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25.12.2015

Talkin' 'bout my Generation




GUNS N' ROSES - CHINESE DEMOCRACY


Yep, I fuckin' did it. 

Im Sommer musste an diesem einen Tag die Sonne wohl besonders stark über dem Stuttgart Kessel brennen. "Chinese Democracy" stand für 20 Euro im Second Hand-Spezialfachgeschaft für Tonträger herum, hatte einen riesigen Knick in der oberen rechten Ecke und ein kleiner Teil des Vinylrands war auch noch aus der ersten Platte herausgebrochen. Mein Hirn, vermutlich längst zu einem 180°C Umluftofen mutiert, gab mir den Feilschbefehl, ich handelte den Tresenmann noch auf 15 Schleifen runter - und stolzierte wie Pepé le Pew zurück ins Hotel und zuvor mit dem skeptisch dreinblickenden Herrn Jens auf die Terrasse eines Stuttgarter Restaurants. Das war kein Schnäppchen, die Platte gibt es mit ein wenig Glück zum selben Preis noch neu und ungeöffnet im Weltnetz. Aber das Weltnetz ist nicht der Plattenladen, und im Weltnetz scheint die Sonne auch nicht so stark, dass sie einem das Dach verwellt. 

Das alles wird noch ein Eckchen absurder, wenn ich jetzt noch bekenne, die CD-Version des Albums, die ich natürlich kurz nach der Veröffentlichung im Winter 2008 hektisch kaufte, in der großen CD-Verramschung schon 10 Monate später wieder für den Preis von ganzen vier Euro aus dem Regal schmiss. Ich behaupte nicht, dass ich noch alle Tassen im Schrank habe, aber ich kann es erklären.

Vielleicht.

"Chinese Democracy" gehört zu meiner Generation. Genau genommen gehört das Warten auf "Chinese Democracy" zu meiner Generation. Und deren Säulen waren eben nicht nur die heiligen drei Könige "Nevermind", "Ten" und "Dirt", selbst durch den Heroinschleier des Grunge erkannten wir auch noch die einst kräftigen, jetzt dank des rauhen Seattle Klimas etwas ramponierten Pfeiler "Appetite For Destruction" und "Use Your Illusion". Und die von Jack Daniels, Marlboro und Haarspray benebelten Typen, die zu "November Rain" die ein oder andere Träne verdrückten und sich zu "Welcome To The Jungle" an Kronleuchtern über die ausgelassen feiernden Partygäste schwangen, fieberten immerhin in den ersten Jahren nach der vorläufig letzten Veröffentlichung "The Spaghetti Incident?" trotz der abgewanderten Aushängeschilder wie Slash, Izzy Stradlin und Duff McKagan dieser Platte entgegen, knietief und mitten im Alternative- und New Metal-Schlamm stehend, leicht orientierungslos. In der zweiten Hälfte der Neunziger kippte dann die Stimmung: immer wieder angekündigt, immer wieder mit festen Releaseterminen versehen - immer wieder verschoben. Und verschoben. Und wieder verschoben. "Chinese Democracy" wurde zum Running-Gag. Irgendwie spürten wir auch, dass die Zeit für Guns N' Roses vorbei war, denn die neuen Helden hatten andere Namen und andere Kleider. Und sie machten andere Musik, ganz andere Musik. Axl bekommt bestimmt eh nichts mehr auf die Kette, ganz alleine auf weiter Flur und ohne seine alten Sidekicks sowieso nicht. Völlig durch, der Typ. Diese Drogen. Dieser Alkohol. Schizophren soll er ja auch sein. Oder bipolar. Irgendwas im Kopf halt. Das wird nix mehr. Wir müssen weiterziehen. 

Und irgendwann waren Guns N'Roses, war "Chinese Democracy", war Axl Rose vergessen. Wer spielt da eigentlich gerade? Ist doch egal! Gibt's die überhaupt noch? Ist doch egal! Die haben ja neulich ein großes Festival gespielt. Echt? Ist doch egal. Und es stimmt, irgendwann war es wirklich egal. Weil man eben tatsächlich weitergezogen war. "Chinese Democracy" nützte die Indifferenz nichts. Längst zu einem Mythos geworden, einem Sinnbild für gescheiterte, an Drogen und Alkohol zerbrochene Rocker, für verblasste und verklärte Erinnerungen, für Größenwahn und Verschwendung. Und natürlich für eine enttäuschte Generation von Rockfans, die mit dem diffusen Gefühl kämpfen musste, auf eine tragische Art betrogen worden zu sein. Das kann in einem Umfeld, in dem der mächtige weiße Ritter des Rock regiert und das auf einer zwar inszenierten, aber doch aufrichtig vorausgesetzten Ehrlichkeit und Loyalität aufbaut, nur in die Hose gehen. 

Als "Chinese Democracy" tatsächlich nach über etwa fünfzehn Jahren Produktionszeit und geschätzten Kosten in Höhe von über dreizehn Millionen Dollar im November 2008 erschien, hagelte es Schimpf und Schande seitens der Presse und der Fans. Ich habe es in meinen 30 Jahren als Musikbesessener noch nie erlebt, dass eine Platte eine so umfassende, fast weltweite Ablehnung erfuhr, die sich in der Schnittmenge von "Das wird bestimmt ganz grauenvoll schlecht." und dem ganz tief im Unterbewusstsein vergrabenen Wunsch nach der Rettung des Rock darstellte. Aber bekam "Chinese Democracy" jemals wirklich eine Chance? Ich glaube nein. Diese Platte hätte nicht gewinnen können; es hätte vielleicht niemals den richtigen Zeitpunkt der Veröffentlichung gegeben. Selbst in den neunziger Jahren war es eigentlich schon zu spät. Ich habe mit meinem neuerlichen Kauf im Sommer 2015 den wenigstens für mich richtigen Zeitpunkt erwischt, denn ich hatte immer das Gefühl, dass, haben sich die Aufregung und die Enttäuschung gelegt, haben sich die Wunden wieder geschlossen, mehr hinter "Chinese Democracy" steckt. Dass es etwas zu Entdecken gibt. Dass das Album kolossal unterbewertet ist. Und tatsächlich: man hört mit sieben Jahren Abstand klarer. Nebenbei darf man sich auch mal schnell klar machen, wie lange sieben Jahre sind: der erste offizielle Albumstream wurde auf der - Achtung, aufgepasst: MYSPACE Seite der Band freigeschaltet. 

MySpace. Laugh to come. 

Ich war indes auch schon 2008 nicht so irre enttäuscht wie manch anderer. Es war eben "Uff, Rockmusik", noch dazu verpackt in einem überlangen Album - und gerade in meiner, sagen wir mal: experimentellen Phase im Jahr 2008 riss mich sowas wirklich nicht vom Hocker. Musikalisch hatte ich bis dato wahrlich Schlimmeres gehört; im Falle von "Chinese Democracy" und der seit Jahren damit in Verbindung gebrachten Schreckgespenster wie "Industrial Rock" und "Alternative Rock" hatte ich sogar weitaus Schlimmeres erwartet. Die Band schrieb in den jahrelangen Sessions insgesamt über 60 Songs für drei geplante Alben und nahm die für "Chinese Democracy" ausgewählten Tracks bis zu sechs Mal neu auf. Die Liste von Produzenten, die über die Jahre verteilt mal auf dem Mischpult-Thron saßen, ist eindrucksvoll lang und enthält unter anderen Namen wie Roy Thomas Baker, Bob Ezrin, Andy Wallace, Youth, Moby, Mike Clink und Tim Palmer, während die Aufzählung der beteiligten Engineers hingegen gar das Format dieses Blogs sprengen würde. Man besuchte für die Aufnahmen ganze 15 Studios und buchte Gastmusiker wie Dave Navarro, Sebastian Bach und Brian May, der 1999 ein Solo für "Catcher In The Rye" einspielte, das sich letzten Endes nichtmal auf der Platte befindet. Gerüchten zufolge wurden bis zu 250.000 Dollar pro Monat für Equipment verprasst, und Geffen entfernte das Album 2005 gar komplett von ihrem Veröffentlichungsplan:

"Having exceeded all budgeted and approved recording costs by millions of dollars, it is Mr. Rose's obligation to fund and complete the album, not Geffen's."

