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28.07.2024

Sonst noch was, 2023?! - Gesammelte Werke




"Nobody's mad at you
Nobody's mad at you
You're having a private experience
Nobody's mad at you
Nobody's mad at you
Nobody really gives a fuck"
(Neal Brennan)


Ich schwör': ein allerletztes Mal gibt's den Blick zurück ins Jahr 2023. 

Danach...ohjehmine und spoiler alert: geht er sogar noch ein paar Jahre weiter zurück. 


Machen wir also jetzt final den Deckel auf 2023, is' ja auch schon bald August. Grundgütiger.


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EARTH HOUSE HOLD - HOW DEEP IS YOUR DEVOTION


Eigentlich war diese Werkschau von Brock van Wey's Earth House Hold-Projekt für lange Zeit meine Nummer 1 des Jahres 2023, bis ich mich schlussendlich dagegen entschied, eine Compilation in die Bestenliste zu wuchten, noch dazu auf die Spitzenposition. Dann ist es allerdings heute umso wichtiger, über "How Deep Is Your Devotion" zu sprechen. Während ich diese Zeilen schreibe, ist es 10 Uhr an einem Sonntag im Juli 2024. Es ist sonnig, aber glücklicherweise nicht zu warm. Das Fenster ist sperrangelweit offen und in Sossenheim herrscht eine Ruhe, wie ich sie als Kind von den sommerlichen Besuchen bei meinen Großeltern im pfälzischen Nirgendwo kenne. Man spürt das Nichts mehr, als dass man es hört. Es duftet nach schwarzem Kaffee mit einem Hauch Bergamotte. "How Deep Is Your Devotion" läuft, und ich wünsche mir, dass die Zeit stehenbleibt. Die Entwicklung zu verfolgen, die Brock über die vier EHH-Alben auf die muskalische Leinwand gezaubert hat, das Abdriften eines so oder so schon sehr speziellen Deep House-Ansatzes in eine immer weiter gedehnte, dekonstruierte, eigentlich sich in Auflösung befindliche Version mit solch skurriler Schönheit und mehr versteckten, vergrabenen, vernebelten Zwischentönen, als ich jemals hören könnte, ist das Eine. Das andere ist, dass man sich wünscht, diese Musik würde nie enden. Dieser Moment würde nie enden. 


 



Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2023.



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FILM SCHOOL - FIELD


Shoegazing in LA. Das kalifornische Sextett um Bandgründer und Chef im Ring Greg Bertens fiel mir erstmals mit ihrem zweiten Album "Film School" im Jahr 2006 positiv auf, und ich bin hocherfreut, dass die Truppe über die ganzen Jahre durchgehalten hat - das gilt umso mehr, wenn noch so starke Platten wie "Field" in ihren Herzen und Köpfen schlummern. Wer vom aktuellen Slowdive-Album auch so enttäuscht wurde, darf schon mal entspannt das nächste Tütchen drehen: "Field" ist ultrakompakt komponiert, hat einen guten Drive und trotzdem soviel Tiefe, dass einem Songs wie "Up Spacecraft" oder "Don't You Ever" (mit einem 1995er Monster Magnet-Gedächtnisriff) sofort unter die Haut kriechen.


 



Erschienen auf Felte, 2023.



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RAY ALDER - II


Soloalben sind immer so eine Sache. Eigentlich stehen sie schon ab dem Moment der Ankündigung ein paar Stufen unter dem Output der Hauptband. Das Solodebut von Fates Warning-Wundersänger Ray Alder "What The Water Wants" aus dem Jahr 2019 war im Rückblick und abgesehen von Alders gewohnt brillantem Gesang eine Enttäuschung. Zu zahm, zu oberflächlich, und irgendwie auch zu egal. Folglich waren meine an "II" geknüpften Erwartungen von leichter Unterkühlung geprägt, aber siehe da - "II" ist um Welten besser als das Debut, ist zu gleichen Teilen emotionaler als auch heavier. Insgesamt inszeniert Alder seine Musik natürlich gradliniger als im Kontext von Fates Warning, und sein immer noch vollkommen intaktes Gespür für einnehmende Gesangsmelodien im Zusammenspiel mit bisweilen satt tiefergelegtem Unterwasser-Riffing, erzeugen ein ums andere Mal echte Überraschungsmomente. Das gilt mittlerweile nicht mehr für Alders Gesangsleistung: man erwartet Übermenschliches - und das bekommt man dann auch. Weiß Gott keine Selbstverständlichkeit, aber das hat er nun davon, so fucking gut zu sein. SO FUCKING GUT!


 



Erschienen auf Inside Out, 2023. 



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DANNY PAUL GRODY - ARC OF DAY


Und nochmal Kalifornien, dieses Mal San Francisco. Sein Album "In Search Of Light" aus dem Jahr 2011 hatte ich seinerzeit als "Sorgenbrecher" bezeichnet, und seine Musik ist auch 13 Jahre später noch immer genau das. Ich hatte es leider versäumt, über sein 2021er Werk "Furniture Music II" zu berichten, das mir in der Pandemie Hoffnung und Licht ins Sossenheimer Outback brachte, aber das passiert mir nicht nochmal. Die Ruhe und die Kontemplation, die vom inneren Kern von "Arc Of Day" ausstrahlt, macht mein Leben besser. Ich schmecke die Luft an der US-amerikanischen Nordwestküste, spüre den Sand zwischen den Zehen, die Sonne auf der Haut. Eigentlich ist das Psychotherapie, nur ohne Reden. Zuhören sollte man aber. 





Erschienen auf Three Lobed Recordings, 2023.



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AYAAVAAKI & PURL - ANCIENT SKIES


Purl sagte kürzlich über "Ancient Skies", es sei eine der einzigartigsten Platten, die er je aufgenommen hat - und wer sich darüber im Klaren ist, wie viele Alben dieser Kosmopolit schon veröffentlichte und wie bescheiden er für gewöhnlich auftritt, mag erahnen, wie wichtig ihm ausgerechnet dieses Werk ist. Gleichzeitig kann der Eindruck entstehen, "Ancient Skies" sei ein wenig vom Radar der Ambientfans gerutscht und damit also unterschätzt und/oder übersehen - und das muss ich für meine Wenigkeit leider bestätigen. Es gibt einfach viel zu viel Musik und das Leben raubt mir viel zu viel Zeit - und dann legt Purl eben noch immer ein atemberaubendes Veröffentlichungstempo vor. Hinzu kommt: "Ancient Skies" ist in der (digitalen) Orginalfassung fast zweieinhalb Stunden lang, und einfach zu hören ist das nicht unbedingt. "Ancient Skies" ist einerseits dramatisch und opulent, andererseits spielt sich so viel unter den hörbaren Schwingungen dieser Musik ab, ist subtil, manchmal mystisch. Wenn der halbe westliche Planet damit beschäftigt zu sein scheint, das durchs Social Media-Dauerfeuer schön herangezüchtete ADHS zu füttern, erscheint es lohnenswerter denn je, sich einfach mal für zwei Stunden auszuklinken. 

Hinweis: die Doppel-LP hat lediglich acht (statt vierzehn) Songs in zum Vergleich zur digitalen Version editierten Fassungen.


