Posts mit dem Label drone werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label drone werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

29.04.2023

Best Of 2022 ° Platz 6: Joachim Spieth - Terrain




JOACHIM SPIETH - TERRAIN



Schuldgefühle. Das Auslassen meiner Jahresbestenliste für das Jahr 2021 ließ einige Platten im Regen stehen, die eine detaillierte Aufarbeitung wirklich verdient gehabt hätten. Es gäbe so viel nachzuholen. Das Problem: es fehlen Energie, Kraft und Zeit. Dabei waren die Titel und ihre Platzierungen schon fertig ausgearbeitet, ausgeknobelt und unter den üblichen starken Schmerzen versiegelt. Daher weiß ich auch immer noch, dass "Ousia", das vierte Album des Produzenten und Labelgründers von Affin Joachim Spieth, meine Nummer 1 gewesen wäre. Ich habe im Jahr 2021 vermutlich keine andere Platte so oft gehört wie "Ousia", ein von aquatischen Motiven durchzogenes Album, das eine warme Klangwelle nach der anderen über den Körper spült und den Geist immer weiter in einen unendlich erscheinenden Raum entlässt. Es ist ein Erlebnis, mit "Ousia" auf Reisen zu gehen. Sollte das bis hierhin noch nicht klar geworden sein, möchte ich explizit eine Kaufempfehlung für dieses kleine Wunderwerk aussprechen. 

Nun sind wir im Jahr 2022 und ich bin hocherfreut, endlich über den Nachfolger "Terrain" schreiben zu dürfen. "Terrain" erschien Ende Oktober des letzten Jahres und fiel damit genau in jene Zeit, in der sich der Gesundheitszustand unseres Hunds Fabbi immer weiter verschlechterte, und ich für eine Weile praktisch aufhörte, Musik zu hören. Ich war emotional so ausgelaugt, so stumpf und leer, dass Stille das einzige zu sein schien, womit ich noch halbwegs umgehen konnte. Die Auseinandersetzung mit "Terrain" begann also mit einiger Verzögerung, aber es war in vielen Bereichen das Rettungsseil, mit dessen Hilfe ich mich aus diesem Loch wieder befreien konnte. Das ist auf den ersten Blick nicht selbstverständlich, denn viel Licht ist hier nicht zu finden. Ich sage das, weil ich allzu Abgründigem, Dunklem, Kaltem bekanntermaßen mit einiger Skepsis begegne und es mir oft nicht leicht fällt, einen Zugang zu solchen Sounds zu finden; noch herausfordernder wird es, wenn ich selbst seelisch angeknackst bin. 

Was die Beschäftigung mit "Terrain" indes so lohnenswert macht, ist die Wahrnehmung des Raums, den es kreiert und die Gegensätze, die aus unterschiedlichen Perspektiven entstehen. Wo "Ousia" den Lebensmittelpunkt in flüssigem, bewegten Wasser fand, empfinde ich "Terrain" als erdig, zerklüftet und verwittert. In der Großaufnahme wirkt es, als würden Kontinentalplatten sich im Zeitraffer grob übereinanderschieben und sich verkanten, ausgelöst und angetrieben von einem sonoren, mächtigen Bassdröhnen, der sich wie ein endlos ausklingender Pulsschlag in der Erdatmosphäre ausbreitet. Ein bedrohliches Szenario, weil jeder Versuch der Kontrolle unter gigantischen Massiven bedeckt wird. Das Makro-Panorama, das "Terrain" in der Folge auffächert, löst diese Gefahr wieder auf und lässt im Kontext mit dieser unnachgiebigen Kraft eher ein Gefühl der Ergebenheit entstehen und entschlüsselt damit auch den nächsten Raum dieses Albums: Die Vertiefung.

"Terrain" entwickelt einen erheblichen Sog ins Innere, bis in die winzigsten Verästelungen von Raum und Zeit. Es durchdringt Materie und öffnet die Brennweite bis in unterste Schichten, vergrößert Strukturen und macht sie sichtbar. Insofern trügt der erwähnte erste Eindruck, hier sei kein Licht. Wir erleben eher ein Wechselspiel der Blickwinkel und der sich daraus ergebenen Gegensätze von Licht und Schatten. Je tiefer und kraftvoller uns die Strömung mitreißt, desto deutlicher - und heller - wird das Terrain in uns. 


Vinyl: Das beeindruckende Coverartwork von Markus Guentner unterstützt den "erdigen" Charakter von "Terrain" perfekt. Ungefütterte Innenhülle, kein Bandcamp Downloadcode. Die Pressung ist einwandfrei. (++++)

 


Erschienen auf Affin Records, 2022. 

24.07.2021

Sonst noch was, 2020?! (14) - Tomas Jirku - Touching The Sublime




TOMAS JIRKU - TOUCHING THE SUBLIME

Ich hatte "Touching The Sublime" schon mal flüchtig in meinem Text zu "Still" von Night Sea erwähnt, immerhin meiner Nummer 1 des Jahres 2020, nur nochmal zur Erinnerung; und dieses flüchtige "auch ein sehr gutes Album" als Kommentar zu Tomas Jirkus erstem Album seit zehn Jahren war eindeutig ZU flüchtig. Es lohnt sich, etwas ausführlicher über dieses Album zu sprechen - und sei es nur deswegen, weil mir manchmal die Worte zu fehlen scheinen. Zum einen ist "Touching The Sublime" zumindest musikalisch kein typisches Silent Season-Album, und es hat den Anschein, als würde sich das Label grundsätzlich in eine etwas unberechenbarere Richtung entwickeln: weg vom naturalistischen Dubtechno, hin zu abstrakterem, herausforderndem Ambient. Auch die beiden in diesem Jahr auf Silent Season erschienenen Alben "Infinite Horizon" von Owl und Daars "Entire" verstärken diesen Eindruck. 

Zum anderen ist es nicht einfach, sich in "Touching The Sublime" reinzufuchsen. Es wirkt kalt, schroff, dürr, distanziert, fast abweisend - und das bei einem Opener, der "A Warm Place" heißt. Die Sounds so klobig und gewaltig wie ein jahrtausendealtes Felsmassiv, ein bisweilen unbehaglich tiefes Dröhnen, das klingt, als würden sich zwei Lithosphärenplatten unsittlich aneinander reiben. Zudem ist Jirkus Musik in kontinuierlicher Bewegung. Sie ist rastlos, gräbt sich immer tiefer in seine einzelnen Schichten ein, selbst in die, die unter dem eigentlichen Ton liegen. Das ist der Grund warum fast jeder, der "Touching The Sublime" gehört hat, darauf besteht, es unter Kopfhörern zu erfahren, zu fühlen, zu entdecken. Ein sehr eindringliches, immersives Erlebnis. 

Food for your mind, heart and soul.

