"Wenn man Hannelore Kohl, die Sharon Stone aus Oggersheim zu Gast hat, dann ist es schon sinnlich, wenn man mit der flachen Hand auf einen ausgestopften Saumagen klopft." (Oliver Kalkofe)
Sechs Jahre nach ihrem letzten Album "Somersault", das ich seinerzeit mit der Einschätzung in meine Top 30 des Jahres 2017 rollte, es klänge, als hätten "Paul McCartney, Robert Smith, Sam Prekop und Johnny Marr am Strand von Kalifornien gehascht und wegen des gemeinsam bestaunten Sonnenuntergangs vor Ergriffenheit das Heulen angefangen", versüßte das Quartett aus Brooklyn mit dem Comeback "Bunny" meinen letzten Sommer - und das in Zeiten, die von tiefer Trauer über den Tod unseres Hunds Fabbi geprägt waren. Eigentlich eine unlösbare Aufgabe, aber ähnlich wie Element Of Crimes "Morgens Um Vier" traf "Bunny" einen ganz besonderen Nerv.
Dass es ausgerechnet diese Musik schafft, mich so weichzuklopfen, ist mittlerweile eigentlich keine Erwähnung mehr wert. Wie oft habe ich schließlich schon in niemals enden wollenden und unverständlichen Satzungetümen darüber referiert, welche Anziehungskraft bisweilen von Projekten wie Tropics, Absolute Boys, Dreamscape, Slow Magic oder den leider sehr unrühmlich verglühten HOOPS ausgeht.
Dieser unwiderstehlichen Mischung aus Lo-Fi Indie Pop (fürs Understatement), Shoegaze (fürs Schwüle, Warme, Feuchte) und einer Prise Postpunk (für die Zehenamputation wegen Unterkühlung), die den Schaltplan für Romantik, Nostalgie und Tagträume erstellt. Nach dem Zauber und dem Glanz in der Tristesse zu suchen war ein nobles Hobby in meiner Adoleszenz, nicht notwendigerweise aus Selbstmitleid, sondern weil die Vertiefung so verführerisch war. Insofern schließt sich hier der Kreis zum vergangenen Sommer: "Bunny" war gleichermaßen Trost und Heilung, weil es den Blick über die Trauer erhob und die Gefühlspalette erweiterte. Wir sahen ein paar Lichtstrahlen, ein paar Reflektionen. Spürten Sonne auf der Haut. Und wir erinnerten uns.
Der immer noch so behutsam verhuschte Sound der Beach Fossils ist einerseits verknüpft mit einem außergewöhnlichen Gespür für Melodien - beispielhaft der zum Sterben schöne Harmoniewechsel im Refrain von "(Just Like The) Setting Sun" mit seinem im Zwielicht orchestrierten Streicherarrangement oder das Gitarrengeflacker in "Anything Is Anything", in dem jeder noch so schüchtern gespielte Anschlag eine melodische Dringlichkeit entwickelt - andererseits ist er der Mutterboden für die Ästhetik des melancholischen Großstadtslackers.
Für immer 25, für immer emotionales Chaos, für immer verliebt, für immer Hoffnungslosigkeit.
What year is it today?
It's funny how time slips away
Living in Nеw York, it can grind you down
I tell you, it will grind you down
Es ist zu gleichen Teilen imponierend wie beängstigend, wie mich die Beach Fossils zwanzig, dreißig Jahre in mein früheres Leben zurückschleudern - und wie fucking wehrlos ich dagegen bin. Ich spüre, wie sehr ich mich hier fallen lassen kann. Wie sehr ich hier verschwinden will. Und wie sehr ich für immer dort bleiben will.
Die Musik von Allen Epley schlägt immer eine ganz spezielle Saite im Nukleus meines Emotionskadavers an, und ich bin immer wehrlos dagegen. Nicht, dass ich mich wirklich wehren würde - seit dem Debut seiner Band The Life And Times aus dem Jahr 2005 bin ich bekennender Fanboy und habe das Power-Spacerock-Trio nicht nur ein Mal als "beste aktive Rockband des Planeten" bezeichnet. Mittlerweile müsste strenggenommen überdacht werden, ob "aktiv" noch das Wort der Wahl wäre, denn die Gruppe schweigt seit der vor sieben Jahren erschienenen letzten Platte, und es sieht aus der Ferne betrachtet nicht so aus, als solle sich an jenem Schwebezustand - eine Auflösung wurde offiziell nie bestätigt - mittelfristig etwas ändern. Nun ist es aber dennoch eine Realität, dass es selbst bei meinen Lieblingsbands einen Moment in ihren Karrieren gibt, an dem bei mir eine Art Übersättigung eintritt, sei es, weil ich mich stilistisch, ästhetisch, emotional oder sonst was/wie fortbewegt habe und mich außer einer imaginierten Loyalität nicht mehr viel hält, oder aber weil die Musiker selbst ihr Mojo verloren haben, oftmals einhergehend mit einer Verschiebung von Prioritäten (Haus, Familie, Job) und dem damit verbundenen Erlischen der Leidenschaft und des Feuers für die eigene Kunst. Ich werfe das niemandem vor, das sind schließlich in der Regel normal verlaufende Lebenslinien - und egal, wie hart einen die Nostalgie manchmal ficken mag: es gibt für alles und jeden eine Zeit und einen Ort, für die juvenile Entflammbarkeit wie für das erkaltete "Adieu".
Für Allen Epley gilt das alles nicht. Was auch immer er aus seiner Stimme und seiner Gitarre herausholt, setzt meist umgehend einen Anker. Mit seiner legendären 1990er Band Shiner im etwas ruppigeren Grunge, Noise und Alternative-Teilchenbeschleuniger, mit The Life And Times und ihrer Shoegaze, Spacerock und Wall of Sound-Ästhetik - und nun erstmals solo mit all den so liebgewonnenen Merkmalen seiner Musik: der sich tief eingrabenden Melancholie und der Introvertiertheit, die sich in intensiven Momenten entlädt, einem so außergewöhnlichen wie einzigartigen Melodieverständnis, für das Epley in erster Linie den schwierigen, verborgenen, verwinkelten Weg sucht, anstatt an der Oberfläche zu bleiben und die Simpletons mit Eingängigkeit zwangszuernähren. Oder den mit allerlei Effekten überladenen, sirupartig aus den Lautsprechern quillenden Gitarren, die in Kombination mit seiner mehrfach gelayerten Stimme, den langgezogenen Melodiebögen und den ungewöhnlichen Gesangsharmonien eine psychedelische Qualität erreichen, die Erinnerungen an die Hippiegeneration wachkitzeln. Ohne das Powerdrumming von The Life And Times-Schlagzeuger Chris Metcalf und dem massiven Ampeg-Bass-Knurren von Eric Abert steht "Everything" mit einem viertel Bein tatsächlich etwas mehr in der entrückteren Ecke geparkten Abteilung der Singer/Songwriter Tradition. Oder, um präziser zu sein, weist im Fundament subtile Schattierungen von jener Musik auf, die in Nordamerika unter dem Rubrum "AM Gold" gelistet wird: Softrock und Top 40 Songs der 1960er und 1970er Jahre von The Carpenters, James Taylor, Scott McKenzie, Aretha Franklin, The Hollies, Dionne Warwick, America. Musik also, für die eine vordergründige Leichtigkeit so essentell war wie eine zwischenweltliche Schwermut und der die Anerkennung des eigenen Standorts so wichtig war wie die Hoffnung auf ein besseres Leben. Und die darüber hinaus vor allem in den psychedelischen Momenten geprägt war von einem neu entdeckten und erweiterten Begriffs der Selbstbewusstheit, von einer Expansion ins Surreale, auch ins Abgründige.
Epleys Musik hatte stets ein eskapistisches Moment. Weniger im Sinne einer potemkinschen Scharade, die im Außen Herrlichkeit suggeriert, während ein paar Meter dahinter ein Atomkraftwerk vor sich hinglüht, sondern im Sinne einer Suche, einer über den status quo hinausgehenden Erkundung neuer Welten und Perspektiven. Die Schwermut, die über seiner Musik liegt, findet die richtigen Frequenzen so unmittelbar, weil sie uns in der Enttäuschung über die Wirklichkeit eint. Wir spüren: wir müssen hier raus. Und im gleichen Moment trifft es uns wie ein Blitz: wir kommen hier nicht raus.