  



Erschienen auf LILA लीला, 2023 




12.05.2024

Best of 2023 ° Platz 2: bvdub - Fumika Fades




bvdub - FUMIKA FADES


"Shoulder deep within the borderline" (Maynard James Kennan)


Ich bin immer wieder froh, kein echter Musikjournalist zu sein. Eigentlich bin ich ja nicht mal ein unechter. Bitte nicht als Koketterie missverstehen; was ich damit sagen will: ich bin Fan. Und das ist praktisch alles, was ich bin. Ich verbringe viel Zeit mit der Recherche, springe wie ein vom ADS-Affen gebissenes und bis unters Dach mit Crack vollgepumptes Eichhörnchen von einer Stimulanz zur nächsten, kaufe meine Schallplatten, höre, höre, höre, recherchiere weiter - wer hat mit mit wem gespielt und gesprochen, wo wurde das aufgenommen, wer hat die Kabel aufgerollt und das Essen gebracht, wer produzierte, wer hat das Coverdesign gestaltet - und wenn alles gut läuft, schreibe ich irgendwann mal darüber. Nun bin ich in manchen Fällen ein bisschen mehr als nur ein Fan. Es wird mitunter ein bisschen ernster. 

Wenn beispielsweise Brock van Wey, Ludvig Cimbrelius oder Agus Mena neue Musik veröffentlichen oder wenn ein neues Album auf A Strangely Isolated Place ansteht, dann weiß ich um die Wichtigkeit, diese Musik in mein Leben zu lassen. Weil ich weiß, dass sie wie ein Kompass für ein besseres Leben funktioniert. Es ist Reinigung, Re-Kalibrierung, Erinnerung. Und ich versuche, von diesen Erfahrungen, die sich in der Auseinandersetzung mit dieser Musik entwickeln, so viel wie möglich in meinen Alltag zu integrieren. Hochgefühle erleben. Weniger, weil ich unentwegt im Endorphinrausch existieren will, sondern weil ich die Reminiszenz an jene Wahrnehmungen benötige, die mein Leben bereichern, anstatt vom stumpfen Getöse des Alltags geflutet zu werden. Es ist echtes Lebenselixier.

Nun sind Künstler wie Brock, Ludvig und Agus, als auch Labelmanager wie Ryan Griffin ausgesprochen umtriebig. Sie veröffentlichen mehrmals im Jahr neue Musik und ich versuche, immer auf dem Laufenden zu bleiben und den Überblick zu behalten - angesichts der Menge ihres Outputs gibt es indes leichter zu meisternde Herausforderungen. Und selbst wenn mir das gelänge, muss das dann nicht auch immer alles für die Bestenliste herangezogen werden? Und ich meine...wirklich alles?! Dabei sag ich's doch die ganze Zeit: wenn doch alles so toll, wichtig, überwältigend, inspirierend ist, dann ist es nicht nur naheliegend, sondern gar zwingend erforderlich, die Top 20 mit ihren Platten zuzuballern. Oder ist es am End' doch etwas komplizierter?

Freilich ist es das. Ich könnte von den neun (!) Alben, die Brock unter seinem bekanntesten Projekt bvdub im vergangenen Jahr veröffentlicht hat, alle in DIE_LISTE aufnehmen, aber was passiert dann mit den anderen 60 Platten, die mir 2023 zu neuen Mitbewohnern wurden? Und wenn ich gerade eh schon dabei bin, das Thema unnötig zu verkomplizieren: wie zum fickenden Fick wähle ich aus den neun Platten denn die "richtige" aus, ohne es komplett beliebig werden zu lassen? 

In meinem Buch gab es im Jahr 2023 zwei herausragende bvdub-Alben. Das eine ist "Days Of Gold", erschienen auf dem englischen Label Quiet Details und ist in der Ansprache so deutlich anders als so ziemlich alles, was Brock bislang zusammenstellte, dass alleine jener Umstand wenigstens eine Erwähnung an dieser Stelle notwendig macht. "Days Of Gold" ist euphorisch, ausgekleidet mit goldenem Funkenregen, hell, expansiv, einnehmend. Ich bin stets aufs Neue verblüfft, wie sehr es die Atmosphäre im Raum manipuliert, ins Humaninterieur hineinkriecht und dort herumwirbelt.  

Das andere unbedingt erwähnenswerte und also zu lobende Werk ist "Fumika Fades", als Vinyledition auf EC Underground erschienen und ähnlich wie "Days Of Gold" geprägt von einigen Merkmalen, die nicht alle Tage auf Alben von bvdub zu finden sind. Die vier langen, rund um die 20 Minuten-Marke endenden Tracks sind nicht nur überraschend abwechslungsreich und zeigen trotz des nach wie vor sehr ambienthaften Charakters etwas deutlicher ihre Wurzeln in der elektronischen Tanzmusik, sie sind auch mit Bedacht kuratiert und offenbaren aus 2000 Fuß betrachtet einen Spannungsbogen, der viel zur Dynamik und Intensität des Albums beiträgt. Anders als die stets subtil inszenierten House-Flashbacks, die sich auf nicht wenigen Songs von Brock finden lassen und vielleicht am stärksten auf seinen Arbeiten als Earth House Hold heraustreten, sind die zusätzlichen Jungle und Breakbeatelemente auf "Fumika Fades" der Gamechanger. Der Einstieg mit "Fade To Flow" gerät noch ziemlich traditionell und verläuft im Rahmen dessen, was man mittlerweile von einem bvdub Album erwarten darf, bekommt aber im letzten Viertel bereits die ersten, hier noch diesig verhuschten, Breakbeats ins Soundbild tapeziert. Die folgenden "Fade To Find" und "Fade To Feel" nehmen die Spur auf und drehen sowohl die pastoralen Momente seiner Musik, die sich so oft als Offenbarung im Sinne einer schier endlos verlaufenden Erlösung zeigen, als auch den Fokus auf den Rhythmus und das Flackern ein paar Grad nach oben. Das abschließende "Fade To Fall" äschert dann sämtliche im Vorfeld eh schon wackligen Grenzen und Hüllen ein: das betörende Vocalsample, die mäandernden Pianotupfer und der immer präsenter werdende Beat verfolgen allesamt nur ein Ziel: Eindringlichkeit. 

Für die Bewusstheit über die höchsten Höhen - und die tiefsten Tiefen. Für alles mittendrin. Für alles Äußere. Für alles Innere. Für die Erinnerung an den eigenen Herzschlag. Für die Unendlichkeit.


             



Erschienen auf EC Underground, 2023. 

13.05.2023

Best Of 2022 ° Platz 4: bvdub & james bernard - departing in descent



BVDUB & JAMES BERNARD - DEPARTING IN DESCENT


Der Sprung von Toxik's Ausflug in die Nervenheilanstalt auf Platz 5 zu "departing in descent" könnte kaum größer sein. Da muss sich der Kopf erstmal wieder rekalibrieren. 

