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18.07.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Propagandhi - Failed States




PROPAGANDHI - FAILED STATES


Es wäre einigermaßen undenkbar, Propagandhi in der Serie über die besten Platten des vergangenen Jahrzehnts nicht zu erwähnen - auch wenn sich das Quartett aus dem kanadischen Winnipeg in zehn Jahren für gerade mal zwei Aufnahmen ins Studio schleppen konnte und die Auswahlmöglichkeiten damit signifikant ausdünnte. Ich habe bereits an anderen Stellen dieses Blogs wortreich dargestellt, wie wichtig diese Band für mich war (und weiterhin ist), und wie viel sie dafür getan hat, dass ich heute genau jener Mensch bin, der ich bin. Die sowohl mir als auch der Band weniger gut gesinnten mögen das in der Endabrechnung zwar nicht unbedingt positiv hervorheben und eher als tragischen Beleg so mancher charakterlicher Unzulänglichkeit interpretieren, aber das kann ich aushalten. Und Propagandhi sowieso. 

"Failed States" aus dem Jahr 2012 kann es zwar, wie auch auch 5 Jahre später erschienene Nachfolger "Victory Lap", nicht ganz mit den beiden Sternstunden "Supporting Caste" und "Potemkin City Limits" aufnehmen, aber erstens: wer kann das schon? Und zweitens wischt die Band auch mit minimal gedrosselter Durchschlagskraft noch immer mit der gesamten Genrekonkurrenz den Boden auf: ein durchtrainiertes Kraftpaket wie das fünfundsechzig Sekunden furios durch Raum und Zeit ballernde "Status Update" hat keine einzige andere Band jemals geschrieben. Wahrscheinlich hat es auch noch keine andere Band jemals auch nur versucht. Und vielleicht können all die "bitter ex-musician cum embedded rock-journalists" und Milchsemmel-Know-It-Alls, die jede achtelsteife Punkrock-Parodie mit dem dampfendem Germknödel-Uffta-Uffta-Beat aus Schnarchhausen an der Brenz sich ja wenigstens dieses eine Mal die gute Minute freinehmen, um die Murmel wieder zu kalibrieren und den ganzen schamlos-kraftlosen Rest auf den großen Haufen Wohlfühlabfall zu werfen, an den sich eine ganze Szene bis zur totalen Besinnungslosigkeit drankuschelt. 




Von der ersten Sekunde des ungewöhnlichen und hinsichtlich der Intensität entfernt gar an New Model Army erinnernden Openers "Note To Self" bis zum letzten Wahnsinnsstakkato des umwerfenden Abschlusstracks "Duplicate Keys Icaro (An Interim Report)" ist "Failed States" ein atemberaubendes, herausforderndes, sehniges und ruppiges Meisterwerk, technisch auf allerhöchstem Niveau, textlich beinahe pathologisch klar, multidimensional und herzzerreißend schmerzhaft. Oder schmerzhaft herzzerreißend?

There is no me. There is no you. There is all. There is no you. There is no me. And that is all. A profound acceptance of an enormous pageantry. A haunting certainty that the unifying principle of this universe is love.

(aus "Duplicate Keys Icaro")


Ein auf ewig hell leuchtendes Vorbild. 




Erschienen auf Epitaph Records, 2012. 

10.04.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Qluster - Antworten




QLUSTER - ANTWORTEN


Ein Album für gewisse Stunden. Für Zeit und Raum. Für Dunkelheit. Für Stille. Für Liebe. Für Einkehr. Für Inspiration. Für Kraft. Für Trauer. Für Trost. Für Selbstgestricktes. Für Gebäck. 

Was in dieser Nacht auf der Bühne der Berliner Philharmonie zwischen Hans-Joachim Roedelius und Onnen Bock geschah, das spirituelle Fluten von Synapsen mit Energie, Verständnis und Vertrauen, wird wohl auf ewig ohne eine angemessene Erklärung auskommen müssen. Dass wir diesem gewaltigen Naturschauspiel trotzdem beiwohnen dürfen, und zwar immer wieder aufs Neue, dass wir uns immer wieder in der Tiefe jener Nacht verlieren dürfen, ist ein großes Geschenk. Kein berühmter Name, kein Marketinggekröse und aus der Ferne betrachtet eigentlich ein eher kleines, unscheinbares Werk - bis zu jenem Moment, in dem sich die Nadel auf diese Platte herabsenkt, die erste Musikrille erreicht und mit jeder weiteren Sekunde die Kinnlade ein Stückchen weiter nach unten kracht. 

Aktives Zuhören scheint in Zeiten  von Dschingdarassabumm-Streaming und dem ubiquitären Profit-Geflacker von Weltkonzernen nicht mehr über Gebühr en vogue zu sein, und ich möchte auch nicht der hinterletzte pretentious prick sein, der fürs Ressort des Kulturpessimismus' den wöchentlichen Leitartikel schreibt, aber for fuck's sake: hört dieser Platte zu! 




Erschienen auf Bureau B, 2012.


04.04.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Oddisee - People Hear What They See




ODDISEE - PEOPLE HEAR WHAT THEY SEE


Urban wie ein Solo-Sonntagsbrunch im Hamburger Neustadt-Kiez mit frisch gedruckter Wochenzeitung, intellektuell wie ein tiefes, reflektiertes Gespräch mit einem guten Freund. Ein bisschen Philosophie über guten Kaffee und die sozialen Verwerfungen in den USA, eine Idee über Tanzen und Realitätsflucht, Jazz und Soul. 

Unter der Conscious-Pudelmütze im Arbeitszimmer irgendwo in Brooklyn steckt ein Einzelgänger, ein mutiger, smarter, offener Geist, auf der Bühne steht und derwischt hingegen ein Teamplayer, der mit seiner Begleitband Good Compny jeden Laden in die Knie glühen kann. Ich durfte das Spektakel zwei Mal erleben, und vor allem das Konzert im leider eher unzulänglich besuchten Bett zu Frankfurt im November 2013 wird mir mit seinen positiv geladenen Power-Vibes zwischen klassischem Hip Hop, Soul, RnB und Jazz wohl auf ewig in Erinnerung bleiben. Sicherlich eines der besten Gigs, die ich im vergangenen Jahrzehnt gesehen habe. 

Wer es mit eigenen Augen und Ohren erleben will, klickt das folgende Video vom Into The Great Wide Open Festivals aus dem Jahr 2015 an und hält schon mal den Sack für die Glücksgefühle weit auf):



"People Hear What They See" war möglicherweise Oddisees Durchbruch im Hip Hop Underground - und auch wenn die größeren Hits wie "That's Love" oder "Things" auf den späteren, und darüber hinaus ebenfalls brillianten Alben "The Iceberg" und "The Good Fight" erschienen, ist das 2012 erschienene Soloalbum des (ex-)DC-Mannes nicht nur wegen der umwerfend aussehenden Vinylpressung der Klassiker seiner bisherigen Diskografie. Und es ist für mich bis heute ein Rätsel, wie dieser ultradicke und alles niederpumpende Bass auf "People Hear What They See" die Nadel nicht dazu bringt, nach zwei Sekunden aus der Rille zu flumpfen. 