Außer natürlich, man legt "Everything" auf und zieht ein Ticket für die Rundreise durchs große, weite Universum.
Miniaturen aus dem Nichts. Sounds für Zigaretten und Kaffee im Schlafzimmer. Für eine einsam brennende Kerze in einem dunklen Raum. Für Umarmungen, die die Sehnsucht und tief empfundene Verbundenheit in eine gemeinsame Schwingung versetzen. Für das Dahindämmern. Für den leeren Blick gegen die Wand. Für Sonnenbrillen in der Nacht.
Wer die spirituelle Verbindung kennt, die frühneunziger Shoegaze und mittneunziger Trip Hop ins interne Gefühlsdickicht einer ganzen Generation einzuhäkeln vermochte, wird "Lashes" mit seeligem Lächeln ins Herz schließen. Das faszinierende Spiel mit der gegenseitigen Anziehung und einer Intimität, die sich in jenen tieferen Schichten ablagert, in denen Worte nicht artikuliert werden, sondern sich in einer Übersinnlichkeit vereinen, beherrschen Brooklyn Mellar und Ike Zwanikken auf ihrem zweiten Album in beeindruckender Souveränität.
Betörende Leuchtfeuer-Gitarren, bis in die Exosphäre eindringend und dort dem eigenen Untergang entgegensehen, langsam zerfallend bis nur noch einsame Gasmoleküle ums Überleben kämpfen, ein stoischer Beat für die eisgekühlten Kopfnicker, die Bowery Electrics "Beat" und die lebhaften, aufgeheizten Momente von Portishead in die eigene DNA eintätowiert haben, ein Lo-Fi-Lavasee für die Grundierung, der mehr Skills für das Wegdämmern, die Entzweiung, das Abdriften im Lebenslauf notiert hat als ein frisch aufgebrühtes Tässchen Ketamin - und die weltentrückte Stimme von Brooklyn Mellar, so eisgekühlt wie sinnlich in den Zwischenwelten schwebend, in denen der eigene Rückzug über geheime Kanäle infiltriert und die Kälte zurückgedrängt wird. Ich finde diese emotionale Serpentinenfahrt durch das eigene noch unerforschte Gelände überaus attraktiv.
Immer wenn ich "Lashes" auflegte, hörte ich es mehrere Male hintereinander am Stück. Eine süchtig machende Musik.
Erschienen auf Motion Ward, 2023.
P.S.: Die CD-Auflage war auf lediglich 100 Stück begrenzt und ist mittlerweile ausverkauft, aber es hallen Gerüchte durch die Plattensammlercommunity, dass Planungen für eine Vinylversion aufgenommen wurden - was absolut zu begrüßen wäre.
"Das Leben ohne Liebe ist nicht so einfach, wie Du glaubst." (Sven Regener)
Im vergangenen Juni starb unser Hund Fabbi. Er war unser erster Hund und war seit August 2009 in unserer Mitte, gerettet aus einem spanischen Tötungslager und mit einem Mercedes-Transporter in einem über 20 Stunden dauernden Ritt auf eine Waldlichtung bei Würzburg gebracht. Fabbi wurde 19 Jahre alt.
Die acht Monate vor seinem Tod waren... - ich habe jetzt ein paar Minuten über das passende Wort nachgedacht, aber ich finde keines. Fabbi wurde im Oktober 2022 krank, und was zunächst nach einer nicht unbedingt ungewöhnlichen, wenn auch unschönen Magen/Darm-Episode aussah, entwickelte sich über einige Wochen zu einem Dauerzustand. Er hörte nichts mehr, er fraß nur noch unregelmäßig, die Demenz verschlimmerte sich zusehends, sein rechtes Hinterbein knickte nach innen weg, weil der Rücken, so oder so geschwächt von einem Bandscheibenvorfall aus dem Jahr 2019, offenbar nicht mehr genug Kraft hatte, ihn hinten gerade zu halten. Alina und ich taten in dieser Zeit alles, um sein Leben so leicht und unbeschwert wie nur irgend möglich zu machen - die Frage, ob es für ihn das leichte und unbeschwerte Leben denn unter diesen Umständen überhaupt noch geben kann, war sowohl ständiger Begleiter wie auch eine ständige Erinnerung an das Ende. Und an die Entscheidung über Leben und Tod, die wir irgendwann treffen mussten. Er würde es uns nicht ersparen können, das war klar. Die Wahrheit aber ist: ich konnte ihn nicht gehen lassen.
Wir schliefen über diese acht Monate keine einzige Nacht durch. Wir beruhigten ihn, wenn er nachts wie ein Getriebener durch das Schlafzimmer irrte, wir schliefen mit ihm auf dem Boden, vor seinem Bettchen, streichelten ihn, nahmen ihn in unsere Arme, beschützten ihn, küssten seinen Kopf. Traten um 3 Uhr nachts mit ihm auf die leeren Straßen Sossenheims, damit er nochmal pissen oder kacken konnte. Ich lief manchmal eine ganze Abendrunde um den Block zu ihm heruntergebeugt, damit er hinten nicht wegknicken und damit besser laufen konnte. Verbrachte Stunden mit ihm vor seinem gefüllten Fressnapf, um ihn irgendwie zum Fressen zu bewegen. War zu Tode betrübt, wenn es mal wieder nicht klappte und dann wieder fast schmerzhaft unangemessen euphorisch, wenn er aus dem Nichts plötzlich damit anfing, sein Futter geradewegs zu inhalieren. Ich war am Boden zerstört, wenn er seinen sonst so geliebten Plüschknochen nur mit leerem Blick hinterherschaute und weinte vor Freude, wenn er ihm mal drei Meter hinterhersprang und dann versuchte, ihn mir zurückzubringen. Dann war es für wenige Minuten so wie früher. Dann erkannte ich unseren Fabbi wieder. Vielleicht erkannte er sich in jenen Momenten auch selbst wieder, erinnerte sich an das Herumtollen, die Belohnungen, sein geliebtes Nasch-Nasch, die Streicheleinheiten. Aber die Momente wurden seltener. Und dann noch seltener. Und am Ende, da gab es sie schlicht nicht mehr.
Ich weiß auch nicht, wie das gehen soll
Ich bin schon viel zu lang' allein
Mein Mut ist klein, mein Herz ist kalt
Doch mit dir zu sein ist wundervoll
Emotional und körperlich war ich im absoluten Ausnahmezustand. Und ich muss das so deutlich sagen: ich war ein ferngesteuertes, auseinanderfallendes Wrack. Und für Fabbi hielt ich das Wrack auf Kurs, um jeden fucking Preis. Denn die Wahrheit ist: ich konnte ihn nicht gehen lassen.
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Ab dem 22.Juni 2023 waren Alina und ich alleine in unserem Haus. Zum ersten Mal seit 1999 waren wir nur noch zu zweit. Unsere Katzen Kleini und Schnuffel mussten uns schon früher verlassen, Fabbi war der letzte vierbeinige Mitbewohner. Und wie sehr uns sein Sterben wirklich mitgenommen hatte, wie erloschen wir waren, das erkannten wir eigentlich erst so richtig in den kommenden Wochen und Monaten, als wir uns langsam wieder aufrappeln mussten und feststellten, dass das Loch, in dem wir saßen, sogar noch tiefer war als zunächst befürchtet.
Ende August musste ich als Businesskasper zu einem Termin in Hamburg reisen. Wir entschieden, dass wir die Gelegenheit nutzen und zwei Tage auf eigene Faust anhängen, um mal rauszukommen, um etwas anderes zu sehen, Luft reinzulassen, vielleicht zur Abwechslung auch mal wieder ein bisschen Licht. An einem leicht bewölkten, trüb-sonnigen Sonntagmittag setzten wir uns ins Auto und fuhren von Hamburg nach Timmendorfer Strand an die Ostsee. Fabbi liebte den Strand. Unvergessen sind die vielen Momente dieses komplett durchdrehenden Fellballs, wenn er am Meer war. Als Soundtrack für unsere Reise wählten wir "Morgens Um Vier" von Element Of Crime...