Der Konsum der Musik von bvdub kann problematisch sein. Das hat indes keinerlei Auswirkungen auf mein Konsumverhalten, und angesichts der schieren Menge seines Outputs möchte sich mein Kontostand beinahe zu einem gewimmerten "Leider!" hinreißen lassen. Denn so ist das eben als gelernter Metaller: Loyalität geht wenn nicht über alles, dann doch über verflixt vieles. Die Probleme beziehen sich folgerichtig auch weniger bis gar nicht auf die eigentliche Musik, sondern auf meine Rezeption derselben. Oder besser, auf die periodisch auftretende Unfähigkeit, sie emotional verarbeiten zu können. Ich habe über die letzten 13 Jahre so oft über seine Musik geschrieben, dass meine dreikommavier treuen Leser*innen, die bis hierhin durchgehalten haben, sicherlich gleich in den Dörnröschenschlaf fallen werden, so oft sie das schon lesen mussten, aber für meine neue Future-Fanbase, die gleich tausend- ach was: millionenfach von TikTok und meiner geträumten Guest-Appearance bei Fantano auf diese 3,40qm gespült werden, darf ich es nochmal kurz anreißen. bvdub kann einem unangenehm auf die Pelle rücken, wenn das zerebrale und seelische Harmonienetz außer Balance geraten ist. Das wird zu groß, es kommt zu nah, es ist "too close to home", und die Zeiten, in denen sich der kleine(re) Florian in Melancholie und tiefer dunkler Agonie regelrecht suhlen wollte, weil das Leben zu hart und so überwältigend erschien, sind öfter vorbei als sie es nicht sind. Sich in solchen Zuständen komplett in seine unerbittlich aufschäumenden Gefühls-Monstrosität fallen zu lassen, erfordert entweder Mut oder dumpfe Ignoranz. Andererseits hat seine Musik gerade in diesen Situationen eine nicht von der Hand zu weisende kathartische Wirkung, been there, done that, aber wir wissen alle: einfach ist das nicht. Und manchmal hat man auch einfach keine andere Wahl, atmet tief durch, macht den ersten Schritt in seine Welt und erlebt jede noch so subtile Körnung der Musik wie eine neue Realität, ein neues Leben. Das sind kolossale, lebensverändernde Momente.

Die Musik von James Bernard habe ich vergleichsweise spät kennengelernt. Meinen Erstkontakt hatte ich mit seinem A Strangely Isolated Place-Debut "Atwater" im Jahr 2019, eine Liveaufnahme seines Sets vom 'Modular On The Spot’-Festival im North Atwater Park in Los Angeles. Durch die darauf aufbauenden Recherchen fand ich heraus, dass ich wirklich sehr spät zur Party kam. James veröffentlicht seine Musik seit 1994 und wildert durch Ambient, Techno, IDM und Acid-Terrain. Als er 2006 sein Profil auf Discogs erstellte und das dortige Ambientforum betrat, bearbeiteten ihn die übrigen Nutzer so lange, bis er seine frühen und unveröffentlichten Tracks aus den Jahren 1994 bis 1999 auf 25 CD-Rs brannte und die Drei-CD-"Boxen" eigenhändig an die Community verschickte. Sven Väth spielte sein "Dreamscape" in seinen Sets und im Radio, Rising High Records-Gründer Caspar Pound holte ihn auf das Sublabel Sapho, und in der Neuzeit rollte ihm Ryan Griffin, Labelchef von A Strangely Isolated Place den roten Teppich aus: zwei Jahre nach "Atwater" veröffentlichte das Label die ersten beiden "Unreleased Works"-Editionen auf gleich zwei Doppel-LPs. "Acid Dreams" und "Elemental Dreams" sind beeindruckende Werkschauen von einem der profiliertesten Produzenten der Szene. Hier haben wir auch gleich noch ein weiteres Beispiel dafür, wie schwer mein Aussetzen der Bestenliste 2021 wirklich wiegt - das wären leicht & locker Top 10-Platten und damit Top 10-Reviews gewesen. 

"departing in descent" ist die erste Zusammenarbeit der beiden Musiker; für Brock ist es gleichzeitig das Labeldebut auf zakés Past Inside The Present Label. Für Brock hatte die Kollaboration eine besondere Bedeutung, wie er in seine Post auf Instagram klarstellte:

"On a day like any other in 1994 James Bernards 'Atmospherics' – ordered by mistake by my local house record store - would shape my view of music and my place in it for decades and a lifetime to come. It became, has been, still is, and always will be my favorite ambient album of all time. It changed what music was. Who I was. And the bridge between the two was rebuilt in a way that would stretch to today and beyond.

(...)

James Bernard has been my hero for 28 years.
Somehow, decades later, our musical paths converged.
Somehow, decades later, I have the fortune to call him a friend.
Somehow, decades later, I have the honor to call him family."


Ich den letzten sechs Monaten habe ich keine Platte öfter gehört als "departing in descent". Das ist deshalb bemerkenswert, weil die weiter oben geschilderten Ausnahmesituationen vor allem mit Brocks Musik hier offenbar keine Rolle spielten. Ganz im Gegenteil: ich kam zur Familie, wenn Trost und Beistand notwendig waren. Nicht zur Reinigung, nicht zum Eros der Verzweiflung, sondern zur Umarmung. "departing in descent" ist ein Refugium. Dabei sind die Merkmale ganz deutlich zu erkennen, denn das ist unwidersprochen eine bvdub-Platte mit all seinen Signature Sounds, den Vocal-Samples und den typischen Breaks, dem Pathos und der sich in dem Himmel schraubenden Dramatik. Es ist aber gleichzeitig eine emotionale Entzerrung, mit einer wahrnehmbaren menschlichen Komponente, die nicht das Drama vergrößert, sondern die Entgrenzung kontrolliert. Brock und James haben zumindest in Teilen das Monster gezähmt - sicher nicht hinsichtlich der Spieldauer, denn die überlangen, acht, neun, zehn, elf Minuten dauernden Schallgebirge dürfen immer noch beliebig ausufern. "departing in descent" ist spielerischer, leichtfüßiger und irgendwie heller als ich das zunächst erwartete. Die engelshafte Stimme von marine eyes in "harmonies in hesitation" beispielsweise taucht den Raum in das durchsichtigste Weiß der Welt, alles wird Zeitlupe, alles schwebt. Entschleunigung. Durchatmen. Fallen lassen. 

Ein Effekt fällt dadurch besonders ins Gewicht, und ich kann nur spekulieren, dass der Grund hierfür die Beteiligung von James Bernard ist. Denn wo sich Brocks Musik in erster Linie darum kümmert, möglichst weit zu expandieren, sich auszudehnen bis das Intensitätsniveau kurz vor der finalen Sprengung von Körper, Seele, Geist liegt, erscheint mir die Introspektion, die Konzentration von Klang und Aura die große Kompetenz von James zu sein. Diese Verdichtung, dieses nach Innen gekehrte Element des Albums kreiert einen sicheren Raum, wenn er notwendig ist. Ich kann die Ferne spüren, die Melancholie, den Schmerz, das Tosen der Gedanken. Aber ich gehe nicht unter. 


