28.02.2010

2000-2009 #10: Napalm Death - The Code Is Red...Long Live The Code


Der Metal von heute ist nicht mehr der Metal von damals und auch wenn es einige Jahre dauerte, bis sich mein Hirn damit abgefunden hatte, dass es an der Zeit ist, etwas auf Distanz mit dem heutigen Getrümmer zu gehen, bin ich mittlerweile weitgehend immun gegen die aktuellen Verlockungen aus Headbangerhausen. In den letzten Jahren gab es selbstverständlich immer wieder positive Überraschungen, manchmal sogar von alten Helden, die man schon lange zuvor abgeschrieben hatte. Napalm Death hatte ich dagegen nie abgeschrieben, und damit sind sie eine große Ausnahme: immer wenn ein neues Napalm Death-Album ansteht, zögere ich keine Sekunde mit einem Kauf. Vorher reinhören? Mumpitz. Da die britische Grindlegende ihren Sound nur in Nuancen weiterentwickelt und verändert, zählt wenigstens für mich nur die einzigartige Energie und unbändige Kraft, die das Quartett immer wieder in der Lage ist, zu entfachen. Im Grunde gilt für Napalm Death-Songs dasselbe, wie für Marillion-Alben: mal gibt es eine Sternstunde, ein anderes Mal darf man es "solide" nennen, ein anderes Mal ist man vielleicht sogar leicht enttäuscht. Wovon ich hingegen niemals enttäuscht war, ist eben ihre unbeschreibliche Wucht. Da macht es sich durchaus bezahlt, dass dickes Hardcore-Blut in ihren Adern fließt. Niemand schreddert schöner, niemand sonst bringt so elegant Wände zum Einstürzen. Als sie vor 5 Monaten das Frankfurter Nachtleben auseinandernahmen, stand ich die knappe Stunde wie vom Honigkuchenpferd geknutscht in der Ecke und war seelig - während die vier Buben auf der Bühne mal mit links alles einäscherten.

Für "The Code Is Red...Long Live The Code" haben sie sich extragroße Mühe gegeben: so viele Klassiker haben sich schon länger nicht mehr auf einer Napalm Death-Platte versammelt. "Silence Is Defeaning" (Grundgütiger!!), "Instruments Of Persuasion", "The Great And The Good" (mit Jello Biaffra als Gastsänger), "Sold Short", "Pledge Yourself To You", "Vegetative State" - Hits, Hits, Hits. Nur diese Band bekommt Hardcore, Crust und Death Metal mit diesem höllischen Groove unter einen Hut, nur diese Band klingt nach über 20 Jahren inmitten stählerner Abrissbirnen immer noch so unverschämt taufrisch, wild und ungestüm. "The Code Is Red...Long Live The Code" ist trotz harter Konkurrenz aus dem eigenen Hause ("Utopia Banished", "Order of the Leech") ihr vielleicht beeindruckendstes Album, und eines der wenigen Metalalben aus dem letzten Jahrzehnt, das ich auch heute noch regelmäßig höre. Bevorzugt im Auto. Totale Apokalypse, echt jetzt.

Erschienen auf Century Media, 2005

13.02.2010

2000-2009 #9: Minus The Bear - Menos El Oso


Ein bei besonderen Alben immer wieder auftretendes Phänomen: Denkt man an eine bestimmte Platte nistet sich sofort die dazu passende Erinnerung im Oberstübchen ein und hört man auch nur einen winzigen Ton davon, ist man sofort wieder Teil dieser Erinnerung, mittendrin. "Menos El Oso", das dritte Studioalbum von Minus The Bear aus Seattle, ist beispielsweise bis an mein Lebensende mit dem Sommer 2005 verknüpft - und mit dessen Verlängerung. Meine Herzallerliebste und ich hielten uns Anfang Oktober für zwei Wochen an Spaniens Mittelmeerküste auf - genauer gesagt in Torremolinos, einem Touristenmoloch Deluxe, aber dennoch: zumindest ich liebte es. Es war traumhaft warm und trotz der Menschenmassen entspannt und friedlich, und unser Appartement, untergebracht in einem großen Betonklotz direkt am Strand, erlaubte uns einen direkten Blick auf das Meer, nebst angemessenem Soundtrack. Mit diesem Blick und diesem Klang schliefen wir ein, und so wachten wir auch wieder auf. Wer uns dabei die letzten und ersten Stunden eines Tages versüßte, war "Menos El Oso". Es ist, als habe sich diese Musik in die Seele gebrannt: noch heute ist es, als schmeckte ich die Meeresbrise oder als wehe gerade der Duft von Sonnencreme an meiner Nase vorbei. Es trifft mich immer noch wie ein Blitz, wenn die Platte läuft. Dieses Gefühl zu "Menos El Oso" war gar so stark, dass ich - obwohl ich spätestens nach dieser Platte völlig unterwürfig war - den Nachfolger "Planets Of Ice" erst zwei Jahre nach dessen Erscheinen hören wollte. 