   


Erschienen auf Silent Season, 2020.


03.02.2021

Best Of 2020 ° Platz 18 ° The Vision Reels - Eyes Open



THE VISION REELS - EYES OPEN

The planet is fine.
The people are fucked. 
(George Carlin)


2020 hätte viel verdient gehabt, zum Beispiel eine vorbehaltlose und uneingeschränkte Selbstauflösung ab sagen wir mal April. Darüber hinaus: eine eigene Digital-Best Of-Liste. Ich habe noch nie soviel digitale Musik gekauft und gehört wie 2020 auf Bandcamp, und die ab März regelmäßig durchgeführten sogenannten Bandcamp-Fridays zur Unterstützung der von Corona und der daraus resultierenden Komplettabschaltung jedes Kulturbetriebs ordentlich durchgeschüttelten Künstler und Labels, haben daran sicherlich einen sehr großen Anteil gehabt. "Eyes Open" von The Vision Reels (aka Adam O'Hara, u.a. Gründer von Groundwork Recordings) rutschte in letzter Minute in meine Top 20, und ist damit auch das einzige Album meines kleinen Countdowns, das nur im digitalen Format verfügbar ist. Das ist ungewöhnlich, weil ich eigentlich vorhatte, solche Formate künftig nicht mehr in Betracht zu ziehen; man sieht mir meine Quatschhaltung in dieser Sache bitte nach. Mein musikalisches Leben und die daran angebundenen Lebenslinien drehen sich nun mal in erster Linie um Schallplatten als künstlerisches Ausdrucksmittel, daher geht es in mir in erster Linie um die Abbildung ebenjener. Manchmal komme ich aber trotz solch prätentiöser Totalverbretterung nicht drum herum - wie eben bei und für "Eyes Open". 

Ich weiß praktisch nichts über Adam O'Hara oder dieses Album. Es war ein ziemlicher Zufallstreffer auf Bandcamp, vermutlich stolperte stöberte ich durch eine Sammlung eines anderes Nutzers und wurde vom tollen, an Astral Industries-Artworks angelehnten Cover (Dima Rabik) angezogen. Und Anziehung ist das Schlüsselwort für "Eyes Open". Ganz egal, wie viel mir wegen Lohnarbeit, Haustier, Corona und geradezu Tonnen anderer Musik um die Ohren flog, kam ich immer wieder zurück zum sanften, nächtlichen Puls dieses Albums. Über den Lichtern der Stadt, leise und elegant fließend, und ein Timing mit beinahe sedierender Wirkung - wenn das Ketamin mal wieder mit (benutztem) Katzenstreu und Palmin gestreckt wurde, programmiert man den Player einfach auf 72 Stunden Endlosschleife und lässt die Nachbarn sich darüber wundern, warum seit Freitagabend die Rollläden nicht hochgezogen wurden. 

O'Hara wählt für sein Debut unter dem Projekt The Vision Reels einen sehr aufgeschlossenen Ansatz, der glücklicherweise keine Gefühlsduselei benötigt. Ich empfinde "Eyes Open" als durchaus emotional, introspektiv, manchmal in der bildhaften Darstellung von objektiver Schönheit geradezu betörend, insbesondere zu hören beim funkelnden Titeltrack, bleibt dabei aber erstaunlich zurückgezogen, ja fast nüchtern. Nicht freudlos, nicht akademisch, aber distinguiert und abseitig genug, um selbst für die Momente einer stärker ausgeprägten Zugänglichkeit in den Tracks "Chrysanthemum", einem tief pochenden Unterwasser-Star-Ride und dem urban glitzernden "Sacred Architect" der Hood mitzuteilen, dass der Sepiafilter zum Sonnenuntergang auf Ibiza weder angebracht noch erwünscht ist. 

Besser Rollläden runter und einsam im Licht der Lavalampe wegdämmern. Leben 2020 FTW.




   



Erschienen auf Kizen Records, 2020.


30.01.2021

Best Of 2020 ° Platz 19 ° Leandro Fresco & Rafael Anton Irisarri - Una Presencia En La Brisa

 



LEANDRO FRESCO & RAFAEL ANTON IRISARRI - UNA PRESENCIA EN LA BRISA

I’ve become so used to darkness
I’m surprised to see the light
(GOLD)


Das erste Gefühl ist Traurigkeit. Die schwer herunter hängenden, grauen Schleier sind wie aus Beton, die grobe, aufgeraute Oberfläche kalt und schroff. Die Schultern schmerzen, es ist kaum Kraft übrig, um den Kopf oben zu halten. Dieses blasse Grundrauschen der Überforderung, der Zersetzung wird zum ständigen Begleiter. Hinter diesen Bildern wehen Fragmente von Melodie, sie wirken beinahe klerikal, als müssten sie Andachtsbilder der christlichen Ikonografie vertonen; Untergangsfantasien der Spätgotik, mit ihrem Licht- und Schattenspiel und der neuen Körperlichkeit, den Gesichtern, der Mimik. 

Wie viel Kontemplation in dieser Musik steckt wird deutlich, wenn der mehrdimensionale Raum sich entfaltet und die Ebenen unter dieser staubigen Schicht der Tristesse offenlegt. Ein Prozess der Tage, Wochen, Monate dauern kann, sich leise, beinahe unbemerkt in den Geist schleicht, die Wahrnehmung manipuliert, sie umkehrt, sie erweitert. Wenn die funkelnden Lichtbündel ihre Perspektive wechseln und tiefer scheinen, sich einschwingen. 

Ich hatte nach Monaten der Auseinandersetzung mit "Una Presencia En La Brisa" das Gefühl, als würde diese Musik kontinuierlich in meinem Empfindungszentrum arbeiten und stets hatte ich den Eindruck, mit jedem Mal mehr zu hören, zu sehen, zu spüren. Wenn Klang und Vision Trost und Zuversicht schenken und das Leben erklären, ist das Ziel möglicherweise fast erreicht. 


Pressung: Wie gewohnt von A Strangely Isolated Place: flawless. Dafür geht Labelchef/-gründer Ryan allerdings auch durch genau das Feuer des Qualitätsmanagements, das nicht nur viele Presswerke, sondern auch viele andere Labels mittlerweile scheuen. Gemastert von Taylor Deupree. "Mehr habe ich nicht hinzuzufügen."(Polt) (+++++)

Ausstattung: Formvollendetes Art-Design. Artwork, Vinyl, Liner Notes >>> (+++++)


 



Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2020.