Vinyl: "departing in descent" kommt in der Vinylfassung als "Mystery Color", das heißt: die zwei LP's haben unterschiedliche Farben und die Farbgebung und Zusammenstellung erfolgten komplett nach dem Zufallsprinzip. Die Stückzahlen sind ebenso unbekannt. Das hat natürlich einerseits den Charme, dass die Sammelnerds, die wegen Limitierung und also Verknappung Schnappatmung bekommen, in die Röhre gucken. Dazu ist es nicht unspannend, die Platte aus der Folie herauszuehmen und zu schauen, was man denn nun bekommen hat. I like. Andererseits kann es natürlich auch vorkommen, eine Kombination zu bekommen, die ästhetisch möglicherweise ein wenig Diskussionsbedarf mit sich bringt. Das sind alles Luxusprobleme. Das Cover-Artwork ist bezaubernd, meine Farben sind toll und die Pressung ist wie gewohnt von PITP: mal Licht, mal Schatten, insgesamt aber völlig in Ordnung. Bevor allerdings wieder die verbale Panzerfaust regiert, sollten alle Hi-Fi-Nerds vielleicht zuerst die Digitalversion hören, denn Brock und James haben absichtlich einige Verzerrungen, Kratzer und Noises in ihren Sound eingewebt und einige Stellen durchaus "hot" produziert. Das ist kein Problem der Pressung. Und ist es nicht völlig plem-plem, dass man sowas heute extra erwähnen muss? (++++)


 



Erschienen auf Past Inside The Present, 2022.





15.02.2021

Best of 2020 ° Platz 15 ° bvdub - Ten Times The World Lied



BVDUB - TEN TIMES THE WORLD LIED

It's been so long, it's been so long
(June Of 44)


Mit "Ten Times The World Lied" geht es für knapp 80 Minuten in einen emotionalen Floating Tank. Alle Stressattacken, der Kampf mit der Schwerkraft, Reize wie Temperatur, Lärm und Licht sind perdu. 

In einem Meer aus Ideen und Gefühlen in seiner Musik sind es die außergewöhnlichen kreativen Erfindungen Brock van Weys, die seine Kunst manchmal in einen Bereich katapultieren können, in dem selbst für die ganz Großen die Luft ganz allmählich dünn wird. Das herzzerreißend Sakrale von "The Art Of Dying Alone", die Wucht und Dringlichkeit von "Home", die Selbstisolierung von "Heartless" oder die insomnische Bedrücktheit von "Nights Of Nine Vigils", sowieso eines seiner besten Alben in den letzten zehn Jahren; ein absoluter Skandal, dass ich bislang noch nichts darüber geschrieben habe, brachten mich oft beinahe um den Verstand, ließen mich fliegen, lachen, weinen, frösteln, beben. 

"Ten Times The World Lied" hat sich in über das vergangene Jahr an diese Gruppe angenähert: seit April hat es den CD-Wechsler nicht mehr verlassen und immer, wenn ich das Album hörte, ging mir die Ambiance dieser zehn Tracks ein Stückchen mehr unter die Haut. Mal scharf und grobkörnig verzerrt, mal vernebelt in tiefer Trauer, zaudernd, zweifelnd, auch elegischer als zuletzt, spiegelt dieser immer noch so unnachahmliche Klang mein Inneres, all diese Zerwürfnisse und all diese Verbundenheit, meine Ambivalenz zwischen tief empfundener Lebenslust und sinist'rer Agonie, wie vielleicht nichts anderes. 

Und mit jedem in Schwermut getränkten Pinselstrich erscheint ein Glitzern: die Hoffnung, der Glaube, die Liebe. 

"This album was recorded live in one take, over ten months, on the tenth of each month. Each in memory of a time the world lied." (bvdub)


 



Erschienen auf Glacial Movements, 2020.



28.03.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Brock Van Wey - Home





BROCK VAN WEY - HOME


Hier hätte zunächst das Album stehen sollen, das meinen Einstieg in die Welt Brock van Weys markierte und die Stimmung des vergangenen Jahrzehnts im Erleben meiner Realität, der musikalischen zumal, so stark prägen sollte, wie sonst nichts anderes. "The Art Of Dying Alone", unter seinem hauptsächlich verwendeten Alias bvdub erschienen, verdrehte mir Herz und Kopf gleichermaßen und war dafür verantwortlich, in den kommenden knapp neun Jahren nicht weniger als 30 (!) Titel des Kaliforniers käuflich zu erwerben. 

Die Wahl auf das 2011 erschienene Album wäre also eine leichte gewesen. Weil leicht aber auch ziemlich langweilig ist, entschied ich mich für das unter seinem bürgerlichen Namen erschienene Mammutwerk "Home" und zitiere den Mann, der die Ehre hatte, diesen über 150 Minuten andauernden, mich förmlich gegen die Wand drückenden Emotionsorkan zu mastern. 

Liebe Freunde, Stephen Hitchell (Echospace): 

"The best work I've ever heard from Brock. This was the hardest mastering job I've ever done, it took months and months, I had tears in my eyes through the entire process, the emotion felt here is unlike anything I've heard before. If this doesn't capture the heart and souls of people, well, I don't know what will." 

Und was Hitchell hier angestellt hat, ist in der Bewertung von Home nicht zu vernachlässigen; "Home" als ausufernd zu bezeichnen, wäre eine oder hundert Nummern zu klein, und das liegt nicht nur an der Epik und Dramatik, die einem Brock van Wey sowieso schon aus jeder Pore kommen. Hitchell hat vor allem in den monumental inszenierten und manchmal über 15 Minuten durch Seele und Geist stürmenden Höhepunkten der Tracks wirklich alles aufgedreht, was es aufzudrehen gab. 

Mehr Weite und Drang war nie. 

Mehr Katharsis, Reinigung, Bewusstheit und Heilung war nie. 




Erschienen auf Echospace, 2014.

01.04.2019

Best Of 2018 ° Platz 4 ° Earth House Hold - Never Forget Us




EARTH HOUSE HOLD - NEVER FORGET US


"Memories. Because that's what we are, really. Memories." (Penelope Wilton)

Vielleicht liegt's an meiner katholischen Erziehung und der endgültigen Demütigung, gar in der Funktion als Messdiener Gottesdiensten beigewohnt und erwachsenen Menschen beim Ausleben ihrer zerebralen (und immerhin nicht erektilen) Dysfunktion erlebt zu haben, vielleicht ist es der Wunsch nach Vertrautem und am Ende des Tages: nach Sicherheit, Rituale so anziehend zu finden, dass ihre erfolgreiche oder -lose Integration in den Alltag über meine Gemütslage entscheiden können. Und vielleicht kommt es auch mit dem fortgeschrittenen Alter, denn noch vor fünf Jahren wäre das mit der Herzallerliebsten gemeinsame Einnehmen des ersten Kaffees am Morgen wegen unterschiedlicher Prioritäten und daraus resultierendem Zeitmangel unvorstellbar gewesen - heute ist es im besten Fall eine ganze Stunde quality time, die wir für die restliche Zeit des Tages nur selten im Überfluss kredenzt bekommen. Zumal in einem morgendlichen Setting, das einerseits noch so viel Verheißung und Hoffnung auf das, was da heute noch kommen mag verspricht (verbunden mit der nachhallenden Freude darüber, dass es dem "lieben Gott" (Rudi Assauer) offensichtlich noch nicht einfiel, unserer Existenz über Nacht ein jähes Ende zu bereiten), und andererseits noch ohne den nach Feierabend auf Seele und Herz verspritzen Klärschlamm der Lohnarbeit auskommt, der zur Ausführung halbwegs strukturierter menschlicher Interaktion und kognitiver Prozesse bisweilen etwas hinderlich sein kann. 