Wenn ich mich aufmache, den Kern ihrer Musik zu finden und zu beschreiben, bin ich im schlimmsten Fall ein paar Tage unterwegs - es ist nicht leicht. Da ist tatsächlich viel 70er Jahre Prog zu finden, da ist ein bisschen 90er Indie, da ist ein Hauch (Math)Core, und vor allem: ganz, ganz viel Gefühl. Minus The Bear haben einen ganz eigenen Ansatz für ihre Musik gefunden, der sie tatsächlich völlig einzigartig macht. Das ist die Kritikergewäsch-Sicht der Dinge. Die Fan-Sicht lautet: Das ist eine von vorne bis hinten unfassbar große Platte.

Erschienen auf Suicide Squeeze Records, 2005

10.02.2010

2000-2009 #8: Marillion - Marbles


Zugegeben, es gibt coolere Bands und Alben, die man in dieser Aufstellung erwähnen könnte - aber es gibt kaum bessere. Ganz in echt: würde man mir die Knarre auf die Brust setzen und mich fragen, was denn meiner Ansicht nach DAS herausragende Album dieser Dekade gewesen sei, verbunden mit der Warnung, ich solle bloß nicht auf die Idee kommen zwei oder gar drei Scheiben zu nennen, sondern nur eine einzige, weil man andernfalls
den nervösen Zeigefinger am Abzug bewegen müsste, und zwar in eine Richtung, die mir ganz bestimmt nicht gefiele, dann bliebe mir selbst nach sorgfältigstem Abwägen keine andere Wahl, als leise "Marbles" zu stottern. Die britischen Prog-Rocker bündeln offensichtlich einmal pro Jahrzehnt alle verfügbaren Kreativkräfte und schreiben einen Meilenstein. In den achtziger Jahren war es das geniale Debut "Script For A Jester's Tear", die Neunziger bekamen das unglaubliche "Afraid Of Sunlight", während die Nuller also ein Geschenk namens "Marbles" erhielten. Dazwischen gab es mal Hochklassiges wie "Anoraknophobia" oder "Holidays In Eden" und auch mal den ein oder anderen Griff ins Katzenklo. Wie es eben so läuft. Zu ganz besonderen Anlässen jedoch reißt sich der Fünfer mächtig am Riemen und haut die perfekte Platte raus. Also so richtig perfekt, nicht nur halb-, dreiviertel oder fünfsechstel-perfekt.

Die Standardversion von "Marbles" enthält folgerichtig 11 perfekte Kompositionen, die Deluxeversion, die es exklusiv für jene Fans gab, die das Album bezahlten, bevor sie einen Ton davon hörten (und der Band damit die Produktion möglich machten) bringt es gar auf vier Songs mehr. Und ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, zu jubeln. Beim Opener "Invisible Man", vielleicht? Einem 14-minutigen Monster, das viel näher an Pink Floyd als an - wie früher - Genesis erinnert und sich dabei anfühlt, als sei der Spuk bereits nach dreieinhalb Minuten vorbei? Das meine ich mit perfekt: die Band hat auf "Marbles" einen einzigartigen Fluss für ihr Songwriting gefunden, sie hält ihre Musik zu jeder Sekunde dramatisch, einfühlsam, bewegend, spannend und immer am Laufen. In Interviews erzählte Sänger Steve Hogarth von den Writingsessions und darüber, dass sie manchmal zwei Tage mit der Entscheidung verbrachten, ob der nächste Ton ein A oder doch lieber ein C sein sollte. Nun könnte man angesichts solcher Gruselgeschichten dem Vorurteil erliegen, dass damit ja jede Spontanität geradezu zwangsläufig auf der Strecke bleiben musste, aber es ist alles ganz anders: alleine "Invisible Man" schlägt am laufenden Band Haken und spurtet in eine Richtung, um innerhalb weniger Augenblicke wieder eine ganz andere Spur zu verfolgen.
Die Popsingle "You're Gone" ist schönster Melancholiekitsch mit leiser Housenote, "Angelina" ein sphärischer Dunkel-Schummel-Rotlicht-Schunkler, "Fantastic Place" eine sich stetig nach oben schraubende Sternstunde, die gegen Ende in einer hellen Supernova verglüht und eine der ergreifendsten Gesangsleistungen von Steve Hogarth aufbietet. Und apropos Hogarth: der Mann singt völlig (VÖLLIG!) fehlerfrei. Ich meine damit nicht ausschließlich den technischen Aspekt, sondern in erster Linie seine Melodielinien. Man darf diese Songs gar nicht anders singen, sie würden kaputtgehen. Sie würden auseinanderfallen, sie wären nur zur Hälfte da, der Rest wäre weggebröckelt. Hogarth trifft immer (IMMER!) die richtige Entscheidung, die richtige Stimmung, die richtige Klangfarbe. Wie soll ein Mensch den knapp zwölfminütigen Abschlussklumpen "Neverland", vielleicht das Größte und Ergreifendste, was es in diesem Jahrzehnt zu hören gab, besser singen? Es.ist.nicht.möglich.