01.08.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Stephan Mathieu - A Static Place





STEPHAN MATHIEU - A STATIC PLACE


Immer wenn ich ein Album von Stephan Mathieu auflege, mache ich nichts anderes außer zuzuhören. Ich habe das im letzten Jahrzehnt gelernt. Wobei: eigentlich begann die Schulung bereits 2008 mit dem mittlerweile als Klassiker zu nennenden "Radioland". Der Text, den ich im Sommer des Jahres 2009 in diesen Blog, nunja: erbrach, wird im Rückblick und selbst mit einer großen Portion Stechapfelkuchen mit Crystal Meth-Sahne dieser Platte nicht gerecht, aber er erschien mir damals ganz offensichtlich als angemessen, um die Aura um "Radioland" und ihren Einfluss auf meine Hörgewohnheiten zu beschreiben. Wenn es an eigenen und halbwegs ordnungsgemäßen Erklärungen mangelt, und Herr Zugeknöpft mit seinen Mitstreitern "Kopfkino" und "Klangkathedralen" aus der journalistischen Kleingartenanlage "Wortart Germania e.V." besser das Kartoffelbeet besprechen sollte, als sterbenslangweilige Texte im Internet zu verklappen, rutscht mir eben manchmal das Vokabelheft von Dr.Bizarro aus der Schreibmaschine. Immerhin: hier bin ich Chef, hier kann ich sein. 




Was nach all dem übrig bleibt und bleiben sollte: hört diesem Mann zu. 

"A Static Place" ist exakt eines nicht: statisch. Die Räume, Ebenen und Perspektiven, die Mathieu hier wie von Geisterhand zum Sein erweckt, wechseln beinahe sekündlich - und trotz dieser vermeintlichen Volatilität entwickelt sich jedes einzelne Bild in Echtzeit in einem formvollendeten Design. Es scheint fast, als dirigiere Mathieu diese ätherischen Partikelströme aus Klang lediglich mit der Kraft seiner Gedanken und Emotionen, er channelt Farbe und Bewegung, gräbt sich immer tiefer bis in die letzten dunklen Winkel ein, um auch sie mit Licht und Energie zu fluten. Das Bild ist weise gewählt: als Hörer habe ich den Eindruck, als könne ich alle Dimensionen dieser Musik erleben, jede Schwingung spüren, jeden Kontext aus einem Universum von Möglichkeiten erkennen und umgehend in eine Realität einsortieren. Jeder Ton wird Materie, funkelnd, mehrdimensional, mystisch, perfekt. Ich kenne keinen anderen Musiker, der Klang so unmittelbar erfahrbar werden lässt. 

"A Static Place" ist eines der betörendsten Alben des Jahrzehnts. 




Erschienen auf 12k, 2011. 

28.03.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Brock Van Wey - Home





BROCK VAN WEY - HOME


Hier hätte zunächst das Album stehen sollen, das meinen Einstieg in die Welt Brock van Weys markierte und die Stimmung des vergangenen Jahrzehnts im Erleben meiner Realität, der musikalischen zumal, so stark prägen sollte, wie sonst nichts anderes. "The Art Of Dying Alone", unter seinem hauptsächlich verwendeten Alias bvdub erschienen, verdrehte mir Herz und Kopf gleichermaßen und war dafür verantwortlich, in den kommenden knapp neun Jahren nicht weniger als 30 (!) Titel des Kaliforniers käuflich zu erwerben. 

Die Wahl auf das 2011 erschienene Album wäre also eine leichte gewesen. Weil leicht aber auch ziemlich langweilig ist, entschied ich mich für das unter seinem bürgerlichen Namen erschienene Mammutwerk "Home" und zitiere den Mann, der die Ehre hatte, diesen über 150 Minuten andauernden, mich förmlich gegen die Wand drückenden Emotionsorkan zu mastern. 

Liebe Freunde, Stephen Hitchell (Echospace): 

"The best work I've ever heard from Brock. This was the hardest mastering job I've ever done, it took months and months, I had tears in my eyes through the entire process, the emotion felt here is unlike anything I've heard before. If this doesn't capture the heart and souls of people, well, I don't know what will." 

Und was Hitchell hier angestellt hat, ist in der Bewertung von Home nicht zu vernachlässigen; "Home" als ausufernd zu bezeichnen, wäre eine oder hundert Nummern zu klein, und das liegt nicht nur an der Epik und Dramatik, die einem Brock van Wey sowieso schon aus jeder Pore kommen. Hitchell hat vor allem in den monumental inszenierten und manchmal über 15 Minuten durch Seele und Geist stürmenden Höhepunkten der Tracks wirklich alles aufgedreht, was es aufzudrehen gab. 

Mehr Weite und Drang war nie. 

Mehr Katharsis, Reinigung, Bewusstheit und Heilung war nie. 




Erschienen auf Echospace, 2014.

06.02.2020

Best Of 2019 ° Platz 2 ° Purl - Violante (Lost In a Dream)




PURL - VIOLANTE (LOST IN A DREAM)


Es ist mittlerweile nahezu unmöglich, den musikalischen Spuren Ludvig Cimbrelius' zu folgen. Alleine die Supernerds von Discogs listen neun Aliasse des Schweden auf - und alle haben zig Veröffentlichungen über das vergangene Jahrzehnt auf unterschiedlichen Labels vorzuweisen. Wer soll da noch durchblicken? Und wer soll das alles hören?

Manchmal, wenn die Herzallerliebste und ich uns früh morgens zum ersten gemeinsamen K&K (Kaffee & Kuscheln) trafen, bevor die Welt da draußen Fahrt aufnahm und die mich bisweilen an den Rand mentaler und emotionaler Robustheit bringende Lohnarbeit nach mir rief, wenn also alles friedlich, alles nur Liebe, Glück und Freude darüber war, gemeinsam durch dieses verrückte Leben gehen zu dürfen, und "Violante (Lost In A Dream)" sich auf dem Plattenteller drehte, während wir das stimmungsvolle Coverartwork anschauten, dann dachte ich oft: eigentlich muss ich nie wieder etwas anderes hören. Alles, was ich bin, was ich fühle, was ich will, woher ich komme und wohin ich gehe, finde ich in dieser Musik. 

Details, die für neun Leben reichen. 

Tiefe bis zum Kontrollverlust. 

Schönheit, die zu Tränen rührt. 


Ludvig, you're a fucking wizard. 



Erchienen auf Archives, 2019.

