Auf Dreikommaviernull.de ist exakt ein Beitrag zu Tocotronic zu finden, zu mehr hat es in knapp 12 Jahren nicht gereicht - und das hat Gründe. Meine Haltung gegenüber der Hamburger Indie-Institution war bisher in allerhöchstem Ausmaß mit indifferent noch sehr höflich beschrieben, und mit Ausnahme des hier rezensierten "Kapitulation"-Albums aus dem Jahr 2007 zuckte ich im besten Fall mit den Schultern. Das hat sich 2018 gründlich geändert. Die Zeit war gekommen.
Ich weilte im Dezember 2017 berufsbedingt für zwei Tage in Hamburg und lag nach dem obligtorischen Besuch bei Michelle Records und der Einnahme eines vegetarischen Burgers im Hotelbett und konnte nicht schlafen. Es folgte ein über Stunden andauerndes zielloses Herumtapsen auf dem Telefon, bis mir plötzlich die Youtube-App das neue Video von Tocotronic vorschlug. Es war der Titeltrack und damit der erste Teaser des im Januar erscheinenden neuen Albums.
Und es traf mich wie ein Blitz.
Es gibt Momente in meinem Leben, die ich mir nicht erklären kann. Momente, in denen Zeit und Raum ausgehebelt erscheinen, in denen oben plötzlich unten und unten plötzlich oben ist. Wenn alles vorher gelernte, geglaubte, fantasierte und manipulierte keinen Sinn mehr macht, das Herz schneller pocht, die Augen weit aufgerissen sind, eine Euphoriewelle nach der anderen durch den Hypothalamus schwappt und das innere Brodeln sich mit Licht und Liebe verbindet. Wenn klar ist, dass solche Momente noch in 50 Jahren glasklar vor einem liegen werden, in der strahlendsten und unauslöschbarsten Erinnerung. So wie ich mich bis heute an den Sprung von der elterlichen Couch auf die Auslegeware vor dem Röhrenfernseher erinnere, als ich zum ersten Mal "Smells Like Teen Spirit" hörte. Dieses Gefühl wieder zu erkennen, wieder zu entdecken, dass dank Lohnarbeit, Schlafmangel, Bluthochdruck und innerem Bleigießen noch nicht alles erstarrt ist - ein Seelenöffner.
"Die Unendlichkeit" war mir ab der ersten Sekunde ganz nah. Es wurde mehr als nur Musik, es wurde zur Begleitung, mehr noch: zum Lebensgefühl. Wie bereits zur "Kapitulation" wurde ihre Musik mehr als nur Klang und Worte, sie wurde zum Leitmotiv, zur Stütze, zum Ratgeber. Und ich erkannte, dass es vermutlich keine andere Band gibt, die mit ihren Texten eine derart tiefe Verbindung zu mir herstellen kann. Ich verstand sie endlich.
Ihr Intellekt, ihr Mut, ihre Verletzlichkeit und auch ihre Freundschaft untereinander waren im letzten Jahr eine große Quelle der Inspiration.
Pressung: +++++ (Tadellos)
Ausstattung: +++++ (Glow In The Dark-Coverartwork, Gatefold, bedruckte Innenhüllen)
Und da stand er also vor mir. Keine 6 Meter entfernt, im wollweißen Schlabberstrickpulli, Zottelhaare, Jeans. Und ich war damit für einige Minuten komplett überfordert, während tosender Beifall der Zuschauer über meinen Kopf hinwegdonnerte wie eine haushohe Welle am Strand von Nazaré.
Chris Cornell. Seit 1989 und dem Cover des Soundgarden Albums "Louder Than Love" irgendwie immer an meiner Seite. Einer aus der Zeit, die mich sowohl musikalisch als auch charakterlich so sehr prägte, wie keine andere. Ich kann vermutlich sagen, dass in den ersten Minuten des Konzerts in der Hamburger Laeiszhalle, mein damaliges Leben an mir vorbeiziehen sah: die Karohemden, den 8-Tage-Bart, die zerrissenen Jeans, die Nirvana-Sammlung - denn wie sehr ich damals Fan war, so jung war ich eben auch, und so waren Konzertbesuche aufgrund fehlender Einflussmöglichkeiten in den elterlichen Entscheidungsprozessen (Erpressung, Bestechung, etc.) Mangelware. Kurz: ich sah von meinen damaligen Wegweisern, Leuchttürmen, Trostspendern und Krafttankern nicht einen einzigen auf der Bühne. Ich hatte zwar ein Ticket für das Konzert von Nirvana am 3.März 1994 in der Offenbacher Stadthalle, dummerweise sollte das Konzert in München am 1.3.1994 aber aus bekannten Gründen der letzte Auftritt der Band werden. Als ich endlich alt genug war, Konzerte alleine besuchen zu können, waren die Überlebenden wie Pearl Jam schon auf dem kreativen Nullpunkt angekommen, oder, wie im Falle Soundgarden, nur auf großen und furchtbaren Festivals zu sehen, während sich der Rest (u.a. Alice In Chains) schon aufgelöst hatte und sich für eine peinliche und unwürdige Reunionscheiße (u.a. Alice In Chains)(sic!) frisch machte.
