Über Blue Notes im Jahr 2019 gestartete Tone Poet-Reihe gäbe es genügend Gründe, um bis nächsten März durchzuschreiben und ich muss mich ein ganz kleines bisschen beherrschen, es nicht wirklich zu tun. Vielleicht braucht es demnächst an dieser Stelle mal etwas Ausführlicheres zu der ein oder anderen Platte.
Die in die Fußstapfen des eigentlich im Jahr 2018 gestoppten und im Jahr 2019 mit einem Verweis auf das neu eingesetzte SRX Vinyl, ausgeschrieben "Silent Running Xperience" - dafuq r u talkin' about?! - überraschend wieder gestarteten Music Matters-Projekts (Neupreis 75 Dollar pro Platte, natürlich alles längst ausverkauft) tretende Tone Poets-Serie soll vermutlich den Markt der Viertel- bis Halbstarken audiophilen Zielgruppe bedienen und bietet eine sich sehr wertig anfühlende und -hörende Schallplatte auf 180g schwerem Vinyl, gepresst von Record Technology Incorporated in Kalifornien, zu Hause in einem dicken Tip-On Gatefold-Cover mit eleganten und großformatigen Schwarzweiß-Fotografien.
Gemastert von Kevin Gray von den originalen Mastertapes unter der künstlerischen Aufsicht von Music Matters-Gründer Joe Harley soll sich Tone Poet hinsichtlich der Titelauswahl in erster Linie auf die eher unbekannten oder gar obskuren Alben aus dem Blue Note Katalog konzentrieren. Die erste Veröffentlichung im Februar 2019 war gleich ein solch obskurer Fall: Wayne Shorters "Etcetera" wurde ursprünglich 1965 aufgenommen, von den damaligen Verantwortlichen Blue Notes aber aus unbekannten Gründen bis ins Jahr 1980 in den Safe gesteckt und erst dann mit einem zu jener Zeit so typischen wie hässlichen Blue Note-Artwork herausgebracht. Ein Großteil der danach erschienenen Tone Poet-Editionen machen es dem Beobachter indes nicht ganz so leicht, einen roten Faden in der Auswahl der Titel zu entdecken. So ist mir auch der Hintergrund für "It's Time" nicht ganz klar. Das Album war bis in die 1980er Jahre hinein verfügbar und wurde erst 2016 für den europäischen Markt von Elemental Music (Spanien) lizenziert und mit einer ebenfalls als "audiophil" vermarkteten Pressung von GZ Media (lol) veröffentlicht. Unabhängig von den ganzen Fragezeichen über die unterschiedlichen Pressungen ist "It's Time" aber ein weiteres beachtenswertes und für die Zeit der Aufnahme sowohl typisches als auch untypisches McLean Album. Zwei der drei Tracks von Trompeter Charles Tolliver, hier auf seiner vermeintlich allerersten Plattenaufnahme überhaupt zu hören, wagen sich vor allem in den Solopassagen in den Bereich des Free Jazz vor, folgen dabei allerdings einer greifbareren Ästhetik als es McLean auf seinen ebenfalls freieren Alben jener Zeit wie "One Step Beyond" oder "Destination...Out" getan hat. Weniger tonale Überforderung als freigetupfte, windschiefe Arrangements (Grachan Moncur, Grachan Moncur, Grachan fucking Moncur!). Auf "It's Time" ist es vor allem Herbie Hancock zu verdanken, den Rest der Rasselbande nicht zu weit draußen wildern zu lassen; er knüpft das Band zum Hard Bop und hält es zumeist fest in der Hand. Das Quartett arbeitet also nicht selten in einer Art Zwischenwelt - und dort kannte sich McLean zu jener Zeit besonders gut aus.
Alles an dieser Veröffentlichung ist zum Heulen schön: die Musik, die Pressung, das Artwork - man möchte sich geradewegs reinlegen. Was nicht so schön ist, ist der in Europa sehr hohe Preis von knapp 40 Euro pro Exemplar der Tone Poet-Serie. Gemessen an den mittlerweile aufgerufenen Preisen für die bekannteren Titel der Music Matters Reihe ist das freilich ein Schnäppchen. Aber ich frage mich trotzdem die ganze Zeit: werde ich hier eigentlich kolossal verarscht? Und, viel schlimmer: Interessiert mich das wirklich?
Immer wenn ich ein Album von Stephan Mathieu auflege, mache ich nichts anderes außer zuzuhören. Ich habe das im letzten Jahrzehnt gelernt. Wobei: eigentlich begann die Schulung bereits 2008 mit dem mittlerweile als Klassiker zu nennenden "Radioland". Der Text, den ich im Sommer des Jahres 2009 in diesen Blog, nunja: erbrach, wird im Rückblick und selbst mit einer großen Portion Stechapfelkuchen mit Crystal Meth-Sahne dieser Platte nicht gerecht, aber er erschien mir damals ganz offensichtlich als angemessen, um die Aura um "Radioland" und ihren Einfluss auf meine Hörgewohnheiten zu beschreiben. Wenn es an eigenen und halbwegs ordnungsgemäßen Erklärungen mangelt, und Herr Zugeknöpft mit seinen Mitstreitern "Kopfkino" und "Klangkathedralen" aus der journalistischen Kleingartenanlage "Wortart Germania e.V." besser das Kartoffelbeet besprechen sollte, als sterbenslangweilige Texte im Internet zu verklappen, rutscht mir eben manchmal das Vokabelheft von Dr.Bizarro aus der Schreibmaschine. Immerhin: hier bin ich Chef, hier kann ich sein.
Was nach all dem übrig bleibt und bleiben sollte: hört diesem Mann zu.
"A Static Place" ist exakt eines nicht: statisch. Die Räume, Ebenen und Perspektiven, die Mathieu hier wie von Geisterhand zum Sein erweckt, wechseln beinahe sekündlich - und trotz dieser vermeintlichen Volatilität entwickelt sich jedes einzelne Bild in Echtzeit in einem formvollendeten Design. Es scheint fast, als dirigiere Mathieu diese ätherischen Partikelströme aus Klang lediglich mit der Kraft seiner Gedanken und Emotionen, er channelt Farbe und Bewegung, gräbt sich immer tiefer bis in die letzten dunklen Winkel ein, um auch sie mit Licht und Energie zu fluten. Das Bild ist weise gewählt: als Hörer habe ich den Eindruck, als könne ich alle Dimensionen dieser Musik erleben, jede Schwingung spüren, jeden Kontext aus einem Universum von Möglichkeiten erkennen und umgehend in eine Realität einsortieren. Jeder Ton wird Materie, funkelnd, mehrdimensional, mystisch, perfekt. Ich kenne keinen anderen Musiker, der Klang so unmittelbar erfahrbar werden lässt.
"A Static Place" ist eines der betörendsten Alben des Jahrzehnts.
Eine Bestenliste des letzten Jahrzehnts ohne diesen Meilenstein ist kaum vorstellbar. Auch auf die Gefahr hin, ein bisschen zu dick aufzutragen: "The Epic" hat die Welt verändert, praktisch aus dem Nichts. Und jeder, der es hörte, ahnte schon früh, dass die Ohren bitteschön zu spitzen seien.
Denn etwas Großes war im Gange, man möchte fast zum despektierlichen "Größenwahn" greifen: 180 Minuten Musik verteilt auf drei LPs beziehungsweise CDs, ein Orchester, ein Chor, überlange Songs, für deren Arrangements die Beschreibung "opulent" nichts weiter als ein abgeschmackter Euphemismus ist, ein ikonisches Coverartwork und eine inszenierte Sogwirkung, die in ihrer Begeisterung alles mitriss, was sich nicht in die hinterste Ecke des Jazzclubs zu den anderen Betonköpfen retten konnte, die seit 50 Jahren auf "Bitches Brew" herumquallen und dabei langsam zu Staub zerfallen.
"The Epic" wurde zum großen Vermittler und zur spirituellen Einigungsstelle und ja, "The Epic" hat die Welt zu einem besseren Ort gemacht. Das mag angesichts eines Irren, der nur 18 Monate später als herumstammelnde Hämorrhoide das Weiße Haus besetzen sollte, etwas schwer zu begreifen sein - aber wer diese Platte gehört hat, wird schon verstehen.