30.12.2019

Best Of 2019 ° Platz 19 ° Araceae - Resonance Of The Absolute




ARACEAE - RESONANCE OF THE ABSOLUTE


Die Sache mit Dub Techno ist und bleibt eine Schwierige. Im Trend liegt das Genre nicht (mehr) wirklich; ich habe eher das Gefühl, dass es sich nur noch um eine relativ kleine, dafür eingeschworene Community handelt, die diesen Sound sowohl produziert als auch immer noch hört. Teil des Problems ist die überschaubare Anzahl jener Produzenten, die einen Ausweg aus dem Dilemma des straffen stilistischen Korsetts suchen und sich um Weiterentwicklung bemühen. Araceae geht sicher nicht so weit wie beispielsweise das belgische Duo Wanderwelle, dafür lässt die auf "Resonance Of The Absolute" präsentierte Bandbreite mein Herz höher schlagen: Ambient, Drone, Field Recordings und Modern Classical/Minimal mischt sich mit naturnahem, rauem und urwüchsigem Dub Techno wie im Highlight "Rocky Shore". Über ein Jahr hat Ryan Malony an diesem Album gearbeitet, das Archves-Sublabel Faint hat es auf Tape, CD und Digital veröffentlicht (leider kein Vinyl). Ein mit viel Liebe zum Detail und einem exzellenten Gespür für dramaturgische Texturen zusammengestelltes Werk.  



Erschienen auf Faint, 2019.

25.03.2018

Best of 2017 ° Platz 4: bvdub - Heartless



Platz 4: bvdub - Heartless



Der geneigte Leser weiß, dass ich über keinen anderen Künstler und keine andere Band so häufig geschrieben habe wie über den mittlerweile in Polen lebenden Brock van Wey. Das liegt nicht zwangsläufig nur an der Quantität seines Werks - "Heartless" ist das sage und schreibe 29.Album innerhalb von zehn Jahren - sondern an dem überwältigenden Einfluss seiner Musik auf mein Leben. Neulich, als die Vinylfreaks des Bildchen-Portals Instagram die neun Alben ins rechte Licht setzten, die ihr aller Leben veränderten, und Herr Dreikommaviernull also natürlich mitmachen musste, weil: why not?, da war es selbst für einen, der sich für solche Entscheidungen unter normalen Umständen erst mal ein halbes Jahr mit seiner Excel-Datenbank in einen unterirdisch gelegenen Höllenbunker ohne ausreichende Sauerstoffversorgung quetschen muss, überraschend schnell und streifenfrei klar, dass meine erste Berührung mit seinem Werk, dem 2010 erschienenen "The Art Of Dying Alone" als vorerst letzte musikalische Revolution in die Riege der schlechterdings sogenannten "Gamechanger" aufgenommen werden muss - obwohl dieser zu monumentalen Klanggebirgen aufgeschichtete Ambientsound zur damaligen Zeit zunächst undurchdringbar erschien. Zu sehr versuchte die Ratio zu verstehen, was hier passiert; zu schwer fiel es, sich von diesem Klumpen final wegkegeln zu lassen. Kontrollverlust. Beziehungsweise: die Angst davor. Erst im Laufe der der letzten sieben Jahre ging mir mehr und mehr das Licht auf - ich habe es mehr als nur einmal geschrieben und auch wenn's kitschig und abgehoben und naiv klingt: es ist Liebe. Es ist die reinste, aufrichtigste, ehrlichste, reichste Liebe. Der Kopf hat hier nichts verloren - es ist nur das Herz, das springt, trauert, leidet - und eben liebt. Brock van Wey, der von sich selbst sagt, dass er eigentlich nächtelang ausschließlich Videospiele spielt, wenn er mal gerade keine Musik macht, vertont Liebe. "Heartless", die erste Albumveröffentlichung Brocks auf Vinyl unter seinem bvdub Alias, steht in einer Reihe mit seinen großen Klassikern "Home", "The Art Of Dying Alone" und "Safety In A Number". Ein einziger Rausch.





Erschienen auf n5MD, 2017.

17.09.2017

November



SOLO ANDATA - IN THE LENS


Einer der härtesten Kämpfe, die ich Ende des vergangenen Jahres mit mir ausfechten musste, war die Entscheidung, "In The Lens" der australischen Band Solo Andata aus der Bestenliste 2016 herausplumpsen zu lassen, und wie so häufig schmerzt die über Tage und Wochen hin-, her- und aufgeschobene und also schlussendlich getroffene Wahl schon zweieinhalb Sekunden später. Wenn ich im Rahmen der Texte zu Purls "Form Is Emptiness" oder Warmths "Essay" davon schrieb, ganze Wochenenden mit diesen Platten verbracht zu haben und die Stopptaste nur zum Schlafen drückte, dann gilt ähnliches auch für dieses Album.

"In The Lens", erschienen auf dem beliebten 12k Label des Ambientmusikers Taylor Deupree, ist indes nicht so offensiv ohrenschmeichelnd wie die beiden genannten Werke aus dem Archives-Labelstall. Das Duo Kane Ikin und Paul Fiocco achtet stets darauf, sich nicht ausschließlich in der auralen Komfortzone aufzuhalten. Das beginnt schon bei der ungewöhnlichen Auswahl der Instrumente, die vor allem dann gerne zum Einsatz kommen, wenn sie bereits kurz vor dem Auseinanderfallen sind und endet (nicht) bei der bewussten Entscheidung für den Einsatz billiger Mikrofone. Zusammen mit vergessenen und verloren geglaubten Archivaufnahmen und krisseligen Field Recordings ist "In The Lens" charmant angeranzt und gibt sein Statement mit viel Natürlichkeit ab, mit einer Besinnung auf Ursprüngliches und Echtes. 

Es hat seine Zeit benötigt, um mich auf diesen Lo-Fi Ansatz einzulassen und die kristalline Schönheit zu erkennen, die in ihm steckt - eine Schönheit, die sich in Kombination zwischen den nur kurz aufflackernden, sich aus zunächst beliebig erscheinenden getupften Clicks'n'Glitches herauswürmelnden Melodien und einer romantischen Stimmung von frisch gefallenen Herbstlaub auf von Nebel bedeckten Feldwegen zeigt. 

"In The Lens" ist eines jener durchaus seltenen Ambientwerke, die es zulassen, erkundet werden zu wollen - manchmal auch im Tausch mit dem Risiko, über die Klippe zu springen, bevor das ganze Puzzle zusammengesetzt wurde. Wer sich allerdings auf die Suche begibt und kein Gedanke ans Aufgeben verschwendet, wird mit einer reichen, kunstvollen Musik belohnt, die die Lebensfarben wie ein Prisma zunächst zu bündeln und anschließend aufzufächern vermag. 

Und die aus meinem Leben nicht mehr wegzudenken ist. 




Erschienen auf 12k, 2016.


17.04.2017

2016 ° Platz 3 ° Warmth - Essay



Das ist der "Binge-Listening"-Gewinner des vergangenen Jahres. Und das will was heißen, habe ich doch schon ausführlich und also beinahe redundant davon berichtet, wie ausgiebig und pausenlos die letztjährigen Werke von Purl und Halftribe im CD-Wechsler angesteuert wurden. "Essay" hat sie dennoch alle in die Schranken verwiesen. Die Herzallerliebste betont an dieser Stelle die stark ausgeprägte Qualität samt Neigung des Albums, den Zuhörer sanft und schwebend ins Reich der Träume zu begleiten, immerhin sanfter und schwebender als alles andere aus dem Jahr 2016. Sagt sie. Und sie hat, wie praktisch immer: recht.