Bassist Tommy Stinson hob in Bezug auf die lange Wartezeit in einigen Interviews Axl Rose' demokratischen Anspruch für das Songwriting hervor:

"It's a lengthy process because you have to get eight people to basically write a song together that everyone likes. 

Und ein beteiligter Engineer sagte zu Rose' Perfektionismus:

"Axl wanted to make the best record that had ever been made. It's an impossible task. You could go on infinitely, which is what they've done."

Das Image von Axl Rose, er sei ein peinlicher Redneck, ein kaputter Diktator, ein Faulpelz, der die letzten Jahre mehr mit Drogen und Frauen beschäftigt war als mit Musik, muss nach der Beschäftigung mit den Geschichten, die diese Platte umranken, sicherlich neu gezeichnet werden. Schwieriger Typ, labil, größenwahnsinnig, zu Kurzschlusshandlungen neigend? Kann sein. Ein musikbesessener, sensibler Künstler, ein manischer Perfektionist mit großer kreativer Kraft und einer genauen Vorstellung davon, wie seine Band und seine Musik klingen soll? Ganz bestimmt. Dafür holte sich Rose über die Jahre die creme de la creme in seine Band. Rein musikalisch rauchen die neuen Guns N' Roses alleine mit den Gitarristen Bumblefoot und Buckethead einen gewissen Saul Hudson in der Pfeife, ganz besonders Buckethead spielt einige geradezu umwerfende Soli auf dieser Platte, zum Beispiel auf "There Was A Time", nachzuhören auf dieser Instrumentalversion:




Die größte Überraschung auf einem über weite Strecken brilliant komponierten Album ist allerdings die Zeitlosigkeit des Songmaterials und damit war nun wirklich nicht zu rechnen: geschrieben und aufgenommen vor der Jahrtausendwende, lässt sich bemerkenswert wenig Patina finden. Selbst die elektronischen Spielereien, die sowieso deutlich zurückhaltender eingesetzt wurden als man es durch die Berichterstattung im Vorfeld erwarten konnte (die allerdings auch nur die durch Leaks veröffentlichten Songs kommentierte, die, wir lernten es einige Zeilen weiter oben, zig Mal neu arrangiert und aufgenommen wurden und sich somit durch mehrere Stadien durcharmorphelten), haben zwar noch einen Hauch der 90er Jahre im Atem, sind aber streng genommen so gut eingepasst und bearbeitet worden, dass wir weit davon entfernt sind, die Songs auf dieser Basis zeitlich einordnen zu können. Das ist keine altbacken klingende Platte. Und es ist auch keine hypermodern klingende Platte - diese eine Handvoll Gitarrenriffs, die einen ganz dezenten Industrial Rock-Charakter in der DNA haben, wobei wir auch gerne darüber diskutieren können, ob Industrial Rock 2008 noch so schrecklich "modern" war, sind vernachlässigbar und auch hier: in ein durchaus klassisches Rockkonzept eingesetzt worden. Alle seitens einer auflagen- und sensationsgeilen Presse geschriebenen Übertreibungen in diese Richtung sind kompletter, unseriöser, quatschbekleckerter Bullshit. 

Ich kann nicht sagen, dass ich Fan von Guns N'Roses bin. Die Band ist heute mehr Marke als Musik, wirkt live weniger kraftvoll als wie die am Nasenring durch die Manege gezogene und fast stoisch agierende Sensation (mit den drei Köpfen), zieht damit dementsprechendes Prosecco-Paradise City-Publikum an - und dass einer wie Rose diesen Rock'n'Roll-Krempel immer noch mit macht, mit Cowboyhut und -stiefeln, zerrissenen Jeans, Sonnenbrille und Beer'n'Barbecue Wampe, nimmt manchmal durchaus tragische Züge an. Dass man vielleicht trotzdem mit dem ein oder anderen Vorurteil gegenüber der Person Axl Rose auf der einen, und ganz bestimmt gegenüber dieser Platte auf der anderen Seite aufräumen kann, soll, darf und muss, ist in meinem Buch völlig legitim. 

Ich mag diese Platte. Sie ist gut. Sieht Slash übrigens ähnlich. Also Haken dran. 

"It's a really good record. It's very different from what the original Guns N' Roses sounded like, but it's a great statement by Axl... It's a record that the original Guns N' Roses could never possibly make. And at the same time it just shows you how brilliant Axl is." (Slash)


Veröffentlicht auf Geffen, 2008.


16.05.2009

Welcome To The End




THE MUSIC - STRENGTH IN NUMBERS



Wie sehr mich dieser Name schon zur Verzweiflung trieb. Mittlerweile ist es einfacher, die Internet-Suchmaschine mit dem Begriff "The Music" zu füttern und umgehend auf der Homepage der Band zu landen. Noch vor ein paar Jahren war es  nahezu unmöglich, ihre Videos auch nur auf Youtube zu finden. Vergleichbar mit der Frankfurter Punkband "Pornoheft", da gestaltet sich die Suche ähnlich abenteuerlich, wenn auch - je nach Neigung - etwas frivoler.

Ist man nach nervenaufreibenden Youtube-Minuten dann endlich auf Videos dieser britischen Kapelle gestoßen und liest dazu die Kommentare der User - was man jedoch und ganz grundlegend niemals tun sollte, wenn einem die eigene Magenschleimhaut lieb ist -  stößt man nicht selten auf Äußerungen wie

"Most underrated band EVER!!!" 

oder

"It's a shame no one notices how awesome this band is!" 

Immerhin: mir ist es aufgefallen. Seit ihrem selbstbetitelten Debut bin ich quasi "Fan", und wenn ich tief in mich gehe, dann erscheinen mir The Music als die talentierteste Disco/Rave/New Wave-Band der letzten fünfzehn Jahre. In erster Linie liegt das an Sänger Robert Harvey, einem schmächtigen Spargeltarzan, der gemessen an den Bandvideos die Ausstrahlung eines offenen Frischepacks mit Trockenpflaumen besitzt und im besten Fall als schüchtern durchgeht, hinsichtlich seiner Stimme und vor allem seiner immer wieder umwerfenden Gesangslinien jedoch locker in der Weltklasse mitmischt. Dass seine Stimmfarbe nicht jedermanns Sache ist, und sich die einschlägigen Musikmagazine besonders auf Harvey einschossen, bevor sie sich in spektakulären Verrissen suhlten, muss man wohl hinnehmen. Fallhöhe und so.

Das musikalische Gerüst im Hintergrund ist britischer, stylisher Rave-Pop für den Club, hoch melodisch, leicht psychedelisch, (fast) immer mitreißend und mit einem gar nicht mal so dünnen House-Pinselstrich verfeinert. Dabei sind The Music nicht dirty, dark und cool wie ihre Kollegen von Kasabian, oder zumindest deren Debut, geben sich stattdessen melancholischer, vielleicht auch etwas ernster und erdiger als die Konkurrenz. Vor allem auf dem schlimm unterbewerteten zweiten Album "Welcome To The North" aus dem Jahr 2004 enttarnte sich darüber hinaus auch ein veritabler Led Zeppelin-Vibe in ihrer Musik. Auf "Strength In Numbers", der dritten Langspielplatte nach einer gut zweijährigen Pause, ist der Geist von Robert Plant und Jimmy Page immer noch wenigstens als homöopathische Dosis, in der Aura des Albums, verfügbar. Allerdings straffte das Quartett hörbar seine Kompositionen, die jetzt noch straighter, melodisch noch ausgereifter und grundlegend tanzbarer erscheinen. Und auch wenn man blöderweise mit dem Titeltrack die durchschnittlichste Nummer als erste Single veröffentlichte, haben The Music allerspätestens mit "Strength In Numbers" ihren tatsächlich sehr eigenen Sound gefunden.