(Mehr Hintergrundinformationen gibt es in meinen alten Posts HIER und HIER)
Eine DER Entdeckungen des vergangenen Jahrzehnts, und es ist vor allem dieses umwerfende Debut der belgischen Sängerin, das mir über Gebühr den Kopf verdrehte.
"No Deal" ist nokturne Erotik zwischen Chansons und Jazz, selbstbewusst und lasziv, zu gleichen Teilen stark und zerbrechlich. Ein heruntergedimmtes, tiefrot pulsierendes Glühen in einer vernebelten Nacht, in der die Adern der Großstadt zu schlafen scheinen - und doch: im Untergrund brodelt es, der Puls ist erhöht, die durch die Dunkelheit treibenden Gestalten so anziehend wie abstoßend. Das Spiel mit dem Verbotenen, dem Gefährlichen, das Zögern und das Dehnen, die bittersüße Versuchung ziehen sich durch jede Sekunde von "No Deal", bis sich die daraus geformte ambivalente Spannung im Abschlusstrack "With All My Love" langsam entlädt - ein Stück, das auch sechs Jahre später nichts von der betörenden Intensität verloren hat.
Die minutenlang schwingende Erlösung zum Schluss war zweifellos einer der eindrücklichsten Momente des letzten Jahrzehnts.
The Gesamtkunstwerk of the Jahrzehnt. Idee, Ansatz, Musik, Ästhetik, Klang, Design aus einem Guss.
Das ist die Trumpfkarte von "A State Of Becoming". Wehrt Angriffe ab, macht unverletzbar, nimmt sich in jedem Bonuslevel die Kiste Gold am Ende des Regenbogens und verliert sich mit dem ehemals darüber wachenden Kobold Arm in Arm in den reflektierenden Traumwelten aus Wasser und Licht. Um sie herum: singende Vögel, raschelndes Laub, brausendes Meer, mächtige Mammutbäume, wie von Frau Jesus persönlich kunstvoll hingetupfte Nebelbänke, Regentropfen auf nasser Haut, Sonnenstrahlen, warmer Sand, kühles blau und umarmendes sepia.
Denn dass sowohl Christopher Landin (Lav), als auch Ludvig Cimbrelius (Purl) und Ryan Griffin (A Strangely Isolated Place) in den vergangenen zehn Jahren mehr als nur ein Mal ein beeindruckendes Zeugnis ihrer Kreativität und Kunstfertigkeit abgelegt haben, steht außer Frage. Gerade Purl war auf diesem virtuellen Audio-Tagebuch schon mehrfach zu Gast, nicht selten im Rahmen meiner Jahreslisten - und ebenfalls nicht selten unter den ersten drei Plätzen. Nicht zu vergessen, das inspirierende Abum "Awareness" von Lav. Und das in Kalifornien ansässige Label hat es mir ebenfalls nicht erst seit gestern angetan - falls es einen Beweis dafür braucht, here we go:
Und so war es dann auch auf den ersten Blick keine leichte Entscheidung, "A State Of Becoming" auszuwählen. Was ist mit Purls "Stillpoint"? Was ist mit all den tollen Alben, die via ASIP erschienen? Markus Guentners "Theia" oder dem visionären "Never Forget Us" von Earth House Hold? Und dann legten die drei Herren Landin, Cimbrelius und Griffin ihren Trumpf auf den Tisch: Dieses Artwork (von Noah MacDonald)! Das Innere des Gatefolds, an dem man sich gar nicht satt sehen kann! Die in altrosa gehaltenen Vinylscheiben. Die haargenau darauf abgestimmte und so subtil und feingliedrig inszenierte Musik, ihre Bilder, ihre Geschichten.
Für mich war und ist "A State Of Becoming" aus zwei Gründen lebensverändernd. Erstens erkannte ich so klar wie wohl nie zuvor, was möglich ist, wenn jeder Bestandteil einer Produktion durchdacht und aufeinander abgestimmt ist und bis in tiefste Sphären den Kern eines Werks aufspürt und ihn an der Oberfläche in allen Facetten spiegeln kann. Formvollendet! Zweitens verändert sich die Wahrnehmung meiner Realität, wann immer die Musik auf mein Herz trifft. Der Tag verändert sich. Das Licht verändert sich, es wird weicher, milchiger. Und es scheint, als entfalten sich die Wahrheiten dieser Welt langsam im Sonnenaufgang.
Schicht für Schicht mehr Erkenntnis, mehr Hoffnung, mehr Verständnis, mehr Liebe.
Ein Album für gewisse Stunden. Für Zeit und Raum. Für Dunkelheit. Für Stille. Für Liebe. Für Einkehr. Für Inspiration. Für Kraft. Für Trauer. Für Trost. Für Selbstgestricktes. Für Gebäck.
Was in dieser Nacht auf der Bühne der Berliner Philharmonie zwischen Hans-Joachim Roedelius und Onnen Bock geschah, das spirituelle Fluten von Synapsen mit Energie, Verständnis und Vertrauen, wird wohl auf ewig ohne eine angemessene Erklärung auskommen müssen. Dass wir diesem gewaltigen Naturschauspiel trotzdem beiwohnen dürfen, und zwar immer wieder aufs Neue, dass wir uns immer wieder in der Tiefe jener Nacht verlieren dürfen, ist ein großes Geschenk. Kein berühmter Name, kein Marketinggekröse und aus der Ferne betrachtet eigentlich ein eher kleines, unscheinbares Werk - bis zu jenem Moment, in dem sich die Nadel auf diese Platte herabsenkt, die erste Musikrille erreicht und mit jeder weiteren Sekunde die Kinnlade ein Stückchen weiter nach unten kracht.
Aktives Zuhören scheint in Zeiten von Dschingdarassabumm-Streaming und dem ubiquitären Profit-Geflacker von Weltkonzernen nicht mehr über Gebühr en vogue zu sein, und ich möchte auch nicht der hinterletzte pretentious prick sein, der fürs Ressort des Kulturpessimismus' den wöchentlichen Leitartikel schreibt, aber for fuck's sake: hört dieser Platte zu!
Vielleicht das inspirierteste Elektronik-Gefuddel der letzten 10 Jahre. Der Vorgänger "Los Angeles" bedeutete den Durchbruch, "Cosmogramma" holte dann zum großen Schlag gegen jede Form der Apathie und Geistlosigkeit aus: hyperaktives Sci-Fi-Gedaddel aus den grasvernebelten Universen zwischen Sun-Ra-Saturn und Krautrock-Rauhfaser, das Wurzelchakra im purpurnem Astralstaub gebadet, der Stammbaum geht rauf bis zum Merkur. Weil eben alles EINS ist, Stupid!
Die Besessenheit, über Sounds und deren Anstriche so lange zu grübeln, bis auch der siebzehntausendste Schlag auf die Snare richtig sitzt, ist das Eine - aus dieser Lawine an Ideen, Reflexen und Entscheidungen den spirituellen Überbau aus kosmischer Wahrheit und Liebe zu channeln, das Andere.
Es hat etwas Zeit benötigt, bis ich den Zugang zu GOLD fand. Vermutlich waren angesichts personeller Parallelen zur mittlerweile aufgelösten Quatschcombo The Devil's Blood (GOLD-Gitarrist und -Gründer Thomas Sciarone) meine anfänglichen Vorbehalte zu prominent im Stammhirn platziert, was eine frühere Annäherung nahezu unmöglich machte - manchmal bin ich so, ich kann's nicht wirklich ändern. Mittlerweile sieht die Welt anders aus. GOLD sind die vielleicht bemerkenswerteste Rockband dieser Tage und haben seit dem eher unspektakulären Schalala-Rock ihres Debuts "Interbellum" aus dem Jahr 2012 eine atemberaubende Entwicklung durchgemacht. "Why Aren't You Laughing?" ist zweifellos der bisherige Höhepunkt dieser Transformation: die mystische, dunkel schimmernde Mixtur mit Elementen des Gothic-, Post- und Indierocks mit der gleichermaßen entrückt wie glasklar durch die Songs schwebenden, endlich auch selbstbewussten Stimme Milena Evas und die aus dem Black Metal aufgefächerten Gitarrenfiguren ergeben einen Sound, wie ihn die Welt bislang noch nicht gehört hat.
