28.01.2023

Best Of 2022 ° Platz 24: Mundos Sutis - Quintessence




MUNDOS SUTIS - QUINTESSENCE


Das an der Nordküste Spaniens, genauer gesagt in Kantabrien, beheimatete Label Seven Villas Music mausert sich immer mehr zu einem ernstzunehmenden Kandidaten für die Bandcamp-Subscription. Labelbetreiber und Produzent Pablo Bolivar veröffentlicht mindestens zwei EPs/Alben im Monat und für schlappe 6 Euro bekommt man sie über das Abo leicht und locker in die Download-Queue gespült. 

Für "Quintessence" des mexikanischen Produzenten-Duos von Mundos Sutis war kein Abo notwendig. Gute acht Monate nach dem digitalen Release war endlich die Vinylfassung fertig gebacken und das war ein echter No-Brainer, wie man heute eben so sagt, wenn der Schlaganfall nicht fern ist. Schon ihr Seven Villas-Debut mit der EP "Aquamarine" aus dem Jahr 2021 sorgte für aurale Kuschelorgien, was sollte also auf Albumdistanz schiefgehen?

Natürlich gar nichts. Quod erat demonstrandum. Und das liegt nicht nur daran, dass sich drei Tracks der exzellenten EP nochmal auf "Quintessence" finden lassen. 

Julia Arguello und Matias Delpiano haben im Prinzip ein nächtliches Dampfbad am Strand von Balandra vertont, nachdem man im Hotelzimmer von der als Potpourri getarnten Pilzmischung genascht hat; ein kleiner Gruß aus der Küche. Es ist feucht und heiß da draußen, das Kleinhirn so mellow durchgedampft, dass man's mit einem Strohhalm aus den Ohren rausschlürfen könnte. Die Palmen atmen in der Meeresbrise. Das Wasser weiß wie Schnee. Notbeleuchtung. Durch die Luft schweben Moleküle von buntem Gras, Endorphinen und getragenen Unterhosen. "Quintessence" läuft in Endlosschleife. 

Man möchte eintauchen und nie wieder zurück an die Oberfläche kommen. 


Vinyl: Die Doppel-LP (kein Gatefold) ist in der farblichen Gestaltung des Vinyls mit gold und blau etwas gewagt, die Pressung ist hingegen absolut fehlerlos, der Klang warm und füllig. Das Coversleeve wirkt ein bisschen labberig. Ein Bandcamp-Downloadcode ist beigelegt. Man muss froh sein, dass sich das Label sowas traut. Zeugt von Vertrauen. (++++)


 



Erschienen auf Seven Villas, 2022.

22.01.2023

Best Of 2022 ° Platz 25: Deepchord - Functional Designs




DEEPCHORD - FUNCTIONAL DESIGNS

Das letzte Jahresdrittel 2022 war dunkel. Sehr dunkel. Unser Hund Fabbi, mit fast 19 Jahren geradezu ein Methusalem, hatte sich einen fiesen Magen-Darm-Virus eingefangen und stand mehrmals am Rande der Aufgabe. Über zwei Monate befanden sich Frau und Herr Dreikommaviernull im absoluten Ausnahmezustand, emotional durchlöchert und durch eklatanten Schlafmangel auch physisch in der tiefroten Zombiezone herumtaumelnd. Ich hörte in jener Zeit praktisch keine Musik - und nur wenn die Ruhe wirklich komplett unaushaltbar war, und ich doch den Plattenspieler bemühte, musste Musik sich doch wenigstens so anfühlen wie Ruhe. Deepchords "Auratones" Album aus dem Jahr 2017 (in wunderbarer Re-Release Aufmachung auf sandfarbenem Vinyl) war für solche Momente perfekt, weil es so tief und so emotionslos stoisch vor sich hin pumpt, dass alles was vom Klang übrig bleibt, pun intended, Aura wird. 

Die Ankündigung Rod Modells, fünf Jahre nach "Auratones" mit einem neuen Album zu Soma Quality Recordings zurückzukehren, begleitet von zwei EPs "Functional Extraits 1" und "Functional Extraits 2", brachte zusammen mit einer sehr langsam voranschreitenden Verbesserung von Fabbis Zustand ein paar extra hoffnungsvolle Sonnenstrahlen in den mit +20°C so oder so knöcheltief im Sommer stehenden November 2022. Das gesamte "Functional Designs"-Paket fällt wieder etwas urbaner, dunkler, mystischer aus als das beinahe spirituelle Material auf "Auratones". Modell ist und bleibt der Herrscher der dystopischen Großstadt. Zwischen schwarz verspiegelten Häuserfassaden, verkokeltem Asphalt, hohlem Hochglanz und menschlicher Abgründigkeit inszeniert er seine Tracks mit unwiderstehlichem Drive auf brennendem Eis. Ein Alleskönner, der selbst bei minimaler Lautstärke die Atmosphäre im Raum verändert. Du kannst über die stilistische Perspektivlosigkeit des Dub Techno sagen, was Du willst, aber zeig mir einen, der über eine lebensfeindliche Nacht in Downtown die suchenden Blitze eines Pulsars so herabregnen lassen kann wie Modell in "Strangers". Es ist vielleicht nicht neu, aber es ist eben immer noch beeindruckend. 