"Hip Hop never died. It just went underground." 




Erschienen auf Mello Music Group, 2012.

12.10.2014

Spanish Venus



ROB MAZUREK PULSAR QUARTET - STELLAR PULSATIONS

Es gibt locker drei Handvoll Jazzplatten in meinem frisch sortierten Plattenschrank, die teils seit Jahren auf einige wohlwollende Worte in diesem virtuellen Raum warten. Damit sind sie nicht alleine, denn auch Platten anderer Genres stehen schon längst in der Warteschlange. So viel wunderbare Musik, so wenig Zeit. Heute will ich dennoch ein ganz besonderes Album hervorheben, nicht zuletzt, weil es mir im neulichen regalistischen Alphabetisierungswahn wieder in die Hände fiel, nachdem es für eine verblüffend lange Zeit immer griffbereit in der Nähe des Plattenspielers zu finden war und erst vor wenigen Monden in die Schrankwand wanderte.

Über das Pulsar Quartet von Kornettist Rob Mazurek wollte ich schon nach den ersten Durchgängen schreiben. Die Ausflüge Mazureks mit Bill Dixons Exploding Star Orchestra hatte ich früher genauso gelobt wie jene Werke, die er gemeinsam mit Schlagzeuger Chad Taylor unter dem Banner des Chicago Underground Duos aufnahm. Ich verstand Mazurek bis dato immer als einen Avantgardisten, der selbst in freier, komplexer und chaotischer Umwelt den Fokus auf strukturgebende Melodie setzt: Das Chicago Underground Duo werkelt  bisweilen in einem windschiefen und nur von wenigen brüchigen Stützpfeilern zusammen gehaltenen Musikkosmos herum, in dem Mazurek es immer wieder versteht, an exponierter Stelle gegen das Spröde und Zerfaserte anzuspielen und somit als Bindeglied zwischen Phantasie und Erzählung zu dienen. Das tosende Meer des Exploding Star Orchestras hingegen braucht keinen Halt mehr - es reicht, ein paar ordnende Bojen im Ohr zu behalten, die zappelnd und sisyphosgleich versuchen, Grenzen zu ziehen. 

Für sein Pulsar Quartet holte sich der Komponist Tortoise-Drummer John Herndon und Bassist Matthew Lux ins Boot, am Piano sitzt Angelica Sanchez, die bereits ebenfalls mit dem Exploding Star Orchestra und außerdem mit Wadada Leo Smith und Chad Taylor spielte. "Stellar Pulsations", dessen Liner Notes übrigens von Tortoise-Gitarrist Jeff Parker verfasst wurden, ist für mich deswegen so besonders, weil es wie eine langerwartete Weiterentwicklung des Hard Bops erscheint, dem sich Mazurek ja besonders zu Beginn seiner Karriere annahm. Expressiven und energischen Ausbrüchen, in denen die vier Musiker wie sprühender Goldregen die Umgebung erkunden und sich als Kollektiv immer weiter von der Komfortzone entfernen, stehen geerdeten Momenten mit enormer lyrischer Kraft gegenüber. Dazwischen sind die Grenzen beinahe völlig verschwommen und das ist beeindruckend: wie vor allem Angelica Sanchez in der fantastischen Ballade "Magic Saturn" mit Mazureks Kornett so wunderbar harmoniert und damit eine bemerkenswerte Weite erschafft, oder wie sich im brodelnden "Twister Uranus" die Rhythmusabteilung gegenseitig antreibt und hochschaukelt, während Mazurek die Käfigtür von außen zuschließt, bevor sie allesamt im abschließenden, fast meditativen "Folk Song Neptune" gemeinsam abkühlen, ist das Eine. Das Andere ist die Fähigkeit der vier Musiker, "Stellar Pulsations" in einer Art Zwischenwelt zu halten, um es an kaum hörbaren Fäden hängend zu erforschen, es durchgehend von immer unterschiedlichen Blickwinkeln zu beobachten und damit zu spielen. Kompositorisch ist das Werk mit dem im Detail kaum wahrnehmbaren Pendeln zwischen Tradition und Innovation eine kleine Sensation, im Kollektiv eine besonders anschauliche Darstellung von modernem, einheitlichem Improvisationstalent. 

Erschienen auf Delmark Records, 2012.



04.03.2013

Die Songs des Jahres 2012 (Vol.2)

Von Platz 5 bis Platz 1 - damit ihr ein bisschen Scrollen müsst, um zur TOTAL ÜBERRASCHENDEN Nummer 1 zu kommen.

Hurz!


05 Monophonics - There's A Riot Going On

Die erste Singleauskopplung ihres Debuts "In Your Brain" ist gleichzeitig auch der beste Track dieses kalifornischen Ensembles, das beim NeoSoul/Funk Label Ubiquity untergekommen ist. Anders als ihre Labelgenossen von Orgone sind die Monophonics psychedelischer, bluesiger und traditioneller unterwegs, und was sich auf der (zu langen) Platte etwas zieht, entwickelt sich spätestens auf der Bühne zu einem umwerfend intensiven Trip. "There's A Riot Going On" gibt's nur gegen Rezept und schlappe 6 Euro auf einer schicken 7-Inch.




04 Ayshay - Shaytan

Eine der großen Überraschungen 2012 war Fatima Al Qadiri aka Ayshay mit ihrer "Warn-U" EP auf Tri Angle, und tatsächlich hielt sich "Shaytan" lange Zeit an der Spitze meiner persönlichen Songjahrescharts. "Shaytan" ist beunruhigend, aufdringlich und tiefschwarz. Und so schön, dass ich manchmal keine Worte dafür finde.




03 Georgia Anne Muldrow - Seeds

Ich hatte es mit meinen Worten zum vollständigen Album bereits angedeutet: die Vorabsingle "Seeds" ist mittlerweile ein kleiner Klassiker, das Video sowieso, und ich sehe keinen Grund dafür, diesen supercoolen, deepen, spirituellen und von Madlib mit viel Fingerspitzengefühl produzierten Track nicht auf den dritten Platz rücken zu lassen.




02 Propagandhi - Status Update

Ich darf den Youtube-Mitinsassen GunjerSpinners zitieren:"took them less than a minute to clear my mind..wow." Womit dann eigentlich alles gesagt wäre.




01 De La Soul's Plug 1 & Plug 2 Presents First Serve  - Must B The Music

Wir kommen nicht drum herum, ihr nicht, und ich gleich gar nicht. Alles, was Spaß macht, ist hier in knappen vier Minuten verbratzt, aufgeschlagen, drappiert und als Geschenk verpackt. Ich möchte hierzu selbst bei Minustemperaturen nur mit einem Rüsselschlüpper bekleidet Straßenlaternen und Briefkastenschlitze unsittlich berühren. Ich möchte aus einem öffentlichen Urinal einen kräftigen Schluck mit einem rosafarbenen Ringelstrohhalm nehmen. Ich möchte Parkuhren und Polizisten ablecken. Lebt das Leben. Liebt die Liebe. Liebt das Leben.