Ich war an diesem lauen Frühlingsabend in Hamburg von so vielen Emotionen und Gedanken und Flashbacks einfach völlig überwältigt.
Und dass Chris Cornell für die Herzallerliebste und mich darüber hinaus eine ganz besondere Bedeutung hat, darüber hatte ich meine Leser schon Ende des vergangenen Jahres aufgeklärt - was für uns beide, wie wir dort mit großen Augen und Herzen in der vierten Reihe saßen und halb ungläubig, halb überglücklich auf die Bühne schauten, nicht zwangsläufig zur Entspannung beitrug.
Um es vorwegzunehmen: es sollte sich auch musikalisch und meinetwegen auch auf jeder anderen Ebene ein beeindruckendes, denkwürdiges Konzert entwickeln. Dabei stehe ich Cornells künstlerischem Output seit seinem Solodebut "Euphoria Mourning" aus dem Jahr 1999 nicht mal in vollem Ausmaß unkritisch gegenüber: sein drei Studioalben andauerndes Intermezzo mit drei Vierteln der Crossoverlegende Rage Against The Machine unter dem Audioslave-Banner, sein Ausflug in R'n'B Gefilde mit dem kolossal bodenlosen, von Timbaland produzierten Album "Scream", die in den letzten 15 Jahren deutlich angeschlagene Stimme und eine immanente Orientierungslosigkeit in seiner künstlerischen Ausrichtung, ließen alles in allem nicht unbedingt auf einen herausragenden Konzertabend schließen.
Er sollte uns alle Lügen strafen. Die Stimme? Wie eine Eins! Ich bin bei Sängern wirklich ein überkritisches Arschloch und hatte mich angesichts seiner früheren Gesangsleistungen schon mit verbalem Dauerfeuer für diesen Text bewaffnet, aber leckmichamarsch: das war perfekt. Die Songs? Gab es aus allen wichtigen Schaffensperioden: Temple Of The Dog, Soundgarden, Audioslave und von seinen Soloalben. Besonderes Bonbon: "Seasons" vom "Singles"-Soundtrack. Sein Sidekick? Bryan Gibson an Cello, Mandoline und Piano, durchweg nicht nur überirdisch gespielt, sondern bis auf die Ausnahme "Black Hole Sun", das in der Akustikversion immer leicht verstrahlt wirkt, auch kongenial arrangiert. Cornells Laune? Zwischen sonnig und souverän. Der Mann scheint nach jahrelanger Suche endlich in seiner Mitte angekommen zu sein - mit Auswirkungen sowohl auf seine Musik, als auch auf den Menschen dahinter. Was ich davon halte, dass er "ausgerechnet" (Kalle Rummenigge) mit den unglücklicherweise reformierten Soundgarden den breitbeinigen Rockopa gibt, kann sich der erfahrene Leser meines Blogs möglicherweise denken - warum so viele der alten Meister der Verweigerung, der Anti-Rebellion, der Introspektive und der Klischeeverdammung auf der Bühne plötzlich Mitsing- und Klatschspielchen starten, Konfettikanonen zünden und Fangesänge aus den bierseligen Fußballstadien dieser Welt anstimmen, wird mir mindestens in diesem Leben ein großes und ärgerliches Rätsel bleiben - an diesem Abend in Hamburg war davon nichts zu sehen, hören, spüren. Cornell ist redselig, so manche Ansage dauert gar länger als der darauffolgende Song, er ist aber ganze Universen davon entfernt, den Hampelmann zu geben. Das gibt andererseits das Setting auch nicht her: die Laeiszhalle ist ein altehrwürdiges Konzerthaus mit teurer und hoffentlich strapazierfähiger Auslegeware, komplett bestuhlt und mit aufwändigen Stuckarbeiten an Decke und Wänden ausreichend autoritär in der Wirkung. Das Publikum (Vollbartquote bei den Männern lag mit konservativer Schätzung bei ca. 98%, bei den Frauen nicht ganz so hoch) ist gleichfalls nicht mehr das jüngste und hat sich wohl wie Herr und Frau Dreikommadingsbums über den weichen Sitzplatz gefreut. Abschließend ist Cornells Auftritt nicht für die große Rockpose gemacht, denn es sind die leisen Töne, die hier regieren. So entsteht über die gut zwei Stunden Spielzeit eine intime Atmosphäre, ein unsichtbares Band zwischen den Zuschauern im Saal und Chris Cornell auf der Bühne - und ganz gleich, ob eine solche Stimmung für ihn nach abertausenden Shows noch etwas Besonderes ist: er genießt die gemeinsame Zeit mindestens so sehr wie das zum Abschluss erwartbar frenetisch klatschende Publikum.
Um ein Haar hätte man sich eine Konfettikanone gewünscht.