...und ich habe die gut 60 Minuten dauernde Fahrt praktisch durchgeheult.
Hier sei gesagt: Ich bin nicht unbedingt glühender Fan von Element Of Crime. Ich bin der Band grundlegend sehr zugeneigt, einige ihrer Songs hinterließen ihre Spuren in meinem Leben, andere laufen schnurstracks an mir vorbei, ohne eine Berührung zu verursachen. Wenn jedoch "Morgens Um Vier" seine Kreise zieht, steht mein Gefühlszentrum im Vollbrand. Es mag am berüchtigten Set und Setting des Erstkontakts gelegen haben, dass ich so entflammbar war, so empfänglich für diese in purer Schönheit, subtilem Humor, alternativlosem Optimismus und hedonistischer Kapitulation gebatikte Melancholie. Und es mag der wenigstens in dieser Causa noch halbwegs funktionierenden Erinnerung an diese Autofahrt zu verdanken sein, dass es mich auch an einem frühlingshaften Tag im März des Folgejahres noch immer beinahe zerreißt.
Die Magnolie wird blühn
Und der Rasen wird grün
Und der Flieder die Bienen verzaubern
Und die Vögel singen im Vogelbeerbaum ihre Lieder
Und dann kommst du wieder
Und gehst nie wieder fort
Von hier
In die unnachahmliche Mischung aus Indierock, Chansons, Pop und Jazz, meisterhaft inszeniert sowohl für eine kammermusikalische Aufführung wie für die Grandezza der Elbphilharmonie, mit einem nahezu perfekten Gespür für die eleganten und schwärmerischen Arrangements, setzt Sänger und Texter Sven Regener mit seiner typischen, leicht ruppigen Art seine Worte über die Liebe, das Altern, das Zweifeln, die Furcht, die Sehnsucht, das Erkalten...die Entzündungen des Lebens.
Im zaudernden, beinahe torkelnden "Wieder Sonntags" singt Regener:
Wer braucht alte Sofas, wenn du nicht draufsitzt
Wer braucht schöne Lieder, wenn du sie nicht singst
Ein Lächeln von dir war schon immer Gottes größtes Wunder
Und den Himmel versprach schon immer die Liebe, die du bringst
"You've got to kick at the darkness until it bleeds daylight" (Bruce Cockburn)
Zur besseren Einordnung reisen wir fix ins Jahr 2002 zurück, fucking hell: zweiundzwanzig Jahre! Florian öffnet die Metalrübe, holt tief Luft und taucht ins indierockige Kanada ein. "You Forgot It In People" des Kollektivs Broken Social Scene aus Toronto überrollt mich emotional und entzündet ein Freudenfeuer in meiner linken Herzkammer; ich bin hin und weg. Drei Jahre später erscheint der selbstbetitelte Nachfolger und löst den finalen Flächenbrand aus. Hier gehört Sänger und Gitarrist Jason Collett erstmals zum 17-köpfigen Ensemble. Das Konzert im Frankfurter Mousonturm ist ein verdrogter, psychedelischer Triumphzug, nach dessen Erleben ich mit ins Haar gedrehten Gänseblümchen auf die Straßen meiner Stadt stolpere. Einige Monate später, ich schreibe mittlerweile für das Hamburger Webzine Tinnitus erstmals öffentlich über Musik, kommt Post von Chefredakteur Haiko. Mit dabei im Promostapel: "Idols Of Exile" von Jason Collett. In meiner Rezension schreibe ich:
"Zwischen sprödem Folk und Americana, erfreulich beschwingtem Singer/Songwriter Einfluss und kanadischem Pop pendeln seine Lieder, die Autofahrten auf kerzengeraden Straßen durch die weite, unberührte Natur vertonen. Sonnenuntergang, glühend-roter Horizont. Ein versunkenes Lächeln auf dem Gesicht. Fast schwerelos gleiten "We All Lose One Another" oder "I'll Bring The Sun" durch unsere Körper. Was gäbe man dafür, diese Sternstunden mal im nationalen Dudelfunk zu hören? Zwischen all dem Plastik, all dem Müll, der uns immer noch als der heiße Scheiß "aus den Achtzigern, den Neunzigern und dem größten Rotz von Heute" verkauft wird. Passen würde das ja, so oder so. Warum nicht mal ausnahmsweise einen guten Sommerhit für das Jahr 2006?"
Haiko hat daraufhin Lunte gerochen und schummelt mir einen Interviewtermin mit Jason in den Terminkalender. Es läuft trotz meiner totalen Unerfahrenheit und der deshalb vollen Hose gut. Nach einer Stunde verabschiedet sich Jason mit den Worten "When we're on tour in Germany, come say Hi! I want to meet you!". Im Mai 2006 steht er dann tatsächlich auf der Bühne der Frankfurt Brotfabrik, die Herzallerliebste und ich stehen im Publikum. Ein wunderbares Konzert - und ich habe anschließend Bammel davor, Jason zu nerven und sage natürlich nicht "Hi!". Tragische Doofheit, in einen 1,89m großen Körper gegossen, es ist zum Heulen.
Jedenfalls: in den nächsten Jahren kaufe ich alle seine Platten, und zwar umgehend. Und ich liebe sie alle. Auf diesem Blog zeugt davon immerhin ein Beitrag über "Here's To Being Here" aus dem Jahr 2008. Sein letztes Soloalbum "Song And Dance Man" erschien 2016 und seitdem herrschte komplette Funkstille. Mir glaubt das vermutlich niemand, aber es ist ausnahmsweise mal keine Übertreibung, weil's für die Dramatik so schön passt: ich habe vermutlich bei keinem anderen Musiker so oft versucht herauszufinden, was er/sie treibt, wie bei Jason Collett. Hat er die Musik an den Nagel gehängt? Lebt er mit seiner Familie zurückgezogen auf dem Land? Oder ganz urban, in der Großstadt? A...arbeitet der denn jetzt 9 to 5? In einem Büro? Hoffentlich ist er gesund und es geht ihm gut. Es ist beinahe ausschließlich meinen exzellenten Stalking-Fähigkeiten zu verdanken, dass ich im vergangenen Frühjahr endlich ein paar Antworten erhalte - denn "Head Full Of Wonder" ist aus heiterem Himmel gelandet! Indes: die Platte ist in Deutschland und Europa nicht zu bekommen. Keine Chance, zero. Und dann tat ich das, was ich für gewöhnlich nur bei meinen absoluten Kings mache (und selbst da schmerzt das Bäuchlein), ich bestellte das Album direkt bei Arts & Crafts in Kanada. Versandkosten und Zollgebühren my ass! Da pfeif' ich drauf.
Nach dieser endlos langen Einlaufkurve erlaube ich mir noch ein paar Worte zu "Head Full Of Wonder", denn ich liebe diese Platte. Stilistisch halten sich Jason und seine Mitstreiter Marcus Paquin (Produzent), Schlagzeuger Liam O'Neill (SUUNS), Gitarrist Joe Grass und Bassist Mike O'Brien (Zeus) im weitgehend bekannten Rahmen auf: (Alternative) Folk, Singer/Songwriter und Indiepop, melodisch zu gleichen Teilen in den 1970er Jahren wie im neuen Jahrtausend verwurzelt, dicke Weichzeichner und Schalala-Vibes, Handclaps, Sonne, Wärme, Saxofon, durftendes frisch gemähtes Heu, Kaffee auf der Veranda. Totale fucking Seelenbestrahlung. So ehrlich und aufrichtig wie es albern und naiv ist, lyrisch befreit von jedem Zynismus. Er hätte doch noch das Geschirr abspülen müssen - aber die Sonne hat gescheint und darum hat er lieber diesen Song geschrieben:
Milk and Honey, Honey, Milk And Honey, Honey, Milk And Honey, Honeeeyyyyyy...