Trotz meiner Einschätzung, dass es sich bei "Strength In Numbers" um das bis dato beste Album der Band aus Leeds handeln könnte, habe ich den Eindruck, als ginge den Burschen langsam die Luft aus. Nicht unbedingt qualitativ, aber die Frage, ob ein viertes Album wirklich und unbedingt notwendig ist, schwebt einigermaßen unheilvoll im Raum. Hat man mit den drei Scheiben alles gesagt, oder geht da noch mehr? Die Entwicklung der Band ist zweifellos bemerkenswert, und es schlummert sicherlich noch Potential in den Köpfen und Finger der vier Briten, aber ich bezweifle, dass The Music ihrem Gesamtwerk künftig tatsächlich noch ein entscheidendes Stückchen hinzufügen können. Da kann sich auch mal die Erkenntnis durchsetzen, dass es genug ist. Zumal die Band auf ihr bisheriges Schaffen durchaus mit Stolz zurückblicken darf.

Update 2016: Ich hatte leider recht, die Band hat sich 2011 aufgelöst. Es gab kein viertes Album. "Strength In Numbers" ist eines der zehn besten Alben der 2000er Jahre.






"Strength In Numbers" von The Music ist im Juni 2008 auf Polydor erschienen.


31.03.2009

Nix Hält Mehr...

01 Grace Jones - Corporate Cannibal
"I don't want to say much more but - Grace Jones is in the house." Ein taufrisches Comeback nach über 20 Jahren, das die mittlerweile 60-jährige gebürtige Jamaikanerin in einem aufgerissenen Leopardenschlund feiert. "Corporate Cannibal" ist eine Sensation, ein angedubbter TripRockHopPop-Wahnsinn, sexy...geradewegs tödlich sexy. "I'll consume my consumers." Mami, ich hab' Angst!

02 Bullion - Get Familiar
Reichlich irreführend von einigen Tölpeln in die Portishead-Ecke gesteckt waren Bullion ein bisschen der 2008er Underground-Hit aus England: die Single zu "Get Familiar" war nach wenigen Tagen ratzeputz ausverkauft, und Gilles Peterson nahm den Song auf die dritte Ausgabe seiner Brownswood Bubblers-Zusammenstellung. Etwas verspulte Beats in leicht psychedelische Tinte getaucht, dazu Flying Lotus Marihuana in der Blutbahn. Zwei Minuten und achtundvierzig Sekunden Kopfnicken.

03 Weezer - Pork & Beans
I hate fuckin' Weezer. Vielleicht die schlimmste Band der Welt. Ich fand die übrigens schon immer unsagbar schlimm. Und jetzt ist "Pork & Beans" so großartig, dass ich mir tatsächlich die Blöße gebe, das auch noch zuzugeben. "Die Bette Davis is' ja aach tot." Gna.

04 Stacy Epps - Floatin'
Ein aufgehender Stern am Soul und RnB-Himmel: Stacy Epps aus Atlanta hat 2008 mit "The Awakening" ein sehr spirituelles Debut veröffentlicht. Auch wenn mir die Platte insgesamt noch etwas unausgegoren erscheint, ist "Floatin'" ein rollendes Hip-Hop-Soulmonster mit einer prachtvollen Sonnenstimme, die das ganz bestimmte Funkeln, diesen kleinen, besonderen Kniff transportiert, der immer und überall aufhorchen lässt.

05 Four Tet - Ringer
Krautrock meets Elektrogefummel, und wer sonst wenn nicht Kieran Hebden wäre der passende Mann dafür? Der Aufbau des Titelstücks von Four Tets aktuellem Album sprengt mich aus meinem Sakko und reißt mir das geliebte rosafarbene Polohemd gleich mit von der Brust: acht Minuten klöppeln Sample-Fruchtzwerge einen Loop nach dem anderen zurecht, bevor ein kurzer Beatausbruch die Leitplanke an der A66 bedrohlich näher rücken lässt. Wenn schon Tinnitus, dann damit.

06 Henrik Schwarz And Amampondo - I Exist Because Of You
Zehn Minuten Groove und Extase von einer Hälfte des DJ-Duos Tiefschwarz zusammen mit der südafrikanischen Percussiontruppe Amampondo, die neben den Marimba und Djembe-Tribalgrooves außerdem noch die Vocals beisteuern. Ein überraschend behutsamer Aufbau, aber der Track läuft und läuft und läuft und läuft...solange die Füße (und die Europalette Red Bull) tragen. Sehr erfrischend und seeeehr mitreißend.

07 Warrior Soul - The Fourth Reich
Die nicht für möglich gehaltene Wiederauferstehung einer Legende. Trifft genau meinen Rocknerv: ein schweres, psychedelisches Megariff, eine Scheißwut in Kory Clarkes Stimme, ein Text, der für heutige Verhältnisse womöglich eine Spur zu kindisch oder meinetwegen naiv ist, aber mir aus allen verfügbaren Seelen schreit. Ich bin ja nicht ohne Grund noch mittendrin, in der Pubertät. 

08 Vladislav Delay - Recovery Idea
Selbst einer wie ich, der von Tuten und Blasen keine Ahnung hat, merkt nach wenigen Sekunden, wer hier am Werk ist: Vladislav Delay, der mit "Whistleblower" das Album des Jahres 2007 veröffentlichte, haut seine Soundblitze und seine reißenden Schrammen über einen flockigen Beat und flechtet noch seine bekannten Synthieflächen nebst sanften Melodietupfern ins Gestrüpp. 

09 The Bronx - Minutes In Night
Mich hat das dritte Album der Punkrocker aus Los Angeles überraschenderweise nicht so hart gekickt wie die beiden Vorgänger (wobei: "II" brauchte auch einige Zeit, um sich zu entfalten), aber trotz des etwas müden Schleiers, der über "III" bisweilen liegen mag, hat das Quintett einige wunderbare Brecher aufgenommen. "Minutes in Night" ist einer davon. Ein übergroßer Refrain, ein großartiges, an "Rape Zombie" erinnerndes Gitarrenriff und dieser berüchtigte Schuss The Bronx-Wahnsinn in der Stimme.

10 Tribute To Nothing - Day In Day Out
Kumpel Olli legte mir die Scheibe der Briten mit den Worten "Wie Hot Water Music, nur besser" wärmstens ans Herz und ich fackelte nicht lange: mit Punkrock kann man nur ganz selten etwas falsch machen. Ich habe es nicht bereut und das liegt in erster Linie an diesem kleinen Songjuwel: "Day In Day Out" ist tatsächlich angenehm angerauhter und souveräner Punkrock, der zwar weder besonders heavy noch übermäßig aufsehenserregend ist, in besagtem Track aber all die Komponenten auffährt, die auch nach fünfzigfacher Behandlung noch immer für eine schöne Gänsehaut sorgen. Eine leidenschaftliche Stimme, die das angespannte und bebende Zittern nicht verbergen kann und will und ein Text, der mich vor meinem geistigen Auge schon wieder mit erhobener Faust vor dem Wasserwerfer stehen lässt. Blutdruck is rising.

28.03.2009

Platz 1


The Sea And Cake - Car Alarm

Es muss Sommer werden, ganz dringend. Meinetwegen tut's auch erstmal der Frühling, aber bitte: dieser Scheißwinter soll sich bitte mal ver....abschieden. Ich muss endlich wieder auf meinem Mikrobalkon sitzen/liegen/stehen/frühstücken/herumnachten und mir dabei zur wärmenden Sonne und zur lauen Sommernacht die schönste Musik um die Ohren wehen lassen, die es für solche Momente zu geben scheint. 