"Warum erzähle ich ihnen das, Hundskrüppel?" (Polt, o.s.ä.) 

"Never Forget Us", beziehungsweise die Auseinandersetzung mit "Never Forget Us" ist in meinem Emotionszentrum eng mit dem beschriebenen Ritual und den darin gemalten Bildern verknüpft. Das liest sich banal, und ich muss sie enttäuschen: vermutlich werden Sie, werter Leser, das schale Gefühl ebenjenes Banalen auch mit den nächsten Sätzen weder von der Netzhaut noch von ihrem Lebenszeitkonto kratzen beziehungsweise streichen können. Es muss sein, halten Sie sich fest: ein leichter Nieselregen an einem trüben, aber dennoch atmosphärischen topgelaunten und üerraschenderweise hellen Frühlingstag (jetzt besonders stark sein: ich teile diese helle Toplaune nur ganz selten!), eine leichte Brise Petrichor durchs gekippte Fenster, die sich mit dem Duft einer frisch gebrühtem Tasse Kaffee verbindet. Dazu - jetzt wird's final so richtig Punkrock: ein Spritzer Acqua di Parma aufs frischgebügelte und mittlerweile drei Nummern zu große hellblaue Hemd und "Never Forget Us" von Earth Hose Hold auf dem Plattenteller - das Vinyl selbstverständlich in enger farblicher Abstimmung mit der Oberbekleidung, nämlich auch in blau, wenn auch etwas deutlicher ins türkise/petrolige marschierend. Earth House Hold ist ein Alias von Brock van Wey - auf diesem Blog hauptsächlich Stammgast unter seinem Moniker bvdub - und nach langen Jahren des Planens und Wartens endlich auf A Strangely Isolated Place vertreten. 

Ich kann nicht mal sagen, ob sich das eben beschriebene Szenario wirklich eines Tages mal so abspielte; ich meine, wann bitte hat letzten Frühling mal geregnet, "LOL"(Till Schweiger), aber die emotionale Bindung zu dem Moment, der für mich grob unter "pures Glück" abgespeichert ist, ist stark - so stark, dass selbst der dunkle und nasskalte November in die Flucht geschlagen würde. Jedes neuerliche Hören von "Never Forget Us" bringt mich an einen guten Ort. Einen Ort der Ruhe und Kontemplation. Meditation. 

Wie klingt es? Vielleicht tatsächlich wie etwas, was bisher noch nicht zu hören war. In meinem letztjährigen Instagram Beitrag zu "Never Forget Us" schrub ich von atemberaubenden "next level sounds", weil ich die Kombination aus Brocks opulenter Ambientbühne, seinen klassischem Deephouse-Erinnerungen und den typisch souligen Vocalsamples einerseits, und der daraus erwachsenden Atmosphäre aus schwebender Melancholie und funkelnder Euphorie andererseits in dieser Form vorher noch nie gehört hatte. Möglicherweise gibt es aus diesem Grund auch einen Anteil in dieser Musik, der fremdartig erscheint, wie nicht von dieser Welt. Und ebenfalls möglicherweise ist es kein Zufall, eine weitere, eine zweite Platte in dieser einen entdecken zu können. Spielt man "Never Forget Us" nicht wie vorgesehen auf 33rpm, sondern auf 45rpm ab, morpht die Aura des Albums deutlich in Richtung House und entwickelt eine ganz eigene Dynamik, ohne dabei aber auch nur einen Beat der eigenen Identität zu verlieren. Auf links umgekrempelt, aber immer noch derselbe Stoff, aus dem die Träume sind. 





Eine auf mehreren Ebenen außergewöhnliche Platte, die angesichts Brock's bisherigem Schaffen mit der deutlichen Fixierung auf House unter diesem Projektnamen besonders stilistisch überrascht. A Strangely Isolated Place Labelboss Ryan Griffin berichtet, dass er und Brock schon lange über eine Zusammenarbeit nachdachten und nur auf den richtigen Moment warteten, bis Brocks Musik endlich (und erstmals) auf ASIP erscheinen sollte. "Never Forget Us" teilt die Leidenschaft und den Respekt der beiden Männer an den frühen klassischen House-Sound, der sowohl Inspiration als auch Basis für Brocks Musik ist und ist damit die perfekte Ergänzung zum Labelportfolio: Für mich ist "Never Forget Us" ein Gamechanger - ein Album, das in seiner Ausrichtung, seiner Ausstrahlung neues, bisher unberührtes Terrain betritt - im Außen und im Innern. Die Einführung in Brocks Musik mit dem Album "The Art Of Dying Alone" hat mein Leben verändert, und es hat auch neun Jahre später nicht aufgehört. Wie so viele seiner Veröffentlichungen hat auch "Never Forget Us" an meinem Lebensrad gedreht und wenn ich ich die Kamera von hier auf das große Bild aufziehe, dann hat es sich vermutlich schon lange nicht mehr so schnell gedreht. 


Pressung: ++++ (Bisweilen leise Pops, die aber das Gesamtbild nicht stören)
Ausstattung: +++++ (Klappcover, dicke, aber ungefütterte Papp-Innenhüllen, türkisblaues Vinyl. Fantastisches Art-Design)





Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2018.

25.03.2018

Best of 2017 ° Platz 4: bvdub - Heartless



Platz 4: bvdub - Heartless



Der geneigte Leser weiß, dass ich über keinen anderen Künstler und keine andere Band so häufig geschrieben habe wie über den mittlerweile in Polen lebenden Brock van Wey. Das liegt nicht zwangsläufig nur an der Quantität seines Werks - "Heartless" ist das sage und schreibe 29.Album innerhalb von zehn Jahren - sondern an dem überwältigenden Einfluss seiner Musik auf mein Leben. Neulich, als die Vinylfreaks des Bildchen-Portals Instagram die neun Alben ins rechte Licht setzten, die ihr aller Leben veränderten, und Herr Dreikommaviernull also natürlich mitmachen musste, weil: why not?, da war es selbst für einen, der sich für solche Entscheidungen unter normalen Umständen erst mal ein halbes Jahr mit seiner Excel-Datenbank in einen unterirdisch gelegenen Höllenbunker ohne ausreichende Sauerstoffversorgung quetschen muss, überraschend schnell und streifenfrei klar, dass meine erste Berührung mit seinem Werk, dem 2010 erschienenen "The Art Of Dying Alone" als vorerst letzte musikalische Revolution in die Riege der schlechterdings sogenannten "Gamechanger" aufgenommen werden muss - obwohl dieser zu monumentalen Klanggebirgen aufgeschichtete Ambientsound zur damaligen Zeit zunächst undurchdringbar erschien. Zu sehr versuchte die Ratio zu verstehen, was hier passiert; zu schwer fiel es, sich von diesem Klumpen final wegkegeln zu lassen. Kontrollverlust. Beziehungsweise: die Angst davor. Erst im Laufe der der letzten sieben Jahre ging mir mehr und mehr das Licht auf - ich habe es mehr als nur einmal geschrieben und auch wenn's kitschig und abgehoben und naiv klingt: es ist Liebe. Es ist die reinste, aufrichtigste, ehrlichste, reichste Liebe. Der Kopf hat hier nichts verloren - es ist nur das Herz, das springt, trauert, leidet - und eben liebt. Brock van Wey, der von sich selbst sagt, dass er eigentlich nächtelang ausschließlich Videospiele spielt, wenn er mal gerade keine Musik macht, vertont Liebe. "Heartless", die erste Albumveröffentlichung Brocks auf Vinyl unter seinem bvdub Alias, steht in einer Reihe mit seinen großen Klassikern "Home", "The Art Of Dying Alone" und "Safety In A Number". Ein einziger Rausch.