"In absorbing the tumult of the times, there's a lot of shit to write through, and the challenge is to get to the other side with something positive to contribute. I let go of some swagger and embraced intimacy and joy and wonder. I hear this in the record and it makes me very happy to have made it.” (Jason Collett)
„Bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie „Ich“ sagen.“ (Theodor W. Adorno)
Als Anthony Fantano, "Internet's busiest music nerd", vor gut zwei Jahren glatte und überaus seltene zehn Punkte an "The Turning Wheel" der kalifornischen Künstlerin SPELLLING vergab, war klar, was zu tun ist: kaufen! Und zwar so, wie ich es am liebsten mache, "commando", also nackig und also ohne vorangegangenes Testhören, wie immer planlos und mit offener Hose. Fantanos Beschreibung der Musik reichte aus, um schnell angefixt zu sein. Und wenn ich für die Bestenliste 2021 nicht in den Dornröschenschlaf gefallen wäre, hätten meine werten Leserinnen und Leser bereits damals lesen können, wie ich mit der Bewertung (i.S.v. "Kategorisierung") des dritten Albums von Tia Cabral zwar meine liebe Mühe hatte, aber gleichzeitig fasziniert war von diesem Kaleidoskop unterschiedlicher Einflüsse, dem außerweltlichen Gesang und den mit reichlich Mystik inszenierten Songs. Das Album ist nicht nur in meinem persönlichen musikalischen Kosmos eine Ausnahmeerscheinung, und ich finde vieles davon bis heute unerklärlich und rätselhaft.
Das im August 2023 erschienene "SPELLLING & The Mystery School" ist eine Zusammenstellung von Neuinterpretationen ihrer früheren Songs, die nun hier zum Teil erstmals in einem Bandkontext vorgestellt werden und deren neue Versionen sich aus den mit voller Band gespielten Konzerten der "The Turning Wheel"-Tournee entwickelten. Vor allem für jene Titel, die den ersten beiden Alben "Pantheon Of Me" (2017 in Eigenregie veröffentlicht) und "Mazy Fly" entnommen wurden, sind die Überarbeitungen ein künstlerischer Gewinn: SPELLLINGs Musik war in den ersten Karrierejahren sehr reduziert, kühl, sehr synthielastig und stilistisch mit Elementen des Darkwave und sogar einer gewissen Goth-Ästhetik spielend. Das hatte durchaus einen geisterhaften, geheimnisvollen Charme. Der Sprung von "Mazy Fly" zu "The Turning Wheel" war dann allerdings ein gewaltiger, wie auch Fantano in seiner Rezension hervorhob: der vormals auf das Wesentliche beschränkte und eher dürr zu bezeichnende Ansatz ihrer Musik erfuhr plötzlich die voluminöse, detaillierte, sich stetig ausbreitende Produktion eines Art Pop-Projekts, ein bisschen transzendental und metaphysisch, wie es bei Alben von beispielsweise Kate Bush oder auch Björk erfahrbar ist. An dieser Stelle setzt "SPELLLING & The Mystery School" an.
Ich gehe so weit zu sagen, dass die Songs von "Patheon Of Me" und "Mazy Fly" hier die "The Turning Wheel"-Behandlung bekamen - und in diesen Fällen kristallisieren sich einige echte Höhepunkte des Albums heraus. Der Opener "Walking Up Your House" wächst aus der Synth/Stimme-Miniatur des Debuts zum großzügig aufgezogenen Überflieger, "Under The Sun" durchläuft dank Piano, Schlagzeug und des Streicher-Arrangements des Del Sol String Quartetts gleich mehrere Metamorphosen, vom 70er-Abba-Vibe zu Beginn zum abruptem Wechsel in das Zaubergartenlabyrinth mit Fliegenpilzeintopf und dem Schlussakkord, der die folkige Stimmung mit selbstbewusster Kickdrum durchbricht. "Haunted Water" spielt wie "Phantom Farewell" mit dem bereits im Original wahrnehmbaren dunklem Wave-Geflacker und verbindet es mit tanzbaren Beats und einer Ahnung von Pop-Appeal zwischen (späten) Dead Can Dance und (mittleren) Depeche Mode. Die vier Neueinspielungen von "The Turning Wheel" zeigen sich dagegen eher etwas konservativer, weil sie das grundsätzliche Sounddesign des Albums beibehalten und lediglich in den Arrangements die Entwicklungsstufen der Band dokumentieren, nachzuhören im Hit "Boys At School" mit seiner neuen Streicherinstrumentierung und einer verfeinerten Dynamik im Zusammenspiel der Band. Das ist freilich immer noch hervorragend in Szene gesetzt und lohnenswert.
SPELLLINGs Musik ist auch auf dem Stand des Jahres 2023 noch immer herausfordernd, bizarr, außerweltlich und einzigartig. Es kann vielleicht ein Weilchen dauern, bis so halbwegs klar ist, was hier passiert - und manchmal passiert womöglich gar nichts. Was einem dann noch bleibt, ist universell: einfach zuhören.
"I'm very fortunate to be surrounded by such stupidity." (Elaine Benes)
Im November 2023 bereiteten sich die drei Mitglieder von Blank When Zero auf den ersten Auftritt seit 2019 vor. Nach einer mehr oder minder erfolgreichen Probe saßen wir wie üblich zum Abkühlen in unserem keinen Nebenraum und sprachen über die voraussichtliche Setlist, über neue Platten und die gesellschaftlichen Verwerfungen in Zeiten des Postkapitalismus, als unser Bassist Marek plötzlich das Telefon zückte und in die Runde fragte, ob wir denn schon mal was von interna gehört hätten. "Da sind Leute von Keine Zähne Im Maul Aber La Paloma Pfeifen und Sie Kamen Australien dabei. Gerade rausgekommen. Ist geil!".
Hatte ich nicht. Ich kenne streng genommen nicht mal die La Palomas, und es ist nicht nur als Musiker in einer Hardcorepunkband fast ein bisschen peinlich, das offen zuzugeben. Mir ist der Bandname freilich geläufig, aber den vergisst wohl auch niemand, sobald er denn mal den Weg ins Bewusstsein gefunden hat. Ihre Musik hatte ich aber noch nie gehört, und meine komplizierte Beziehung zu neuer Rockmusik im Allgemeinen und ganz besonders deutschsprachigem Punk im Speziellen, mag wohl (nicht) als halbsteife Entschuldigung durchgehen. interna hatten im Juni ihre erste Single "In der Terrassenwelt" veröffentlicht und für die B-Seite "Im Schwimmbad mit den Boys" ein Video gemacht. Und das schauten wir uns dann also an. Im Proberaum.
Die Kurzversion über das, was dann folgte: "Uff, der Schlagzeuger sieht ja aus wie ich." -"D...der hat sogar ein Blind Guardian-Shirt an!" -"Fuck, wie geil klingt bitte die Gitarre?!" "Der Bass isso tight!"
Dann schallendes Gelächter bei der Textzeile
"Bluesfossil vom Nachbarraum will mit uns jammen, wohl kaum"
anschließend Beinahe-Hysterie bei
"Soloalbum mit meiner Frau, eine Platte rosa, eine blau."
Zwei Tage später: "nach außen konziliant" ist bestellt. Ich will nicht schon wieder über Gebühr mit meiner des Öfteren so seltsam gespreizt formulierten Abneigung gegen aktuelle Rockmusik kokettieren, aber: das will schon was heißen. Und jetzt steht die Platte auch noch in meinen Top 20.
Hurra! Irre! Boioioioiiiing!
Das Trio aus Kiel spielt...ich habe ehrlich keinen Plan, was das hier ist. Indiepunk? Postpunk? Progpunk? Postindie? Postprog? Was ich weiß: ihr Zusammenspiel ist traumhaft, die Rhythmen manchmal gar ziemlich tricky, sie finden an den genau richtigen Stellen den genau richtigen Drive, da ist viel Luft zwischen den Instrumenten - und eine Reduziertheit, die mich hier und da entfernt an Antelope erinnert (über deren leider einziges Album "Reflector" ich hier schonmal eine Art Heiligenschein anknipste) und aus der ein unwiderstehlicher Groove entsteht - und natürlich die Texte, die zu gleichen Teilen so schlau wie obskur sind, sodass ich oft nur eine diffuse Ahnung davon habe, was sie denn eigentlich bedeuten könnten. Aber eine diffuse Ahnung ist besser als der Spatz in der Hand, right?! Right!