Und das ist vielleicht das Problem für das Erreichen der Weltherrschaft. Die Band spielte vor wenigen Tagen im Aschaffenburger Colos-Saal vor gerade mal 50 Zuschauern eines ihrer seltenen Solokonzerte (ansonsten werden sie auch 2020 in erster Linie auf Festivals zu sehen sein) und mir wurde plötzlich klar: die sind mit dieser musikalischen Mischung nebst der konzeptionellen Choreografie und den starken, feministischen, für Gleichberechtigung und eine offene, freie Gesellschaft einstehenden Texten vielleicht ein paar Jahre zu früh dran. Und überhaupt: fragt mal eine feministische Band wie beispielsweise War On Women, was sich an frauenfeindlicher Scheiße in den Kommentarspalten ihrer Youtube Videos abspielt. Man kommt nicht drum herum: was der rockende Bauer nicht kennt, frisst er eben nicht, und so mancher ist darüber hinaus auch einfach, pardon, klotzehohl. Ich kann das sagen, weil ich schließlich auch hin und wieder die Heugabel im Kopf stecken habe; wer einen Beweis braucht: er findet sich im einleitenden Satz dieses Beitrags.
Ich kann nur hoffen, dass die Band weitermacht - eigentlich sollten sowohl von dieser Band im Allgemeinen, als auch von dieser ganz hervorragenden und tief bewegenden Platte wahrlich ein paar mehr Menschen Notiz nehmen. Denn wer weiß, wie eiskalt mich aktuelle Rockmusik für gewöhnlich lässt und für wie austauschbar, stumpf, oberflächlich und mutlos ich den beinahe ganzen übrigen Sauhaufen halte, darf sich nun die wildesten Träume über die Qualität von GOLD ausmalen.
Es sind nicht nur Metal-Fans, die ungemütlich werden können, wenn sich die Lieblingsband kreativ austobt und Schema F über den Haufen wirft - auch in elektronischen Gefilden tut man sich bei aller Offenheit und Liberalität offenbar schwer mit Veränderungen. Yagya ist vor allem für seine Dub- und Ambient-Techno Produktionen bekannt und mit seinem Debut für A Strangely Isolated Place schubst er die eben noch in Watte eingekuschelte Fanbase mit Verve auf die Techno-Tanzfläche. Grelles Licht, Lasergeflacker und Strobos bis das zentrale Nervensystem schlapp macht.
Allerdings: er macht's behutsam im Flow des Albums und auch ein bisschen mit Ansage. Erst ab "Fjögur" fackelt's heißer im Meth-Lab Unterleib und mit Ausnahme des noch etwas Luft zum Atmen gebenden "Sex" schlagen die Flammen im weiteren Verlauf und bis zum finalen "Rettungsschuss" (Manfred Kanter) "Tiu" immer höher. Die hypnotische Kick drückt unnachgiebig aufs Tempo, die Sounds sind kühl, die Stimmung vereist-nokturn und die partiell eingestreuten, verhuschten Vocals sorgen für zusätzliche Fluchtpunkte in dem Beat-Dickicht. Für viele seiner alten Fans ist "Stormur" vermutlich eine Ecke zu hart und zu "four on the floor", für mich war es für die Sommernächte im Sossenheimer Kiez genau das richtige.
Und man kann es sich denken: die Vinylversion von "Stormur" war natürlich bei all meinen Anlaufstellen in Europa in nullkommanix ausverkauft. ASIP-Gründer und -Boss Ryan kontaktierte mich nach meinem unwürdigen Geflenne via Instagram und war dann sogar so freundlich, mir ein Exemplar von seinem kleinen Restefundus direkt aus Kalifornien zuzuschicken. Hier kümmert sich der Scheff noch selbst um die Kundschaft. Ich darf also auch vor diesem Hintergrund festhalten: geile Platte, geiles Label, geiler Typ!
Nach dem letztjährigen Wirbel und dem sich anschließenden sehr beachtlichen Erfolg um "Both Directions At Once" schiebt Impulse nur ein Jahr später eine weitere bislang unentdeckte Aufnahme des klassischen Coltrane-Quartetts nach. Bei "Blue World" handelt es sich um eine 1964 aufgenommene Auftragsarbeit für den kanadischen Filmemacher Gilles Groulx und dessen Film "Le Chat Dans Le Sac". Die Legende sagt, dass die Bänder der Session für 55 Jahre im Archiv des National Film Board of Canada lagerten und erst 2018 an Impulse übergeben wurden.
"Blue World" gibt der Welt selbst bei heruntergedimmtem Licht betrachtet keine neuen Songs, sondern lediglich neu arrangierte Takes bekannter Stücke des Quartetts, aber weder dieser Umstand noch die Tatsache, dass sich im Grunde nur fünf Titel auf "Blue World" befinden ("Naima" ist mit zwei, "Village Blues" gar mit drei alternativen Takes vertreten), tun wenigstens meiner Freude und Begeisterung keinen Abbruch. Höhepunkt des Albums ist der Titelsong, der unter dem Namen "Out Of This World" bereits auf der 1962 erschienenen LP "Coltrane" zu finden war und schon dort zum Besten zählte, was ich je von der vielleicht besten Jazzband aller Zeiten hörte. Das 1944 von Harold Arlen komponierte Stück wurde für "Blue World" gestrafft und etwas verlangsamt, was die Eindringlichkeit nur noch weiter zu steigern vermag. Die atmosphärischen Parallelen zu "A Love Supreme" sind überdeutlich zu hören - und gleichzeitig gibt der Song bereits zu Beginn die Stimmung und Ausrichtung der gesamten Session vor: balladesk, dunkel, tief in sich versunken. Es sind sehr besondere Momente, die das Quartett hier verewigt hat und ich muss es ohne jede Übertreibung oder Ironie sagen: "Blue World" hat mein Leben im abgelaufenen Jahr sehr bereichert und ich empfinde es als großes Glück, diese Musik hören zu dürfen. Höre und staune.
Alben von 36, die auf Vinyl via A Strangely Isolated Place erscheinen, sind meist in Windeseile ausverkauft, und wer verspätet zum Vorverkauf erscheint, darf nur wenige Tage später den Blutsaugern auf Discogs die Ehre (und ein schön leergeräumtes Konto) erweisen. So erging es mir mit "Fade To Grey", weshalb ich zur Strafe einen grotesk hohen Betrag in Richtung, na klar: Berlin überweisen sollte. Immerhin noch bevor sich die Bandscheibe unseres Hundes meldete und ganz alleine den Jahresbonus auffraß. No food, just wax and dogs.
Dennis Huddleston ist einer der Stars der Ambientszene und in solchen Momenten zeigt es sich auch abseits des Sammel- und Exklusivitätswahns heutiger Schallplattensammler. "Fade To Grey" ist der Einsamkeit und der Isolation gewidmet, die aus unserem Social Media-Kladderadatsch entsteht, die uns von unserem Selbst entfernt, uns sowohl durchlässig und verletzlich, als auch hart wie Beton macht. Es ist ein elegisches Werk für eine Zeit ohne Empathie. Ein Werk, das den leeren, emotionslosen Blick gegen die weiße Wand vertont, gleich einer Embryonalstellung der Seele gegen den Weltschmerz. Interessanterweise klingt "Fade To Grey" dabei nicht dunkel oder abgründig, sondern leuchtet im Gegenteil hell und heiter - wie ein Abbild unserer Realität zwischen sinnbetäubender Euphorie und bodenloser Tristesse.
Einer wird gewinnen.
"Considering the landscape of our own world right now, where a handful of companies control everything we consume, where convenience is more important than privacy, where personal choice is pre-determined by algorithms analyzing our behavior, and where the internet has become a battleground for influence and propaganda... It's not a stretch of the imagination to believe we're already witnessing our very own dystopia."