Erschienen auf n5MD, 2017.

17.04.2017

2016 ° Platz 3 ° Warmth - Essay



Das ist der "Binge-Listening"-Gewinner des vergangenen Jahres. Und das will was heißen, habe ich doch schon ausführlich und also beinahe redundant davon berichtet, wie ausgiebig und pausenlos die letztjährigen Werke von Purl und Halftribe im CD-Wechsler angesteuert wurden. "Essay" hat sie dennoch alle in die Schranken verwiesen. Die Herzallerliebste betont an dieser Stelle die stark ausgeprägte Qualität samt Neigung des Albums, den Zuhörer sanft und schwebend ins Reich der Träume zu begleiten, immerhin sanfter und schwebender als alles andere aus dem Jahr 2016. Sagt sie. Und sie hat, wie praktisch immer: recht.

"Essay" ist, bricht man es auf den eigentlichen Ton herunter, ein Fluss in totaler Ruhe und Kontrolle. Vom Grundrezept der im Hintergrund aufgezogenen Weitläufigkeit mit opulenten, tiefgehenden Soundscapes und hellblau darüber getupften Klangseifenblasen, die majestätisch durch die Szenerie segeln, weicht das Debut des spanischen Produzenten Agustin Mena nur selten ab. Im Ergebnis funkelt "Essay" fast gläsern, wie grob aufs Papier gebrachte Wasserfarbenkacheln, die am Rand nicht scharf begrenzt sind, sondern in Zeitlupe ins Außen strömen. Einnehmend, ausbreitend, übergreifend. 

Im Grunde ist das in der Machart nicht so irre weit von den Epen eines Brock van Weys entfernt, aber, und das ist womöglich das Geheimnis dieser Platte, Warmth lässt die Dramatik, die emotionalen Abstürze, das Zitten und Beben vor der Tür. "Essay" wirkt bei aller Tiefe und klanglicher Komplexität nüchtern, in seiner vornehmen und stolzen Elegantia fast schon stoisch. Wie ein Leuchtturm auf offener See, der das wachende und vor allem ruhende Auge im Zeichen der Stürme und der Unordnung ist. Unbeugsam und unkompromittierbar, dafür aber auch ein Retter und Tröster.

Musik, die die Welt gesehen und erlebt hat. Öffnet Geist und Herz. 

Hier. Für Dich. Und nur für Dich.




Erschienen auf Archives, 2016.


03.03.2017

2016 ° Platz 9 ° Halftribe - Luxia




Was auch immer das spanische Label Archives im vergangenen Jahr anpackte und also veröffentlichte, es gehörte in meinem  Rückspiegel für 2016 zu den bemerkenswertesten Alben des Jahres. Das beginnt bei der Gestaltung der in limitierter Stückzahl - man spricht von etwa 100 Exemplaren pro Titel - angebotenen CDs mit viel ästhetischem Stilempfinden auf die Musik und deren Aussage abgestimmten Artworks, wunderbaren Naturfotos von Wäldern, Pflanzen, Flüssen und Küsten und endet (noch lange nicht) bei der Musik von über die ganze Welt verstreut arbeitenden Künstlern.

Der letztjährige sich in meiner linken Herzkammer abspielende und möglicherweise finale Siegeszug des Ambient wurde nicht zuletzt von Archives im Allgemeinen und "Luxia" im Speziellen angeführt. Manchmal wartet man ja nur auf sowas - diesen einen Moment, der Ohren, Augen und Hosen öffnet und der neue Inspirationen aufsaugt wie ein von jahrelanger Dürre ausgetrockneter kalifornischer Waldboden einen unverhofften Regenguss. Zumindest, wenn die Umstände mitspielen, Set & Setting, und bei mir spielten sie mit. Trotzdem kann ich in diesem Rahmen und bei aller in überdurchschnittlichem Ausmaß vorhandener Selbstreflektion letzten Endes nur spekulieren, warum ich speziell im vergangenen Jahr so oft nur ein leises Säuseln, ein zaghaftes Rascheln, ein friedliches Vogelgezwitscher hören konnte und wollte: mein Geist schrie nach Ruhe. So viel Unruhe, so viel drohender Kontrollverlust, so viel gefühlte Überforderung - da lass' ich mich doch nicht in meiner Freizeit von einem kalten, langhaarigen Stahlbolzen anbrüllen. Oder mir von einem britischen Hipster Saufgeschichten in breitem Cockney-Slang ins Ohr näseln. Oder einer zu lauten Bassdrum aus Technohausen zu viel Aufmerksamkeit schenken.

Ich will ein bisschen Frieden. Eine weiße Gitarre. Und langes, wallendes, mit Timotei auf einer schweizerischen Alm und mit bestem Bergwasser gewaschenes Haar, aus dem sich Ralf Siegel eine Pumuperücke stricken kann. 

"Luxia" ist ruhig und beruhigend und lief an so manchem Wochenende über Stunden in Endlosschleife. Angedubbtes, warm gebürstetes Klanggold, das sich um den Nukleus aus weit aufgefächerten Soundscapes wickelt und mit vereinzelten Pianotupfern Struktur im luziden Raum gibt. Ganz besonders beeindruckend: dieser Hauch von intellektueller Kühle und Klarheit in einer ansonsten sehr intimen und weichgezeichneten Umgebung. "Luxia" benötigt keine Rettung aus dem Kitsch, aber es ist gut, ein wenig angedeutete Schärfe zu spüren. Macht klar im Kopf. Befreit den Geist. Macht Spaß zu Hören. 





Erschienen auf Archives, 2016.

