Design, die Ästhetik und nicht zuletzt das kuratierte Repertoire von Künstler*Innen und deren Musik entwickelte eine mächtige Anziehungskraft; hier fühle ich mich seitdem gut aufgehoben und spüre bei den allermeisten Veröffentlichungen eine tiefe Verbindung. Es gibt Ausnahmen, aber selbst in diesen seltenen Fällen gibt es immer noch einige Resonanzräumchen, die das Leben bereichern. Kurz gesagt: This is my house! Andererseits: ich möchte auch nicht ausnahmslos jede ASIP-Platte des Jahres in die Top 20 aufnehmen, auch wenn mir das den Ablauf des alljährlichen Aussiebens wenigstens etwas erleichtern würde. Aber so billig komme ich hier nicht raus. 

Im Falle von "Fantasy Zone" der in Deutschland lebenden Produzentin Mary Yalex war die Entscheidung indes einfach. Der Berührungspunkt mit dieser introspektiven, sich langsam ins Innere vorantastenden Musik entstand bereits unmittelbar beim Opener "Air", einem sanften Nachtflug mit Nostalgiepanorama, der sofort Gefühle von Vertrautheit und Geborgenheit aussendet. Viel mehr offene Türen kann ich mir also gar nicht mehr einrennen lassen. Zentral scheinen mir zwei Aspekte ihrer Musik zu sein. Zunächst sind es die Melodien, die mal knapp unter dem Wahrnehmungsradar liegen und sich dort in die Weite verästeln, wo sie langsam ausrollen und sich verflüchtigen, oder mit einigem Selbstbewusstsein die Färbung einer Stimmung manipulieren. Nicht, dass sich beides notwendigerweise ausschließen müsste, aber diese kleinen Blitze von in Sepia getauchter Melancholie oder auch kindlich funkelnder Lebensgeister prägen die Reise durch die "Fantasy Zone". Mary sagt in einem Interview mit dem Label, dass jede neue Musik mit einer guten Melodie als Kern des Stücks beginnt und ich finde, das hört man. 

Des Weiteren finde ich den Hinweis aus dem selben Interview bemerkenswert, dass die Musikerin seit ihrer Kindheit malt:


"I used to paint in my childhood when I lived in Austria. I only really started producing electronic music more recently. I want to give the whole thing a picture - something that is more than just a photograph." 


Mir wird das vermutlich niemand glauben, und ich kann auch nicht ausschließen, das Interview zum Release des Albums im August 2023 bereits mal gelesen zu haben, aber bei der tiefergehenden Beschäftigung mit "Fantasy Zone" fiel mir die Weichheit auf, mit der diese Sounds gestaltet sind, wie nuanciert und mehrschichtig sie miteinander interagieren, sich anziehen und sich verbinden. Das ist in seiner feinfühligen Machart ein herausragendes Merkmal dieser Platte. Als ich auf der Suche nach einem passenden sprachlichen Bild dafür war, kamen mir als erstes die Pinselstriche auf einer Leinwand in den Sinn, um die eleganten und subtilen Schwingungen in der Musik zu beschreiben. Als mich die  Recherche schlussendlich zum Interview führte, schloss sich dieser Kreis - und ich staunte nicht schlecht. Nun ist die Argumentation nicht so irre weit hergeholt, im Gegenteil ist es ja sogar recht naheliegend. Aber dafür, dass selbst meine Wenigkeit mit eher teilmöbliertem Dachboden in der Lage ist, ein Gespür für diese Verbindung aus Malerei und elektronischer Musikproduktion zu entdecken, klopfe ich mir mal verblüfft selbst auf die Schulter. 

"Fantasy Zone" ist ein Refugium. Ein Schutzschirm gegen Schwachsinn, Lautheit, Krawall. Es zählte in den vergangenen Monaten zu meinen meistgehörten Platten.


 


Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2023.