Ich hörte mich in den letzten Tagen durch so manches früheres The Sea And Cake-Album und musste in der näheren Auseinandersetzung das ein oder andere zu schroffe Urteil meinerseits revidieren, beispielsweise zur mittlerweile genügend rehabilitierten "One Bedroom" aus dem Jahre 2003, die selbst das graueste Grau eines Montags im März in ein perfektes Kaffeekränzchen an einem Sonntagnachmittag im August verwandeln konnte. Auch in anderer Hinsicht war es gut, sich nochmal eingehender mit der Band zu befassen; die Beobachtung der Weiterentwicklung des Bandsounds und der Arrangements über all die Jahre geriet recht eindrucksvoll und half dabei, das aktuelle, nunmehr achte Studioalbum der Band, entsprechend ein zu sortieren. Und man tut gut daran, "Car Alarm" zunächst etwas losgelöst vom sonstigen Oevre zu betrachten. Wenn Sänger/Gitarrist Sam Prekop schon über den letzten Geniestreich "Everybody" sagte "It's a rock album", dann ist "Car Alarm" zumindest streckenweise mindestens Hardcore. Enorm flüssiger The Sea And Cake-Hardcore, der einem zu Beginn fast unbemerkt durch die Finger rieselt.

Nach Beendigung der letzten Tournee begab sich die Band umgehend an die Arbeiten zu "Car Alarm", und das aus gutem Grund: der Schwung aus den vergangenen Monaten auf der Bühne und die damit bestens geölte Bandmaschinerie sollten unbedingt auf dem folgenden Album im Vordergrund stehen. Man experimentierte mit dieser Kraft und diesem Fluss und hatte in nur drei Monaten ein komplettes Album im Kasten, und der Einfluss dieser Arbeitsweise ist deutlich zu hören. Wenn ich schon über den Vorgänger schrieb, dass "ihr Anspruch, in dem zugegebenermaßen begrenzten stilistischen Rahmen um die Fixpunkte Jazz, Indie und Pop, immer wieder die besten Songs aufzunehmen, die sie zur Zeit in der Lage sind zu schreiben, hier seine Vollendung findet", dann müsste ich mich nicht sonderlich schämen, purzelten mir ein Jahr später diese Worte nochmals aus dem Handgelenk. Auch wenn es diesmal etwas länger als gewohnt dauerte.

"Car Alarm" benötigte tatsächlich mehr Eingewöhnungszeit. Es gab gar Momente, in denen ich Songs wie dem furios lospreschenden Titeltrack ziemlich ratlos gegenüberstand. Oder das synthiepiepsige "Weekend", das mit seiner aufgedrehten Jungbrunnen-Art so gar nicht in den Kontext passen wollte. Erst nach einigen Wochen (und mehrfachen Kopfhörer-Sessions) wuchs "Car Alarm" nicht nur zusammen, sondern auch über sich hinaus: diese Gitarren! Diese unglaublich schönen Gitarren! Dieses Flirren! Dieses traumhaft sichere und souveräne Umschalten in andere Songdimensionen! Diese perlenden Melodietupfer von Archer Prewitt! Und vor allem: dieser Sound! Wie geil kann man klingen? Und wie geil kann man eigentlich zusammen spielen? Das Rhythmus-Duo mit Drummer John McEntire und Bassist Eric Claridge groovt, jazzt und filigranisiert sich durch luftige, federleichte Songnetze, die Gitarren von Prekop und Prewitt setzen darauf in Milimeterarbeit Melodien und Akkorde, die Prekop mit gewohnt leise hauchender Stimme gefühlvoll links oben unter die Latte nagelt. 

Es passt: alles. Und wer den immer wiederkehrenden Spruch, dass das gerade aktuelle The Sea And Cake-Album auch automatisch ihr bis dato bestes Werk sei nicht mehr hören kann/will, der höre stattdessen bitteschön "On A Letter", "New Schools" (inklusive Gitarrensolo!), "Window Sills" und "Pages" (!!!!!!!!). Danach dürften sich diesbezügliche Zweifel in Luft aufgelöst haben.

23.03.2009

Platz 2


Bill Dixon With Exploding Star Orchestra

Take your time, there is no time
Power and beauty 
You only have to open your life 
And listen.

The tension and tightness of now
He put horn to lips 
Played the most sublime 
Powerful sound. 

The church was going to crack 
Open and a million white birds 
Fly from his chest, leaving traces 
Gold and silver in the light-blasted sky. 

Eternity, in fact
One minute of sound 
Sound had penetrated the granite pillars 
For all of eternity.



Ein majestätischer Orkan, ein alles entwurzelndes Monster mit Stimmen so stark, dass sie den Boden unter den Füßen wegziehen. Sie rumpelt und rempelt; eine Urgewalt, die sich rücksichtlos wie eine Gerölllawine ihren Weg bahnt. Ein unterirdisches Brodeln, feuerspuckende Lava-Zungen, Ascheregen.  

Und wenn der tosende Sturm vorüber scheint, sei auf der Hut. Bill Dixon holt sicher nur mal eben kurz Luft...For all of eternity.

17.03.2009

Platz 3


Move D & Benjamin Brunn - Songs For The Beehive

Nichts schwebte schöner im abgelaufenen Jahr. Nichts pumpte soviel Frohsinn und Mystik, nichts anderes solch geil-grelle Farben und Strukturen in die Welt. Ich habe keine Ahnung, was es ist, but it's fuckin' beautiful.

Techno, House, Ambient, Glitches, Clicks, Pop. Alles auf einem Haufen. Alles deep wie Hulle, vor Ergriffenheit schwer atmend, sich die schönsten Melodien aus den Rippen schnitzend, ist "Songs For The Beehive" das schönste Electronica-Album des Jahres. Alleine für den überlangen Abschlusstrack "Radar" könnte ich vor Freude in ein Gewässer Deiner Wahl pullern: kommt niemals nicht aus den Puschen, wabert wie einst der Trockeneisnebel um die dürren Storchenbeinchen von Nena (Musikladen 1983), wie von den Russenchinesenamieskimos abgefeuert und Richtung Uranus paddelnd, frei im Raum, entrückt, verrückt und ständig auf der Suche. 

Dann! Das Signal ist da. Gefunden, entdeckt, bezaubernd entzaubert. 

13.03.2009

Platz 4


Sonargemeinschaft & Fred Frith - Drift

Meine Meinung zu "Drift" hat sich seit dem September des vergangenen Jahres nicht grundlegend geändert; eher fielen mir im Rückblick und bei der neuerlichen Auseinandersetzung mit den 70 Minuten improvisierter Musik einige neue Blickwinkel und Betrachtungen auf, die bislang (fast) verborgen blieben. 

Ich glaube, ich bin tatsächlich zu einem Fan von Dirk Raulfs Saxofon geworden. Er sorgt mit seiner Präsenz jederzeit für eine erstaunliche Opulenz einer eigentlich dürren Ausgangslage: gemeinsam mit seinem langjährigen Partner Frank Schulte und dem britischen Gitarristen tastet er sich durch eine karge Landschaft mit kühlen Nebelschwaden und kräftezehrenden Treibsand. Egal wie leise Raulf auch spielen mag: wenn sein Ton erklingt, bekommen die Bilder einen Rahmen. 

Schultes Spiel mit Field Recordings und schleifenden Sounds, einer teils furchteinflößenden Klangcollage aus einem Nachtspaziergang am verlassenen Weiher, bietet jederzeit den passenden Boden für zunächst Raulfs aus brüllenden Wildtieren und kristallklaren, schwebenden Eiszapfen bestehenden Eskapaden, sowie später für die freie und brodelnde Gitarre eines Fred Frith. Als jener für das zweite Stück "All Aboard" zu dem Duo dazustößt, benötigt die Truppe spürbar einige Momente, bis sie sich gefunden haben, nur um nach wenigen Minuten ihren Spielplatz nicht nur in Beschlag genommen, sondern ihn schon in leuchtenden Farben angemalt und damit verschönert haben. 