Und wieder mal passt alles zusammen. Das atmosphärische Cover-Artwork, das DIE_INSEL inmitten eines ruhig liegenden Meeres zeigt, inklusive leichter Diesigkeit und einem ja auch irgendwie kitschigen Sternenhimmel, Jordan Sauers immer noch von Sonne, Waldboden und "Aqua" (Lagerfeld) geküsste Musik und das Label Silent Season, das die musikalische Auseinandersetzung mit der Natur zur Voraussetzung für jede Veröffentlichung macht.
Zu "The Island" heißt es:
"Four thousand years ago, Western Canada's First Nations people migrated into the fjords and rainforests carved out by the retreating glaciation of the last Ice Age. The Island is a tribute to Canada's prehistory and the spiritual journey of a people entering a forever-altered landscape to call their home."
Dabei hat Segue ähnlich wie die Labelkollegen von Wanderwelle die exklusive Dub Techno Schublade längst hinter sich gelassen und verwendet bisweilen nur noch vage herumflirrende Erinnerungen aus seinem Instrumentenkoffer. Was Sauer in dieser Hinsicht vielleicht so gut kann wie kaum ein anderer: seine Sounds und Songs malen Bilder in deinen Kopf. Lassen dich Wärme und Kälte spüren, manchmal sogar die Luft von der Umgebung schmecken, in die er dich gerade hineingezogen hat.
"The Island" schickt dich in Urlaub, in die unberührte, raue Natur. Soziale Isolation in der Verbundenheit mit Mutter Erde - ich finde das selbst 6 Jahre nach dem Klassiker "Pacifica" noch immer hoffnungslos attraktiv.
Ich erinnere mich daran, dass ich der Herzallerliebsten das phänomenale Cover-Artwork zeigte und dazu verlauten ließ, die Platte heiße "Im Flausch" und mir sei es nun völlig wurscht, wie das klingt, ich müsse das jetzt blind und taub kaufen. Als Antwort erhielt ich ein "Ich bitte darum!" und im Subtext eine neuerliche Erinnerung daran, dass wir verheiratet, vulgo: "ein Kopf und ein Arsch" (H.Schenk) sind. Jetzt sind wir hier, im Sinne von am Jahresende angekommen und wie zu sehen ist, habe ich die Entscheidung nach dem Anhören nicht nur nicht bereut, sondern ganz außerordentlich begrüßt: das Trio spielt im Postpunk-, Indie- und Noise-Sandkasten, hat nicht nur im Gestus den obersten Hemdknopf geschlossen und rasselt mir mit nonchalant vorgetragenen Texten wie "Ich finde nichts mehr gut. Ich lege mich nicht mehr fest. Ich schmeiße alles hin." nebst anschließendem Noise-Ausbruch direkt in die linke Herzkammer. Die angenehm dosierte Dissonanz, sowohl in der Musik als auch in den hintergründigen Texten, piekst mich genau dort, wo ich's gerne hab: kein breitbeiniger Rockzirkus, sondern eher distinguiertes Detachement. Und wenn es doch schmutzig, krachend und laut wird, räumt hinterher jemand schön auf und macht wieder alles sauber - allerdings mit dem Kommentar, dass das ja jetzt schon ziemlich unlocker sei.
Unser Leben ist ein einziger, stets größer werdender Widerspruch - und das hier ist sein Soundtrack.
Die gute Nachricht zuerst: "Flamagra" ist wieder deutlich inspirierter ausgefallen als der Vorgänger "You're Dead", das bis heute einzige FlyLo-Album, das den bitteren Gang zum Second Hand-Dealer antreten musste. Dennoch war auch das sechste Studioalbum zunächst ein Wackelkandidat für die Top 20. Vermutlich ist es meine Erwartungshaltung, die mir (und ihm) immer wieder einen Strich durch die Rechnung machen will, vielleicht macht man ein Album wie "Cosmogramma" aber auch wirklich nur einmal im Leben. Denn auch wenn die Musikredaktionsstuben zwischen zwei Mariacron aus dem Rollcontainer immer noch derart vehement die seit vielen Jahren bekannten zentralen Aspekte des Sounds von Flying Lotus betonen, erkenne ich zumindest stilistisch nichts bahnbrechend Neues auf "Flamagra" - natürlich ist die Detaildichte seines Sounds immer noch hoch, natürlich sind das immer noch die bizarren, übergroß auf die Kinoleinwand projizierten Science Fiction-Drehbücher und natürlich lassen sich selbst in den etwas zurückgenommeneren Momenten noch mehr eingebaute Bells & Whistles in diesem wahnsinnig kuratierten Gedankenfluss finden, als bei jedem anderen Remmidemmi-Produzenten. Was Flying Lotus für mich indes so einzigartig macht, sind seine Interpretationen von Jazz und Hip Hop und deren Verschmelzung in postmoderne Lebensrealitäten.
Jede der rund 6420 Sekunden von "Flamagra" scheint für einen klitzekleinen Moment ein Bewusstsein darüber zu haben, woher sie kommt und wohin sie geht Und jede einzelne erzählt in atemberaubender Geschwindigkeit Mikro-Poesie vom Anfang und vom Ende ihrer Welt - und aus diesem virtuellen Netz von Gedanken, Ideen, Hoffnungen und Enttäuschungen speist sich der ganze gottverdammte Scheißkosmos. Blingbling.
England brodelt. Nicht nur politisch, aber auch ganz besonders kulturell. Sicher, die seit Jahren florierende Jazzszene, und hier besonders das Epizentrum in London, ist mittlerweile kein Geheimnis mehr; sie wird auch außerhalb der Landesgrenzen wahrgenommen und gerechterweise gefeiert. Das Ishmael Ensemble um den aus Bristol stammenden Produzenten Pete Cunningham scheint sich jedoch noch etwas unter dem Radar der bekannteren Namen Shabaka Hutchings, Nyubya Garcia oder Alfa Mist aufzuhalten: das Debut "A State Of Flow" heimste zwar fleißig Lorbeeren von den üblichen Verdächtigen wie Gilles Peterson ein, läuft aber immer noch als Geheimtipp durch's 2019er Musik-Dickicht. Umso mehr freue ich mich darüber, diese Platte gefunden zu haben - so zahlt sich die jeden Monat wiederholende und stundenlange Suche nach neuer Musik aus.
"A State Of Flow" ist eine Fusion aus Bonobo'scher Leichtfüßigkeit, der Tiefe des Cinematic Orchestras, Kieran Hebdens Progressivität und den Emotionen des Submotion Orchestras: Jazz, Electronica, Soul und Ambient in bester Tradition des Bristol-Sounds. Vielleicht im Detail noch ein bisschen rough around the edges, aber mir kommt die zwischenzeitliche Störung von allzuviel glattpoliertem Mainstream gerade sehr gelegen. Könnte den Status eines unentdeckten Kultalbums erreichen, wenn Social Media endlich tot ist. Und wenn es wieder möglich ist, "Kult" zu sagen, ohne hinterher vom Knorr-Papi verprügelt zu werden.
Den härtesten Kampf mit der Leere auf dem virtuellen Blatt Papier und jener im eigenen Kopf musste ich für den aktuellen Jahresrückblick mit "Gathering Of The Ancient Spirits" austragen. Das hat zwei Gründe. Einerseits war ich sehr spät dran: ich schlief für die Erstpressung dieses Juwels den Schlaf der Gestörten und wachte erst auf, als erstens die Preise für das schön anzuschauende gelbe Vinyl in absurde Höhen kletterten, und ich mich zweitens auf den Repress - diesmal auf blauem Vinyl - freuen konnte. Meine anfänglich nur mit wenig Konfetti schmeißende Libido lässt sich indes auch mit dem ausbleibendem Kniefall vor Wanderwelles Debutalbum "Lost In A Seas Of Trees" erklären, das mich im Jahr 2017 offenbar auf einem falschen Fuß erwischt zu haben schien und letzten Endes an mir ähnlich folgenlos abprallte wie kognitives Leistungsvermögen an der substantia alba von Ulf Poschardt. Und bis ich mich unfallfrei dazu entschließen kann, vom falschen auf den richtigen Fuß umzutänzeln, braucht es hin und wieder ein Weilchen.
