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04.05.2024

Best of 2023 ° Platz 3: Rod Modell - Ghost Lights




ROD MODELL - GHOST LIGHTS


"You can't play that with your fingers, motherfucker!" (Stewart Copeland)


Irgendwann erwischt es Dich. Irgendwann kommt der Moment, an dem Du aufschreckst. Alles stehen und liegen lässt, zwei oder zweihundert Meter Abstand einnimmst, Deinen Hals nach hinten streckst und versuchst, das Bild, die Situation so schnell wie möglich einzuordnen. "Was war das denn eben gerade?" - und im Grunde ist die Dechiffrierung zum Scheitern verurteilt. Denn das Bild, das Rod Modell auf "Ghost Lights" aufreißt, ist riesig. Das Panorama ist überwältigend. Ganzheitlich und immersiv. 

Alles ist in Bewegung. Alles passiert im Zeitraffer. Alles dehnt sich in Zeitlupe. 

Mit "Ghost Lights" taucht die Dubtechno-Ikone und der Gründer von Echospace zum wiederholten Male auf Astral Industries auf. Seine Geschichte mit dem Londonder Spezialistenlabel geht zurück ins Jahr 2014, als er mit seinem Deepchord-Alias und dem Album "Lanterns" die Katalognummer AI-01 stellte und umgehend einen großen Erfolg verbuchen konnte - das Konzept, "Lanterns" lediglich als einmalige Vinylpressung für einen damals absolut obszönen Betrag von 40 Euro zu vermarkten - "NO REPRESS, NO DIGITAL" - nur um ein paar Jahre später den Repress und die digitale Version dann eben doch anzubieten, treibt mich selbst zehn Jahre später noch in einen veritablen Tobsuchtanfall. Nur damit wir das mal klar haben, dass kapitalistische Fuckups einen fluffigen Flutschi auf Genres oder die Glaubwürdigkeit von Labels (lol, jetzt bleibense mal ernst!) geben. Eigentlich gehört dieser ganze Scheißhaufen ja bis ans Ende aller Tage gnadenlos boykottiert - oder wir halten fortan wenigstens die Klappe, wenn ein lieblos zusammengestümperter Repress für 50 Euro - mit den berüchtigten moralischen Bauchschmerzen, logo! - zunächst ver- und anschließend wie an der Schnur gezogen gekauft wird. Aber wie wir sehen: Herr Dreikommaviernull ist immer noch da, streichelt apathisch lächelnd seinen "Lanterns" Firstpress, quietschfidel und zugekleistert mit prätentiöser Egowichse. Um diese kognitiven Gräben zuzuschütten, reicht der ganze verkackte Sand dieser Welt nicht aus. Apropos Sand: wir haben ja eh schon Sandmangel! 

Jedenfalls: die vier überlangen Kompositionen auf "Ghost Lights" zeigen Modells Exkursionen in die Unterwelt des Ambient. Kein Beat, kein Puls - wobei, das ist nicht ganz richtig. Den Puls gibt es, aber er liegt erstens praktisch unter der Wahrnehmungsgrenze, weil er zweitens im Grunde unter die kompletten 70 Minuten Musik gespannt ist und sich damit nur im angesprochenen Panorama zeigt. 

Im Zoom hat Modell seine berüchtigte "Großstadt bei Nacht"-Ästhetik auch ohne die hörbare Kickdrum auf die musikalische Leinwand gezaubert und dabei die Frequenz der Bildfolge auf das Maximum erhöht. Versteckte und dunkle Nischen, abgelegene, unheil versprechende Ecken, Sackgassen, Regen und nasse Straßen, der aus der Kanalisation aufsteigende Dampf, die roten Rücklichter der durch die Straßen schwebenden Raumschiffe, der sich räuspernde Donner aus der Ferne, das maschinelle Grundrauschen aus den Fabriken und Kraftwerken. Das ist nicht immer nur angenehm zu hören. 

Es ist der manchmal aus tiefsten Tiefen grummelnde Bass, der einem geradewegs die Haare zu Berge stehen lässt. Es ist die Leere, die entsteht, wenn zwar der Film ruht, der Blick jedoch immer noch auf der Suche ist und außer Unbehagen nichts findet. Es ist das schwingende Echo einer vom Ende der Welt angeschlagenen Glocke. Der Vogelschrei, der sowohl Verzückung wie Agonie bedeuten kann. Und wer ganz tief in Modells Welt eintaucht, wird vielleicht auch auf Probleme mit der Einschätzung von Nähe und Distanz stoßen. Denn je kleiner der Ausschnitt, oder je nach Interpretation: der Abgrund ist, in den wir hineinblicken, desto mehr hat unser Gehirn mit der Verarbeitung der schieren Menge an Eindrücken, Reflexen, Effekten zu tun. 

"Ghost Lights" ist keine Hingabe an den Rückzug, es ist eine Ode an die Auseinandersetzung und die Überforderung.


 


Erschienen auf Astral Industries, 2023.