Marillions möglicherweise größter Pluspunkt ist ihre Souveränität. Sie müssen niemandem mehr etwas an den Instrumenten beweisen, weswegen die Prog-üblichen Frickeleien komplett ausbleiben. Sie schreiben Songs, das ist alles. Und sie tun das mit der Erfahrung von fast 30 Jahren. Sie achten auf den Sound, sie achten auf das Wort, sie achten auf den Ton, sie achten auf die Stimmung. Und sie hegen und pflegen ihre Sprösslinge. Das mag auf den ersten Blick furchtbar spießig wirken, aber das Ergebnis gab ihnen Recht: "Marbles" war für fast ein komplettes Jahr mein täglicher Begleiter. Bis heute kein Funken Langweile in Sicht.

Erschienen auf Racket Records, 2004

04.02.2010

2000-2009 #7: Justin Timberlake - Futuresex/Lovesounds


Ende 2005 tat sich aus musikalischer Sicht eine ganze Menge in meinem Leben. Es reifte die Erkenntnis: "So kann das alles nicht weitergehen."(Uwe Barschel). Stichwort Orientierungslosigkeit. Die krude Mischung aus zuvor gehörtem Indiepop und Postrock wurde wieder einmal zu langweilig und ich wusste: wenn ich jetzt nicht einen Schritt mache, höre ich in drei Monaten nur noch die Singles Top 40, und damit also den Feind. Solange wollte ich nicht warten, also erkor ich die Feindberührung zum ersten Schritt und beschäftigte mich mit dem Antichristen per se: Justin Timberlake. Gut, ich muss zugeben: ein Arbeitskollege schummelte mir schon zwei Jahre vorher Timberlakes Debut "Justified" unter die Mütze und ich musste zerknautscht zugeben, dass mindestens die Hälfte der Tracks echte Hits waren. Ich war also nicht gänzlich unvorbereitet. Allerdings war ich auf die Weiterentwicklung und den Einschlag von "Futuresex/Lovesounds" tatsächlich nicht gefasst. Timberlake holte sich die Unterstützung von Producerlegende Timberland und formte ein Disco-/Club-Album, das vor Funk, Sex, Soul und Love nur so übersprudelte, das zu gleichen Teilen souverän und ausgelassen den Floor beherrschte. Wegweisende Zappelphillip-Groover wie die Single "Sexy Back", dumpf-pumpendes Beat-Geäst im Titelsong, durchgestylten Prince-Funk in "Damn Girl" oder die überdeutliche Jacko-Kampfansage in "Lovestoned": Timberlake ist immer Herr der Lage und ich war so hingerissen, dass ich mir sogar eine Konzertkarte kaufte. Dass der Abend dann trotz warmer Mai-Temperaturen "ein Kalter" war, wie mein Vater immer zu sagen pflegte, steht auf einem anderen Blatt. "Futuresex/Lovesounds" hingegen war und ist ein wichtiger Meilenstein meiner musikalischen Entwicklung und hinterher war wenn auch nicht alles, aber doch so einiges anders. 

Erschienen auf Zomba Recording, 2006.