Ich muss aber nun doch mal die Frage stellen, warum die Google-Bildersuche Fotos von Christiano Ronaldo ausspuckt, wenn ich nach "Rüsselunterhose" suche?!

03.03.2013

Die Songs des Jahres 2012 (Vol.1)

Listen, immer nur Listen. Ich könnte praktisch ein ganzes Blog-Jahr nur mit Listen füllen, mir würde bedauernswerterweise wohl immer ein absurder Mist einfallen.

Heute ist's allerdings erfrischend unabsurd, eine Liste mit den besten Songs des Jahres ist schließlich völlig legitim, ist es nicht? Wir machen das in zwei Etappen, sonst wird mir langweilig. Außerdem mit einem Novum, weil es dieses Jahr die entsprechenden Youtube-Video mit dazu gibt. Mein Service! Von mir, für Euch. "Ich liebe Dich, Mann!" (Wayne's World). Und die GEMA kann mir immer noch und äußerst ausgiebig mal schön den [zensiert]. Jedenfalls kann sie mich mal. Irgendwas. Verklagen. Ahahaha. Naja.


10 Lauer - Coppers

Man kann darüber diskutieren, ob das Album "Phillips" im Allgemeinen und der Track "Coppers" im Speziellen in den dunklen Wintermonaten Sinn machen, aber ich kann bestätigen, dass sich insbesondere "Coppers" im Sommer 2012 durch so manche Nacht auf der Überholspur Endlosschleife hielt. Für Zeiten, in denen Tumbleweed durch die hohle Rübe weht. Einfach, weil's Spaß macht.




09 Jacques Greene - Ready

Auch wenn Greenes "Another Girl" EP aus dem Jahr 2011 durchaus okay war, hatte ich ihn für einen solchen Kracher nicht auf der Rechnung. "Ready" platziert sich zwischen einer flotteren Burial-Nummer, Tri Angle-Sounds und einem ordentlichen Zug nach vorne mit einem sehr vielschichtigen und warmen Soundansatz. Außerdem sehr erfreulich: man hört Greenes Willen heraus, seinen Stil zu präzisieren. Das ist super.




08 Maserati - Abracadabracab

Maserati sind schwer gebeutelt und irgendwie hört man es "VII" auch an. Ihre neue Platte "VII" wäre um ein Haar in meine Top 20 hereingerutscht; ein wunderbar psychedelisches und kraftvolles Instrumentalrock Album von einer Band, die es tatsächlich geschafft hat, den Postrockrahmen nicht nur zu sprengen, sondern ihn  sogar zu erweitern. Es grüßen Pink Floyd, Kraftwerk und und Neu! "Abracadabracab" ist ein großartiges, über zehn Minuten langes Epos, für Tänzer genauso geeignet wie für Kopfnicker.




07 Holy Other - U Now

Holy Others "With U" EP aus dem Jahr 2011 war eine Sensation, auf dem vollständigen Debut "Held" zeigt sich aber, dass die Herausfroderung, ein abendfüllendes Album zu gestalten, vielleicht noch eine Nummer zu groß war. Die Zahl der anbetungswürdigen Momente ist zwar identisch mit der "With U"-Quote, aber eine EP ist eben auch kürzer. "U Now" ist das beste Beispiel, praktisch die Blaupause für seinen Sound: sofort zu identifizieren, sofort in die DNA eingebaut, sofort zum Leben erweckt.




06 Pinkish Black - Bodies In Tow

Der stärkste Track aus dem guten, selbstbetitelten Album des Weirdo-Duos aus Texas. Ein hymnischer Schlag mit dem Morgenstern, hochmelodisch und -dramatisch inszeniert, mit sehr charmanten und sympatischen Doom Metal Zitaten, die vor allem beim Gesang durchschimmern. Immer noch fantastisch.




25.02.2013

2012 ° Platz 1 ° Propagandhi - Failed States



PROPAGANDHI - FAILED STATES


Überraschungen sehen anders aus: wer sich wenigstens in der zweiten Jahreshälfte 2012 zitternd und erschöpft durch mein Geschreibsel kämpfte, dem dürfte die Nummer Eins des Flo-Universums 2012 irgendwie bekannt vorkommen. Auch wenn, und das muss gesagt werden, der Zweikampf an der Spitze ein verdammt ernster und mit harten Bandagen geführter Fight war, der buchstäblich erst in letzter Minute zugunsten der Kanadier entschieden wurde.

"Failed States" also. Da muss ich mal kurz durchatmen. *schnauf*

Ich muss zugeben: ich bin glücklich mit dieser Entscheidung, auch wenn ich nun mit der Herausforderung im Ring stehe, einstmals völlig richtiges nochmal zu wiederholen, ohne mich, naja,...zu wiederholen. Denn so irrsinnig viel ist mit dieser Platte in den zurückliegenden Monaten nicht passiert; es ist auch heute noch ein geradewegs erhebendes Gefühl, "Failed States" zu hören. Ein kraftstrotzendes, visionäres, zügelloses Monster aus Hardcore, Punk und Thrash Metal, das besonders viel Anziehungskraft auf mich ausübt, wenn das Oberstübchen nach einem Sorgenstaubsauger ruft. Wenn sich der werte Herr Autor also am Freitagabend aus dem ICE und in das Wochenende rollt, wenn das ganze ungeklärte Abwasser aus einer grotesk verkackten Arbeitswoche gefälligst das Weite suchen soll, dann gehört mir mit diesen 37 Minuten die Welt.

Propagandhi haben mit ihrem sechsten Studioalbum das vielleicht goldenste Händchen ihrer Karriere bewiesen: so fokussiert, so kompakt und gleichzeitig variabel war das Quartett noch niemals zuvor. Gleichzeitig ist die Zahl derer, die der Band nicht (mehr) folgen können und wollen offensichtlich nochmal angestiegen. Zu komplex, zu progressiv, zu laut, zu Metal, zu leise, zu Punk, zu Rush, zu ernst, zu anstrengend, all das verbunden mit den abstrusesten Vergleichen, den bizarrsten Begründungen, den fatalsten Schlussfolgerungen. Sie könnten alle nicht falscher liegen: "Failed States" präsentiert eine auf den Punkt durchtrainierte Band, sehnig und drahtig, stahlhart und makellos. Hier ist keine Sekunde verschenkt.

"Failed States" ist eine verdammte Lehrstunde und folgerichtig die kreative Speerspitze dessen, was in einem musikalisch längst redundanten, inhaltsleeren und mit banalen Plattitüden vollgestopften Genre permanent nur noch um sich selbst und die eigenen Befindlichkeiten kreist.

Erschienen auf Epitaph, 2012.