Andererseits ist da eine gewisse Furcht, in den ubiquitären Chor vom Ambient-Rezensionen einzustimmen, der wie auf Knopfdruck Begriffe wie "Kopfkino" (es wird tatsächlich immer fucking noch verwendet; vgl. "zeitnah") oder Flug-Analogien ausspuckt. Manches braucht nicht nur Zeit, sondern ab und zu tatsächlich auch mal sowas wie einen Gedanken, einen gescheiten noch dazu. Und es braucht die Basis aus beiden: Inspiration.
"Gathering Of The Ancient Spirits" liefert mir auf zu vielen Ebenen eher zu viel Inspiration - und daraus folgen unweigerliche Kapazitätsengpässe im Oberstübchen: wie fange ich an, über diese Musik zu schreiben? Ich habe sowas noch nicht gehört. Und eigentlich habe ich sowas auch noch nie gefühlt. Und hier könnte diese Rezension zu Ende sein.
Das Produzenten-Duo aus Amsterdam widmet sich auf diesem Konzeptalbum den letzten Jahren des Künstlers Paul Gauguin und seinen Reisen in die Südsee. Gauguin brach erstmals im Jahr 1891 in Richtung Tahiti auf, um das in seiner Fantasie ausgemalte unberührte Paradies zu finden, weit entfernt von seiner Heimat Frankreich, weit entfernt von den Sitten Europas. Er schuf dort Bilder und Holzskulpturen, die weniger ein tatsächliches Abbild dessen waren, was er dort sah und erlebte, als viel mehr die Projektionen seiner Vorstellungen und Hoffnungen eines solchen Lebens in Abgeschiedenheit. Als er zwei Jahre später nach Frankreich zurückkehrte und die dortige Bevölkerung seinen Arbeiten die kalte Schulter zeigte, verließ er seine Heimat ein zweites Mal. Dieses Mal sollte er nicht zurückkehren: er starb 1903 auf Hiva Oa, einer Insel des abgelegenen Marquesas-Archipels. Wanderwelle erzählen über das Leben und die Erlebnisse Gauguins in dieser Zeit.
"Gathering Of The Ancient Spirits" ist geheimnisvoll. Getrieben. Unheimlich. Und es steht eigentlich ein paar Stufen über fast allem. Stilistisch, weil die Kombination aus Dubtechno, Ambient, Electronica und Tribal so einzigartig ist. Auf der Metaebene, weil die Musik in Verbindung mit den wortlosen Erzählungen über Natur, Kunst, Leben und Spiritualität und dem umwerfenden Coverartwork plötzlich mehr wird, als nur Klang.
Es ist ein Kunstwerk. Und ich bin ehrlicherweise davon überfordert.
JOHN COLTRANE - BOTH DIRECTIONS AT ONCE - THE LOST ALBUM
Ich schreibe nicht gerne über Coltrane. In den beinahe 12 Jahren, die dieser Blog existiert, gibt es exakt keinen einzigen Artikel zu einer seiner Aufnahmen, während die Stichwortsuche immerhin gleich mehr als zwei Dutzend Beiträge ausspuckt. Ich war immer der Auffassung, sein Werk sei ohnehin in Trilliarden Aufsätzen, Rezensionen und Analysen schon bis ins letzte Detail dechiffriert worden - und meistens von Leuten, die das besser können als meinereiner. Coltrane gehört eben zum Kanon, und auch wenn ich der festen Überzeugung bin, dass er mit allem vorstellbaren Fug und Recht auch da reingehört, ziehe ich es vor, allzu offensichtlich erscheinende Fingerübungen über Ubiquitäres von diesem virtuellen Tagebuch fern zu halten. Außerdem, und das ist sehr wahrscheinlich der schwerwiegendere Grund für meine Entscheidung: ich konnte bis heute keine Worte für das finden, was er mir mit seiner Musik bedeutet. Beziehungsweise: ich habe mich nicht mal getraut, nach ihnen zu suchen. Nicht, dass es sich nun im März 2019 grundlegend geändert hätte, aber wir ja hier "ja aus...ääähh...Gründen".
Mein Leben wäre ohne die Entdeckung von "A Love Supreme" im Winter 2005 sicherlich anders verlaufen, und trotzdem gibt es einen Vorläufer zu dieser Sternstunde, der für deren Entdeckung noch wichtiger war: das Debut des SF Jazz Collective, von einem Mitarbeiter des Media Markts Wiesbaden fälschlicherweise ins Electronica-Fach einsortiert und mit einem mich sehr neugierig machenden Coverartwork ausgestattet, brachte mich erstens zum Jazz und dadurch zweitens zu "A Love Supreme". Einmal eigetaucht, gab es keinen Weg zurück. Bis heute versuche ich es vor allem mir selbst zu erklären, was die Faszination ausmacht. Was bringt mich dazu, schon ab der ersten gespielten Note von "Acknowledgment" funkensprühend von diesem Klang eingenommen zu werden? Bis heute bleibe ich mir eine zufriedenstellende Erklärung schuldig. Vielleicht ist es auch schlicht zu akzeptieren, manchmal einfach keine Antworten zu haben.
Dass wir im Jahre 2018 überhaupt nochmal über Coltrane im Rahmen einer Jahresbestenliste sprechen müssen, grenzt an ein Wunder, das der Saxofonist und Weggefährte Coltranes Sonny Rollins mit dem Fund einer neuen Kammer in der Cheops-Pyramide vergleicht. Die Aufnahmen der vielleicht größten Jazzband aller Zeiten mit Elvin Jones am Schlagzeug, Jimmy Garrison am Bass und McCoy Tyner am Piano fanden im Jahr 1963 in den Studios des legendären Produzenten Rudy van Gelder statt - und verschwanden danach für 55 Jahre im Nirgendwo. Coltrane stieß 1961 zum damals neu gegründeten Impulse!-Label und es mag nun trefflich darüber spekuliert werden, warum die beiden Chefs Bob Thiele und Creed Taylor die Aufnahmen nicht veröffentlichten. Tatsächlich geschah noch weitaus Schlimmeres als nur das: nachdem die Mastertapes zunächst einige Jahre im Archiv des Labels lagerten, wurden die Bänder im Zuge von Aufräumarbeiten wegen Platzmangels zerstört. So ist es lediglich Rudy van Gelder zu verdanken, heute in die Geschichte zurück hören zu können: er überließ dem Saxofongiganten nach Abschluss der Session einen Originalabzug der Aufnahmen, der sich nun wieder im Nachlass von Coltranes verstorbener ersten Frau Naima wieder fand. Coltranes Sohn Ravi vollendete die Produktion für diese Wiederveröffentlichung.
Dabei kommt es immer wieder mal vor, dass bislang unveröffentlichte Liveaufnahmen großer Jazzmusiker gefunden werden, manchmal auch mehrere Jahrzehnte nach ihrer Entstehung. Vor wenigen Monaten schrub ich beispielsweise an dieser Stelle über ein vergessenes Livedokument des Pianisten Bill Evans. Auch für Coltrane gab Überraschungsfunde. Da ist zum einen das 1957 im Rahmen des Benefizkonzerts "Thanksgiving Jazz" aufgenommene Gipfeltreffen in der New Yorker Carnegie Hall mit Thelonious Monk, dessen Aufnahmen im September 2005 erstmals veröffentlicht wurde, nachdem die Bänder knapp 48 unentdeckt in der US-Amerikanischen Kongressbibliothek standen. Oder das ebenfalls 2005 präsentierte Livealbum "One Down, One Up" mit Radioaufnahmen aus dem Jahr 1965, das den damaligen Entwicklungsstand des großen Coltrane-Quartetts dokumentiert und gleichzeitig offenlegt, warum Tyner und Jones nur kurze Zeit später die Band verlassen sollten. Gerüchte über einen möglicherwiese zu jener Zeit einsetzenden LSD Konsums Coltranes erscheinen im Lichte der Aufnahmen nicht all zu weit hergeholt: der Titeltrack, damals bekanntes Forschungsobjekt für die Band und hier erstmals in einer wahrlich atemberaubenden knapp 28 Minuten langen Version zu hören, besteht im Grunde aus einem ebenso langen Solo Coltranes und zeigt eine sich entfesselt in den Subraum schraubende Band, die hier hörbar an der Grenze zum Wahnsinn entlang irrlichtet. Diese Aufnahmen gehören zum faszinierendsten, was mein CD und Plattenschrank hergibt und in Verbindung mit den ausführlichen Linernotes bin ich jedes Mals aufs Neue wie vor den Kopf geschlagen: Es wird berichtet, dass die Band in der Zeit ihres Residency-Engagements im Halfnote oft erst tief in der Nacht die Bühne betrat und damit die Sperrstunde verletzte. Der Inhaber des Clubs verschloss dann von innen die Eingangstüren, während die Band nicht selten bis morgens um 5 Uhr spielte. Aufnahmen solcher Nächte gab es zu jener Zeit ausschließlich im New Yorker Lokalradio. Von solchen Übertragungen existierten bis 2005 lediglich von Hörern damals mitgeschnittene Bootlegs, die unter Coltrane-Devotees schnell die Runde machten und zum Kult wurden.