"Essay" ist, bricht man es auf den eigentlichen Ton herunter, ein Fluss in totaler Ruhe und Kontrolle. Vom Grundrezept der im Hintergrund aufgezogenen Weitläufigkeit mit opulenten, tiefgehenden Soundscapes und hellblau darüber getupften Klangseifenblasen, die majestätisch durch die Szenerie segeln, weicht das Debut des spanischen Produzenten Agustin Mena nur selten ab. Im Ergebnis funkelt "Essay" fast gläsern, wie grob aufs Papier gebrachte Wasserfarbenkacheln, die am Rand nicht scharf begrenzt sind, sondern in Zeitlupe ins Außen strömen. Einnehmend, ausbreitend, übergreifend. 

Im Grunde ist das in der Machart nicht so irre weit von den Epen eines Brock van Weys entfernt, aber, und das ist womöglich das Geheimnis dieser Platte, Warmth lässt die Dramatik, die emotionalen Abstürze, das Zitten und Beben vor der Tür. "Essay" wirkt bei aller Tiefe und klanglicher Komplexität nüchtern, in seiner vornehmen und stolzen Elegantia fast schon stoisch. Wie ein Leuchtturm auf offener See, der das wachende und vor allem ruhende Auge im Zeichen der Stürme und der Unordnung ist. Unbeugsam und unkompromittierbar, dafür aber auch ein Retter und Tröster.

Musik, die die Welt gesehen und erlebt hat. Öffnet Geist und Herz. 

Hier. Für Dich. Und nur für Dich.




Erschienen auf Archives, 2016.


03.03.2017

2016 ° Platz 9 ° Halftribe - Luxia




Was auch immer das spanische Label Archives im vergangenen Jahr anpackte und also veröffentlichte, es gehörte in meinem  Rückspiegel für 2016 zu den bemerkenswertesten Alben des Jahres. Das beginnt bei der Gestaltung der in limitierter Stückzahl - man spricht von etwa 100 Exemplaren pro Titel - angebotenen CDs mit viel ästhetischem Stilempfinden auf die Musik und deren Aussage abgestimmten Artworks, wunderbaren Naturfotos von Wäldern, Pflanzen, Flüssen und Küsten und endet (noch lange nicht) bei der Musik von über die ganze Welt verstreut arbeitenden Künstlern.

Der letztjährige sich in meiner linken Herzkammer abspielende und möglicherweise finale Siegeszug des Ambient wurde nicht zuletzt von Archives im Allgemeinen und "Luxia" im Speziellen angeführt. Manchmal wartet man ja nur auf sowas - diesen einen Moment, der Ohren, Augen und Hosen öffnet und der neue Inspirationen aufsaugt wie ein von jahrelanger Dürre ausgetrockneter kalifornischer Waldboden einen unverhofften Regenguss. Zumindest, wenn die Umstände mitspielen, Set & Setting, und bei mir spielten sie mit. Trotzdem kann ich in diesem Rahmen und bei aller in überdurchschnittlichem Ausmaß vorhandener Selbstreflektion letzten Endes nur spekulieren, warum ich speziell im vergangenen Jahr so oft nur ein leises Säuseln, ein zaghaftes Rascheln, ein friedliches Vogelgezwitscher hören konnte und wollte: mein Geist schrie nach Ruhe. So viel Unruhe, so viel drohender Kontrollverlust, so viel gefühlte Überforderung - da lass' ich mich doch nicht in meiner Freizeit von einem kalten, langhaarigen Stahlbolzen anbrüllen. Oder mir von einem britischen Hipster Saufgeschichten in breitem Cockney-Slang ins Ohr näseln. Oder einer zu lauten Bassdrum aus Technohausen zu viel Aufmerksamkeit schenken.

Ich will ein bisschen Frieden. Eine weiße Gitarre. Und langes, wallendes, mit Timotei auf einer schweizerischen Alm und mit bestem Bergwasser gewaschenes Haar, aus dem sich Ralf Siegel eine Pumuperücke stricken kann. 

"Luxia" ist ruhig und beruhigend und lief an so manchem Wochenende über Stunden in Endlosschleife. Angedubbtes, warm gebürstetes Klanggold, das sich um den Nukleus aus weit aufgefächerten Soundscapes wickelt und mit vereinzelten Pianotupfern Struktur im luziden Raum gibt. Ganz besonders beeindruckend: dieser Hauch von intellektueller Kühle und Klarheit in einer ansonsten sehr intimen und weichgezeichneten Umgebung. "Luxia" benötigt keine Rettung aus dem Kitsch, aber es ist gut, ein wenig angedeutete Schärfe zu spüren. Macht klar im Kopf. Befreit den Geist. Macht Spaß zu Hören. 





Erschienen auf Archives, 2016.

04.02.2017

2016 ° Platz 13 ° Bvdub - Yours Are Stories Of Sadness




"Yours Are Stories Of Sadness" ist ein hochverdichtetes Konzentrat aus dem bisherigen Schaffen des Kaliforniers Brock van Wey. Waren seine Alben aus den vergangenen Jahren meist bis auf die letzte Sekunde mit epischen, jeweils zwanzig bis dreißig Minuten dauernden Ambient-Operetten vollgepackt, in denen er seine - und wenn er schon dabei war: Deine auch! - Gefühlswelten ausbreitete und in diesem Rahmen jeden Augenblick mit überschäumenden Melancholiefontänen bis zum beinahe physisch erfahrbaren Zusammenbruch auskostete, ist das im Oktober 2016 erschienene Werk ein Bruch mit dieser Tradition. Zwar reizt "Yours Are Stories Of Sadness" mit einer Spielzeit von über 78 Minuten das alte CD-Format noch fast bis zum letzten Byte aus, benötigt dafür aber nicht weniger als 19 Tracks. Den Hintergrund für das Konzept beschreibt Brock so:

"In 2012, I was singing karaoke in the lavish VIP suite of the most opulent bar of Shaoxing. Hours in, at the height of drunken revelry, suddenly, literally out of nowhere, one of the hired girls walked over to me from the other end of the room, and whispered in my ear: 

"When I saw you walk in, I knew yours was a story of sadness." 

These are flashes of memories from that time... broken fragments, and spaces in-between... each a portrait of instances I have remembered that moment, each its own place and time. Every time I remembered that moment in the years that followed, I made a brief tribute to the beginnings of that realization, and the starting point for my mental wanderings that followed... putting that initial realization to sound, before going the rest of the journey in my own head.(...)

4 years later, these were the 19 times I remembered that moment... they will surely not be the last."