24.02.2013

2012 ° Platz 2 ° The Life And Times - No One Loves You Like I Do



THE LIFE AND TIMES - NO ONE LOVES YOU LIKE I DO

Als ich vor wenigen Tagen feststellte, es gäbe außer The Sea And Cake keine andere Band, die ich auf diesem Blog mit soviel Hingabe und Liebe überschüttet habe, dann war das wenn nicht glatt gelogen, dann zumindest nur die berühmte halbe Wahrheit. The Life And Times gehören seit ihrem Albumdebut "Suburban Hymns" zu meinen Lieblingsbands, was ich an der ein oder anderen Stelle bereits ebenfalls ausgiebig breittrat. Das Power Trio aus Kansas City hat praktisch noch keinen auch nur durchschnittlichen Ton auf eine Platte gepresst und kommt mit seinem psychedelischen, schweren und emotionalen Indienoiserock verdammt nahe an meine Idealvorstellung aktueller Rockmusik heran.

Allen Epley, Meister des verschrobenen Arrangements und außerdem Saitenhexer von kilometermeterdicken Noiselayern, die einen Kevin Shields wie einen blutigen (haha!) Anfänger aussehen lassen, hat aus der Asche seiner früheren Alternative/Grunge Truppe Shiner einen völlig einzigartigen Stil für The Life And Times geboren und mit seinen Kumpels Eric Abert am Bass und Chris Metcalf am Schlagzeug mittlerweile zur Perfektion veredelt: tonnenschwer, verzerrt, noisy, dabei aber zum Sterben romantisch, melancholisch, opulent und tiefrot glimmend. Es gibt keine Band, die auch nur im Ansatz so klingt wie diese drei Typen.

"No One Loves You Like I Do" ist in der Liste vergangener Klassiker keine Ausnahme, tatsächlich muss ich zugeben, dass ich im Grunde bereits vor Veröffentlichung "Na, dann muss ich mir dieses Jahr ja keine Gedanken um meine Nummer 1 machen!" jubelte. Jetzt steht ihr drittes Studioalbum also auf Platz zwei, und es liegt weißgott nicht an seiner Qualität, denn das Trio ist auf Albumlänge kompakter geworden, hat aber gleichzeitig an der Psychedelic-Schraube gedreht und einige ziemlich fiebrige Minuten aufgenommen, die den Kopf ganz schön weichkochen und ohne echte Auseinandersetzung wie Staub zerfallen können. Ich habe keine Ahnung, wie sie das angestellt haben, aber es gibt Momente im Verlauf der 46 Minuten, die das komplette Werk als großen Noise-Meteoriten aus purer, in Chloroform getränkter Watte erscheinen lassen. Und jeder Ton gräbt sich tief in die DNA jeder einzelnen Körperzelle ein.

It doesn't get much more intense than this.


Veröffentlicht auf Hawthorne Street Records, 2012.

23.02.2013

2012 ° Platz 3 ° Variant - Falling Stars



VARIANT - FALLING STARS

Für die Veröffentlichungspolitik der künstlichen Verknappung des Echochord-Labels im Allgemeinen und Steven Hitchell im Speziellen habe ich zumeist nur zwei ausgestreckte Mittelfinger übrig, aber sie hindert mich auch im Falle von diesem zweiundsechzigminütigen Track nicht daran, vor Freude leise in mich hineinzuweinen. Ich bin ja schon manchmal reichlich bescheuert, wenn es um Plattenkaufen in Verbindung mit Geldausgeben geht, aber entre nous: hier haben einige nicht nur ein Rad, sondern eher ein paar Doppelachsen ab. Vorab gab's eine auf 25 Stück limitierte Promo-CDR, später eine weitere CDR, für die aber nur die vollends Kaputten die anvisierten 30 bis 50 Dollar zahlen würden, es folgt eine obskure Compilation, die Variants "The Setting Sun"-Album den fallenden Sternen zur Seite stellt und als Schlagsahne noch eine remasterte Version obendrauf, von der kein Mensch weiß, was hier remastert oder editiert wurde. Sollte ein Labelprofi mitlesen: ich freue mich über Aufklärung. Solange heißt's für mich: MP3 ist doch auch ganz schön. Und schön ist das richtige Stichwort für eine Platte, die klingt...

...als hätte man Lisa Gerrard und Brandon Perry eine Überdosis Tavor und Hustensaft verabreicht und sie alle jemals aufgenommenen Spuren aller jemals aufgenommenen Dead Can Dance Platten übereinander legen lassen. Dann hätte man den Kladderadatsch auf ein 45er Vinyl gepresst und die Platte über den Plattenspieler vom lieben Gott oder Barbara Schöneberger auf WAHNSINNINGER GESCHWINDIGKEIT, quatsch: unfassbar langsamer Geschwindigkeit, dafür aber auf WAHNSINNIGER LAUTSTÄRKE abgespielt.

...als würde man die komplett vollverhohlten Schlachtszenen aus dem Fantasy-Kitschmist "Herr Der Ringe" und die einstürzenden Mauern von, was isses gleich? Knubbelnasenhausen, Gandalfvonuntenstadt oder Sauronhumppa einzeln im Standbild abspielen und jeden umknickenden Grashalm beweinen.

...als würde ein überdimensionaler, gigantischer Verschnitt aus Godzilla, King Kong und dem Stay Puft Marshmallow Man in einem akuten Anfall des Alice-im-Wunderland-Syndroms durch Shangri-La schweben und dabei dunkelrote Rosenblüten streuen.

...als würden flüssiger Stahl, krusselige Klumpen erkalteter Lava, rosafarbener Schlamm und dunkle Materie durch meinen Körper fließen.

Keine Platte für jede Zeit, keine Platte für jeden Ort, keine Platte für Jedermann.


Erschienen auf Echospace[detroit], 2012.

17.02.2013

2012 ° Platz 4 ° Orcas - Orcas



ORCAS - ORCAS

Erinnert sich noch jemand an meinen Text über Bonobos "Black Sands" Album? Bien sur, das ist eine rhetorische Frage und deshalb will es nicht schwerer machen, als es ist, und einen zentralen Satz daraus zitieren:

"Du hörst es und Du weißt augenblicklich - 'Okay, das hier ist wichtig, hör genau zu, Mann!".

Exakt diesen Effekt erlebte ich beim ersten Anhören von "Orcas", dem Debut des Projekts der beiden Soundtüftler Benoit Pioulard und Rafael Anton Irisarri, und ich wurde schon zur Mitte des ersten Titels leicht hektisch: diese Jahresbestenliste muss neu geschrieben werden - und sie wurde neu geschrieben. "Orcas" rutschte praktisch nach jedem Hördurchgang einen Platz nach oben, weil diese Musik so romantisch, schwül, flirrend ist, weil sie so lush und deep in dich hineinflutscht wie kaum etwas anderes. Die erfrischend aufgeräumte Hippieästhetik und der zähe, ausgewalzte Folkansatz des Duos bekommt durch das Ambientknistern und -flackern eine unüberschaubare Weite, verliert sich dabei aber nie in experimentellen Kunststrukturen. "Orcas" bleibt bei Dir, egal wie weit der Spagat von hymnenhafter Leichtigkeit zu den monumentalen Klanggebirgen reichen mag.