Und hier schließt sich auch der Kreis zu "Both Directions At Once": "One Down, One Up" ist hier erstmal in einer Studioversion zu hören - allerdings deutlich kürzer und mehr auf den Punkt als die ausufernden Liveaufnahmen.
"Both Directions At Once" erlaubt den Einblick in die Entwicklung und de Arbeitsweise des Coltrane Quartetts und darüber hinaus eine über 50 Jahre später möglich werdende Einordnung in das Oevre dieser vier Giganten, von welchen uns drei bereits wieder verlassen haben (Pianist McCoy Tyner ist als einziges Bandmitglied noch am Leben). Ich frage mich fortwährend, wie dieses Album wohl damals rezipiert worden wäre und ob es einen ähnlichen Klassikerstatus erreicht hätte wie beispielsweise "Coltrane" oder "Crescent". Aus meiner Sicht ist "Both Directions At Once" vor allem deswegen hochinteressant, weil es ein Zwischenstadium des Quartetts dokumentiert und wir in diesen kurzen Moment, in der Geschwindigkeit von Coltranes Entwicklung vermutlich nicht länger als ein Augenaufschlag, nun tatsächlich hineinhören können. Es ist, als hätten wir endlich eine funktionierende Zeitmaschine bauen und uns in das van Gelder Studio in Englewood Cliffs beamen können. Die Band zeigt sich gespalten, steht mit einem Bein in der Tradition und wagt sich mit dem anderen Bein in die Zukunft. Coltrane wittert Veränderung und sägt in "Slow Blues" am melodischen Ast der Hardbop-Harmonien und schwingt sich vielleicht erstmals zaghaft in jene spirituellen Höhen auf, die die Band spätestens ab "A Love Supreme" im Studio und auch in den Live-Performances besuchen sollte.
"Es war nicht Ekstase, nicht Magie, es war Läuterung, Reinigung, etwas eindeutig Religiöses, von dem wir ergriffen wurden. Viele im Publikum weinten und schämten sich nicht dafür."
(Martin Kluger)
Interessant ist nun noch die Frage, warum die Aufnahmen überhaupt ins Archiv wanderten und nicht veröffentlicht wurden. Dafür gibt es mehrere Erklärungsversuche: Erstens nahm Coltrane mit seinem Stammproduzenten Bob Thiele so oder so schon mehr Musik auf, als Impulse überhaupt veröffentlichen konnte. Zweitens wollte Coltrane den Markt nicht mit alten Aufnahmen überschwemmen. Drittens darf vermutet werden, dass Impulse den kurz zuvor erzielten Erfolg von "My Favourite Things" nicht mit einer eher herausfordernden Session gleich wieder gefährden wollten und stattdessen eine traditionellere Ausrichtung bevorzugten. Die vierte Option ist zugleich die vielleicht waghalsigste: Jazz-Kenner streiten sich darüber, ob dieser Aufnahmetermin überhaupt zu einer neuen Platte führen sollte - und erkennen im Spiel der Band, ganz besonders bei Drummer Elvin Jones, einige Unzulänglichkeiten. Sie interpretieren jene als einen Hinweis auf eine grundsätzliche andere Ausrichtung dieser Session: am darauf folgenden Tag nimmt das Quartett mit dem Sänger Johnny Hartman (nebenbei der einzige Sänger, mit dem Coltrane jemals gearbeitet hat) ein Album auf, das aus sechs Balladen besteht. Es wird daher spekuliert, dass "Both Directions At Once" lediglich eine Warmup-Session für die Aufnahmen am nächsten Tag ist, ein bewusstes Auspowern, um für die Balladen das richtige Energie- und Dynamiklevel zu finden. Möglicherweise hat van Gelder, bekannt für seine Pedanterie in Bezug auf die Mikrofonierung, die Session auch für einen Soundcheck für die Aufnahmen mit Hartman genutzt. Ich finde auch diese Auseinandersetzung mit "Both Directions At Once" als sehr lohnenswert. Es ist wirklich ein großes Glück, diese Platte hören zu dürfen.
Pressung: +++++ (Tadellos)
Ausstattung: +++++ (Ich nenne die Deluxe-Ausgabe mein Eigen: Gatefold, die-cut sleeve, Prägedruck, bedruckte Innenhüllen und ein großes Poster nebst ausführlichen Linernotes - toll!)
Der weniger reflektierte "Flohihaan" (Jens W.) empfände diesen Moment wohl als einigermaßen angemessen, um mit tosender Vehemenz auf den eigenen Verzicht und die dafür benötigte Stärke und Disziplin zu verweisen, die aufzubringen sind, um die immer häufiger anzutreffenden LP-Preise von 40 Euro plux X mit einem Handstreich von sämtlichen virtuellen Einkaufslisten, Warenkörben und Merkzetteln zu entfernen, oder den darbenden Besitzer eines Tonträgerfachhandels mit einem stummen Kopfschütteln die kalte Schulter zu zeigen, weil man ja dank Evolution, weißem Glibber im Bregen und Sonnenblumen in der ehemals existenten Schambehaarung noch immerhin nicht derart abgestumpft ist und also das Niveau eines resignierten Zynikers erreicht hat, um dem Sammlerdrang einerseits und - in Anerkennung des durch Lohnarbeit zwar halbierten Lebensglücks, aber dafür verdoppeltem Kontostands - der puren Gelegenheit, vulgo: Disziplinlosigkeit andererseits nicht die Oberhand gewinnen zu lassen, und sie stattdessen als Symptome der eigenen inneren Leere und emotionalen Taubheit anzuerkennen, deren Decouvrierung zwar bisweilen schmerzhaft und enttäuschend ist, aber selbst mit nur einem Hauch innerer Festigkeit und dem moralisch wünschenswerten aber orthopädisch katastrophalen aufrechten Gang in Schach gehalten werden kann.
Der aufklärerische "Floooriii" (Mama) hingegen, der zunächst sich selbst im Zentrum und also Wurzel allen Übels dieser Welt einordnet, weil Bequemlichkeit vom äußeren Ich ins innere Selbst wie Hundekacke am grobstolligen Gummistiefel ins Kaminzimmer hereingetragen wird und sich bei vollem Bewusstsein, wir sind ja immerhin nicht im Wachkoma, durch Nervenbahnen, Ganglien, Energieleitungen wie ein tödliches Geschwür in alle lebens- und fühlensnotwendige Bereiche hinein marodiert, und der sich nicht zuletzt deswegen beinahe so primagut entscheiden kann wie die deutsche Sozialdemokratie, ob sie Schröders Cohiba-Qualm lieber mit dem Arsch inhalieren oder den abgehängten Opfern ihrer Politik gleich lässig ins Gesicht blasen will, muss zerknirscht eingestehen, dass der Betäubungskonsum längst die eigenen auf immer ungezeugten Kinder aufgefressen hat. Angesichts der alleine im vergangenen Jahr heim ins Reich geholten Schallplatten "The Fragile" (55 Euro), "Splendor Solis" (45 Euro) und "Heaven And Earth" (50 Euro) ist der Zeiger für meine Disziplinsperformance schon seit langer Zeit auf dem Status "Bigotter Laberpimmel" eingerastet und -rostet. Auch "The Optimist" des US-amerikanischen Posaunisten Ryan Porter kostete mich im, natürlich: teuersten Plattenladen Kölns glatte 40 Taler, und weil ich absurde Ausflüchte so gerne leiden mag wie einen schönen Einlauf mit "bestem Olivenöl" (Alfred Biolek), wische ich die Schande einfach mit dem Verweis auf meinen an jenem Tag sich zum 41.Male jährenden Geburtstags von der Streckbank:"Ich habe heute Geburtstag, hier ist meine Kreditkarte, Sie Ficker!"