Ein sehr buntes und spannendes Album, das sich bei jedem Hören an so mancher Stelle neu entfaltet, ja: neu erfindet.

"Abends, am See..."

02.03.2009

Platz 5


Warrior Soul - Chinese Democracy

Lange Blogeinträge interessieren kein Schwein. Okay, kurze auch nicht, aber sie sind unauffälliger.

Ich bin bekennender Reunion-Dooffinder. Das behauptet zwar auch jeder zweite Bloghonk, aber ich meine es ernst. Und ich bin natürlich der einzige, der es ernst meint. Weltweit. Dabei ist es mir egal, welche Band "es nochmal wissen" will, oder welche Kapelle von versoffenen Journalisten mit "Endlich mal eine Reunion, die Sinn macht!" geadelt (also beleidigt) wird. In glatten 10 von 10 Fällen handelt es sich bei dem Ergebnis der Bemühungen um unfassbaren Schrott. Man möge mir meine Direktheit verzeihen. Und bevor der erste Zwischenrufer sich ein Herz fasst: nein, es gibt keine Ausnahmen. "Stop your internal dialogue, you're wrong, get over it!" (B.Hicks). Im Vorfeld getätigte diesbezügliche Äußerungen auf diesem Blog verlieren damit übrigens ab sofort ihre Gültigkeit. 

Wenn nun also ein kleiner Hutzelzwerg namens Kory Clarke meint, er müsse unbedingt die in meinen Augen vielleicht größte Rockband aller Zeiten mit einer Handvoll schwedischer, schottischer oder mecklenburg-vorpommerscher Volln00bs reaktivieren, nachdem er seine Stimme nachweislich zwischen Tennessee, Bogotá und Marlboro-Country an einen rostigen Nagel gehängt hat, wenn also dieser uffgestummte Gaddezwersch wirklich der Meinung ist, die eh schon schwer gebeutelte Mutter Erde muss 12 Jahre nach der Auflösung des klassischen Line-Ups mit Johnny Ricco, Pete McClanahan und Mark Evans ein weiteres Warrior Soul-Studioalbum aushalten können, einer, der sich neben all dem Suff seinen Punkspirit (bitte was?! - Anm.d.Redaktion), seine Rebellion, seine Aufrichtigkeit bewahrt hat, und dem es allein schon aus diesem Grund doch unmöglich sein dürfte, dieses, pardon, Scheißprogramm tatsächlich und unter diesen Umständen (s.o.) durch zu ziehen, anstatt es halt auch mal einsehen zu können, dass einerseits alles eben ein Ende hat, und es andererseits und sowieso doch total schnafte ist, ein Vermächtnis in Form eines Backkatalogs im stillen Kämmerlein zu lagern, das nicht einen, aber auch nicht mal einen halben oder dreiviertlen schwachen Song beziehungsweise Ton ausweist, und der all dies schöne Lauschgold mit einer vermeintlichen und gemäß meiner obigen Ausführungen hundertprozentig vollends durchgeknallt-beknackten, lustlos hingestümperten und vor allem -geröchelten, sowie darüber hinaus quadratbekloppten Mistplatte mit einem Schlag zunichte machen will, dann sage ich ein klares und deutliches: scheißrein, warum eigentlich nicht?

Auf einer Skala von 0 bis 10 lagen meine persönlichen Erwartungen an ein neues Warrior Soul-Album folgerichtig bei einer eiskalten und letztlich optimistischen -7 mit sechs anhängenden Nullen. Wer noch ganz bei Trost war, machte sich spätestens nach dem 2007er Livealbum "Live In London" in atemberaubender Geschwindigkeit aus dem Staub. Und ich war glücklicherweise noch ganz doll bei Trost, sodass ich die Ankündigung von "Chinese Democracy" zwar ob des Titels kichernd, aber insgesamt mit noch weniger als einem Achselzucken kommentieren konnte. Zugegeben, der Absatz klingt ganz schwer nach "Mimimimi!", aber ich muss das so schreiben. Nicht aus einem popkulturellen Zwang heraus, ich meine das ernst. Warrior Soul sind und waren die größten für mich. Aber noch vor fünf Monaten hätte ich mir lieber die Ohren mit Flüssigbeton ausgegossen, als hiervon auch nur einen Ton zu hören.

Ab jetzt kann ich es jedoch "kurz" im Sinne von "nicht-ganz-so-lang" machen: ich muss Abbitte leisten. Ich habe mich geirrt. Ich könnte den Social Distortion-Altenheim-Schunkler "I Was Wrong" auflegen und mich dazu nackich ans Kreuz nageln lassen. Ich habe es nicht für möglich gehalten und bekam dafür eine halbstündige Tracht Prügel. "Chinese Democracy" ist die Wutz in Dosen. Dem Warrior Soul Klassiker-Oevre wurden mit links sieben Songs plus eine Coverversion des Stooges-Hits "Knocking 'Em Down (In The City)" hinzugefügt, und ich kann beruhigt durchatmen, denn es bleibt dabei: Warrior Soul haben in ihrer Karriere noch niemals einen schlechten Song aufgenommen, egal mit welchem Line-Up. Die größte und gleichermaßen schönste Überraschung neben den energiegeladenen, arschfrischen und sautighten Punk'n'Rollern und der Tatsache, dass Clarke tatsächlich noch eine erkennbare Stimme besitzt und sie sogar wie in goldenen Zeiten einsetzen kann ("Don't Believe") ist sicherlich das deutliche Lebenszeichen der alten Warrior Soul-Vibes. Es fällt schwer, sie umgehend mit einem Fingerzeig zu dechiffrieren, aber sie sind spürbar, das Feeling ist wahrnehmbar; sei es in der Auferstehung des typisch-hypnotischen, Soul'schen Gitarrenriffs ("The Fourth Reich", "Don't Believe") oder in Clarkes weiterhin zynischen und humorvollen Texten und seinen klassischen Vocallines. 

Es freut mich wirklich sehr...ach was, ich springe hier im Dreieck, verdammt!,...dass Clarke es geschafft hat, dem eigentlich insolventen Laden nochmal derart beeindruckend Leben ein zu hauchen. Er wusste offensichtlich, dass die Fußstapfen verflucht groß sind, und dass einige Anstrengungen vonnöten sein werden, um den einst großen Namen nicht vollends zu ruinieren. Es ist ihm geglückt. Mehr als das, sogar: "Chinese Democracy" ist die beste Rockplatte des Jahres 2008. 

24.02.2009

Platz 6


Kris Davis - Rye Eclipse

Sie winden sich, und sie schlagen sich, sie lachen, und sie küssen sich, sie vergraben sich, und sie brechen wieder aus. 

Sie kämpfen. Um jeden Ton. 

Ein schier endloses Auf und Ab. Die harten, perkussiven Hammerschläge auf das Klavier wirken wie vom Irrsinn getrieben. Repetitiv schlängelt sich Davis' Piano durch ein manchmal gar undurchdringbares Geäst, einem Wirrwarr von Sounds, die ihre Musiker Tony Malaby am Saxofon, Bassist Eivind Opsvik und Drummer Jeff Davis wie entfesselt aus ihren Instrumenten locken. Es brodelt, es ist unheimlich, es schleicht und springt wie der Tasmanische Teufel. Dann kommen sie zur Ruhe, ohne dabei ihre Rastlosigkeit ab zu legen. 

