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03.01.2020

Best Of 2019 ° Platz 16 ° Flying Lotus - Flamagra



FLYING LOTUS - FLAMAGRA


Die gute Nachricht zuerst: "Flamagra" ist wieder deutlich inspirierter ausgefallen als der Vorgänger "You're Dead", das bis heute einzige FlyLo-Album, das den bitteren Gang zum Second Hand-Dealer antreten musste. Dennoch war auch das sechste Studioalbum zunächst ein Wackelkandidat für die Top 20. Vermutlich ist es meine Erwartungshaltung, die mir (und ihm) immer wieder einen Strich durch die Rechnung machen will, vielleicht macht man ein Album wie "Cosmogramma" aber auch wirklich nur einmal im Leben. Denn auch wenn die Musikredaktionsstuben zwischen zwei Mariacron aus dem Rollcontainer immer noch derart vehement die seit vielen Jahren bekannten zentralen Aspekte des Sounds von Flying Lotus betonen, erkenne ich zumindest stilistisch nichts bahnbrechend Neues auf "Flamagra" - natürlich ist die Detaildichte seines Sounds immer noch hoch, natürlich sind das immer noch die bizarren, übergroß auf die Kinoleinwand projizierten Science Fiction-Drehbücher und natürlich lassen sich selbst in den etwas zurückgenommeneren Momenten noch mehr eingebaute Bells & Whistles in diesem wahnsinnig kuratierten Gedankenfluss finden, als bei jedem anderen Remmidemmi-Produzenten. Was Flying Lotus für mich indes so einzigartig macht, sind seine Interpretationen von Jazz und Hip Hop und deren Verschmelzung in postmoderne Lebensrealitäten.  

Jede der rund 6420 Sekunden von "Flamagra" scheint für einen klitzekleinen Moment ein Bewusstsein darüber zu haben, woher sie kommt und wohin sie geht  Und jede einzelne erzählt in atemberaubender Geschwindigkeit Mikro-Poesie vom Anfang und vom Ende ihrer Welt - und aus diesem virtuellen Netz von Gedanken, Ideen, Hoffnungen und Enttäuschungen speist sich der ganze gottverdammte Scheißkosmos. Blingbling. 



Erschienen auf WARP Records, 2019.

29.01.2017

2016 ° Platz 14 ° Tortoise - The Catastrophist



Die großen alten Männer des Postrocks schlagen zurück. Mit Krautrockstampfern, Synthieklingen, Hypnoseflüchen, Jazztreibsand und ganze zwei Mal sogar mit laszivem Gesangslasso. Eines davon schwingt die astreine Coverversion des David Essex Hits "Rock On", in dem Todd Rittmann von US Maple stimmlich herumtorkelt wie Vince Neil mit 18 Promille und erektiler Dysfunktion. 

Denn wer niemals an ihnen zweifelte, der werfe die erste Kesselpauke: dass sie sich sieben Jahre nach dem etwas verstrubbelten Vorgänger "Beacon Of Ancestorship" so konzentriert und beschwingt zurückmelden, meinetwegen ein bisschen milder und gar melodischer als sonst üblich und "The Catastrophist" in dieser Hinsicht am ehesten an das eklektische "It's All Around You" aus dem Jahr 2004 erinnert, hätte ich nicht für möglich gehalten. 

Ich habe für diesen Text ein paar zusätzliche Wintertage mit "The Catastrophist" verbracht und war überrascht, dass ich immer noch genau so entzückt bin wie damals im Mai. Selbst die Herzallerliebste sagt, dass "Rock On" ein herausragender Song sei - um direkt danach anzumerken, der Beat erinnere sie an Metallicas "Sad But True". Was sagt man dazu?





Erschienen auf Thrill Jockey, 2016.

09.10.2016

Ist dieses Klischee glutenfrei?