04.02.2017

2016 ° Platz 13 ° Bvdub - Yours Are Stories Of Sadness




"Yours Are Stories Of Sadness" ist ein hochverdichtetes Konzentrat aus dem bisherigen Schaffen des Kaliforniers Brock van Wey. Waren seine Alben aus den vergangenen Jahren meist bis auf die letzte Sekunde mit epischen, jeweils zwanzig bis dreißig Minuten dauernden Ambient-Operetten vollgepackt, in denen er seine - und wenn er schon dabei war: Deine auch! - Gefühlswelten ausbreitete und in diesem Rahmen jeden Augenblick mit überschäumenden Melancholiefontänen bis zum beinahe physisch erfahrbaren Zusammenbruch auskostete, ist das im Oktober 2016 erschienene Werk ein Bruch mit dieser Tradition. Zwar reizt "Yours Are Stories Of Sadness" mit einer Spielzeit von über 78 Minuten das alte CD-Format noch fast bis zum letzten Byte aus, benötigt dafür aber nicht weniger als 19 Tracks. Den Hintergrund für das Konzept beschreibt Brock so:

"In 2012, I was singing karaoke in the lavish VIP suite of the most opulent bar of Shaoxing. Hours in, at the height of drunken revelry, suddenly, literally out of nowhere, one of the hired girls walked over to me from the other end of the room, and whispered in my ear: 

"When I saw you walk in, I knew yours was a story of sadness." 

These are flashes of memories from that time... broken fragments, and spaces in-between... each a portrait of instances I have remembered that moment, each its own place and time. Every time I remembered that moment in the years that followed, I made a brief tribute to the beginnings of that realization, and the starting point for my mental wanderings that followed... putting that initial realization to sound, before going the rest of the journey in my own head.(...)

4 years later, these were the 19 times I remembered that moment... they will surely not be the last."

Es ist ungewohnt, diesen sonst so passionierten Langstreckenläufer plötzlich auf der Kurzstrecke zu begleiten - und das ist weniger eine wertende, als eine emotionale Feststellung. Über sechs Jahre hatte ich mich an ausdauerndes Suhlen im bittersüßen Weltschmerz-Bällebad mit seinen Alben als Soundtrack gewöhnt, nun ist manchmal schon nach dreieinhalb Minuten alles vorbei. Melancholicus interruptus, wie der Schwachkopf Lateiner sagt. Außerdem ist's auch nur die halbe Wahrheit: die typischen Kennzeichen seiner Musik lassen sich sowohl in Aufbau als auch Textur seiner Sounds immer noch dechiffrieren, und selbst in der Melodieführung ist es nicht völlig unmöglich, seine Signatur zu erkennen - der Unterschied zu seinen zwanzigminütigen Brocken ist auch nicht die ausbleibende, sondern die deutlich zügiger ablaufende Entwicklung seiner Motive im Rahmen dieser Tracks. Tatsächlich habe ich nie das Gefühl des Unfertigen oder des Unerfüllten, wohl aber den Eindruck, nicht in explizite Momente dieser Platte komplett eintauchen zu können, und ich vermute nach monatelanger Auseinandersetzung mit diesem Gedanken den Grund dafür in der Zusammenstellung dieser Momentaufnahmen: Brock hat sicher nicht ohne Grund erstmals auf Songtitel verzichtet. Der eigentliche Star des Albums ist das Album als solches, dessen Spannungsbogen weniger innerhalb der vierminütigen Grenzen einzelner musikalischer Mosaiksteinchen, sondern in den kompletten 78 Minuten von "Yours Are Stories Of Sadness" liegt. 

Das Resultat hat schlussendlich Parallelen zu den Ergebnissen seiner gewohnten Arbeitsweise: ich höre "Yours Are Stories Of Sadness" oft in einem Zustand zwischen Schlafen und Wachen, mit den Gedanken auf Weltreise in die eigene Vergangenheit zur Selbstbeobachtung, schwebend, etwa zwei Meter über dem Erdboden.





Erschienen in Eigenregie, 2016.


Noch mehr über "Your Are Stories Of Sadness" lesen? Dann: KLICK!

05.11.2016

Devil In The Details




BVDUB - YOURS ARE STORIES OF SADNESS


Es gibt ein neues Album von Brock van Wey alias BVDUB, veröffentlicht vor wenigen Wochen via Bandcamp und dort als Download verfügbar. 

"Yours Are Stories Of Sadness" ist ein bemerkenswertes Stück Musik und ich verstehe jeden, der nun das Lesen dieses Artikels abbricht, denn "das schreibt der doch immer über BVDUB." Das stimmt. Es gibt nur ganz wenige Werke aus den letzten fünf Jahren, seitdem ich ihn mit "The Art Of Dying Alone" für mich entdeckte, die ich nicht mit den überkandideltsten Verehrungen versah, und jeder noch so redundante Kniefall vor seiner Musik war und ist immer aufrichtig und ehrlich. 

Der unvermeidbare Disclaimer: Ich bin nicht gekauft, und ich habe auch keine Verpflichtungen. Ich bekomme nichts geschenkt und nichts vergünstigt. Ist natürlich totaler Vollquatsch, das hier zu erwähnen - ein nerdiger Kunterbunt-Musikblog im Jahr 2016 interessiert ja im Prinzip keinen müden Arsch mehr. Aber mir ist's trotzdem wichtig. Get over it. 

Das einzige, was mich in dieser Hinsicht selbst von Zeit zu Zeit überrascht: es ist bekannt, dass mir relativ schnell ziemlich langweilig wird, und nicht wenige Musiker und Bands können in so fern ein Liedchen davon singen, als dass ihre Alben spätestens nach der zweiten Wiederholung nicht mehr den Weg in mein Plattenregal finden. Es gibt Ausnahmen, aber die sind selten. Brock van Weys Musik ist eine solche Ausnahme, obwohl die Veränderungen in seiner Musik über die letzten fünf Jahre, immerhin vollgepackt mit im Schnitt etwa vier Alben pro Jahr, nur mit gewisser Anstrengung wahrnehmbar waren. 

Aber es ist etwas in seiner Kunst, das mich tief berührt. Ich kann das nicht genau beschreiben (wenngleich ich es schon oft versucht habe). Es fühlt sich nach Heimat, Wärme, Verständnis und Liebe an; wohlwissend, dass Abstraktion uns hier nicht weiter hilft - mir bisweilen aber schon. Ryan Griffin von Elektronik- und Ambientlabel A Strangely Isolated Place beschreibt es auf seinem Blog wie folgt:

"His tracks are often intense and emotional, yet placed for positions of quiet and personal listening. Finding the right moment to listen to bvdub is one of the reasons I don't listen to his albums more - they become destined for very special occasions, intense emotional places, and I think that's why he manages to connect with so many people on a much deeper level than most. You don't listen to one track of his, you listen to an entire album, and you're his companion in time of need, stress, celebration or reflection. Be it a close death, a friendship, or in this instance, fragmented memories, Brock is brilliant at painting these vivid emotions."

Was ich eigentlich sagen wollte: "Yours Are Stories Of Sadness" ist anders - und das nicht nur, weil seine 19 Songs bei einer Spielzeit von 78 Minuten im Schnitt nur noch viereinhalb, und nicht wie gewohnt zwölf Minuten lang sind. "Yours Are Stories Of Sadness" ist ein zusammengeschnurrtes Emotionsdestillat von BVDUB, mit ungewöhnlichen Sounds und Arrangements. Ich kann nicht sagen, das Ergebnis sei fokussierter als sein vorangegangenes Oevre, aber es hat zweifellos eine andere Stimmung, ein anderes Licht. Ich weiß noch nicht, ob es mich emotional so mitnimmt wie beispielsweise "Tanto" oder "The Truth Hurts" - dass mich das Album trotzdem fast schon magisch anzieht, und ich es immer wieder hören muss, ist eine Beobachtung, die ich mit Euch teilen möchte. 