Die unkonventionellen Kompositionen der jungen kanadischen Pianistin Kris Davis wirken wie künftige Monumente. In den gewalt(tät)igen Augenblicken wie vom Erdboden aufgerissener Asphalt, wie Beton und Stahl, der sich aus dem Untergrund streng blitzend in die Höhe schraubt, und wie ein angeschossenes Raubtier, wenn die Stille kommt. Malabys Anblasen fliegt wie ein verirrter Schleier in die Nacht. Sein Solospiel ist expressiv und aufwühlend, seine melodischen Improvisationen wie in "Prairie Eyes" anmutig. Davis' Pianofiguren dominieren weite Teile von "Rye Eclipse", ordnen sich aber nach der werweißwievielten Drehung unter Hypnose in den Klangdunst ein. 
 
"Sie kämpfen. Um jeden Ton." Und sie tun es tatsächlich. Keine martialische Schlacht im Sinne einer Anstrengung, die vonnöten wäre, um den korrekten Ton zu finden. Viel mehr ist es das Streben, im allumfassenden Kontext von "Rye Eclipse" zu bleiben. Das Gespür, den Fokus nicht nur auf das eigene Instrument, die Mitmusiker und den exakten, gegenwärtigen Moment zu lenken, sondern instinktiv zu spüren, was diese Musik wirklich benötigt. Im Klang. Im Ursprung. In der Wirkung. Dieses große, letzte Verständnis wird von diesen vier Musikern geradewegs atemberaubend gelebt: sophisticated, urban und himmlisch frei. 

31.01.2009

Platz 7




RYOJU IKEDA - TEST PATTERN



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30.01.2009

Platz 8




Matana Roberts - The Chicago Project

Charme. Charisma. Tiefe. Soul. Matana Roberts' drittes Soloalbum ist ihrer Heimatstadt gewidmet, der "root inspiration for this record".

Es ist eine einzige geerdete, melancholische Stimme, die sich aus vielen Stimmen zusammen setzt: Roberts am Altsaxofon, Jeff Parker an der Gitarre, Josh Abrams am Bass und Drummer Frank Rosaly. In den wunderbaren Saxofon-Improvisationen "Birdhouse 1", "Birdhouse 2" und "Birdhouse 3" kommt als Counterpart Fred Anderson am Tenor hinzu. Egal, wer gerade am Geschehen teilnimmt: es ist Roberts' integrierendes Talent, das die Stimmen bündelt. Ihr Ton ist warm und klar, ihre Kompositionen erinnern bisweilen gar an die spirituelle Königsklasse eines John Coltrane ("South By West"). Die variantenreichen Stücke sind dabei in ihrer Wirkung ein nahezu perfekter Brückenschlag aus Tradition und Moderne, aus den wärmenden Umarmungen der großen, alten Meister und der Distanz, des Designs der windigen Großstadt. Die Band wird dafür zum großen Farbkasten des Jazz geführt und erhält genau die Inspirationen, die sie für das Jetzt brauchen. Der Grundton schimmert allgegenwärtig durch die vielen Pinselstriche, es ist der Blues und der Soul. Ein abstrakter Free Jazz setzt sich auch immer wieder durch, gewinnt aber nie die Oberhand. Vor allem, wenn Parkers Gitarrenspiel einsetzt, balancieren die Stücke immer am Rand des Abdriftens in freie Gefilde, bevor sie vom eingewurzelten Ton der Bandleaderin wieder eingefangen werden.

Hervor zu heben ist auch unbedingt die sensationelle Produktion (aufgenommen von John McEntire in - na klar - Chicago, gemixt von Scotty Hard und Vijay Iyer in Roberts' Arbeitsstätte in New York) des Albums. Sie unterstützt die Musiker bei ihrer Stimmfindung, obgleich sie alles andere als 'perfekt' oder gar 'modern' ist. Insgesamt erscheint das Klangbild gar zart dumpf, ist aber in der Lage, jedes einzelne Instrument glasklar auf die Leinwand zu bringen.

"The Chicago Project" ist dank seines unaufgeregten und gleichzeitig mitreißenden Charmes eines der unwiderstehlichsten und verführerischsten Jazzalben des abgelaufenen Jahres.

27.01.2009

Platz 9




Jud - Sufferboy

2009 war sicherlich nicht das Jahr der Rockmusik, wenigstens nicht in meiner Wahrnehmung. Entweder gab ich mich den bekannten Gassenhauern aus meiner Jugend hin, oder ich fand am Wegesrand das ein oder andere hübsche Gerocke und Gerolle, wenn auch meistens eher durch blanken Zufall. JUD zählen im Grunde zu der ersten Kategorie. Dass meine übergroße Skepsis gegenüber Reunions im Allgemeinen und der JUD-Reunion im Speziellen dazu führte, dass ich "Sufferboy" zunächst mal gar nicht hören wollte, funkt darüber hinaus ein paar wenige Signale an das Modell "Zufall". An anderer Stelle dieses Blogs durfte ich aber bereits mit wehenden Fahnen Entwarnung geben: "Sufferboy" ist eine überraschend starke Scheibe geworden.

Vier Monate nach dieser Einschätzung hat das Comeback-Album keinen Funken Ausstrahlung verloren, das Gegenteil ist der Fall. So sind mittlerweile nicht mehr nur die offensichtlicheren Hits wie "Bright White Light" oder das unglaubliche "Drained" die tragenden Säulen, viel mehr haben sich die teils extrem heftigen Doom-Kathedralen im hinteren Drittel der Platte zu echten Juwelen gemausert. Nach dem Quartett "What Are You Made For", "Asylum", "That's Life" und dem tonnenschwermütigen Blues-Doomer "Chasing The Pain Away" ist der Kiefer praktisch erstmal ausgerenkt. Denn auch wenn JUD noch nie leicht-beschwingte Kost spielten, überrascht es, dass der "Sufferboy"-Punch derart heavy und geradewegs zerstörerisch ausfällt.

Die Nachlese zeigt darüber hinaus, dass es nur diesen Weg für die Band geben konnte. Im Ergebnis klingen Clemmons, Schmitt und Hampicke nicht nur erfreulich frisch, zeitgemäß und einfach knüppelhart. Das vermutlich größte Kompliment, das man der Band mit ihrer Musik machen kann ist außerdem, dass sie völlig einzigartig klingt. Vor zehn Jahren, als JUD mit anderem Line-Up die beiden Klassiker "Chasing California" und "Perfect Life" veröffentlichten, war dieser Eindruck möglicherweise noch nicht so präsent. Heute jedoch, mit etwas Abstand zum Frühwerk und zum aktuellen Album, kann man im Hinblick auf das weitere Fortbestehen der Band nur hoffen, dass die Originalität Ihnen in Zeiten von gesichts- und niveaulosen Copycats und Styleopfern nicht erneut zum Verhängnis wird.

Lang lebe das Riff.

26.01.2009

Platz 10




Madteo - Memoria

Mit einem wahrhaft obskuren Schätzchen steigen wir in die Top-Ten des vergangenen Jahres ein: Madteos "Memoria" hat sich diesen Platz an der Sonne redlich verdient.

Der zweite Release von Matteo Ruzzon beeindruckt dabei in erster Linie durch die völlig eigenständige und schlicht abgedrehte Anlage seines Sounds. Madteo bleibt über die ganze Spieldauer geradezu schmerzhaft unkonkret. Wer mit dem Finger in eine Richtung zeigen will, kann nur in eine dunkle Nebelwolke deuten und wird dabei lieb narkotisiert spüren, dass die Wände näher kommen. Dann beginnt der Spaß erst so richtig: wie Madteo mit den Ängsten des Hörers spielt, macht erst im zweiten Schritt Laune. Zunächst einmal kann "Memoria" nämlich recht furchteinflößend klingen. Die dunklen, dumpfen, skurril-ziellosen Beats hämmern mit einer autistischen Wucht direkt ins Angstzentrum, Abteilung Klaustrophobie. Dazu hagelt es unheilverkündende Klicks und Kratzer. Melodien, zu denen das feierwütige Volk tanzen kann? Allerhöchstens auf schweren Drogen zu entdecken. Ein mitreißender Happysound, der die Sonne aufgehen lässt? Hier geht alles unter. Techno? House? Viel zu simpel. "Avenidia Liberdade"? Wahnsinnige, irrwitzige, kranke, Avantgarde-Electronica für Menschen, die sich vor dem Einschlafen gerne ein Tässchen Wick VapoRup mit frischem Stechapfeltee aufbrühen.