P.S.: An jene Vinylfreunde, die den ganzen Krempel nicht nur kaufen und anschließend verschweißt ins Regal stellen, sondern die Platten tatsächlich auflegen - sowas soll's ja tatsächlich noch geben: ich habe leider die Erfahrung gemacht, dass einige Exemplare offenbar Probleme mit einkanaligem (ist das überhaupt ein Wort?!) Knistern haben, vor allem auf der A-Seite. Also: Augen und Ohren offenhalten.  

22.05.2023

Best Of 2022 ° Platz 2: ASC - Original Soundtrack




ASC - ORIGINAL SOUNDTRACK


Wenn ich hin und wieder meiner Bewunderung und Faszination über das Veröffentlichungstempo von Brock van Wey aka bvdub aka Earth House Hold Ausdruck verleihe und mich gleichzeitig frage, wer denn die ganze, pardon: Scheiße kaufen, geschweige denn hören soll, dann haben wir noch nicht mal damit begonnen, über James Clements zu sprechen. Der britische Produzent veröffentlicht seit über 20 Jahren seine Musik unter zahlreichen Pseudonymen und Projektnamen mit einer beachtlichen stilistischen Bandbreite: von seinen Drum'n'Bass und Jungle-Wurzeln über Techno, abstrakte Electronica und IDM bis hin zum Ambient beackert der Mann das weite Feld elektronischer Musik durchgängig mit hochklassigen und universell geliebten Sounds auf den einschlägigen Labels - von denen er selbst Auxiliary nebst etlicher Sublabels (u.a. Spatial) leitet. 

Wo unsereins also schon beim Gedanken an einen durchschnittlichen Workload eines Tages im Leben des James Clements die Dosis Tavor dezent nach oben schraubt, um die einsetzenden Panikattacken in den Griff zu bekommen, macht ASC einfach weiter. Nach zwei Alben unter seinem IDM-Markennamen Comit auf A Strangely Isolated Place (hier ist ganz besonders das Debut "Remote Viewing" sehr empfehlenswert), kehrt ASC mit "Original Soundtrack" auf mein Lieblingslabel zurück - und überrascht erneut mit einer Erweiterung seines musikalischen Spektrums. Waren seine früheren Ambientwerke, nicht zuletzt die legendären Alben auf Silent Season, aber auch die Kollaborationen jüngeren Datums mit Inhmost, geprägt von weiten, ausufernden Klangflächen, mit einem ätherisch auftretenden, oft nur zu erahnenden Puls, ist "Original Soundtrack" nicht nur introvertiert, sondern damit auch ungewöhnlich emotional.

Die Basis von "Original Soundtrack" sind warme, weichgezeichnete und tief ins Klangbild eingebettete Pianoloops, die eine ausgegraute melodische Struktur für die atmosphärische Synthiewatte liefern, die den Vibe des Albums entzündet und die in Zeitlupe entstehenden schwarz-weiß-Bilder zum Leben erweckt. Auch wenn "Original Soundtrack" lediglich für einen fiktiven Film die Musik liefert, ist ihr cinematischer Aspekt offensichtlich. Überblendungen von Detailaufnahmen auf die Vogelperspektive, weit aufgezogene  Kamerafahrten über Landschaften, weite Felder, Flüsse, Wälder; Natur sowieso als wiederkehrendes Leitmotiv, stellvertrend für das Weite, Ferne, Offene, Freie. Es wäre ein Film mit deutlich schwermütigen, elegischen Grundtönen, der Bilder des Zerfalls und des Vergangenen zeigen würde. Mit Trauer und Verlust aufgeladene Reminiszenzen an ein gelebtes und geliebtes Leben, undeutlich und verschwommen - und gleichzeitig so unmittelbar und nachempfindbar, weil die Stimmung sich sofort mit der eigenen Realität und der eigenen Verletzbarkeit verbindet. 