Die Herzallerliebste und ich waren erst kürzlich einer Meinung, als "Orcas" uns den Brunch am Frühstückstisch versüßte: es ist eine der schönsten, bildhaftesten und kontemplativsten Platten der vergangenen Jahre. Ein besonnener und guter Freund, der Licht schenkt, wenn es draußen mal wieder stockfinster ist.

Erschienen auf Morr Music, 2012.


16.02.2013

2012 ° Platz 5 ° Qluster - Antworten



QLUSTER - ANTWORTEN

Es passiert ausgesprochen selten, dass mir im Dezember eines Jahres eine Platte unterkommt, die mit derart wehenden Fahnen in meine Jahrescharts stürmt, wie der dritte Teil der Qluster-Trilogie "Antworten". DER_LEHRER empfahl mir während eines gemeinsamen Plattenladenbesuchs am Nikolaustag 2012 ein oder sogar zwei Ohren zu riskieren, und ich sende seitdem Luft und Liebe in Richtung Klassenzimmer: bereits nach dem ersten Kopfhörertest war klar, dass "Antworten" in die Top 5 gehört.

Hans-Joachim Roedelius und Onnen Bock setzten sich der Legende nach im Januar 2007 um Mitternacht in die Berliner Philharmonie und an die zwei dort bereitgestellten Steinway Flügel. Ihre nokturnen Improvisationen sind geprägt von großem Verständnis und Einfühlvermögen, manchmal scheint es, als könnte man ihre Gedanken wenn nicht hören, dann wenigstens spüren. Sie beobachten sich einander ganz genau, lassen sich den Freiraum, wenn die musikalische Weite Universen verschlingt und ziehen sich zusammen, wenn die winzigen Miniaturen in Melodie vor Energie und Intensität beinahe zerbersten. Roedelius und Bock erschaffen auf "Antworten" ein intimes, mehrdimensionales Standbild der Nacht, ein Gegengewicht zum sich im stetem Fluss abspielenden, hektischen Alltag der Großstadt. Den Blickwinkel verändern, den Kopf aus der alles mitreißenden Flut strecken, tief Luft holen, um danach noch tiefer abtauchen zu können: wenn "Antworten" uns genau diese "Antwort" auf die immer brennenderen Lebensfragen von misstrauischen und ziellosen Generationen liefert, dann wird es Zeit, das Leben neu auszurichten und es endlich in die Hand zu nehmen. Wir werden den Irrsinn auf andere Weise nicht überleben können.

Und wenn Keith Jarrett diese Platte hört, setzt er sich nie wieder an einen Flügel.
Erschienen auf Bureau B, 2012.

11.02.2013

2012 ° Platz 6 ° De La Soul's Plug 1 & Plug 2 Present First Serve



DE LA SOULS'S PLUG 1 & PLUG 2 PRESENT
FIRST SERVE

»It’s funky, it’s hip hop, it’s disco and it’s classic.«

An dieser Stelle könnte eigentlich schon alles gesagt sein. "First Serve" war mein Sommeralbum 2012 und selbst jetzt, beim Probehören im arschkalten Februar, trage ich mein mit rot-weißen Palmen geschmücktes Hawaiihemd, pinke Hotpants mit auf dem Arsch gedruckten Rosenblüten, dazu die guten Flip-Flops mit Wohlfühl-Fußbett, reiße das Fenster auf und schüttele mir einen Caipirinha mit Limettensaft aus der Flasche zusammen. Letzteres kann ich übrigens mittags um eins nicht empfehlen, aber bei der Kälte spart man sich wenigstens das Eis. Und das leere Glas kann auch noch ganz hervorragend auf die Karnevalstrottel aus dem Neanderthal geschmissen werden, die just 100 Meter von meiner Höhle entfernt ihren verkackten Umzugsschrott feiern. Aber das habe ich nicht geschrieben. So ähnlich, bis auf die Kälte und die lustigen Helau-Masturbanten, lief es vor zehn Monaten ab, als ich eher zufällig die erste Single "Must B The Music" aus diesem funkensprühenden Album hörte. Ich weiß noch genau, dass ich derart euphorisch war, dass ich etwas tat, was ich für gewöhnlich nie mache: ich schloss den Laptop an meine Anlage an!*donnergrollen* Damit ich diesen Song L.A.U.T. und über die großen Lautsprecher hören konnte. Außerdem stammelte ich die ganze Zeit "I...ist das g...geil. H...hörst Du d...das? Ohgott. Wie g....geil!" in Richtung der ob der Lautstärke leicht unentspannten Herzallerliebsten, die aber nach dem vierten Durchlauf ebenfalls ein für ihre Verhältnisse rares "Das ist aber echt geil!" fallen ließ.

Als ich wenige Wochen später die vollständige Platte in den Händen hielt, war von der sonst so üblichen Enttäuschung (i.S.v. großartige Single, abfallendes Album) weit und breit nichts zu sehen, zu hören noch weniger. "First Serve", ausgedacht vom französischen Produzenten-Team Chokolate & Khalid und den beiden De La Soul MCs Dave und Pos, ist ein funky-freshes und positives Hip Hop Album der alten Schule, gespickt mit kerzengeraden, dicken Discobeats und viel, viel Funk und Soul und noch mehr Humor. Die Story des Albums dreht sich um zwei talentierte Rapper, die große Stars werden wollen, sich anfangs mit den Berufswünschen der Eltern, später mit Verträgen und dem Split herumschlagen müssen (Spoiler Alert: sie finden aber wieder zusammen).

Vor einer Woche wünschte ich mir angesichts des Oddisee-Albums das Entstehen von neuen Klassikern herbei und "First Serve" reiht sich nahtlos in diesen Wunsch ein. 12 Songs, 12 unsterbliche Hits, 12 Mal großer Spaß, 12 Mal Limbo tanzen. Do it!

Erschienen auf Pias, 2012.

10.02.2013

2012 ° Platz 7 ° The Sea And Cake - Runner


THE SEA AND CAKE - RUNNER

Es gibt wohl keine andere Band, die ich auf diesem Blog ausgiebiger mit Lob und Liebe überschüttete als The Sea And Cake und, um die Pointe gleich vorwegzunehmen: das wird sich auch mit diesem Beitrag nicht ändern.