Vinyl: Schwarzes Doppelvinyl, kein Gatefold. Stimmungsvolles Cover in leichter Übergröße und einwandfreie Pressung. Kein Downloadcode. Die CD- und Digitalversionen haben drei Tracks zusätzlich. (++++)


 


Erschienen auf Soma Quality Recordings, 2022.


07.01.2023

2021 Revisited: Cynic - Ascension Codes



CYNIC - ASCENSION CODES

Ein Blick auf meine Musiksammlungsdatenbank aus Giga-Nerdhausen, vulgo: Discogs, verrät, dass ich im Jahr 2021 tatsächlich nur drei Platten gekauft habe, für die der Stempel "Rockmusik" passt. Neben Cassius Kings "Field Trip" (prima) und Quicksands "Distant Populations" (naja), war insbesondere die Anschaffung von Cynics "Ascension Codes" eine echte Herzensangelegenheit. 

Zum einen bin ich seit fast dreißig Jahren Fan und finde ihre Musik selbst, oder besser: besonders nach den stilistischen Anpassungen über die letzten 15 Jahre einfach hoffnungslos attraktiv. Zum anderen bewundere ich Paul Masvidal, einen der kreativsten und eigenständigsten Musiker der Metal-Szene. Mutig und unerschrocken, offen, spirituell - und durch den unerwarteten Tod seiner beiden Freunde und ehemaligen Bandmitglieder Sean Reinert (Schlagzeug; Januar 2020) und Sean Malone (Bass, Dezember 2020) voller Trauer und Verzweiflung. Masvidals Beiträge auf seinem Instagram-Account geben Zeugnis von dem Schmerz, den er durch die kurz hintereinander erfolgten Verluste erleiden musste. Ebenfalls, und das soll nicht unerwähnt bleiben, ist Masvidal in meiner Wahrnehmung einer der verkanntesten Songschreiber des Heavy Metal. Warum ihm angesichts des Meisterwerks "Ascension Codes" nicht die halbe Metal-Welt die Tür einrennt, ist angesichts der sich zunächst zeigenden Sperrigkeit des Albums vielleicht nicht die allergrößte Überraschung - auch wenn sich die Komplexität mit ein bisschen Zeit und Eingewöhnung naturgemäß auflösen kann und wird. Aber ich habe durchaus Verständnisschwierigkeiten damit, warum nicht wenigstens die Anhänger des Progressive Rocks/Metals auf Knien angerutscht kommen, und zwar in Scharen. 

Denn das hier sollte eigentlich exakt ihr Sound sein: verspielt, komplex, ultrakomprimiert und dennoch leichtfüßig und mühelos - im Prinzip die musikalische Entsprechung zum Spruch meines Vaters über den ehemaligen Eintracht-Stürmer Anthony Yeboah: "Der spielt dich in einer Telefonzelle schwindelig!". Spektakuläre technische Fähigkeiten, ein atemberaubendes Coverartwork und eine spirituelle Story über das Leben, das Universum, das Unsichtbare, das Mystische, das Außerweltliche - "Ascension Codes" ist die beste Cynic-Platte aller Zeiten und in ihrer emotionalen Ausrichtung und ihrer offen dargestellten Zerbrechlichkeit das Progressive Metal-Album, das ich mir im Jahr 2020 von Fates Warnings "Long Day Good Night" erhoffte, aber nicht bekam. 

Ich möchte über Jahre in diesen Sounds versinken und mich verlieren. Masvidals Gitarre weist mir den Weg und mir ist im Grunde egal, wohin er mich führen wird. 

Chuck Schuldiner prägte den Satz "Let the metal flow!" - Paul Masvidal hat nun die passenden Songs dafür geschrieben. 


Vinyl: Das Mastering meiner Version auf türkisem Vinyl scheint die sowieso schon wahrnehmbare Kompression im Sounddesign noch weiter in den Vordergrund zu stellen; man merkt, dass es der Musik etwas schwer fällt, die Luft zum Atmen zu finden. Ich gehe davon aus, dass es sich hier um eine aktive Entscheidung im Entstehungsprozess des Albums handelt. Cynic Platten klingen nicht zum ersten Mal so. Die Pressung ist komplett fehlerfrei. Das wirklich atemberaubende und wertige Triple-Gatefold auf mattem, sich seidig anfühlendem Karton in Verbindung mit dem grandiosen Cover-Design von Künstlerin Martina Hoffmann ist nichts weniger als imposant.


   


Erschienen auf Seasons Of Mist, 2021.