Ich empfand "Original Soundtrack" bereits beim Erstkontakt als ambivalent. Aus der Verbindung der sanften, tröstenden  Pianominiaturen, die das Milieu und seine Struktur mittels Komprimierung greifbar machen können und des weit aufgerissenen Horizonts aus sich stets ausbreitenden Klangflächen entstehen Momente, deren Kolorite so niederschmetternd trostlos und leer erscheinen - und die doch so präzise die Schönheit der Hoffnungslosigkeit und der Unschuld herausarbeiten. Emotional verheddert im Trümmerhaufen aus Erinnerungen, Wundpflastern und einer übergroßen Faszination am Leben, drückt "Original Soundtrack" solange sämtliche Knöpfe bis es einem egal ist, ob's jene für die finale Auslöschung oder die finale Erlösung sind. 

Hingabe, und zwar die totale. 


Vinyl: Error, Error, Error, Send Help. "Original Soundtrack" erscheint als Digipak-CD in klassischer A Strangely Isolated Place-Ästhetik und als Download. 


   



Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2022. 


01.04.2023

Best Of 2022 ° Platz 12: Strië & Scanner - Struktura Revisited




STRIE & SCANNER - STRUKTURA REVISITED


Alles auf Anfang. Wir lassen den Plüsch hinter uns, das Seifige, den Weichzeichner. Es wird kalt. Denn Kälte macht wach, sagt man. Wir sind aufmerksam und hochkonzentriert. 

Eintauchen.

Es ist karg und unwirtlich hier. Was sich im Weitwinkel als diffus zerklüftete Struktur darstellt, in großer Ferne und damit beinahe unerreichbar, entwickelt sich beim Blick durch das Elektronenmikroskop plötzlich zu einem komplexen Muster mit diffiziler Mechanik. Selbst der Weg dorthin, also jeder Schritt der Verdichtung und Fokussierung, verändert das Gebilde. Es lebt. Es lebt in den tieferen Schichten, auf molekularer Ebene. Im Land der Riesen ist es gleichbedeutend mit dem Zwielicht, dem Verborgenen und Unbekannten - aber welche Arroganz ist es, dieser usprünglichsten und klarsten Form der Existenz den Zweifel des Obskuren zu verleihen? 

Es ist kathartisch, Teil dieses Nanokosmos zu werden, weil die Vertiefung jeden Raum, jede Zeit und jedes Leben zum Erlischen zwingt. Man spürt, das ist die Stunde Null. Der Autor Roger Willemsen schrieb in seinem Buch "Die Enden der Welt" über ebenjene, dass sie sich anfühlten, als betrachte man die Landschaft nicht frontal, sondern eher über die Rückseite einer Landschaftsstickerei. "Struktura Revisited" vermittelt ein ähnliches Empfinden, nur dass der Blick auf einen winzigen Partikel eines einzelnen Fadens dieser Stickerei fokussiert ist. Das Bewusstsein, Teil eines größeren Ganzen zu sein, ist allerhöchstens noch zu einer Ahnung geschrumpft - und doch ist die Erfahrung existenziell. Als höre man dem Urknall in Zeitlupe zu.

Olga Wojciechowska veröffentlichte "Struktura" im Jahr 2015 unter ihrem Alias Strië auf dem Label Serein in kleiner Auflage exklusiv auf CD. "Struktura" wurde inspiriert von moderner Malerei des 20.Jahrhunderts; so teilt jeder Track seinen Namen mit einem abstrakten Kunstwerk aus jener Epoche. Strië möchte es dem Hörer erlauben, die Musik frei von jedem begleitenden Narrativ zu erfahren, selbstständig zu entdecken und zu interpretieren. 

"There is pleasure to be found in viewing or hearing something without a definite narrative, allowing the mind to wander and find its own meaning."