INFINITY WINDOW - ARTIFICIAL MIDNIGHT


Eine jener Platten, über die ich seit mehreren Jahren schreiben will, und es trotz aller guten Vorsätze nie geschafft habe - sie ist damit nicht alleine, aber es ist eines jener Alben, das sehr prominent auf der im Schädel zusammengekritzelten Liste steht, weil ich es so überragend gut finde. In dieser Rubrik ebenfalls ganz weit vorne ist "Miles Away" von The Last Electro-Acoustic Space Jazz & Percussion Ensemble (hinter dem übrigens Hip Hop-Tausendsassa Madlib steckt) - eine meiner absoluten Lieblingsjazzplatten, wichtig, toll, richtig groß, aber ein Textlein darüber ist hier immer noch nicht zu finden. Entsprechende Onlinepetitionen werden vom Autor berücksichtigt, just sayin'.

Fassen wir uns also heute ein flottes Herz für "Artificial Midnight" - eine Platte, die in erster Linie deshalb so besonders ist, weil sie bereits nach wenigen Sekunden...naja: so besonders ist. Ich habe das schon mehr als nur einmal im Rahmen von Werken des Saarländers Stephan Mathieu gesagt, und es passt hier ebenfalls. Der eigentliche Klang, der Ton ist so speziell, so wohltuend schön und anders als der fast komplette Rest der vermeintlichen Konkurrenz, dass ich sofort die Ohren spitzen und aktiv zuhören muss. Letzteres macht hier so oder so Sinn: das Produzenten-Duo Taylor Richardson und Daniel Lopatin (u.a. Onohtrix Point Never) hatte sich das Ziel gesetzt, eine wolkigere, dichtere Version früher Kraut-Aesthetik zu erschaffen:

"Putting krautrock in a fog — it’s like taking the vibe of prog and divorcing it from all the bullshit wankery and cliche." (Lopatin)

Drei Tracks lassen sich auf "Artificial Midnight" finden, die von der ersten bis zur letzten Sekunde einen Stimmungsbogen zeichnen; eine echte, gewollte Entwicklung. Ist der Beginn mit "Sheets Of Face" noch dunkel und komprimiert, hellt es sich im weiteren Verlauf durch "Internal Compass" und ganz besonders im knapp zwölfminütigen "Skull Theft" bei aller weiter vorhandener Dramatik immer mehr auf. Optimismus. Licht. Synthiewände und -schleifen aus dem Kontext der freien Liebe, der Kommunen, dem Sauerkrautfass und Conrad Schnitzler. Denn niemand hat gesagt, dass ich keine Klischees verwenden dürfte. 

Für die Zielgruppe ist "Artificial Midnight" gerechterweise eines der besten Ambientalben der letzten 20 Jahre. 




Erschienen auf Arbor, 2009.

03.05.2016

Let's Do This!




TORTOISE - THE CATASTROPHIST


Die Postrocklegende aus Chicago hat es weit gebracht. Was bis zum 2004er Album "It's All Around You" in erster Linie nur den Underground interessierte, ist spätestens seit ihrem letzten Album "Beacons Of Ancestorship" aus dem Jahr 2009 auch im hiesigen Feuilleton angekommen, das bei einem Lebenszeichen aufmerksam wird und die spitzen Finger für allerhand schlaue und bekloppte Texte spreizt, die alle das Ziel zu haben scheinen, mindestens genauso verkopft zu sein wie die Musik der Band; unvergessen etwa der üble Verriss aus der Süddeutschen, den die beliebte Qualitätszeitung aus München zwischenzeitlich offenbar aus ihrem Netzrepertoire entfernt hat. Springers anerkanntes Idiotenfachblatt "Die Welt" stammelte 2009 hingegen mit verschwurbeltem Musikkritikerquatschdeutsch durch die letzten viereinhalb überlebenden Hirnzellen der Leserschaft, die die Texte von Ulf Poschardt überlebt haben:

"Mal imitiert der Sampler eine springende Schallplatte. Mal wirkt ein Stück allein durch umständliche Titel wie "Yinxianghechengqi". Über weite Strecken fehlen heute die verblüffenden Melodien, und wo früher Stille herrschte, hört man heute magenkrankes Blubbern."