Zigaretten rauchen
In der Sonne frösteln
Das bisschen Heroin
Es macht einfach großen Spaß, diese Platte zu hören.
Als meine Wenigkeit vor fast exakt vier Jahren einen halbsteifen Beschwerdebrief in die eigenen vier Wände sandte, weil es beinahe unerklärlich sei, dass "Good Day" des britischen Songwriters nicht in der Liste der damaligen besten Platten des Jahres 2018 auftauchte - wo doch vor allem die Herzallerliebste einen regelrechten Narren an den so markanten wie zwanglosen Songs Jeremiahs gefressen hatte und wir "Good Day" also überdurchschnittlich oft (und gerne) hörten - ließ sich gleichfalls eine gewisse Ratlosigkeit in meinen Ausführungen nieder. Immer diese Stilfragen. Was ist das denn hier eigentlich? Und wo kommt es her?
Überzogen mit einer Patina aus den sechziger und siebziger Jahren, mit Orchester-Grandezza und manchmal gar einem Galabühnen-Vibe, aber andererseits unmittelbar, glänzend, frisch und modern. Irgendwie, und ich nehme jetzt allen Mut zusammen: hip! Wer nun obenrum möglicherwiese mit einer opulenteren Ausstattung protzen darf, wird derlei stilistische Lästigkeiten aus den tödlichen Fängen des Egos nicht weiter beachten und stattdessen einfach die Musik genießen. Aus welchen Gründen schreibt der Musikexpress denn auch sonst seine Rezensionen? Frage ich Sie!
Aber wir sind glücklicherweise nicht im mentalen Springer-Hochhaus und damit im Keller jeglicher Moral, sondern in fucking Sossenheim, bitches! Hier darf sich nach Herzenslust der gelbe Schmackes mit rostigen Nägeln aus der Hinrinde gekratzt und im Warum, Wieso, Weshalb regelrecht gebadet werden.
Im Vergleich mit "Good Day" erscheint mir "Horsepower For The Streets" tatsächlich stärker amerikanisch geprägt zu sein. Die "europäische Eleganz", die ich auf dem Vorgänger ausmachen (im Sinne von "identifizieren") konnte und die man auch als vornehme Zurückhaltung interpretieren darf, ist in meiner Wahrnehmung etwas in den Hintergrund getreten und hat jenem kalifornischen Weichzeichner mehr Raum überlassen, den ich gleichfalls bereits vor vier Jahren auf "Good Day" zu entdecken glaubte. Ein bisschen mehr Form über Funktion, ein bisschen mehr Pathos denn Ironie, ein bisschen mehr Vogelperspektive als Detailtiefe. Das zeigt sich auch im Sound, vor allem das Schlagzeug und die Arrangements der Chöre sind mittlerweile full blown Petula Clarke im Jahr 1965, wenn auch sicher mit deutlicher Moll-Färbung und mit all der neuen Komplexität, mit der sich ein Mittvierziger in heutigen Zeiten beschäftigen muss. "Horsepower For The Streets" ist insgesamt melancholischer und introvertierter als "Good Day", steht deutlicher im Sixties/Seventies-Soul, und wäre immer noch der passende Soundtrack für eine Autofahrt im Ami-Schlitten-Cabrio am Strand von San Diego. Ein bisschen Klischee muss sein.
Vinyl: Schönes, sehr ansprechend gestaltetes Gatefold-Cover mit tollem Foto auf der Innenseite. Die Pressung auf schwarzem Vinyl ist abgesehen von einigen No-Fills zu Beginn von "Sirens In The Silence", dem letzten Stück auf der B-Seite, fehlerfrei. (++++)
Die Beths waren DIE Entdeckung des letzten Jahres. Und vielleicht sogar noch mehr als das - ich kann mich kaum an eine andere Situation in den letzten zwanzig Jahren erinnern, bei der ich bereits beim Erstkontakt mit einer Band Feuer und Flamme war. Und for fuck's sake: das will bei mir altem und verbittertem Knallsack echt was heißen.
Und das kam so: an einem warmen Juniabend tat ich das, was zu meinen liebsten Freizeitbeschäftigungen zählt - ich goss mir eine warme Cola ein, öffnete eine schöne Flasche Pommes und stöberte nach neuen Platten. Die obligatorischen fünfundzwanzig Browser-Tabs geöffnet, vier Warenkörbe und neun Merkzettel im Anschlag, dazu lerne ich Band-Diskografien, Label-Kataloge und Presswerklisten auswendig. Ich bin praktisch Fluglotse für Schallplatten, und ich kann damit problemlos Stunden, Tage und Wochen verbringen. Ich habe eben nach wie vor die Verdrängungsleistung eines verkackten Öltankers.
So scrollte ich mich also gerade durch das Programm von anost.net, dem Mailorder und Sublabel von Morr Music (u.a. The Notwist und Deaf Center), generell eine exzellente Adresse für die Anschaffung experimenteller und abseitiger Musik, als ich von einem Cover beinahe magisch angezogen wurde. Es war "Future Me Hates Me" der Beths, ihr Debutalbum aus dem Jahr 2018. Ich hatte vorher noch nie von der Band gehört und meine in den frühen bis mittleren Nullern eingeübten Reflexe, wirklich jede "The"-Band zumindest mal gehört haben zu müssen, wurden in den vergangenen Jahren nun auch wirklich nicht weiter trainiert. Aus irgendeinem Grund musste ich hier nun aber unbedingt reinhören. Das Ergebnis: Es brauchte exakt bis zum ersten Chorus des Openers "Great No One", um die Platte in den Warenkorb zu legen. Das war ein Rekord. It really hit different.
Das Geheimnis, was The Beths auch auf ihrem neuen Album "Expert In A Dying Field" so außergewöhnlich macht, ist das beispiellose melodische Gespür von Songschreiberin/Sängerin/Gitarristin Elizabeth Stokes. Hier nur von einem "Händchen" zu sprechen, müsste fast als bodenlose Beleidigung gewertet werden: Stokes schreibt die Songs für die großen, kleinen, funkelnden, melancholischen Melodien in ihrem Bauch, die gleichzeitig sowohl introvertiert und beinahe schüchtern als auch voller Selbstvertrauen und Kraft sind. Und wie es scheint tut sie das am Fließband: es gibt auf den drei bislang erschienenen Studioalben keinen einzigen mediokren Moment, keine Note, die nicht in glitzernden Regenbogenfarben vibriert, keine Gesangsharmonie, die keine Gänsehautwellen über den Astralleib schickt.
Das sind Hymnen zwischen Power-Pop, Indierock und ganz zärtlich eingetreuten Punk-Elementen, wie in einem der Höhepunkte "Head In The Cloud" oder auch der Single "Knees Deep". Immer mitreißend, immer tief bewegend. Wer das Video des unten verlinkten Titeltracks anschaut und beim großen Finale mit den schönsten Gesangsharmonien der Welt, der musikalisch perfekt inszenierten aufreißenden Wolkendecke und den dazu passend feierlich arrangierten Bildern der Musiker:innen nicht vor Ergriffenheit zusammenklappt, hat ein Herz aus Stein. Dazu kommt ein wunderbar doppelbödiger Text, der auf der offensichtlichen Trägerwelle über ausgestorbene Berufe und verloren gegangene Fähigkeiten die versteckten Bilder über erkaltete Liebesbeziehungen schickt, dass sich also zwei Menschen über viele Jahre der Zweisamkeit und Partnerschaft so viel Wissen übereinander und über sich selbst angeeignet haben, das bei einer Trennung sich schlicht in Luft auflöst.
So erfrischend echt, sympathisch, frei von jeglichen Macho-Attitüden und aufgesetzter Härte - für mentale Pullunder-Träger wie meine Wenigkeit kann's kaum besser werden.