Clubmusik, Noise, Disco und Jazz aus den unterirdischen Höhlen von Romulus. Fremd und einzigartig.

21.01.2009

Platz 11




M.B. +E.D.A. - Regolelettroniche

In neun von zehn Fällen sind Blindkäufe, die ich aufgrund der Geräuschmusik-Kolumne von Freund Kai tätige, schlicht ein großes und spannendes Lauschglück. Es fällt mir daher leicht, immer wieder ganz entspannt die auf den ersten Blick interessantesten Titel heraus zu picken. Im Falle von "Regolelettroniche", der Kollaboration des italienischen Avantgardisten Maurizio Bianchi mit der früheren Sängerin & Gitarristin von Joyce Whore Not, Emanuela De Angelis, lohnte sich fast schon traditionsgemäß das in seine Tipps gesetzte Vertrauen: bereits nach dem ersten Durchlauf war ich kneedeep in love.

Die Kenntniss über Bianchis bewegte Biografie (inklusive einer gänzlich unbeweglichen, weil schlicht stummen Phase von 1984 bis 1998) mag dabei helfen, eine vollständige Sicht auf dieses Album zu erhalten. Bianchi veröffentlichte zu Beginn der achtziger Jahre zum einen unzählige Tapes, zum anderen aber, mit Unterstützung von Whitehouse-Gründer William Bennett und dessen Come-Org-Label auch LPs mit solch malerischen Titeln wie "Symphony For A Genocide" und geriet durch die teils sehr kleinen Auflagen seiner Werke über die Jahre zum Kult in der Industrial-Szene. 1984 schloss er sich von Depressionen geplagt den Zeugen Jehovas an und seine Musik aus. Erst 1998 erschien er wieder auf der Bildfläche und veröffentlicht seine Musik seitdem mit einem beeindruckenden Tempo.

Auf "Regolelettroniche" wird man von Wellen und Vibrationen erfasst. Bianchi und De Angelis errichten mit schier niemals enden wollenden Drones und Layers eine nervöse Wall Of Sound, die trotz der vergleichsweisen stillen, fließenden Komponenten nicht so recht beruhigen will. Minimale Verschiebungen der Metrik und des Klangs reißen Mikrofrakturen auf und lassen immer wieder neue Melodiefetzen an die Oberfläche schnappen. Die darin zu beschreitenden Wege sind so diffus und verzerrt, dass es erst nach einiger Zeit gelingen mag, sich allein auf die Möglichkeiten ein zu lassen, die diese monotone und mystische Arbeit bietet. Vor allem die langgezogenen Ausläufer der vier Tracks öffnen den Blick auf den entfachten Strudel aus Melodien, Motiven und Labyrinten. Und es macht einfach einen Riesenspaß, auf die große Entdeckungsreise zu gehen.

Außerdem und nicht zu unterschätzen: "Regolelettroniche" hat das schönste Artwork dieses Jahres geschenkt bekommen.

19.01.2009

Platz 12




Sten - The Essence

Und dann sprang der Lautstärkeregler von ganz alleine auf das Maximum. Ich habe ihn überhaupt nicht angerührt. Ehrlich nicht. Ich liege eingemümmelt auf, wo nicht in meiner Wohnlandschaft herum und starre in die große Breisuppe aus öligem Rot. Mit den dicksten Kissen werde ich Eins, es ist, wasweißich, um die vier Uhr am Morgen und draußen schneit es.

Ich habe das Gefühl, "The Essence" wird automatisch mit jedem Track lauter.

Detroit und Chicago, darum geht es. Techno und House, eingekocht auf das, was im wahrsten Sinne des Wortes bewegt. Der Titel von Stens zweitem Album wurde schließlich nicht umsonst gewählt. Das straighte Treiben des Hamburgers "amorphelt" (G.Polt) mit köchelnden Beats und einem dunklen Schleier zarter Melancholie in die Nacht. Mal funktionale, mal raumgreifende Melodien weben sich in ultradeepe Tracks und spüren mit irren Lichtblitzen in sich verschlungene Leiber auf.

Zu all dem wunderbaren Wahnsinn, in dem es sich so vortrefflich versinken lässt, ist der Abschlusstrack "Way To The Stars" dann die tatsächliche Krönung: die Nacht ist vorbei. Das Licht darf zurück in unser Leben schwappen und den Körper heilen. Schon wieder eine Schlacht geschlagen. Eine sanfte Schlacht.

16.01.2009

Platz 13




Flying Lotus - Los Angeles

Möglicherweise wird die Obskurität von Musik ein gutes Stück neutralisiert, wenn sie eine Saison als der heiße Scheiß gilt, und wenn die Entdeckung desselben nicht mehr nur hinsichtlich des Obskuritätengrades mindestens ebenbürtigen Giganerds vorbehalten bleibt. Steve Ellisons Flying Lotus fliegt nicht nur auf WARP, er flatterte im Jahr 2008 geradewegs in die offenen Arme einer gierigen Szene (Vorschläge um welche Szene es sich tatsächlich handelte bitte an die bekannte Adresse), die vermutlich immer noch nicht mal den blassen Hauch eines Schimmers hätte, was hier wirklich passiert, wenn das nicht alles im großen Jubelgeschrei glattpoliert worden wäre.

Wer genau hinhört, wird nach kurzer Zeit tatsächlich nicht mehr so genau wissen, wo ihm der Kopf steht. Zwar gelingt es hier und da einzelne Inspirationen heraus zu ziehen. Aber selbst das ist höllisch schwer: "Los Angeles" ist eine gigantische Brutstätte von Sounds, Layern, Beeps, Rauschen, Melodien und Stimmungen. Wer die dechiffrieren will, kommt an Schubladen wie Soul, Hip Hop, Jazz, Pop, elektronischem Gefummel und gar Punk nicht vorbei, aber wie das wilde Gschwerrl zusammengesetzt wurde, bleibt das Geheimnis dieser rätselhaften Platte. Ein schleifender Schleier legt sich über jede Sekunde von "Los Angeles", es wird schwül und lazy. Rauchig. Sexy. Die Beats verschwinden hinter einer diesigen Wolke. Schon wahrnehmbar, aber sie funktionieren auf einer völlig anderen Ebene als bei anderer Clubmusik. Sie drücken, ziehen und bremsen gleichzeitig, sie sind wichtig und im selben Moment völlig irrelevant.

Die Faszination, die von diesem zu gleichen Teilen futuristischen wie hippieartigen '68er Psychosound ausgeht ist nachwievor ungebrochen. So landet "Los Angeles" immer wieder und in regelmäßigen Abständen auf dem Plattenteller. Immer auf der Suche nach einem weiteren Haken, einem weiteren Trip, einer weiteren Idee, eines neuen Sounds...nach einem neuen Blick.

14.01.2009

Platz 14




By Any Means - Live At Crescendo

Bass William Parker. Schlagzeug Rashied Ali. Saxofon Charles Gayle. "We are By Any Means."

Was im Juni 2006 mit einer Aufnahme in New York begann und nicht vollendet wurde, kommt mit "Live At Crescendo" und einem umjubelten Auftritt in Schweden nun doch zu einem vorläufigen Abschluss. Charles Gayle bat nach dem Durchhören der New Yorker Aufnahme darum, sie nicht zu veröffentlichen: er spürte, dass seine Soloparts nicht die gewünschte Struktur aufwiesen. Sein Anspruch war damit nicht erfüllt. Ein gutes Jahr später stiegen die drei Musiker erneut gemeinsam auf die Bühne, diesmal im schwedischen Crescendo-Club. Das Ergebnis ist die möglicherweise undurchdringlichste Platte des Jahres. Und Charles Gayle scheint zufrieden.