- wovon mein Magen auch ein paar Geschichten erzählen kann, vor allem nach dem Lesen solcher Texte. 

Die Zeiten haben sich in den letzten sieben Jahren geändert - heute liest man auch aus den deutschen Redaktionsstuben fast nur Wohlwollendes über "The Catastrophist"; Tortoise sind nunmehr die gesetzten Intellektuellen, künstlerisch anspruchsvoll, schwer zu durchschauen, unvorhersehbar. Und weil ich nicht immer nur schimpfen kann, sage ich: das ist richtig.

"The Catastrophist" ist schon heute, zwei Monate nach der Veröffentlichung, eine meiner meistgehörten Tortoise-Platten - und das sage ich im Angesicht meiner damaligen Sucht nach "TNT", "Standards" und vor allem "It's All Around You". Das Quintett, das seinen Sound über die Jahre hinweg immer wieder subtil veränderte und mit einem ganzen Sack voll unterschiedlicher Einflüsse, vom Krautrock über Jazz und Pop bis zum Noise, experimentierte, geht auf seinem siebten Studioalbum in der Gesamtanlage etwas gebremster und übersichtlicher zu Werke und ist dabei konsequenterweise stilistisch so kohärent wie vielleicht noch niemals zuvor. Etwas despiktierlich fielen mir möglicherweise "versöhnlich" und "Alterswerk" als beschreibende Attribute ein, aber das geht in die falsche Richtung: Tortoise sind alles andere als kreativ müde - und dafür muss ich nicht mal exklusiv die beiden Gesangspremieren auf einem ihrer Alben herausstellen: "Rock On", ein wunderbar ironisches und heruntergekommenes Cover des alten Hits von David Essex, herausragend interpretiert von Todd Rittman (U.S. Maple) und der Einsatz von Yo La Tengos Georgia Hubley auf "Yonder Blue", der erstmals einen Hauch von laszivem Sex auf einem Tortoise-Album platziert, setzen markante Duftmarken auf "The Catastrophist". Trotzdem drängen sich diese beiden Revolutionen nicht in den Vordergrund, um das restliche Material auf ihren Schultern tragen zu müssen. Tortoise wissen nicht erst seit gestern, was sie tun (und tun müssen). Von spannungsgeladenen Arrangements wie in "Shake Hands With Danger" bis zum vordergründigen Hängemattengedudel in "Hot Coffee", einem Überbleibsel aus den "It's All Around You"-Sessions, und dem luftigen, leicht an The Sea And Cake erinnernden Wolkenschmeichler "Tesseract", habe ich hier nur gute Gefühle, Spaß und Inspiration. 

"The Catatrophist" marschiert gerade mit ziemlich großen Schritten in Richtung Jahres Top-Ten. 





Erschienen auf Thrill Jockey, 2016.

15.12.2015

Tropfsteinhöhle. Part II




Ich darf einen sehr schönen Nachschlag in Sachen Colleen präsentieren.

Die Website She Does Podacst, betrieben von den beiden Dokumentarfilmerinnen Elaine Sheldon und Sarah Ginsburg, kümmert sich in den produzierten Podcasts um kreative Köpfe aus der Medienwelt: Musikerinnen, Schauspielerinnen, Autorinnen, Künstlerinnen.

Each episode centers around an intimate conversation yet digs deeper into each woman's background, philosophy and process through artful audio documentaries soundtracked by music made by women.

In der aktuellen Ausgabe haben die beiden einen interessanten und einfach großartigen Bericht über Colleen, ihre Arbeit, ihre derzeitige Heimatstadt, und ihre Musik zur Verfügung gestellt.

Enjoy.