Es ist ungewohnt, diesen sonst so passionierten Langstreckenläufer plötzlich auf der Kurzstrecke zu begleiten - und das ist weniger eine wertende, als eine emotionale Feststellung. Über sechs Jahre hatte ich mich an ausdauerndes Suhlen im bittersüßen Weltschmerz-Bällebad mit seinen Alben als Soundtrack gewöhnt, nun ist manchmal schon nach dreieinhalb Minuten alles vorbei. Melancholicus interruptus, wie der Schwachkopf Lateiner sagt. Außerdem ist's auch nur die halbe Wahrheit: die typischen Kennzeichen seiner Musik lassen sich sowohl in Aufbau als auch Textur seiner Sounds immer noch dechiffrieren, und selbst in der Melodieführung ist es nicht völlig unmöglich, seine Signatur zu erkennen - der Unterschied zu seinen zwanzigminütigen Brocken ist auch nicht die ausbleibende, sondern die deutlich zügiger ablaufende Entwicklung seiner Motive im Rahmen dieser Tracks. Tatsächlich habe ich nie das Gefühl des Unfertigen oder des Unerfüllten, wohl aber den Eindruck, nicht in explizite Momente dieser Platte komplett eintauchen zu können, und ich vermute nach monatelanger Auseinandersetzung mit diesem Gedanken den Grund dafür in der Zusammenstellung dieser Momentaufnahmen: Brock hat sicher nicht ohne Grund erstmals auf Songtitel verzichtet. Der eigentliche Star des Albums ist das Album als solches, dessen Spannungsbogen weniger innerhalb der vierminütigen Grenzen einzelner musikalischer Mosaiksteinchen, sondern in den kompletten 78 Minuten von "Yours Are Stories Of Sadness" liegt. 

Das Resultat hat schlussendlich Parallelen zu den Ergebnissen seiner gewohnten Arbeitsweise: ich höre "Yours Are Stories Of Sadness" oft in einem Zustand zwischen Schlafen und Wachen, mit den Gedanken auf Weltreise in die eigene Vergangenheit zur Selbstbeobachtung, schwebend, etwa zwei Meter über dem Erdboden.





Erschienen in Eigenregie, 2016.


Noch mehr über "Your Are Stories Of Sadness" lesen? Dann: KLICK!

17.01.2017

2016 ° Platz 16 ° Merrin Karras - Apex




Als hätte Jean-Michel Jarre im Jahr 1978 mit Lachgas und Valium herumexperimentiert, während er im Spiegelsaal die Stroboskopanlage testete: "Apex" ist ein futuristisches Sedativum im Breitbandkinoformat, dramatisch auf die ganz große Bühne gezaubert und bis ins letzte Byte durchchoreografiert.

Die acht experimentellen Kompositionen des Wahlberliners Brendan Gregoriy bilden dabei ein perfektes Bindeglied zwischen der Berliner Schule um Künstler und Pioniere wie beispielsweise Klaus Schulze oder Manuel Göttsching und einem visionären, melodisch versierteren Ambient-Entwurf, dessen Ausprägungen im Sounddesign und in seinen Arrangements sowohl komplexer als auch bildhafter sind. "Apex" baut die Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft.

Und darüber hinaus sieht es mit dem wunderbar gestalteten Coverartwork und den beiden türkisfarbenen Vinylscheiben auch noch ganz ausgezeichnet aus.





Noch mehr über "Apex" lesen? --> Klick!

Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2016.

07.01.2017

2016 ° Platz 19 ° Marsen Jules - Shadows In Time




"Shadows In Time" ist eines der inspirierendsten Alben des Jahres. Ein Spiel mit Raum und Zeit, mit Vergänglichkeit, mit dem Hier und Jetzt. Es ist gleichzeitig ein Versuch, sich der Unendlichkeit zu nähern, indem es die Utopie ihrer Darstellung ankratzt. Die Sichtbarkeit des Unsichtbaren.

Über dreihundert unterschiedliche Versionen existieren von "Shadows In Time", und jede Verschiebung und Veränderung im Millisekundenbereich erschafft ein neues Bild, eine neue Zeit, ein neues Leben. Ein mächtiger Illusionist, der, dem Licht nicht unähnlich, jene Räume auf- und erschließt, deren Existenz vielleicht nur in mathematischen und physikalischen Formeln bestehen, die sich hier aber plötzlich materialisieren - und das in jedem einzelnen Moment. Diese Idee des Ganzen, der Verbundenheit mit dem Kosmos, fesselte mich immer wieder an diese Musik.

Ich schrieb vor wenigen Wochen über "Shadows In Time", dass die Vorstellung der kosmischen Verbundenheit ein befreiender und tröstender Gedanke sei, und die teils über Stunden und in Endlosschleife andauernde Auseinandersetzung mit "Shadows In Time", sei es das bewusste Erleben eines Moments im aktiven Hören oder auch die Gedanken und die Reflektion um das eigene Leben und darüber hinaus, war ganz besonders in den nachdenklichen Stunden eine große Stütze für mich.





Erschienen auf Oktaf, 2016.

25.12.2016

All Hail The Wünschelrute




TARA JANE ONEIL - WHERE SHINE NEW LIGHTS


Das glimmende Räucherstäbchen in meinem Wohnzimmer, der auf das Terassenvordach prasselnde Regen, der in der "Morgenmuffel"-Tasse vor sich hin dampfende Kräutertee, die gelb gefärbten Blätter des kranken Kirschlorbeerbaums, die schamanischen Verbiegungen des Frontallappens: es ist Zeit für "Where Shine New Lights". Ein Album, mit dem sich problemlos ein kompletter verregneter Samstag vor dem Plattenspieler verbringen lässt. Ein subtil arrangiertes, sich um ausgedehnte Melodien würmelndes Werk voller großer Ruhe. Introspektiv wäre eine Untertreibung. Jede Note am richtigen Fleck zur richtigen Zeit. Kilometertiefes Plüschfutter zum ganz tiefen Einsinken in Deine Welt, Deine Gedanken und Deine Liebe.

Tara ist vielen Post- und Noiserock-Aficionados älteren Semesters möglicherweise noch aus ihrer Zeit mit Rodan bekannt, einer in kleinem Rahmen durchaus einflussreichen, wenngleich weitgehend obskur gebliebenen Band, die sich nach dem ersten und einzigen Album "Rusty" aus dem Jahr 1994 auflöste und stilistisch zwischen Slint, frühen Tarentel und June Of '44 agierte. Seitdem ist die Multiinstrumentalistin weit gereist: Konzeptkunst, Malerei, Soloprojekte, Soundtracks, Theater. Sieben Soloalben stehen seit dem im Jahr 2000 erschienenen Soloalbum "Peregrine" auf der Agenda, und "Where Shine New Lights" ist möglicherweise die vollkommenste Verbindung ihrer experimentellen, bisweilen launischen Kunst und ihrem klassischen, in Blues und Folk verwurzelten Singer/Songwriter-Ansatz. 