Als ich 2005 zum ersten Mal "All The Photos" vom fantastischen "Oui"-Album hörte, war es um mich geschehen. Seitdem versuche ich mir selbst zu erklären, was mich an der Musik des Quartetts aus Chicago so sehr fasziniert, und ich kann nicht sagen, dass ich in den letzten acht Jahren bedeutend weiter gekommen bin. Natürlich ist der reflexartige Kniefall bei bloßer Namenserwähnung dank der Leichtfüßigkeit, der Souveränität, der feingliedrigen Arrangements und der schüchtern-naiven Aura ihrer Kompositionen jederzeit problemlos darstellbar, aber da brodelt noch irgendetwas tiefer in mir als die genannten und offensichtlichen Merkmale. Ihre Musik zieht mich, oft nur für wenige Sekunden, in meine Jugend zurück und ich assoziiere nicht selten komplette, erlebte Bilder mit einzelnen Songs; manchmal ist es gar nur eine Betonung, ein Gitarrenanschlag oder eine gehauchte Wortsilbe, die mich aus dem Hier und Jetzt in das Damals und Gestern katapultiert. "All The Photos" ist beispielsweise ab dem Break bei Minute 1:25 seit jeher mit einem Sommertag im Juli 1995 verknüpft, an dem ich am Schreibtisch meines Zimmers in der elterlichen Wohnung  saß, Guinness aus Dosen trank und für die theoretische Führerscheinprüfung lernte. Bei "Window Sills" vom 2008er "Car Alarm"-Meisterwerk sitze ich ab der ersten Note ebenfalls im spätpubertären Kinderzimmer, habe eine Tasse Kaffee neben mir stehen, schaue melancholisch aus dem Fenster und den Schneeflocken beim Sterben zu. "Runner" fügt diesen Beispielen mit "A Mere" gleichfalls winterliche Nachmittage mit der tonlosen Bill Cosby Fernsehserie hinzu. Und manchmal ist es nicht mehr als ein Gefühl, vielleicht ein Geruch oder ein Geschmack in der Luft, den ich auf dem Fußweg vom Abitur-Gymnasium in die Wunderbar in Frankfurt-Höchst wahrgenommen habe, um eine selbstentschuldigte Freistunde bei einem Kaffee und unter Freunden zu verbringen. Vielleicht komme ich nochmal dahinter, warum das alles so ist, wie es ist. Vielleicht kann ich The Sea And Cake aber auch weiterhin einfach als eine der schönsten, ergreifendsten Bands aller Zeiten betrachten, an der ich mich nicht satthören kann.

"Runner" ist im Vergleich mit der "The Moonlight Butterfly" EP aus dem Jahr 2011 etwas vielschichtiger in der stilistischen Ausprägung und gleichzeitig kompakter in Stimmung und Ton, wofür vor allem die B-Seite verantwortlich ist, die vom reinen Akustiksong "Harbor Bridges" über das sehnsüchtig flackernde "New Patterns" (schon wieder: ein Gitarrensolo!), dem ungewohnt rockigen "Neighbors And Township", dem Hit "Pacific" bis zum an ihre 90er Alben wie "The Biz" und "Nassau" erinnernden Titeltrack neue Maßstäbe im Band-Kosmos setzt. Abgesehen vom unangenehm übersteuert und verzerrt klingenden "Skyscraper", einem Song, der in allen Formaten, sei es Vinyl, CD oder MP3, klingt, als sei ein Lautsprecherkabel kaputt, ist "Runner", und jetzt kann ich es wieder sagen: schon wieder das nächste beste The Sea And Cake Album der Welt.

Ein Spektakel in Nonchalance.

Erschienen auf Thrill Jockey, 2012.

03.02.2013

2012 ° Platz 8 ° Oddisee - People Hear What They See



ODDISEE - PEOPLE HEAR WHAT THEY SEE

Ist die Zeit für Klassiker einfach vorbei? Vor zwanzig Jahren wären sämtliche Singleauskopplungen aus "People Hear What They See" in die Top Ten der US-amerikanischen Billboardcharts eingestiegen, das Album hätte dreifach Platin eingesammelt und Oddisee wäre für die nächsten fünf Jahre der Mann der Hip Hop-Stunde gewesen. Im Jahr 2012 reicht es immerhin für viel, viel Kritikerlob und einen brodelnden Untergrund, der vom Mainstream Hip Hop mit seinen Bitchez, Niggarz und Dollarz die Nase mindestens so voll hat wie unsereins. Alleine das Cover von Oddisees quasi-Debut verspricht eine Hochdosis Conscious Rap, einerseits introspektiv und reflektiert, ohne die sonst genretypische Exaltiertheit, und trotzdem ist die Leidenschaft in jedem Rap, in jedem Beat und jedem Sample zu spüren. "This album is about influence, inspiration, perception & reality." sagt der Multiinstrumentalist, Produzent und MC aus Washington, womit er auch dank seiner Motown-, Soul- und Funksamples mit "People Hear What They See" einem Poeten wie Gil-Scott Heron viel näher steht als praktisch alles, was in den letzten zehn, fünfzehn Jahren an der Hip Hop Geschichte mitgebastelt hat. Langjährige Leser von 3,40qm erinnern sich vielleicht noch an Replifes "The Unclosed Mind" Album aus dem Jahr 2008, das ich als "wohltuend klischeefreien HipHop" adelte, und mir fiele für Oddisee ziemlich genau dasselbe ein, auch wenn seine Musik eine Spur spritziger und sonniger ist.

Ich würde grundsätzlich viel mehr Hip Hop hören, wenn er öfter so erfrischend, kreativ und positiv aufgeladen ist, wie "People Hear What They See". Und es wäre mal wieder an der Zeit, dass wir Klassiker entstehen lassen. Ich hätte kein Problem, hier und heute damit zu beginnen.

Erschienen auf Mello Music Group, 2012.

29.01.2013

2012 ° Platz 9 ° Voices From The Lake



VOICES FROM THE LAKE

Das beste Techno-Album des Jahres 2012 kommt aus Italien und es war ein ganz schöner Ritt, alleine nur die CD zu ergattern. Das DJ-Duo Donato Scaramuzzi und Giuseppe Tilliecin, der eine nach Jahren in der Clubszene Berlins bestens vernetzt, der andere als Toningeneur im Rom auf "All Systems Go!" geschaltet, hatte sich im Sommer des abgelaufenen Jahres schon ziemlich genau überlegt, wer  ihre Musik zum Verkauf (und Kauf) angeboten bekommt. Mittlerweile gibt es "Voices From The Lake" sogar in der 3-LP-Version auf Vinyl. Ob man die noch braucht, wenn man die CD, den Download und Spotify hat? Auf jeden Fall!

"Voices From The Lake" gelingt, was traditionell nur einer überschaubaren Anzahl von Technoalben vorbehalten bleibt: einen Rahmen zu schaffen, der die szenetypische 12"-Kultur überflüssig macht.