13.12.2015

Tropfsteinhöhle




COLLEEN - CAPTAIN OF NONE


Ob es "Captain Of None" in meine Jahresbestenliste schafft, ist noch nicht entschieden - was auch gleichzeitiger Hinweis auf die mich jedes Jahr aufs Neue komplett überfordernde Herausforderung ist, dieses Bündel toller Musik am Ende des Jahres zu sortieren und zu bewerten. Und an dieser Herausforderung werde ich auch 2015, und damit wie in den vorausgegangenen Jahren bis spät in den Dezember hinein, kläglich scheitern. Aber immerhin habe ich damit eine Aufgabe, "etwas Eigenes" (Loriot) und bin "von der Straße weg" (Mutti). 

Colleen ist das Pseudonym von Cecile Schott, einer aktuell im spanischen San Sebastian lebenden französischen Multiinstrumentalistin, die mit ihrer Viola da gamba und ihrer Stimme ein mystisches und fremdartig wirkendes Album zusammengebastelt hat, das sich stilistisch weit in Richtung Einzigartigkeit lehnt. Irgendwo zwischen Avantgarde und Popmusik, mal offensichtlich durchkomponiert, mal vogelfrei experimentierend, im Grunde nicht zu dechiffrierende Spurenelemente von Dub, mediterraner Kultur und sogar Krautrock aufgreifend. Schotts Stimme würde der Engländer ohne mit dem Guinnessfass zu zucken als "haunting" beschreiben, und er läge damit ausnahmsweise goldrichtig. 

Ich habe "Captain Of None" gerade in den vergangenen Tagen ein ums andere Mal auf den Plattenteller gelegt. Zum sonntäglichen und mehrere Stunden dauernden Frühstück bei grauem Novemberschleier vor der Tür war es eine bemerkenswert stimmige Erfahrung und ein passender Soundtrack. Hat sicherlich ein paar Plätze aufgeholt. 

Eine merkwürdig ungreifbare, aber dafür hochinteressante Musik. Ist leider selten geworden auf Thrill Jockey. 




Erschienen auf Thrill Jockey, 2015.

19.06.2014

Anarchische Abendunterhaltung


WHILST - EVERYTHING THERE WAS WAS THERE


Genau nach meinem Geschmack ist diese 5 Track-EP des schottischen Kollektivs Whilst. Geschlüpft in den Green Door Studios in Glasgow, "an all-analogue, community-minded recording space in the city's West End" (residentadvisor.net), klingt jede Nummer, als sei sie völlig losgelöst von der zuvor gehörten entstanden. Zwar ist jeder Track in sich homogen, obwohl stilistisch nun auch beileibe keine Stangenware, aber wenn der Einstieg mit "Goya's Skull" straight-bangend in den Club spurtet, der Nachfolger "Untitled From North Africa" sich verspult in Jazz- und Funkgrooves eindreht, "Umgebung" New Wave, Krautrock und Punk miteinander vermählt, und mittels deutsch gesprochener und spitz gekreischter Worte wie "Anarchie", "Sehnsucht", "Erlösung", "Anarchische Abendunterhaltung" (!) und "Es ist getan" ziemlich geil arty erscheint, "Wee Moth" für eineinhalb Minuten den Freejazz-Wahnsinn aus dem Käfig lässt und "Postcards From A Robot" experimentelles Quietschen, Ratschen, Piano und eine Menge Raum bietet, dann ist das sehr unterhaltsam, spannend und ohne jeden Zweifel empfehlenswert. Wer auch immer dahintersteckt - das ist eine primagute EP. Und es ist der Beweis dafür, dass man ab und an die Kommentare aus dem Internet doch lesen sollte. Ohne den folgenden Eintrag wäre ich niemals auf "Everything There Was Was There" gekommen:

"Where the hell did this come from? Whilst pack more ideas into the 18 brain-scramblingly brilliant minutes of this EP than most artists manage in a career. Almost too good to be true."

Damn right.




Erschienen auf Optimo Music, 2014.