Vinyl: Keine Ahnung, woran das genau liegt, aber mir ist leider keine fehlerfrei Vinylpressungen ihrer Platten bekannt, und ich habe mittlerweile und immerhin: alle. Carpark scheint's mit der Qualitätskontrolle nicht ganz so eng zu sehen. Hi-Fi-Nerds müssen hier also manchmal sehr stark sein und mit Hintergrundgeraschel und einigen Knacksern leben. Alle anderen, die sich in erster Linie an der tollen Musik und der tollen Aufmachung ergötzen wollen, kommen erneut auf ihre Kosten: das aufklappbare und farbenfrohe Coverartwork mit Prägedruck sowie die Platte in...äh...Kanariengelb sind einfach sensationell gestaltet und fügen der Hörerfahrung eine ganze Menge Spaß zu. Da sind mir die paar Knackser ehrlich gesagt fast schon egal - zumal ich es wenigstens bei meinem Exemplar nicht als überdurchschnittlich störend empfinde. Insgesamt also ambivalent, aber noch knapp erträglich. (++-)
Die passenden Worte über Tocotronic zu finden gehört mittlerweile zu den schwierigeren Aufgaben des Lebens, egal, ob das auf diesem Blog passiert oder in der oft so furchtbaren "Realität", so mit echt erbrochenen gesprochenen Worten. Maximale Ambivalenz auf der einen, und tiefste, aufrichtigste Zuneigung auf der anderen Seite sind nicht so irre leicht zu vermitteln. Und da geht's nämlich schon los, denn Zuneigung ist das eigentlich nicht zwischen mir und dieser Band. Es ist ja alles viel ernster.
Ich habe viele, viele Jahre gebraucht, um eine Art Nähe zwischen Tocotronic und mir zuzulassen. Ihr Album "Kapitulation" aus dem Jahr 2007 umkreiste ich über Tage und Wochen, bis ich mich hin- und ergeben musste. Bis dahin war es eine Undenkbarkeit, eine ihrer Platten zu hören, ohne einen Tobsuchtanfall zu bekommen. Und, Riesenüberraschung: da war die Sache mit den richtigen Worten total einfach; Nullen und Einsen. Und Tocotronic waren zu jener Zeit ganz sicher immer die Nullen. Heute weiß ich: ich hatte sie nicht verstanden. Und, das sei zu meiner verzweifelt herausgeplärrten Entschuldigung noch schnell gesagt, aus der Ferne ist das auch beinahe unmöglich. Wer lediglich aus den ignoranten 20000 Fuß auf ihre Musik und ihren Duktus schaut, wird nur schwer die Risse und Brüche finden, die eine Schwingung auslösen können, die widerhallen, den eigenen bewohnten Raum befallen und die eigene belebte Zeit ausfüllen. Selbst als ich wegen "Kapitulation" förmlich dazu gezwungen wurde, tiefer zu gehen, hatte ich im Grunde nur eine ungefähre Ahnung davon, was und wie die das alles meinen. Eigentlich, und es ist fast ein bisschen peinlich, dass es SO FUCKING LANGE dauerte, habe ich das erst mit dem letzten Album "Die Unendlichkeit" geschnallt. Das sind Verweigerer. Totale Verweigerer.
Ich spüre Liebe.
Sänger Dirk von Lowtzow hat ihren Kreuzzug gegen den Optimierungswahn in einem Interview mit der taz wie folgt erklärt:
„Es ist in Vergessenheit geraten, dass es einmal eine künstlerische Strategie gab, nichts zu tun. Und die möchten wir formulieren als Antithese zu diesem Leistungsimperativ, der neuerdings in dieser Gesellschaft herrscht. Das Unproduktive wird unterschätzt.“
Tocotronic machen Musik gegen die Kultur der Highperformer. Oder insgesamt: der Performer. Vor ein paar Jahren sangen sie "Im Zweifel für den Zweifel":
Im Zweifel für den Zweifel
Das Zaudern und den Zorn
Im Zweifel fürs Zerreißen
Der eigenen Uniform
Im Zweifel für Verzärtelung
Und für meinen Knacks
Für die äußerste Zerbrechlichkeit
Für einen Willen wie aus Wachs
Im Zweifel für die Zwitterwesen
Aus weit entfernten Sphären
Im Zweifel fürs Erzittern
Beim Anblick der Chimären
Und in "Luft" lautet der erste Vers:
Die Luft ist so nutzlos um mich herum
So schön, vergeht jetzt ein Millennium
Ja, ich habe heute nichts gemacht
Ja, meine Arbeit ist vollbracht
Ich atme nur
Ich atme nur
Ich atme nur
Ich atme nur
Tocotronic machen Musik für mich. Mit all den Rissen und Brüchen. Den Zweifeln, der inneren Zerrissenheit. Der Ausweglosigkeit. Der Ohnmacht. Musik über Rückzug. Über Aufgabe. Kapitulation.
Man sagt das ja oft so leicht dahin, wenn man sagt "Das ist genau meine Welt!", vielleicht noch ein bisschen mit...hUmOr und Zwinkersmiley und haha und hihi. Hier und jetzt gibt's aber mal ausnahmsweise keinen Humor. Und leicht ist es auch nicht, nichts ist leicht, niemals. Mir fällt es manchmal nicht mal leicht, aufs Klo zu gehen, also bitte! Achtung, jetzt kommt's: Das ist genau meine Welt.
"Nie Wieder Krieg" führt diese Linie fort, als Album und Song. Sie singen über die Trostlosigkeit des Lebens in Gestalt einer Tiefkühlpizza, über diffus wahrgenommene Freiheitsmomente im Flug mit den Vögeln durch das nächtliche Berlin. Der Krieg mit sich selbst. Das dauernde Ankämpfen. Sehnsüchtige Selbstmordgedanken, die in einem Kinderlied verwoben sind. Jedes Wort verschlüsselt und mit doppeltem Boden eingepasst. In dem ehrfürchtigen "Ich Tauche Auf" mit Anja Plaschg (Soap & Skin), der ersten Kooperation der Band in ihrer über dreißig Jahre andauernden Karriere, bleibt am Ende ein diffuses Bauchgefühl aus dreizehn labbrigen Ideen und siebenunddreißig Fragezeichen übrig - um was geht es denn hier? Eine verbotene Liebe? Eine vergessene Liebe? Gar keine Liebe? Heringssalat aus der Dose? Dirk von Lowtzow meint, er wolle uns nicht mit "Gefühlsquark" belästigen, und wenn er's schon nicht tut, dann muss ich jetzt wohl ran: als sowohl Single als auch Video an einem herbstlichen Morgen im Oktober des Jahres 2021 erstmals auf Youtube auftaucht (sic!), schmeckte der Morgenkaffee plötzlich deutlich salziger als sonst.
Musikalisch bewegt sich die Band weitgehend im Raum ihrer letzten Arbeiten, und das beinhaltet ausdrücklich auch jene Ambivalenz, die sich stets in ihrem Songwriting finden lässt. Vom zärtlichen Feedbackgefiepe im typischen Uptempo-Kopfnicker "Komm Mit In Meine Freie Welt", oder der hübsch aufstampfenden Single "Jugend Ohne Gott Gegen Faschismus" über, Pardon - aber ich kann nicht anders: vertonter Trucker-Romantik in "Crash" und einem swingendem "Ilona-Christen-moderiert-eine-Benefiz-Gala-im-ZDF"-Vibe im abschließenden "Liebe", bis zu klassisch-elegischem wie "Nachtflug" und komplett reduzierten Balladen ("Ich Tauche Auf"), gibt es die volle Bandbreite Tocotronics. Und das schließt kurioserweise mit ein, dass es eigentlich immer noch nicht so richtig klar ist, was das hier eigentlich alles soll, so insgesamt. Dilettantisch ist es nicht, ganz im Gegenteil - ihre Produktionen sind fast schon volkstümlich anschmiegsam. Seriös und aufgeräumt ist es aber auch nicht, da grätscht die kindliche Begeisterung und Albernheit die Standbeine weg.
Sind's Schlager für Depressive? Für Melancholiker? Für Verweigerer? Protestierer?