Immerhin handelt es sich bei "The Optimist" um ein 3-LP Set mit gleichfalls dreifach aufklappbaren Cover und übergroßen, schicken Fotos des Protagonisten. Und na klar: der oben erwähnte Nachfolger von "The Epic", Kamasi Washingtons leicht größenwahnsinniges "Heaven And Earth" hat sogar ganze 5 LPs. Da tänzelt man schon ein bisschen ungelenk auf dem Grat entlang, der "Ist halt so, suck it up!" und "Mache mir die Welt widdewiddewie sie mir gefällt." trennt. Und wo das gesagt ist - Achtung, Spoileralert: "Heaven And Earth" hat es nicht in meine diesjährige Top 20 geschafft. Ich versuche, die Trennschärfe zwischen der Distinktion der Ablehnung des wichtigen und mit "Spannung erwarteten" (Peter Illmann) Nachfolgers eines "modernen Klassikers" (Max Dax) und der durch die bizarre Erwartungshaltung, Washingtons neues Mammutwerk würde mich ähnlich auf Links drehen wie der Vorgänger, geformten klitzekleinen Enttäuschung sauber abzubilden. Für gewöhnlich finde ich Hypes für jene Musik, die ich schätze, eher begrüßenswert als störend - bei blanker und unerträglicher Granatenscheiße hingegen ist das ubiquitäre Tamtam Grund genug, sich zu wünschen, die Menschheit solle bitte sofort, umgehend, total und komplett elendig verrecken; und wenn es einen Unterschied zum Besseren mächte, würfe ich mich gar, frei nach Greg Graffin, als erster ins offene Messer. Daher ist weniger der Drang zur Abgrenzung im Falle von "Heaven And Earth" ein Thema, sondern eher der natürlicherweise ausbleibende Überraschungseffekt des alles überstrahlenden Vorgängers, sowie der im direkten Vergleich nochmals hochgefahrene Bombast sowie der seltsam weichgezeichnete Klang die Gründe für die sich weniger euphorisch darstellende Reaktion. Immer noch durchdrehende Jazzpuristen, die doch so gerne in ihrem elitären Streichelzoo unter sich bleiben würden, sind hingegen für mich natürlich immer noch der beste Grund, den Saxofon-Koloss bei jeder sich bietenden Gelegenheit in den güldensten Himmel zu loben.
Dass der logische "Doooorian" (Frank B.) sich in etwas, das mal als Rezension zu "The Optimist" gedacht war und sich aber in der Absenz von allem was "heilig, recht und gut" (Ratzinger) ist, seit mindestens achteinhalb Minuten puren Leseglücks durch stilistisch wenigstens fragwürdige Bandwurmsätze zeilenweise über Kamasi Washington auslässt, hat indes Gründe: ich glaube, "The Optimist" hätte die Rolle spielen können, die "The Epic" vor vier Jahren einnahm. Und selbst das hat ebenfalls Gründe: Hier spielt das West Coast Get Down Kollektiv, das später durch die Führung Washingtons und die Beteiligung an den Blockbusters von Kendrick Lamar weltweite Aufmerksamkeit erhalten sollte. Die Jazztruppe aus Jazz, Hip Hop und Funkmusikern traf sich gegen Ende der Nuller Jahre regelmäßig in Kamasis "The Shack" genannten Proberaum, einer kreativen Keimzelle des neuen US-Westküstenjazz, und nahm die Arrangements Porters in verschiedenen und über zwei Jahre verteilt stattfindenen Sessions auf. Das Probe- und spätere Aufnahmestudio war dabei nicht nur für die Anzahl der teilnehmenden Musiker signifikant unterdimensioniert, sondern liegt bizarrerweise auch noch unter der Landebahn eines Flughafens, was bedeutete, dass die Fenster und Türen geschlossen werden mussten, wenn die Mikrofone offen waren. Porter wird in den Liner Notes mit "The heat was unbearable" zitiert und verweist außerdem darauf, dass jeder Musiker mit totaler Konzentration und Angst in den Knochen spielen musste, um jeden potentiellen Spielfehler zu vermeiden und alsbald wieder Luft in den mit acht Menschen heillos überfüllten Raum zu bekommen. Unter diesen Umständen entstand mit "The Optimist" ein rohes Album, das in Bezug auf die reine Klangqualität sicherlich hier und da Verbesserungspotential offenbart, dafür aber mit etwas Mut zum verbotenen Wort, durch und durch authentisch klingt: funkiger, treibender Fusionjazz mit pulsierenden Grooves, ungeschliffener Kraft und lebendiger Virtuosität, ohne doppelten Boden, ohne unerfüllte Versprechungen und ohne Allüren.
So ist "The Optimist" nicht nur ein fantastisches Stück Musik, es dokumentiert auch den Entwicklungsprozess des West Coast Get Down Kollektivs auf dem Weg zu "The Epic". Ähnlich meiner Faszination für alte Schallplatten und ihrer Geschichten, ihrer Besitzer, ihrer Hersteller (das älteste Exemplar meiner Sammlung, eine LP des Jazzpianisten Thelonious Monk, stammt aus dem Jahr 1955 und befand sich u.a. lange Jahre im Besitz einer nach New York ausgewanderten Stuttgarterin), die sich letzten Endes aus der Liebe für Hingabe, Leidenschaft und Kreativität speist, dient auch "The Optimist" als Geschichtenerzähler, als Zeitmaschine in eine Zeit der Unschuld und Naivität. Man hört den heute weltbekannten Kamasi Washington und seine bereits wuchernde Spiritualität, Miles Mosley's brodelndes Bassspiel (Solo-Plattentipp: "Uprising") und den allerorst gefeierten Pianisten Cameron Graves vor ihrer großen Zeit, unter Sauerstoffmangel eingesperrt in ein kleines unbelüftetes Loch in San Francisco - und wie sie alles in die Waagschale werfen, was sie bis in die hinterletzte Zelle ihres Körpers und Geistes finden konnten.
Ich glaube ja alleine schon wegen meiner eigenen Erfahrungen nicht an Sozialkompromisse wie "Geschmäcker", auf die man sich konfliktlos einigen kann und die so gerne mit schlichter Sozialisation verwechselt werden, weil's eben immer nur in Richtung des Offensichtlichen zu gehen hat und jedes Graben nach Ursachen schon wieder kultureller Linksfaschismus ist. "Jazz ist anstrengend", "Jazz ist prätentiös", "Jazz ist mir zu hoch", "Jazz ist einfach nicht mein Ding" - Ich schlage vor, dass die Schubladen heute mal geschlossen bleiben. Aber es wäre wirklich mal an der Zeit, stattdessen das Herz zu öffnen.
Pressung: +++ (Platten waren zwar trotz Originalverpackung verschmutzt, ließen sich aber mit einer OkkiNokki-Wäsche auf Hochglanz polieren. Alle drei Platten liegen flach auf dem Teller, keine Non-Fills, sehr selten kleinere Unannehmlichkeiten. Das Gefühl einer nicht ganz optimalen Pressqualität existiert, aber es gibt eigentlich keinen nachvollziehbaren Grund dafür)
Ausstattung: +++ (Ungefütterte und -bedruckte Standard-Inlays, dafür aber ein schönes Artwork, dreifach aufklappbares Gatefold, ästehetische Fotos, Linernotes, insgesamt stimmiges Design. Pappe etwas dünn. Wirkt alles etwas Low-Key, ist dafür aber vermutlich so ehrlich, wie es nur sein kann)
Erschienen auf World Galaxy Records/Alpha Pup Records, 2018.