Wer es fertig bringt, auf den eigentlich viel zu langen 72 Minuten durchgängig so spannend zu sein, dass man am liebsten niemals mehr auf die Idee kommen möchte, sich eine Techno-Maxi, in welchem Format auch immer, zu kaufen, geschweige denn jemals die Repeatfunktion des CD-Players zu deaktivieren, der wirft auch Sauerkraut auf die Schwarzwälder Kirsch. Der ist zu allem fähig. Und tatsächlich groovt das Duo mit tiefen, hypnotischen, rotglühenden Dub-Beats durch unterirdische schamanische Höhlen, pendelt mit zaghaften Melodieandeutungen Wasseradern im Tropischen Regenwald aus und lässt einen unaufhaltsamen Fluss von Erzählungen, Bildern, Visionen, Fieberträumen, Hitzewallungen, Sonargeräten und Mojitos (wahlweise auch Moskitos) auf uns niederprasseln. Es zischelt und rauscht bedrohlich, es drückt und pumpt bis zur Schmerzgrenze; Freedom, Baby!

Wenn das Autorentechnoalbum als Kunstform tatsächlich exisitiert, haben Voices From The Lake vielleicht eine neue Bibel geschrieben.

Erschienen auf Prologue Music, 2012.

28.01.2013

2012 ° Platz 10 ° Godspeed You! Black Emperor - 'alleluja! Don't Bend! Ascend!



GODSPEED YOU! BLACK EMPEROR - 'ALLELUJA! DON'T BEND! ASCEND!

Wir starten mit einer Platte in die Top Ten, die mir einige schlaflose Nächte bereitet hat. Die kanadische Legende, bis heute der einzig legitime Vertreter des orchestralen Postrock, hat im abgelaufenen Jahr tatsächlich ihr Schallplattencomeback angekündigt und nur für den Fall, dass ihr es noch nicht alle wisst, weil ich es ja auch erst seit 15 Jahren mantraartig vor mich hinmurmle, und das hier strenggenommen ja auch kein Reunion-, sondern eben das Comebackalbum ist, aber trotzdem: Reunions gehen in 49 von 50 Fällen nach hinten los, in die Hose, sind für den Popo und sollten schnellstmöglich auch wieder in Letztgenannten zurückgeschickt werden.

Die Verantwortlichen hinter Godspeed legten die Band 2005 auf Eis und irgendwie war das auch richtig so. Ich war zwar durchaus enttäuscht, aber wenn sie das Gefühl hatten, es sei für den Moment alles gesagt - bon! Das war mir auf alle Fälle lieber als alle zwei Jahre ein müdes, abgeschmacktes Werk vorgesetzt zu bekommen. Was mir die Band bedeutet, ist an dieser Stelle nachzulesen, weshalb für mich klar war, dass ich diese Platte so dringend brauchte wie ein veganes Holzfällersteak mit Sojajoghurt. Trotz dieses ganzen Comebackgedussels.

"'Alleluja! Don't Bend! Ascend" war ein Sensationserfolg. Das Label meldete schon drei Wochen vor dem Release, dass die Flut an Vorbestellungen sie förmlich überspüle und das Presswerk nicht mehr mit den Aufträgen nachkommt. Aus kommerzieller Sicht hätten die Vorzeichen also wirklich schlechter stehen können und aus künstlerischer Sicht war nach den ersten Minuten, spätestens aber nach dem Opener "Mladic" alles klar: Godspeed You! Black Emperor. Mein Gott. Mir hat wirklich etwas gefehlt.

Die Band hat es immer noch im Blut, auch ohne Worte alles zu sagen. Also, es final zu sagen. "Mladic" erhebt sich nach etwa sieben, acht quälend spannungsgeladenen Minuten furchterregend in die Lüfte und lässt die weiterhin unbändige Kraft des Kollektivs im Verlauf des zwanzigminüten Werks geradewegs explodieren. Wenn der Lautstärkeregler in einer angemessenen Position einpendelt, flattern nicht nur die Hosenbeine, sondern auch die Herzkammern. "We Drift Like Worried Fire" ist dagegen ruhiger und etwas weniger gewaltig, dafür aber melodisch vielschichtiger und tiefer. Die beiden Anhängsel "Their Helicopters Sing" und "Strung Like Lights At Thee Printemps Erable" sind Drones aus Noise und Feedback, gleichfalls monumental und in Verbindung mit den beiden erwähnten Hauptdarstellern die perfekte Ergänzung für eine Platte, die gemacht werden musste. Weil es wichtig ist, dass wir Bands wie Godspeed You! Black Emperor haben. Weil es wichtig ist, dass da jemand an unserer Seite steht, der auf diesen Irrsinn um uns herum mit derselben Mischung aus Ohnmacht und Zorn blickt. Es ist gut, einen Partner zu haben.

Erschienen auf Constellation Records, 2012.

22.01.2013

2012 ° Platz 11 ° Georgia Anne Muldrow - Seeds



GEORGIA ANNE MULDROW - SEEDS


Es war eine wirklich schwere Entscheidung, "Seeds" auf einen Platz außerhalb der diesjährigen Top Ten zu schieben. Ich erinnere mich daran, wie ich im Sommer 2012 wenigstens den Titeltrack in meiner gewohnt eloquenten Art in die Top 3 des Jahres und das vollständige Album in die "Scheißrein: Top 5, mindestens!" schrieb. Nun ist "Seeds" (sowohl, als auch) in den letzten vier, fünf Monaten ja sicherlich nicht schlechter geworden. Es gab nur eine Handvoll Konkurrenten, die einen Tick besser geworden sind. Trotzdem ist's irgendwie tragisch.

Um zu verstehen, wie das in den Sommermonaten gelaufen ist, muss man wissen, wie ich in jenen Zeiten meine Wochenenden verbringe. Besonders die Samstage sind heilig; vor 12 Uhr sieht man mich nur selten zum Bäcker für frische Brötchen wackeln und vor 14 Uhr erhebe ich mich mit der Herzallerliebsten erst gar nicht vom Frühstückstisch. Danach umwehen mich im leicht mit Jalousien abgedunkelten Wohnzimmer die Frische von Acqua di Parmas "Colonia"-Klassiker und die sanfte Brise, die sich durch das gekippte Fenster zu mir entlangwürmelt. In diesem Setting werden dann also die neuesten Platten aufgelegt, dazu reicht die Redaktion "schwarzen, heißen Kaffee, Junge. Richtig dunkelschwarzen, leckeren, kochend heißen Kaffee. Alde." (Picard). Das geht in aller Regel bis zum Abend so, und wenn es besonders entspannt am Bein entlangläuft, wechsle ich in der schwülen Hitze der Nacht zum eiskalten Cuba Libre. Am Ende des Tages steht ein perfekt verbrachter Tag auf der Rechnung und bevor mir jemand Stubenhockerei vorwirft: ich gehe doch nicht raus und treffe Menschen, "jetzt bleibense mal ernst." (Helmut "Pizza Mampf" Markwort).