Jeder Mensch kennt die Antwort.
Vinyl: Von vorne bis hinten perfekt gepresste, dicke schwarze Scheiben auf 45rpm. Tolles, glossy Gatefold-Cover. Wie es schon bei "Die Unendlichkeit" der Fall war, ist es aus klanglicher und haptischer Sicht ein echtes Erlebnis, "Nie Wieder Krieg" auf Vinyl zu hören. (+++++)
Was auf Sean Careys "Hundred Acres" aus dem Jahr 2018 zunächst auf dem Cover-Artwork, später in seiner Musik ein nachglühender Sommertag im August war, ein Naturbild voller Leben, mit dem ausströmenden Duft einer Blumenwiese, dem leisen Plätschern eines Bachlaufs, zirpenden Grillen und zwitschernden Vögeln, ist auf "Break Me Open" eine kalte, tiefe Winternacht. Ein eisig schneidender Wind, der einem durch gleich drei Paar Wollsocken pfeift und dabei das Herz schockfrostet. Und wenn Sie noch mehr metaphorische Allerweltsbilder und Beobachtungen aus der Kategorie "Primark-Unterhosenset, handgebatikt & mundgeblasen" benötigen, rufen Sie mich einfach an.
In den vier Jahren seit "Hundred Acres" musste Carey miterleben, wie seine Ehe zerbrach und sein Vater starb. Roger Willemsen schrieb einige Jahre vor seinem viel zu frühen Tod den Bestseller "Der Knacks", eine Auseinandersetzung mit dem einen Atemzug, "ab dem nichts mehr so sein sollte, wie es mal war". Dieser feine Riss im Leben, von dem man in genau jenem Moment weiß, dass er sich nicht mehr schließen, sondern weiter ausbreiten und in der Fläche verzweigen wird. "Break Me Open" ist nicht nur durch die Parallele im Titel die musikalische Aufarbeitung eines solchen Risses, es ist mehr noch eine Nachverfolgung, sowohl eine Suche nach den Ursachen, als auch eine Ahnung, in welche Ecken und Räume er sich noch ausbreiten wird. Am Eindrücklichsten zeigt sich diese Vertiefung in die an seine Kinder gerichteten Textzeilen wie
If I ever lost you
I'd throw myself into the deepest riverbend
And pray that I might find you
In places that I don't even believe in
des Openers "Dark", der musikalisch nach einem dürren, desolaten Beginn in ein kräftig stampfendes Crescendo mit Bläsern und üppigen Syntiewallungen kippt, als sei es die doppelt unterstrichene Versicherung sich selbst gegenüber, eine Vergegenwärtigung der eigenen Moral, wie ein Echtheitszertifikat.
Nun bin ich üblicherweise mit einer gesunden Ambivalenz für einen solchen Sound einerseits und jene über-emotionalen Inhalte andererseits ausgestattet. Es finden traditionell nur wenige Platten mit einer derartigen Ausrichtung den Weg in die Sammlung, und noch viel weniger den Weg auf diesen Blog. Mir erscheint das all zu zu oft als volkstümliche Unterhaltung, als eine klebrige Befindlichkeitssoße, kalkuliert, redundant, glatt und ranschmeißerisch. Ich möchte damit eigentlich nichts zu tun haben. "Break Me Open" von all jenem Pathos freizusprechen, wäre auf den ersten Blick unpassend; besonders die hymnischen, opulenten Momente tragen bisweilen eine dicke Gefühlswatte auf. Die Grundsubstanz indes ist bei näherer Betrachtung zierlich und fragil, und manches Arrangement scheint sich nur mit letzter Kraft auf den Beinen halten zu können. Das spärlich instrumentierte "Waking Up" begleitet Careys Lyrik nur mit einer getupften Pianomelodie, die zudem so intim aufgenommen wurde, dass sogar das Treten der Pedale des Instruments zu hören sind.
Well, I'm waking up
Just a shell of who I was
But I want to shake you
It's me, it's me, it's me
Carey sagt , "Break Me Open" sein kein "Scheidungsalbum". Es handele von Liebe, von Hoffnung, von Aufrichtigkeit und Wachstum, es sei ein Aufruf dazu, sich verletzlich zu zeigen. Der Weg, den er wählte, um diese Themen zu verarbeiten, bewegt mich sehr. Fast jede Textzeile löst ein Gefühl der Verbundenheit in mir aus - mal, weil mir die Gedanken selbst so nahe stehen, mal weil die Empathie sämtliche Schleusen öffnet und ich mich plötzlich an seiner Stelle sehe. Ich war an diesem Ort schon einmal, vielleicht in einer anderen Zeit, vielleicht unter anderen Vorzeichen - aber ich spüre die Schwingung, den Schmerz, die Leere. Viel wichtiger aber ist die Rekonstruktion jenes Empfindens und das Wissen darüber, sich hier nicht lange aufhalten zu müssen. Da ist kein Vergessen und kein Verdrängen - da ist Einheit und Verständnis. Und irgendwie auch die vage Vermutung, auf das nächste Level gesprungen zu sein.
Am Ende singt Carey in "Crestfallen"
I love you anyway
Don't be afraid
I'll be here till the end
I'll be a friend
Don't be afraid
Our time is paramount
We're running parallel
Und man ahnt, eine sehr grundsätzliche Komponente dessen, was Leben bedeutet, verstanden zu haben.
Vinyl: Pressungen von Jagjaguwar sind traditionell mit Vorsicht zu genießen, oder besser: zu kaufen. Audiophile Giganerds, für die ein einzelnes Knacken zwischen zwei Songs ausreicht, um mit einem Atomschlag gegen das Presswerk zu drohen, halten besser Abstand. Meine Version auf schwarzem Vinyl fühlt sich bereits am Schnitt des Plattenrands dodgy an, sieht mit einigen, auch nach einer Wäsche nicht verschwindenden Schlieren auf der Platte dodgy aus und und hört sich angesichts einiger Hintergrundraspler manchmal auch dodgy an. Das ist keine desaströse Pressung, aber man spürt, dass hier was nicht komplett in der Reihe ist. Bedruckte (ungefütterte) Innenhülle mit Texten, kein Downloadcode. Das Cover empfinde ich vor allem im Vergleich mit dem Vorgänger als eine kleine Enttäuschung. (++)
Während ich im Fiebertraum an etwas arbeite, das irgendwann mal die intellektuelle Verdunkelung dieses Blogs mit dem großen "Bad Religion Album-Ranking" fortführen wird, ich muss ja die zweite Jahreshälfte irgendwie rumbringen, beziehungsweise ihr entgegendämmern, gibt es nach dem geborgenen Interview mit The Sea And Cake noch eine weitere Resteverwertung aus einer anderen Zeit und einem anderen Leben.
Als Schreibknecht beim Hamburger Tinnitus-Mag zur Mitte der nuller Jahre war ich angehalten, jeder Plattenbesprechung eine Punktzahl anzuhängen und also jede Platte auf einer Skala von 1 (Atommüll-Endlager) bis 10 (Bundespressekonferenz auf Acid) zu bewerten. Aus der etwas diesigen Erinnerung heraus lag mein Notendurchnitt sicherlich deutlich unter sechs Punkten - ich bekam wirklich erschütternd viel Schrott und noch mehr Middle-Of-The-Road-Gerocke zugeschickt; letzteres empfand ich oft als mindestens genauso ärgerlich wie den klar erkennbaren Bodensatz, weil es sich in jenen Fällen irgendwie verbat, emotional einigermaßen aufgewühlt und mit sprachlicher Finesse das eigene Ego zu befriedigen, sich also vermeintlich lustige Analogien und Metaphern einfallen zu lassen. Egale Musik war eben schon immer egal, und ein triviales Schulterzucken macht selbst der beste Comedian der Welt nicht zur guten Unterhaltung. Einen Verriss zu schreiben kann dagegen ein großer Spaß sein, und weil Spaß wirklich die überbewerteste Kernscheiße der Welt ist - guckt euch domma um, in welchem Autounfall wir hier leben, Ihr Assos! - und ich sowieso seit Anbeginn dieses Blogs stets darauf hinwies, gibt's auf Dreikommaviernull auch keine ebenjenen zu lesen. Weder Spaß noch Verriss. If you wanna see juggling, go watch clowns.