Erschienen in Eigenregie, 2016.

05.07.2016

A Thousand Words




BVDUB - A THOUSAND WORDS


Es war ungewöhnlich still um den großen Mann des Ambient, der normalerweise nur wenige Probleme damit zu haben scheint, mindestens alle drei Monate ein neues Album zu produzieren und zu veröffentlichen. Sein letztes Werk "Safety In A Number", im eigenen Vertrieb via Bandcamp zur Verfügung gestellt, erschien im November 2015 - danach gab es nur wenige, dafür aber sehr dunkle, depressive, fast verzweifelt anmutende Wortmeldungen auf Facebook. Und keine neue Musik. 

Im Juli 2016 ändert sich das glücklicherweise. "A Thousand Words" ist ein einziger, 77 Minuten langer Track, vollgestopft mit dem besten aus seiner langen Karriere, stilistisch am ehesten mit legendären Monumenten wie "Home" oder "The Art Of Dying Alone" vergleichbar. Was immer offensichtlicher wird: die Verbindungen zwischen der Realität seines Lebens und seiner Musik. Der ideologische und vor allem emotionale Überbau, den er über seine Alben spannt wird immer plastischer und fundamentaler. 

Brock hat sich dazu auf seiner Bandcamp-Seite sehr ausführlich geäußert, zum einen über die tatsächliche Produktion aus eher technischer Sicht:

A Thousand Words is my longest, largest work to date, and what we can likely all agree this was all coming to - one, single 77-minute piece. Much more than one single narrative, however, it is comprised of 19 movements, and over 500 channels of audio... all performed in one take, live.
Combining a colossal library of pre-recorded and treated loops, samples, beds, and instrumentation, in concert with live arrangement, synthesis, loop creation, instrumentation, and even vocals, A Thousand Words is about as raw and unapologetic as anything I have ever made - as well as the most challenging, requiring more equipment, instruments, and dexterity than I have ever attempted before... as well three keyboards, six live instruments, and two samplers, all running through two computers and a phone, simultaneously. 


Zum anderen aber auch zum Hintergrund von "A Thousand Words":


A Thousand Words was borne from an amazing fact I discovered in recent times... that cats only meow to humans. They do not do so to each other, nor any other animal - but over time, have learned that this is the language with which they can communicate to people. And like with anyone, when you get to know them, you will know how much they truly have to say - they say it all, yet can do so without all the trappings, faults, and deception of people - for life is not anywhere near as complicated or unnecessarily difficult as we love to make it. It is, in essence, quite simple. And that is, in essence, quite amazing. 

Once I started to really meditate on this idea, it began to expand to all aspects of my life... and I began to hear sound, and view communication in an entirely different light. It finally awoke in me what had laid dormant for nearly a year, as I spiraled in a black hole of manic depression and apathy toward every facet of my being, my past, and my future. I set about to not only shatter that blackness, but to do so in a way that could truly respect my even deeper love for those in my life for whom I can feel true love. Love is the willingness to do absolutely anything for the object of that love - and I am fortunate to have had, and have, several forces in my life that have let me experience pure happiness, and pure love. It just so happens that they are also, generally, those with a fairly limited vocabulary - but they say it all. You don’t have to say a lot to mean everything... and that is true for us all. 



In diesem Zusammenhang ist es lohnenswert darauf hinzuweisen, dass drei US-Dollar jedes verkauften Downloads gespendet werden:

$3 from every sale of this album will be donated to the Animal Rescue League of Berks County (PA), SPCA of Wake County (NC), and numerous fledgling rescue centers in Europe who are instituting programs that encourage children to read to cats every day after school... not only providing a massive upturn in youth literacy and love of books, but hours a day where those who have been forgotten can have someone by their side. 


Ich finde das sehr inspirierend, und es wäre nicht das erste Mal, dass ich die Liebe erwähne, wenn ich von seiner Musik spreche und schreibe. 

Und ich tu's schon wieder: Wenn für mich eines aus seiner Musik spricht, dann ist das Liebe. Bedingungslos und total, mit all dem Licht und all dem Schatten, die es braucht, um die Liebe begreifbar zu machen.

Das purste und reinste Glück.





Erschienen im Eigenvertrieb, 2016.  


29.02.2016

2015 ° Platz 2




BVDUB - SAFETY IN A NUMBER


Ich habe mich lange davor gedrückt, über "Safety In A Number" zu schreiben. Tatsächlich ist dies der letzte Text, den ich für meinen 2015er Jahrescountdown geschrieben habe; für alle anderen Kandidaten gab es irgendwann den richtigen Moment und die richtige Stimmung, bei Brock van Weys zweitem Album des abgelaufenen Jahres ("A Step In The Dark" erschien außerdem einige Monate zuvor) hat das nicht geklappt, und es wäre nur ein Klischee davon zu sprechen, "A Safety In A Number" ließe mich sprachlos zurück. 

Und doch ist etwas Wahres dran.

Es fällt mir schwer "A Safety In A Number" einzuordnen, sowohl in Brock's Oevre insgesamt, als auch persönlich und emotional, und ich kann mich nicht daran erinnern, so etwas schon mal über seine früheren Platten geschrieben oder auch nur gedacht zu haben. Bei seinen Meilensteinen "The Art Of Dying Alone" aus dem Jahr 2010 und "Home" (2014), die beide ohne jeden Beat auskommen und stattdessen mit sakraler Aura den dicksten Sentimentalistätsteppich des Universums ausrollen, war ich ob der Schönheit und Eleganz mental gelähmt, "Safety In A Number" rückt mir emotional aus einer anderen, noch intimeren Richtung auf die Pelle. Mir scheint es, als wäre mittlerweile wirklich jede Distanz zwischen mir und seiner Musik aufgelöst worden. Das mag sich etwas heikel lesen, unangenehm zumal, aber ich hatte ich irgendwann dazu entschlossen, es zuzulassen. Und im Grunde hatte ich auch keine andere Wahl, um dieser Platte auf Augenhöhe zu begegnen. In der Zwischenzeit hat sich aus meiner bewohnten Lebensbubble und dieser Musik eine Symbiose entwickelt, die Schutz, Inspiration, Heilung und Weisheit im ständigen Austausch bietet - was möglicherweise auch als Nachhall zu den Texten zu verstehen ist, die dieses Mal tatsächlich zusammenhängende Sätze und damit Inhalte aufs Tableau werfen und nicht wie früher in erster Linie von Klang und Timing abhängig waren. 

Brock bezeichnet "Safety In A Number" als den persönlichen Zenith seiner Ambientmusik, für mich ist es mittlerweile zu "The Art Of Dying Alone" und "Home" aufs Treppchen gesprungen - in eine ironiefreie, sehr persönliche und dadurch sehr vertraute Zone. Ein Rückzugsort.




Erschienen als Privatpressung Brock van Wey, 2015.