"Seeds" ist die bestmögliche Platte für einen solchen Tag. Dafür sorgt zum einen das unnachahmliche Beatgestrüpp der Hip Hop-Tausendsassa Otis Jackson, Jr., besser bekannt unter einem seiner unzähligen Pseudonyme Madlib, ein durchgedrehter Vollfreak, der nicht nur gefühlt 187 Instrumente beherrscht und im Jahr mal eben bis zu zehn Platten veröffentlicht, darunter auch Jazz- und Fusionwerke, zu denen er sich fiktive Namen von gleichfalls fiktiven Mitmusikern ausdenkt. Nur, damit wir uns ansatzweise verstehen, was das für ein Typ ist. Für "Seeds" hat er einen oldschooliges Soul & Funk Gebräu zusammengerührt, das Muldrow, besonders in Verbindung mit ihren spirituellen, gesellschaftsbeobachtenden und -aufrüttelnden Texten, zu einer legitimen Nachfolgerin einer Nina Simone macht. In einer Beschreibung zu "Seeds" gab es mal die Bezeichnung "Underground R'n'B" zu lesen und tatsächlich: dieses deepe, aufrichtige Album könnte von den austauschbaren, auf Hochglanz polierten, aufgepumpten und "here today, gone tomorrow"-Produktionen aus den US-amerikanischen Majorstudios nicht weiter entfernt sein. Hier liegen keine Welten dazwischen, es sind Universen.

Dabei ist Muldrow ähnlich wie Madlib eine Verrückte: die Anzahl ihrer Produktionen, sei es in Funktion als Produzentin, Sängerin, Beatbastlerin oder Texterin ist trotz ihres Alters von gerade mal 29 Jahren bereits Legion und es ist beinahe unmöglich, alles von ihr zu kennen. Trotzdem ist "Seeds" das stimmigste, ernsthafteste und schlicht coolste Album, das ich von ihr kenne. Ich werde die Sommermonate 2012, die ich mit dieser Platte verbrachte, nicht vergessen.

Und der Titeltrack ist schon heute ein Klassiker.

Erschienen auf Someothaship, 2012.

21.01.2013

2012 ° Platz 12 ° Portraits - Portraits



PORTRAITS - PORTRAITS

Die spirituellste und meditativste Platte des Jahres kommt von einem US-amerikanischen Musikerkollektiv, einer All-Star Band der Rauschmusik: das neunköpfige Ensemble, unter anderem besetzt mit den beiden Barn Owl Musikern Caminiti und Porras, beinahe dem kompletten Lineup der Postrocklegende Tarentel, dem Root Strata Management, Higuma und Date Palms, entwickelt in großer Intimität eine erhabene, stimmungsvolle Musik aus einem Ziehen und Dehnen von Ton und Zeit. Versunken in die Aufgabe, jeden Geisteswinkel mit musikalischer Lava zu verkleiden, walzt sich ein Strom aus Tambourinen, Gitarren, Violinen, Klarinetten, Klangschalen, sakralen Mantras und Gongs in das kollektive Gedächtnis früherer Leben.

"Portraits", mit dem Nukleus aus Instrospektion und innerer Einkehr, erdet in zerrissenen Zeiten, klärt die getrübten Sinne und erinnert daran, dass im Draußen nichts zu holen ist, wenn das Innere Ich im Auge des tosenden Sturms nichts fühlen kann. "Portraits" lässt das Selbst das Leben spüren.

Erschienen auf Important Records, 2012.

19.01.2013

2012 ° Platz 13 ° Flying Lotus - Until The Quiet Comes



FLYING LOTUS - UNTIL THE QUIET COMES

In meiner ersten Review des aktuellen FlyLo-Fiebertraums vermutete ich, dass ich "Until The Quiet Comes" noch lange nicht verstanden habe, zusammen mit der Befürchtung, dass es unklar sei, ob mir es jemals gelänge. Außerdem habe ich ob ihrer grausamen Besprechung der Platte noch die Spex gedisst, und das völlig zurecht, wie ich nochmal betonen möchte. Ich kann allerdings auch zwei Monate später nicht sagen, dass ich einen Durchbruch hatte, nicht mal einen Blinddarm- oder Magendurchbruch, aber ich kam ein gutes Stück weiter voran. Vor wenigen Wochen dachte ich sogar mal für dreieinhalb Minuten, ich hätte das Rätsel geknackt. Bis halt der nächste Beat um die Ecke kam, und dann war's auch schon wieder "perdu" (G.Polt). Wenigstens halfen die dreieinhalb Minuten dabei, "Until The Quiet Comes" in die Top 20 des Jahres zu hieven.

Flying Lotus mag mittlerweile dunkler und intimer vorgehen, er mag seine Sounds auf die massivste Großbildleinwand des Universums ausrollen, er mag die Larger-Than-Life-Schablone hinter jeder ausgebrüteten Idee zusammenschnippeln, aber ich kenne keine andere Platte aus den letzten Jahren, die einen solchen Overkill an Winkeln, Ebenen, Dimensionen,  Reichtum und sprühenden Funken präsentiert wie dieses Mammutwerk. Es ist ein Mikrokosmos im Mikrokosmos im Mikrokosmos im Mikrokosmos: jede Andeutung eines Beats ist mit dem Elektronenmiskroskop ausgewählt und strategisch platziert, jedes Zischelsample bekam den Schulterklopfer, das wichtigste Zischelsample der Welt zu sein, jeder Handklatschloop ist die Schallmauer auf dem Weg zum nächsten Level, jedes Thundercat-Bassschnarren öffnet ganze Galaxien zum nächsten Mikrokosmos. Es sind komplett lebensfähige, hochkomplexe Welten, die nur wenige Augenblicke, manchmal keine volle Sekunde, am Leben sind. Sie funkeln im Zyklus des Albums kurz auf und verglühen wieder. Du wirst keine Zufälle in der Musik von Flying Lotus finden. Selbst die Stille ist Schicksal.

Erschienen auf Warp Records, 2012.

17.01.2013

2012 ° Platz 14 ° Plankton Wat - Spirits



PLANKTON WAT - SPIRITS


Dewey Mahoods Meditationsmusik über den Pazifischen Nordwesten der USA bleibt auch am Jahresende eine der beeindruckendsten Platten 2012. Der Gitarrist (u.a. Jackie-O Motherfucker) zwirbelt schamanische Trommelrhythmen wie Seetang um Treibholz, peitscht die mal folkige, mal noisige Gitarre wie Gischt ins unrasierte Gesicht und bläst auf der Friedenspfeife den tiefsten, grummeligen Bass der Welt in das Glutnest des Lagerfeuers.

Es mag sich wirklich balla-balla anhören, aber ich sitze über die gesamte Spielzeit an der steinigen Küste Oregons und habe den nach Salz und Herbst schmeckenden Wind im Haar. Neben mir sitzt der Geist Alice Coltranes, vier Meter über dem Erdboden schwebend. Der nächste Mensch ist meilenweit entfernt. Keine Zivilisation. Alles was ich habe sind meine Gedanken, die Reflektion des Ichs und die schaurig-schöne Illusion, dass ich wieder ein Stückchen mehr zu mir selbst gefunden habe.

Erschienen auf Thrill Jockey, 2012.