Mit Noten von 8/10 oder gar höher, tat ich mir gleichfalls immer schwer. Platten, die damals acht Punkte von mir bekamen, hätten von einem anderen, möglicherweise sagen wir mal: etwas unkritischeren Geist sicher eine 14/10 eingefahren, und um diesen Schwachsinn von Schwachsinnigen etwas auszubalancieren, war ich in der Redaktion als notorischer Tiefwerter bekannt. Ich glaube, ich vergab in den zwei Jahren meiner Mitarbeit an maximal zwei Platten eine 9. 10 Punkte waren eigentlich komplett undenkbar.
Bis zu dem Tag, an dem ich tief durchatmete und eine 10 vergab.
Wenn sich heutzutage wirklich noch irgendjemand außer mir dafür interessieren würde und mich also fragte, wie es denn 15 Jahre später damit aussieht und ob ich die zehn Punkte für "Watch You Don't Take Off" auch heute noch verteilen würde, dann müsste ich die Frage verneinen. I have moved on - und eigentlich war ich bereits im Sommer 2006 weitergezogen. Und trotz meiner natürlichen, und ich kann es nicht diplomatischer formulieren, "Skepsis" gegenüber dieser Spielart des im Pathos geradewegs abgesoffenen Indierocks, dem man zu allem Überfluss sowohl seine geografische Heimat als auch die Epoche anhört, in der er entstand, verstehe ich den Typen aus dem Jahr 2006 auch heute noch ganz gut und weiß, warum die Vergabe von zehn Punkte damals unausweichlich erschien. Während ich diese Zeilen schreibe, läuft gerade der Abschlusstrack "All On The Black" und ich bekomme immer noch eine kilometerdicke Gänsehaut. Ich kann mich gegen sowas einfach nicht wehren, das drückt einfach alle, alle, alle Knöpfe. Auch im Jahr 2021: Der blanke Wahnsinn. Wo hat diese Band das bloß hergeholt?
Bleibt mir zum Abschluss noch festzuhalten: entgegen aller völlig logischen Erwartungen, halfen die zehn Punkte von einem kleinen idiotischen Kartoffeldeutschen der Band nicht dabei, den winzigen und wahrscheinlich von einer abgewichsten Promoagentur herbeihalluzinierten "Hype" zu bestätigen. "Watch You Don't Take Off" sollte das einzige Lebenszeichen von Leya bleiben, die Band löste sich wenig später sehr sang- und klanglos auf. Leider erschien das Album nie auf Vinyl und die Chancen stehen denkbar schlecht, dass sich das nochmal ändert, denn viel tiefer untergehen kann eine Platte nicht. Wirklich nicht. Der daraus resultierende Vorteil ist indes, dass die längst gestrichene CD mittlerweile für unverschämt kleines Geld im Internet zu beziehen ist.
Ich habe für diesen Beitrag meinen Rezensionstext von damals ausgegraben. Vielleicht versüßt die Platte jemandem die wahrlich abgefuckteste aller Zeiten.
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Leya - Watch You Don't Take Off
Wasserwirbel. Herzensbrecher. Windgeflüster. Ein Album wie aus einer anderen Welt.
Leya sind eine langsam, aber stetig gewachsene Band. Von kleinen, privaten und lokalen Gigs zum Anfang ihrer Karriere im Jahr 2001, über gewonnene Bandwettbewerbe, Support-Slots für Damien Rice und Interpol bis hin zu einem weltweiten Management-Deal und einem Plattenvertrag in 2006 hat sich ihre Karriere stets nach vorne bewegt. In ihrem Heimatland Nordirland gelten Leya als DIE Hoffnung des Jahres und "Watch You Don't Take Off" ist das Album, das Herzen brechen wird. Das Tränen fließen lassen wird. Das den Boden unter den Füßen wegzieht.
Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ich dieser Platte zunächst nicht die volle Aufmerksamkeit entgegenbrachte. Der Veröffentlichungstermin stand erst in ein paar Wochen auf dem Plan, ich sollte also noch genug Zeit haben mich mit "Watch You Don't Take Off" zu beschäftigen. Dennoch legte ich sie fast instinktiv immer wieder auf, allerdings ohne größere Auswirkungen. Ich sprang weder im Dreieck, noch aus dem Fenster; es schien, als sei das eine "ganz nette Platte" einer "ganz netten Band" mit einer "ganz netten Mischung" aus britischem Gitarrenrock und epischem, ausuferndem Bombast. Bis zu jenem Moment, als ich während eines weiteren Durchlaufs plötzlich hellhörig wurde. Ach, was schreib' ich da...die Sicherungen sind mir durchgeknallt! Plötzlich fand ich mich mit Textblatt in der Hand vor der enthemmt aufgedrehten Anlage wieder und bekam den Mund nicht mehr zu. "Was machen die denn da? Hallo...? Verdammt, was machen die denn da???"
Das sanfte Piano, das eben noch an der Ecke lehnte und traurig in die Nacht hinein spielte, bäumt sich plötzlich auf. Aus dem Innern schwingen sich immer lauter und immer größer werdende Gitarren empor. Die Violinen breiten ihre überdimensionalen Flügel aus. Das Grollen des Himmels verschlingt das weite Land. Alles ist Eins. Schicht um Schicht legen die vier Musiker immer neue Farben und Gebilde übereinander. Wie ein Maler, der vor seiner großen Leinwand steht und jeden Pinselstrich genießt, der mit jeder Handbewegung, mit jedem Geistesblitz sich selbst und seine Kunst neu erfindet. Ein abgeschlossenes System, das dennoch so offen und frei ist, dass jede minimale Veränderung Auswirkungen nach sich zieht.
Der Kern aber bleibt. Felsenfest.
Das Lied, auf das sich diese Beschreibung bezieht heißt "Again" und ist eines von zwei totalen Unglaublichkeiten in einem Meer voller Unglaublichkeiten. "Who are we, where do we come from?" fragt Sänger Ciaran Gribbin und wir können ihn nur ungläubig anstarren und versuchen die warmen Schauer, die er uns damit über den Rücken jagt irgendwie zu kontrollieren. Ha, wir Narren! Hier gibt es nichts zu kontrollieren. Wer etwas anderes versucht, als sich treiben zu lassen geht im Wahnsinn unter.
Sie nahmen mich gefangen. Spielend leicht. Ihre Songs sind wie Raketen, die sich in den Himmel hineinschrauben, ohne jemals zu verglühen. So leicht und schwerelos wie eine Feder, die in einer sanften Brise herumtänzelt und nie den Boden berührt. Ihr Sänger Ciaran Gribbin, ein Künstler, der es mit Leichtigkeit vermag die perfekten Worte, Silben und Melodien an die perfekten Stellen zu platzieren. Der mit einer der grandiosesten und ausdrucksstärksten Stimmen gesegnet ist, die in den letzten zwanzig Jahren Musik veredeln durfte. Seine Hinterleute mit untrüglichem Gespür für den richtigen Anschlag, die richtige Geste. Das Laut/Leise Prinzip in Vollendung. Diese Songs strahlen so viel Herzenswärme, so viel Gefühl und so viel Leidenschaft aus, man weiß gar nicht mehr wohin damit. Dabei hochmelodisch, aber bitte nicht kitschig. Diese Lieder stehen weit über dem Kitsch.
"All On The Black", der letzte der elf Songs auf "Watch You Don't Take Off" und gleichzeitig die zweite totale Unglaublichkeit in einem Meer voller Unglaublichkeiten (siehe oben), setzt den Schlusspunkt und beschließt damit ein geradezu beängstigend rundes, stimmiges und - man traut es sich ja fast kaum zu sagen: perfektes Album. "Some days are right, some days are anything but right. Some days we'll fight, some days are anything". Gribbin holt zum letzten Mal Luft. Legt zum letzten Mal all seine Emotionen in diese Wörter. Und lässt uns zurück. In einer anderen Welt.