Besonders eindrücklich sind jene Momente, die das Album urplötzlich als Einheit präsentieren, wenn sich also aus geheimnisvollen Minuten tiefer Pulsschläge, aus ätherischer Weite und dissonanter Gesangsarrangements völlig unverhofft die große Melodie unter der ganz großen Bühne zeigt - ganz kurz, wie ein in Sekundenbruchteilen erhaschtes Blinzeln auf den Reichtum des Grand Canyon: gerade lang genug, um die Ahnung zu füttern, was es hier alles zu Entdecken gibt. Und ebenso lange genug, um zu verstehen, dass diese Ahnung ohne das Vorspiel, die Hinführung durch tiefrot geklöppeltes Buschland nicht möglich gewesen wäre. Herausragende Beispiele hierfür sind "Glow Now" und ganz besonders "Elemental Finding", das es auch unten als Video zu bestaunen gibt: immer wieder durch kurze und intime Instrumentalpassagen unterbrochen, steht am Ende ein zurückgezogener Folkschunkler mit violett pumpender Aura mitten in der Natur, im Innern, im Licht.




Erschienen auf Kranky, 2014.



03.12.2016

Infinity




MARSEN JULES - SHADOWS IN TIME


Das Hubble Extreme Deep Field (XDF) ist ein Bild einer kleinen südlichen Himmelsregion, das entstand, indem Aufnahmen des Hubble-Weltraumteleskops eines Teils aus dem Zentrum des Hubble Ultra Deep Field (HUDF) über einen Zeitraum von zehn Jahren zusammengefügt wurden. Es umfasst Aufnahmen von insgesamt 50 Tagen und einer Gesamtbelichtungszeit von zwei Millionen Sekunden (ca. 23 Tage).



Die Lichtlaufzeit von einigen auf dem Bild zu sehenden Galaxien bis zur Erde beträgt 13,2 Milliarden Jahre, die jüngsten auf dem Bild gezeigten Galaxien sind in einem Stadium lediglich 450 Millionen Jahre nach dem Urknall zu sehen.


One important source of inspiration for “Shadows in Time” was the stunning installation “Series 1024x768” by media artist Johannes Franzen: on a computer screen, all 786,432 pixel continuously change their colour with every second, pursuing the aim of running through all potential possibilities. A simple process that is so complex in itself, that even modern high-performance computer systems cannot capture it and to consequently run through it would last far beyond the existence of our solar system. (Marsen Jules)

"Denn die Maschine braucht, in menschlichen Maßstäben gemessen, unendlich lange, um alle Bilder einmal zu generieren. Daß sich während einer Lebenszeit einmal die Bildpunkte zu einem Bild zusammenfügen, das gegenständlich und wiedererkennbar ist (und daß in dem Moment, wenn es erscheint, jemand anwesend ist, der es sieht), ist sehr unwahrscheinlich. Die meisten Bilder, die entstehen, sind völlig abstrakt, eine vielfarbige Kombination aus Punkten, in der man allenfalls ein Überwiegen bestimmter Farbbtöne oder eine nebelhafte Konzentration von 
Farben an bestimmten Stellen wahrnehmen kann.

Die Schönheit der Maschine liegt in ihrem utopischen Potential. Alle möglichen Bilder sind in ihr enthalten und könnten theoretisch im nächsten Augenblick erscheinen. Das bedeutet z. B. alle Bilder die man während einer Zugfahrt aus dem Abteilfenster fotografieren könnte. Oder jede Seite eines Textes, der je geschrieben wurde und geschrieben werden wird. Oder die Reproduktionen aller Gemälde, die je gemalt wurden. Und die Kombination aus alledem. Und doch handelt es sich um eine endliche Zahl von Bildern."




"Shadows In Times" ist der Versuch, die Einmaligkeit zu begreifen. Die Zeit als mehrdimensionales Chaos. Raum und Zeit erleben. Überhaupt: Leben. In Echtzeit in die Vergangenheit schauen. Alles erscheint ausschließlich im Auge des Betrachters. Was macht das mit unserer Vorstellung von Realität? Unserer Idee von Zeit? Unserem Leben? Ist damit nicht wirklich alles Eins? 

Für mich ist das ein sehr befreiender und tröstender Gedanke.




Erschienen auf Oktaf, 2016.


12.11.2016

Klasse M Planet



MERRIN KARRAS - APEX


A Strangey Isolated Place kam mir erstaunlicherweise erst in diesem Jahr so richtig aufs Radar, dafür dann aber durch die Alben von Markus Guentner, Arovane & Hior Chronik und der Zusammenstellung zum Tod des Produzenten Parks mit deutlich zu vernehmendem Nachhall. Das 2008 in England gegründete und mittlerweile nach Nordamerika umgesiedelte Label kümmert sich in erster Linie um Arbeiten aus dem Ambient- und Elektronikspielgarten und hat sich, ähnlich wie beispielsweise Constellation Records für den Postrock, zu einer richtigen Community entwickelt. 

Das Debutalbum von Merrin Karras ist dabei das Werk eines alten Hasen: Brendan Gregoriy, usprünglich aus Irland stammend, aber seit einigen Jahren in Berlin zu Hause, ist in erster Linie und seit gut 15 Jahren unter dem Künstlernamen Chymera im Techno- und House-Umfeld bekannt und hat sich nach einer zähen und aufreibenden Albumproduktion für sein Hauptmoniker mit "Apex" neu ausgerichtet und erstmals ein Ambientalbum veröffentlicht. 

"Apex" ist futuristischer Sci-Fi-Ambient mit kosmischen Synthiesounds, offensichtlich auch unter dem Einfluss von Michael Lopatins Oneohtrix Point Never und, na logo: Klaus Schulze entstanden, mit viel Weite und Raum und einem freien Blick auf den Sternenhimmel. Cineastische Dramatik im Breitbandformat wie in "Elevate", dazu harmonische Schwergewichte wie "Void", Geglitzer für Mondanbeter im abschließenden "Isolation" und weitläufige Verschachtelungen wie im Titelsong machen "Apex" zu einer introvertierten Schönheit im Alufolienkostümchen, manchmal mit zarten Flashbacks an die große Zeit der beiden Schotten von Boards Of Canada wie etwa in "The Veldt". 

Brendan sagt: “I wanted to make something that I could listen to when I travel, something I could enjoy just for what it was." - und ich habe für Euch beides getestet: bei nächtlichen Autofahrten wurde ich alleine wegen des konzentrierten Zuhörens praktisch automatisch zu einer Kapazität auf dem Gebiet der Astrophysik - auch, weil ich es hingenommen habe, wie es ist: eine hochinteressante, tadellos visionäre, komplexe und sehr bildhafte Musik. 




Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2016.

05.11.2016

Devil In The Details




BVDUB - YOURS ARE STORIES OF SADNESS


Es gibt ein neues Album von Brock van Wey alias BVDUB, veröffentlicht vor wenigen Wochen via Bandcamp und dort als Download verfügbar. 

"Yours Are Stories Of Sadness" ist ein bemerkenswertes Stück Musik und ich verstehe jeden, der nun das Lesen dieses Artikels abbricht, denn "das schreibt der doch immer über BVDUB." Das stimmt. Es gibt nur ganz wenige Werke aus den letzten fünf Jahren, seitdem ich ihn mit "The Art Of Dying Alone" für mich entdeckte, die ich nicht mit den überkandideltsten Verehrungen versah, und jeder noch so redundante Kniefall vor seiner Musik war und ist immer aufrichtig und ehrlich. 

Der unvermeidbare Disclaimer: Ich bin nicht gekauft, und ich habe auch keine Verpflichtungen. Ich bekomme nichts geschenkt und nichts vergünstigt. Ist natürlich totaler Vollquatsch, das hier zu erwähnen - ein nerdiger Kunterbunt-Musikblog im Jahr 2016 interessiert ja im Prinzip keinen müden Arsch mehr. Aber mir ist's trotzdem wichtig. Get over it. 

Das einzige, was mich in dieser Hinsicht selbst von Zeit zu Zeit überrascht: es ist bekannt, dass mir relativ schnell ziemlich langweilig wird, und nicht wenige Musiker und Bands können in so fern ein Liedchen davon singen, als dass ihre Alben spätestens nach der zweiten Wiederholung nicht mehr den Weg in mein Plattenregal finden. Es gibt Ausnahmen, aber die sind selten. Brock van Weys Musik ist eine solche Ausnahme, obwohl die Veränderungen in seiner Musik über die letzten fünf Jahre, immerhin vollgepackt mit im Schnitt etwa vier Alben pro Jahr, nur mit gewisser Anstrengung wahrnehmbar waren. 

Aber es ist etwas in seiner Kunst, das mich tief berührt. Ich kann das nicht genau beschreiben (wenngleich ich es schon oft versucht habe). Es fühlt sich nach Heimat, Wärme, Verständnis und Liebe an; wohlwissend, dass Abstraktion uns hier nicht weiter hilft - mir bisweilen aber schon. Ryan Griffin von Elektronik- und Ambientlabel A Strangely Isolated Place beschreibt es auf seinem Blog wie folgt:

"His tracks are often intense and emotional, yet placed for positions of quiet and personal listening. Finding the right moment to listen to bvdub is one of the reasons I don't listen to his albums more - they become destined for very special occasions, intense emotional places, and I think that's why he manages to connect with so many people on a much deeper level than most. You don't listen to one track of his, you listen to an entire album, and you're his companion in time of need, stress, celebration or reflection. Be it a close death, a friendship, or in this instance, fragmented memories, Brock is brilliant at painting these vivid emotions."

Was ich eigentlich sagen wollte: "Yours Are Stories Of Sadness" ist anders - und das nicht nur, weil seine 19 Songs bei einer Spielzeit von 78 Minuten im Schnitt nur noch viereinhalb, und nicht wie gewohnt zwölf Minuten lang sind. "Yours Are Stories Of Sadness" ist ein zusammengeschnurrtes Emotionsdestillat von BVDUB, mit ungewöhnlichen Sounds und Arrangements. Ich kann nicht sagen, das Ergebnis sei fokussierter als sein vorangegangenes Oevre, aber es hat zweifellos eine andere Stimmung, ein anderes Licht. Ich weiß noch nicht, ob es mich emotional so mitnimmt wie beispielsweise "Tanto" oder "The Truth Hurts" - dass mich das Album trotzdem fast schon magisch anzieht, und ich es immer wieder hören muss, ist eine Beobachtung, die ich mit Euch teilen möchte. 





Erschienen in Eigenregie, 2016.

09.10.2016

Ist dieses Klischee glutenfrei?




INFINITY WINDOW - ARTIFICIAL MIDNIGHT


Eine jener Platten, über die ich seit mehreren Jahren schreiben will, und es trotz aller guten Vorsätze nie geschafft habe - sie ist damit nicht alleine, aber es ist eines jener Alben, das sehr prominent auf der im Schädel zusammengekritzelten Liste steht, weil ich es so überragend gut finde. In dieser Rubrik ebenfalls ganz weit vorne ist "Miles Away" von The Last Electro-Acoustic Space Jazz & Percussion Ensemble (hinter dem übrigens Hip Hop-Tausendsassa Madlib steckt) - eine meiner absoluten Lieblingsjazzplatten, wichtig, toll, richtig groß, aber ein Textlein darüber ist hier immer noch nicht zu finden. Entsprechende Onlinepetitionen werden vom Autor berücksichtigt, just sayin'.

Fassen wir uns also heute ein flottes Herz für "Artificial Midnight" - eine Platte, die in erster Linie deshalb so besonders ist, weil sie bereits nach wenigen Sekunden...naja: so besonders ist. Ich habe das schon mehr als nur einmal im Rahmen von Werken des Saarländers Stephan Mathieu gesagt, und es passt hier ebenfalls. Der eigentliche Klang, der Ton ist so speziell, so wohltuend schön und anders als der fast komplette Rest der vermeintlichen Konkurrenz, dass ich sofort die Ohren spitzen und aktiv zuhören muss. Letzteres macht hier so oder so Sinn: das Produzenten-Duo Taylor Richardson und Daniel Lopatin (u.a. Onohtrix Point Never) hatte sich das Ziel gesetzt, eine wolkigere, dichtere Version früher Kraut-Aesthetik zu erschaffen:

"Putting krautrock in a fog — it’s like taking the vibe of prog and divorcing it from all the bullshit wankery and cliche." (Lopatin)

Drei Tracks lassen sich auf "Artificial Midnight" finden, die von der ersten bis zur letzten Sekunde einen Stimmungsbogen zeichnen; eine echte, gewollte Entwicklung. Ist der Beginn mit "Sheets Of Face" noch dunkel und komprimiert, hellt es sich im weiteren Verlauf durch "Internal Compass" und ganz besonders im knapp zwölfminütigen "Skull Theft" bei aller weiter vorhandener Dramatik immer mehr auf. Optimismus. Licht. Synthiewände und -schleifen aus dem Kontext der freien Liebe, der Kommunen, dem Sauerkrautfass und Conrad Schnitzler. Denn niemand hat gesagt, dass ich keine Klischees verwenden dürfte. 

Für die Zielgruppe ist "Artificial Midnight" gerechterweise eines der besten Ambientalben der letzten 20 Jahre. 




Erschienen auf Arbor, 2009.