Ryan von A Strangely Isolated Place hat für "Stuktura Revisited" nun Strië und Scanner an einen Tisch gebracht. Scanner ist der Alias von Robin Rimbaud, einem Londoner Produzenten und Multimediakünstler, der seit den 1990er Jahren für einige Meilensteine der elektronischen Musik gesorgt hat. Scanner interpretiert "Struktura" für dieses Projekt an einem Stück im Rahmen eines Live-Settings ohne nachträglich hinzugefügte Overdubs. Der Ansatz verleiht seiner Aufnahme einen unmittelbaren Charakter. Nicht nur erlaubt er neue Perspektiven auf "Struktura", in dem er dessen endlos erscheinende Tiefe auffächert und kinematographisch verbreitert - er fügt der ohnehin bereits beträchtlichen Abstraktion des Originals klandestine, bisweilen dystopische Ebenen hinzu. "Struktura Revisited" flechtet mit seiner Exegese damit ein unheilvolleres, zu gleichen Teilen morbideres wie nervöseres Bild. 

Nach der Struktur kommt die Unordnung. 


Vinyl: Neben der Musik von Strie und Scanner ist das atemberaubende Coverartwork des niederländischen Künstlers Rep Ringel eine  fundamentale Komponente des Gesamtwerks. Rep kreierte seine Kunst zunächst auf sehr großen Leinwänden. Im Laufe der Zeit begann er damit, die Bilder für ein Artbook zu fotografieren, das er exklusiv an seine Kunden verteilte, die eines seiner Werke kauften. In diesem Prozess fiel ihm auf, wie viele neue Perspektiven sich eröffnen, wenn er sehr weit in seine Bilder hineinfokussiert. Eines der Ergebnisse sehen wir auf dem Cover von "Struktura Revisited" und ich hoffe inständig, die Parallelen zwischen der Musik und dem Artwork im obigen Text wenigstens in Ansätzen erfolgreich herausgearbeitet zu haben. Die Platten selbst sind in ihrer grau-schwarzen "Halb und Halb"-Optik ein wichtiger Teil des konzeptionellen Designs. Die Pressung meines Exemplars ist trotz der etwas anfälligen Gestaltung einwandfrei. Darüber hinaus, und wie immer bei ASIP: gefütterte Inlays, Bandcamp-Downloadcode, Album-Flyer. (+++++)


 


Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2022.

27.02.2021

Best of 2020 ° Platz 12 ° Quiet Places - Volume 1




QUIET PLACES - VOLUME 1

Flossing gums, then licking bottoms
(Thought Industry)


Okay! Hör' zu! Du hast LSD genommen und stehst in einem Spiegel-Irrgarten. Die Hosen voll (literally!), der Kopf halbleer, die Pfanne mit den Rühreiern: in Flammen. Du bist seit 5 Tagen wach, tripping your fucking ass off. Eier wärn's jetzt, aber vegane, ohne Tierleid. This is your brain on drugs - gelungene und vor allem erfolgreiche Initiativen gegen Drogenkonsum, die dreihundertvierzigste. Schnitt, dann voller Zoom auf die virilen Schmalspurrocker von Placebo. Anruf beim Dealer. Hochdosis, bitteschön. 