12.08.2023

Sonst noch was, 2022?! (1): Mystic AM - Cardamom & Laudanum

 




MYSTIC AM - CARDAMOM & LAUDANUM


Astral Industries-Gründer Arlo Faharano und Rod Modell begeben sich auf "Cardamom & Laudanum" auf eine nächtliche Reise durch den Orient, nisten sich in unseren Köpfen ein, schalten die Kameras an und das Licht aus - und lassen Geschichte passieren. Außerkörperliche Erfahrungen in der Wüste, nächtliches Treiben auf den Basaren, kostbare Seide, feine Gewürze, opulente Parfums. Der Puls der Nacht, die Anspannung vor dem Unbekannten in schwüler, stickiger Luft. Ein Unbehagen auslösendes, obskures Geflüster in einem Meer aus Stimmen, aus der Tiefe der Dunkelheit dringt schamanisches Getrommel, am Horizont lodern die Feuer von den Stämmen in den Bergen, Rauch schleicht sich in den klaren Sternenhimmel. Und du bist mittendrin, saugst alles auf, beobachtest. Wo bist Du? Wer bist Du? Und warum bist Du hier? Und - was bedeutet das denn überhaupt..."hier"? 

Ein berauschender, mystischer, aufregender, spektakulärer Fiebertraum.


Vinyl: Astral Industries lässt traditionell bei Optimal pressen und dort kann normalerweise nicht so irre viel schief gehen. Es gibt Gegenbeispiele, aber das Presswerk in Brandenburg gehört sicherlich zu den qualitativ zuverlässigeren Herstellern. So ist es auch hier: ich habe keine Beanstandungen. Die klassischen AI-Coverartworks von Theo Ellsworth sind von den Hüllen des britischen Labels nicht mehr wegzudenken. Gatefold-Cover. Kein Download. (+++++)


 



Erschienen auf Astral Industries, 2022

03.02.2021

Best Of 2020 ° Platz 18 ° The Vision Reels - Eyes Open



THE VISION REELS - EYES OPEN

The planet is fine.
The people are fucked. 
(George Carlin)


2020 hätte viel verdient gehabt, zum Beispiel eine vorbehaltlose und uneingeschränkte Selbstauflösung ab sagen wir mal April. Darüber hinaus: eine eigene Digital-Best Of-Liste. Ich habe noch nie soviel digitale Musik gekauft und gehört wie 2020 auf Bandcamp, und die ab März regelmäßig durchgeführten sogenannten Bandcamp-Fridays zur Unterstützung der von Corona und der daraus resultierenden Komplettabschaltung jedes Kulturbetriebs ordentlich durchgeschüttelten Künstler und Labels, haben daran sicherlich einen sehr großen Anteil gehabt. "Eyes Open" von The Vision Reels (aka Adam O'Hara, u.a. Gründer von Groundwork Recordings) rutschte in letzter Minute in meine Top 20, und ist damit auch das einzige Album meines kleinen Countdowns, das nur im digitalen Format verfügbar ist. Das ist ungewöhnlich, weil ich eigentlich vorhatte, solche Formate künftig nicht mehr in Betracht zu ziehen; man sieht mir meine Quatschhaltung in dieser Sache bitte nach. Mein musikalisches Leben und die daran angebundenen Lebenslinien drehen sich nun mal in erster Linie um Schallplatten als künstlerisches Ausdrucksmittel, daher geht es in mir in erster Linie um die Abbildung ebenjener. Manchmal komme ich aber trotz solch prätentiöser Totalverbretterung nicht drum herum - wie eben bei und für "Eyes Open". 

Ich weiß praktisch nichts über Adam O'Hara oder dieses Album. Es war ein ziemlicher Zufallstreffer auf Bandcamp, vermutlich stolperte stöberte ich durch eine Sammlung eines anderes Nutzers und wurde vom tollen, an Astral Industries-Artworks angelehnten Cover (Dima Rabik) angezogen. Und Anziehung ist das Schlüsselwort für "Eyes Open". Ganz egal, wie viel mir wegen Lohnarbeit, Haustier, Corona und geradezu Tonnen anderer Musik um die Ohren flog, kam ich immer wieder zurück zum sanften, nächtlichen Puls dieses Albums. Über den Lichtern der Stadt, leise und elegant fließend, und ein Timing mit beinahe sedierender Wirkung - wenn das Ketamin mal wieder mit (benutztem) Katzenstreu und Palmin gestreckt wurde, programmiert man den Player einfach auf 72 Stunden Endlosschleife und lässt die Nachbarn sich darüber wundern, warum seit Freitagabend die Rollläden nicht hochgezogen wurden. 

O'Hara wählt für sein Debut unter dem Projekt The Vision Reels einen sehr aufgeschlossenen Ansatz, der glücklicherweise keine Gefühlsduselei benötigt. Ich empfinde "Eyes Open" als durchaus emotional, introspektiv, manchmal in der bildhaften Darstellung von objektiver Schönheit geradezu betörend, insbesondere zu hören beim funkelnden Titeltrack, bleibt dabei aber erstaunlich zurückgezogen, ja fast nüchtern. Nicht freudlos, nicht akademisch, aber distinguiert und abseitig genug, um selbst für die Momente einer stärker ausgeprägten Zugänglichkeit in den Tracks "Chrysanthemum", einem tief pochenden Unterwasser-Star-Ride und dem urban glitzernden "Sacred Architect" der Hood mitzuteilen, dass der Sepiafilter zum Sonnenuntergang auf Ibiza weder angebracht noch erwünscht ist. 

Besser Rollläden runter und einsam im Licht der Lavalampe wegdämmern. Leben 2020 FTW.




   



Erschienen auf Kizen Records, 2020.