Auf Dreikommaviernull.de ist exakt ein Beitrag zu Tocotronic zu finden, zu mehr hat es in knapp 12 Jahren nicht gereicht - und das hat Gründe. Meine Haltung gegenüber der Hamburger Indie-Institution war bisher in allerhöchstem Ausmaß mit indifferent noch sehr höflich beschrieben, und mit Ausnahme des hier rezensierten "Kapitulation"-Albums aus dem Jahr 2007 zuckte ich im besten Fall mit den Schultern. Das hat sich 2018 gründlich geändert. Die Zeit war gekommen.
Ich weilte im Dezember 2017 berufsbedingt für zwei Tage in Hamburg und lag nach dem obligtorischen Besuch bei Michelle Records und der Einnahme eines vegetarischen Burgers im Hotelbett und konnte nicht schlafen. Es folgte ein über Stunden andauerndes zielloses Herumtapsen auf dem Telefon, bis mir plötzlich die Youtube-App das neue Video von Tocotronic vorschlug. Es war der Titeltrack und damit der erste Teaser des im Januar erscheinenden neuen Albums.
Und es traf mich wie ein Blitz.
Es gibt Momente in meinem Leben, die ich mir nicht erklären kann. Momente, in denen Zeit und Raum ausgehebelt erscheinen, in denen oben plötzlich unten und unten plötzlich oben ist. Wenn alles vorher gelernte, geglaubte, fantasierte und manipulierte keinen Sinn mehr macht, das Herz schneller pocht, die Augen weit aufgerissen sind, eine Euphoriewelle nach der anderen durch den Hypothalamus schwappt und das innere Brodeln sich mit Licht und Liebe verbindet. Wenn klar ist, dass solche Momente noch in 50 Jahren glasklar vor einem liegen werden, in der strahlendsten und unauslöschbarsten Erinnerung. So wie ich mich bis heute an den Sprung von der elterlichen Couch auf die Auslegeware vor dem Röhrenfernseher erinnere, als ich zum ersten Mal "Smells Like Teen Spirit" hörte. Dieses Gefühl wieder zu erkennen, wieder zu entdecken, dass dank Lohnarbeit, Schlafmangel, Bluthochdruck und innerem Bleigießen noch nicht alles erstarrt ist - ein Seelenöffner.
"Die Unendlichkeit" war mir ab der ersten Sekunde ganz nah. Es wurde mehr als nur Musik, es wurde zur Begleitung, mehr noch: zum Lebensgefühl. Wie bereits zur "Kapitulation" wurde ihre Musik mehr als nur Klang und Worte, sie wurde zum Leitmotiv, zur Stütze, zum Ratgeber. Und ich erkannte, dass es vermutlich keine andere Band gibt, die mit ihren Texten eine derart tiefe Verbindung zu mir herstellen kann. Ich verstand sie endlich.
Ihr Intellekt, ihr Mut, ihre Verletzlichkeit und auch ihre Freundschaft untereinander waren im letzten Jahr eine große Quelle der Inspiration.
Pressung: +++++ (Tadellos)
Ausstattung: +++++ (Glow In The Dark-Coverartwork, Gatefold, bedruckte Innenhüllen)
CHRISTIAN KLEINE - ELECTRONIC MUSIC FROM THE LOST WORLD 1998 - 2001
It's all about inspiration, innit?
Ich bin zweifellos ein Kind der 1990er Jahre. Das wurde auf diesem Blog schon so oft geschrieben, dass ich beim erneuten Hinweis darauf beinahe selbst in bräsigen Dämmerschlaf falle. Thrash und Power Metal, Grunge und Alternative Rock, Loriots "Pappa Ante Portas" und Harald Schmidt, Rot-Grün, Tschüss Birne, MTV, Parker Lewis, Atomausstieg, Frasier, De La Souls Ring Ring Ring, das Café Wunderbar in Frankfurt-Höchst, ein Abitur mit sattem Notenschnitt von 3,4, Wayne's World, die alte Frankfurt Batschkapp.
Für elektronische Musik fehlte es sowohl am sozialen Umfeld als auch an mentaler Kapazität, außerdem ist meine in der Kindheit konfigurierte und bis in die Gegenwart hinein immer noch aktive Programmierung, sich wirklich erst dann in Bewegung zu setzen, wenn die geistige und körperliche Unversehrtheit in Gefahr ist, vulgo: ich es mit mir selbst nur noch unter groben Schmerzen aushalten kann, keine große Hilfe beim Loslassen und Erforschen neuer Welten - und sei es nur die Abteilung für Elektronische Musik im Plattenladen. Die Neunziger in a fucking nutshell: Kaufen wir lieber das neue Album von Stratovarius. Gitarren, Langhaarige, peinliches Airbrush-Coverartwork, die Hoden des Sängers kann man dank exzellenter Ausleuchtung auf dem Bandfoto sehen - kenn' ich alles, wird schon so gut und gemütlich sein wie die seit sechs Tagen ununterbrochen getragene Unterhose. Hier stört das niemanden, hier bin ich zu Hause.
Mittlerweile habe ich immerhin dieses erwähnte "Zuhause" seit einigen Jahren verlassen - und was im Chaos des immerhin teilmöblierten mentalen Dachbodens zurückblieb sind Fragen zu der einerseits durch ausgiebige Reflektion zusammengeschnitzte Erkenntnis, als auch andererseits zu der Erinnerung an ein früheres Leben: was habe ich erlebt, was war das für ein Lebensgefühl, und warum ist es heute noch so präsent? Es gab im letzten Jahr kein anderes Album, das diese Gedanken mit soviel Verve durcheinanderwirbelte wie Christian Kleines "Electronic Music From The Lost World 1998-2001".
Es stellte mir darüber hinaus weitere Fragen: warum fühlt sich diese Zusammenstellung von unveröffentlichten Tracks, die Kleine nach seinem Umzug von Lindau nach Berlin Ende der neunziger Jahre unter dem Eindruck einer gerade zusammenwachsenden und zwischen neuem Leben und alter Melancholie umhertaumelnden Großstadt produzierte, so an, als würde ich nicht nur nach Hause kommen, sondern auch noch die Geschichte um dieses Zuhause verändern? Ich hörte zu der damaligen Zeit noch keine elektronische Musik, ich kann daher auch nicht, wie es mir mit Rockmusik am laufenden Band passiert, an sie erinnert werden. Ich war auch nicht in Szenen unterwegs, in denen diese Musik gespielt wurde. Ich war ja noch nicht mal in Berlin. Eigentlich müsste diese Erinnerung aus nichts als einem weißen Blatt Papier bestehen, es sollte nichts auslösen, nichts pieksen, keine Bilder produzieren, keine Emotionen provozieren.
It's all about inspiration, innit?
Und doch drücken diese 11 Songs sämtliche Knöpfe meines Emotionszentrums, sie beamen mich in genau jene Zeit zurück, in der sie entstanden sind. Die Bilder sind wahrhaftig und plastisch; es ist, als würden vergessene oder unterdrückte Bereiche meiner Erinnerung wachgeküsst werden - Erinnerungen, von deren Existenz ich nicht mal wusste. Die sanfte und zugleich reine Melancholie in seiner Musik, die wegen ihrer Klarheit einen Begriff wie Kitsch nicht mal im bizarrsten Gedankengerumpel triggern könnte, verbunden mit einer zaghaft-euphorischen Aufbruchstimmung, die ihren Ursprung im blanken Sein und dem sich daraus entwickelnden künstlerischen und kreativen Freiheitsgedanken hat, modellieren ganz offensichtlich meine nunmehr 20 Jahre in der Vergangenheit liegende Realität nach. Und es zeigt sich, dass meine Beteiligung an jener Realität kein notwendiger Faktor im Erleben und Entdecken derselben zu sein scheint.
Ich habe keine Antworten zu all dem, endgültige gleich gar nicht. It's work in progress.
But it's all about inspiration.
Pressung: +++++ (Wie immer bei A Strangely Isolated Place: flawless)
Ausstattung: +++++ (Wie immer bei A Strangely Isolated Place: ein ästhetischer Hochgenuss, man will gar nicht aufhören, die Platte immer wieder anzuschauen. Gatefold, konsequentes, umwerfendes Art Design, Coke Bottle-Doppelvinyl)