Kein Mensch weiß, wo das alles anfing. Der junge Inuk, den ich heute Vormittag beim Rennrodelnachmittag in Oberkassel getroffen hatte, hat mir eben gerade noch sein Einfamilienhaus gezeigt, ein prachtvolles Etablissement aus getrockneten Fettaugen am Rande der Tundra, mit so kleinen Schaschlikspießchen und Zahnstochern, hihi, wie klein die waren! Dann hat er mir frisch gemolkenes Walfett angeboten (mit Maggi; der Kapitalismus schreckt einfach vor nichts zurück!) und im nächsten Augenblick sank ich hinab auf den Meeresboden. Ich glaube, mit dem Maggi war was nicht in Ordnung, seit wann ist die Brühe denn auch bitte grün? Jedenfalls: Wer immer noch behauptet es gäbe keine Außerirdischen, war noch nie vollverstrahlt 8000 Meter unter dem Meer. Manchmal blinkt es einfach nur. Alles. Das flackert alles. Von wegen Dunkelheit, "ist doch taghell" (B.Spencer) - man darf einfach keinen Meeresbiologen glauben, ich sag's seit Jahren, Jacques Sielmann, Heinz Cousteau, die wissen ja auch nichts. Und woher auch?! Haben sie schonmal einen Meeresbiologen gesehen, der sich auf LSD in die Hosen gekackt und mit zerfransten Schwebewürsten aus Alienhausen eine spirituelle Verbindung über eine Außenbeleuchtungs...äh...girlande von Tchibo (9,99€, "für ihren Post-Corona-Gangbang in ihrem wunderschönen Garten") etabliert hat? Blink, blink, blink. Blinkblinkblinkblink. Na?! Naaaa?! Glaubt denen bloß nicht. Hier tobt Captain Picards Unterhose mit sechs Milliarden Jahren altem Amöbenschleim durch die Warp-Spulen! 

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Die Nase blutet, aber gut - ich bin jetzt schon stundenlang gegen diese verfickten Spiegelwände gelaufen. Sehe aus wie dieser Andrew W.K. damals. Ob der sich wohl wirklich auf die fiese Fresse gelegt hat? Oder wurde der etwa...GESCHMINKT?! Ist auch so scheiße hell hier. Ich hasse Helligkeit. Wenn's nach mir ginge, und es geht praktisch nie nach mir, verbringe ich mein Leben im Dämmerzustand, sowohl mental, als auch hinsichtlich meiner Rolladenwahl (schwarzes Blei, wattiert). Helle und kalte Wintertage sind die Höchststrafe. Wenn man mich foltern will, schickt man mich am besten an einem Sonntagmittag bei -5°C und Tschernobyl-Nachglüh-Gedächtnissonnenschein auf ein offenes Feld und lässt mich da einfach inmitten der sehr guten Pflanze Qungilik rumstehen. Arschkalt, scheißhell - aber geile Pflanzenproteine "zwischen die Kiemen" (Manfred Krug) schieben! 

"It's the quietest place." - und Muh macht die Kuh. 

Apropos Kuh: Ich habe eben Bill Drummond und Jimmy Cauta gesehen. Tragen nun auch Vollbärte (untenrum), sagen, 1990 sei die beste Zeit für "Porn" (Mike Pence) gewesen; ich glaube, wegen Bush - hab's aber nicht genau verstanden, die beiden sakrilegen Sackgesichter haben Kühe umgeschubst und das dann irgendwie fotografiert, mit einer Schuhschachtel, oder so. Das war dann auch zu laut, die haben die ganze Zeit mit dem Dean Jones am Telefon rumgestritten und dabei rumgebrüllt, sorry, hab's einfach nicht gehört. War aber auch zu hell. Kennt das eigentlich sonst noch jemand, dass man die Musik leiser dreht, um besser zu sehen? Was ist da eigentlich genau kaputt, weiß man da schon mehr? Sollen ja einen launigen Humor gehabt haben, Drummond und Cauta. Eigentlich kam da ja schon lange nix mehr ran, an diese Platte mit den Kühen. Die hatten sich bestimmt auch früher Maggi reingechillt und danach in die Hosen geschissen. Ich hoffe, es geht ihnen gut.

Heute bleibt die Küche kalt
Gerutscht wird auf den Fliesen
Magnesia ist des Turners Kalk
hätt' ich jetzt gern frische Hosen (zum Genießen)
(Christian von der Morgenlatte, um 1776)


(Das trippigste Album des Jahres. Ich empfehle vehement, sich den einstündigen Album-Mix einzuflößen. Und weil ich auch einen launigen Humor habe, manchmal, stelle ich mir jetzt mal vor, wie jemand den ganzen Quatsch hier in den Google-Translator reinhaut. LOL!)


 



Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2020