Ich werde vielleicht erst in ein paar Jahren wirklich erfassen können, was mich in diesen gut einhundert Minuten Jazz förmlich überrollt. Gerät der Einstieg mit "Zero Blues" und "Hearts Joy" noch etwas hölzern, haben sich Parker, Gayle und Ali spätestens im fantastischen "We Three" gefunden. Das Brodeln beginnt. Schwere Geschütze. Blues. Roots. Schmerz, Euphorie, Leid. Jeder spannt die Fäden zum nächsten, lässt sie unterwegs ins Leere laufen und vom anderen wieder aufnehmen. Diese Verstrickungen machen wahnsinnig: was spielt Rashied Ali da eigentlich GENAU? Lenkt man die eigene Aufmerksamkeit ausschließlich auf ihn, stellt man zwei Dinge fest. Erstens: er kann unmöglich alleine erfasst werden; Parker und er scheinen das Hase und Igel-Spiel zu spielen. Zweitens: sein Drum-Dickicht ist die schleierhafteste Nebelsuppe seit Langem. Er dröhnt, reißt Töne der anderen Musiker auseinander und platziert sich selbst in einer scheinbar willkürlichen Zeit, an einem scheinbar willkürlichen Ort. Ali strickt sich ein ganzes Universum an Hauptquartieren, unterirdischen Kommunikationsleitungen, überirdischen Stromkabeln (Strom!) und Zentren außerkörperlicher Erfahrung.

Darüber improvisieren Parker und Gayle, letztgenannter mit zerfetztem Ton und erstaunlicher Wendigkeit. Er klingt chaotisch, wild, suchend, manchmal gar verzweifelt. Parker hingegen lebt die Offenheit in seinem Spiel. Er errichtet in seinen weitläufigen Soli die Infrastruktur zu Rashied Alis Nervenzentren.

"Live At Crescendo" ist damit zweifellos ein schwerer Brocken. Die Glücksgefühle, die bei der Arbeit mit Hammer und Meißel zu erfahren sind, entschädigen für die Mühe. Es lohnt sich.

12.01.2009

Platz 15




Nik Bärtsch's Ronin - Holon

"Ekstatischer Groove und asketisches Form- und Klangbewusstsein schließen sich nicht aus, sondern können Kombinationen eingehen, die unsere Wahrnehmung überraschen."(Nik Bärtsch)

Die Module entfalten sich nur langsam. In sich ruhend, mit einer minimalen Spannung, einer kaum wahrnehmbaren Vibration, steuern sie einem unbekannten Klimax entgegen. Niemand weiß, wie ihr Ziel aussieht, oder wann sie es erreichen werden. Die Musiker selbst vermutlich am Allerwenigsten, sie sind zu jeder Sekunde in der Jetztzeit. Im steten Fluss türmen sie Impuls auf Impuls, zaghaft zunächst, aber selbst dann ungeheuer zielstrebig. Die Entladung in den Groove gerät immer derart perfekt, als sei die Band mit verborgenen Nervenbahnen miteinander verbunden. Ein in sich verschmolzenes Kollektiv, das mit einer Stimme spricht.

"Holon" ist ein Groovelabyrinth. Eine dunkle Klang- und Bewegungslandschaft, in der Anlage unglaublich diszipliniert, im offenen Raum pulsierend und lebendig. Was für ein Gegensatz! Dennoch: wo das letzte Studioalbum "Stoa" ob seiner Einzigartigkeit und Intensität noch einer kleinen Sensation glich, hat es der Nachfolger ungleich schwerer: der Überraschungseffekt ist passé, "Holon" verlangt nach einer tieferen Auseinandersetzung. Die Weiterentwicklung der Band zu einem etwas lebhafteren Auftreten, das angesichts einiger Passagen Vergleiche mit progressivem Mathrock oder gar King Crimson zulässt, mag sich in den ersten Durchgängen noch nicht offenbaren. Gibt man "Holon" indes die Chance, seine Mystik und seine Kraft auf den direkten Moment zu spiegeln, dann erwacht dieser Postjazz aus seinen selbst erbauten Zweifeln, er wird Teil eines Ganzen und die Ganzheit aus Teilen.

09.01.2009

Platz 16




Sawako - Bitter Sweet

Die beinahe schon obligatorische 12k-Ambient-Platte des Jahres kommt von Sawako, einer in New York lebenden japanischen Soundkünstlerin. "Bitter Sweet" rutschte praktisch auf den letzten Drücker auf diese Seiten, nachdem mir der bekannte, butterweiche 12k-Labelsound zunächst etwas zu arg in den Vordergrund gestellt erschien. Das ist eben die Kehrseite der Medaille: einerseits ist nahezu alles auf Taylor Deuprees Label mindestens gutklassig, ein Überraschungseffekt bleibt andererseits mittlerweile weitgehend aus.

Wie bewertet man also ein Album, von dem man eigentlich schon im Vorfeld weiß, wie es klingen wird? Verträumt, melancholisch, ätherisch, schwebend, wie feines Licht? Wie bestellt! Wie Licht, das die Blätter eines großen Baumes fein umspielt? An einem sanft dahinwabernden Sommertag? Alles da! Bevorzugte Farbe: hellgelb, zart bräunlich, durchzogen von sattem grün? Einwandfrei! Man hätte es ahnen können. Aber Oberflächlichkeit bringt am Ende ja auch niemanden weiter...

Gehen wir also in die Tiefe. Denn auch, wenn alle obigen Beschreibungen völlig zutreffen: "Bitter Sweet" ist viel mehr. Sawakos viertes Album ist, wie sag' ich's, an art of living. Wer sich darauf einlässt, wird mit den großen Geschichten seines eigenen Lebens belohnt, erfährt über die Bedeutung von Glück und Schönheit. Fuckin' dramatic? Absolut, aber denk' da mal drüber nach, während "Looped Labyrinth, Decayed Voice" in der 24-Stunden-Endlosschleife nicht aufhören will, dir aus tiefstem Herzen zu vermitteln, dass alles DEIN ist.

08.01.2009

Platz 17




Claro Intelecto - Metanarrative

Beobachtertechno. Darjeelingtechno. Herbsttechno. Und dabei so wunderbar kurzweilig. In vierzig Minuten sagt Mark Stewart aka Claro Intelecto alles, was es zum Thema Clubmusik und Melancholie im Jahre 2008 zu sagen gibt. "Metanarrative" ist Musik für Eisblumen am Fenster, für gebrochene Äste an nackten Bäumen, für Nebel über weiten Landstrichen, für die ersten Sonnenstrahlen an einem kalten Morgen, während eine dicke Wolldecke mit uns kuschelt. Zieht euch warm an, es ist kalt da draußen. Oder lasst es uns einfach nur anschauen, from a distance.


Suche einen Fokus. Blinzle nicht. Steig aus.

Bevor die wärmenden Synthieflächen, die sich mit tiefem Grollen paaren und bei aller Geradlinigkeit in der Wirkung sehr reich und komplex wirken, zuviel Nähe versprechen, ändert "Gone To The Dogs" für die zweite Albumhälfte die Richtung in etwas unterkühltere Gefilde, ohne jedoch die bittersüße Stimmung zu verlieren. Was anfangs unerklärlich scheint, wird durch Hypnose, Bass und Deepness aufgelöst. Es muss der Sound sein, dieses mit massig Hall verzierte, treibende Soundgestrüpp, das sich so eisklar und rein präsentiert und trotzdem so versöhnlich und umarmend ist. Es fühlt sich gut an.