19.02.2023

Best Of 2022 ° Platz 20: Blood Incantation - Timewave Zero




BLOOD INCANTATION - TIMEWAVE ZERO

Mein Text zu "Hidden History Of The Human Race", dem Durchbruchsalbum von Blood Incantation aus dem Jahr 2019, endete mit der Einschätzung, gerade einem der ungewöhnlichsten und visionärsten Death Metal Alben aller Zeiten zugehört zu haben. Die Inszenierung mittels technischem Death Metal, sphärischen Ambientsounds, spirituell-kosmischen Texten und des Science Fiction-Artworks, bestäubt mit dem süßen Pulver psychoaktiver Substanzen ist einzigartig, die Überzeugung und die Kompromisslosigkeit, die aufgebracht werden muss, um eine solche Platte zum Leben zu erwecken, inspirierend. In Zeiten, in denen Rockbands im Allgemeinen und Metalbands im Besonderen, vor allem darauf bedacht sind, möglichst wenig Mut, Identität (die eigene, zumal), und Vision zu zeigen, weil das Publikum mittlerweile so konditioniert ist, bei der kleinsten Normabweichung entweder den Vorgesetzten sprechen oder gleich den ganzen Laden in die Luft jagen zu wollen, sind Bands wie Blood Incantation Gold wert. Sie müssen wie ein Spix Ara in Obhut derer genommen werden, die sich der kreativen Freiheit und dem Überleben von Abseitigem, Extremen, Obskurem verschrieben haben. 

Damit sind wir bei "Timewave Zero", einem reinen Ambientalbum in Stile der progressiven und noch in den Kinderschuhen steckenden elektronischen Musik der 1970er Jahre. Gitarrist Paul Riedl weist darauf hin, dass die Band schon vor über zehn Jahren wusste, dass ihr drittes Album ein reines Ambientprojekt werden sollte: 

"Our band since 2011 was saying we're going to make Morbid Angel, Gorguts, Disincarnate, and Death-style death metal mixed with the eccentricity of Lykathea Aflame, later Gorguts, mystical death metal like StarGazer. Our second record is going to have a green logo like "Domination" [dem vierten Album von Morbid Angel - Anmerkung d. Redaktion], and our third record is going to be ambient. Literally over 10 years ago we said that in the practice space." 

Schon lange ein fundamentaler Bestandteil ihres Death Metal Sounds und vielleicht noch wichtiger: ihres Selbstverständnisses, erstrecken sich die über zwei Movements verteilten acht Kompositionen nun über ein ganzes Werk. Riedl sagt "We don't play games, man", und es ist klar, dass "Timewave Zero" kein Gimmick ist, keine schnell eingeschobene Nummer, die schlicht die Wartezeit zur nächsten Death Metal-Kanone verkürzen soll. Es gibt auch keine Diskussionen darüber, einen neuen Projektnamen zu verwenden. Das ist die Band Blood Incantation, und die Mitglieder der Band Blood Incantation mögen elektronischen Ambient - und dann macht die Band Blood Incantation eben ein elektronisches Ambientalbum. So einfach ist das manchmal. Ich weiß nicht, ob die Verantwortlichen A&Rs bei Century Media die Angstattacken mittlerweile in den Griff bekommen haben, aber an dieser Stelle darf man das Label ruhig mal für das Vertrauen und den Mut beglückwünschen. 

Die Sache ist die: eigentlich hat mich die Band mit so einer Geschichte schon im Sack, bevor ich auch nur einen Ton von "Timewave Zero" gehört habe. Dass mir Ambient einstweilen näher steht als Death Metal oder Rockmusik insgesamt, hilft natürlich dabei, jede Vorbehalte hinsichtlich der stilistischen Ausrichtung und des zumindest temporären Stilwechsels abzulegen. Mehr noch, ich umarme dieses knapp über der Grasnarbe schwebende und mit Drogen eingenebelte Raumschiff mit Haut und Haaren. Dabei ist "Timewave Zero" kein heller, leichter, ätherischer Ambient, er ist nicht "relaxt" oder "gelassen". Ganz im Gegenteil. Es liegt Schwermut über und Mystik unter dieser Platte, Haltung und Gravitas. Es ist unvertraut, außerweltlich - und fordert deshalb Konzentration ein. Die Band weist in Interviews etwas bemutternd darauf hin, dass sie für "Timewave Zero" nicht ziellos durchs Nichts delirieren, sondern sich in einem durchkomponierten Werk aufhalten; vielleicht auch eine Art Gebrauchsanweisung für die rockige Fanbase, die nur allzu schnell diesen einen despektierlichen Begriff verwendet, den sie aus Funk & Fernsehen kennt und also "Fahrstuhlmusik" krakeelt, wenn das ADHS kickt und Headbanging eher unangebracht erscheint. 

Man muss "Timewave Zero" keine Aufmerksamkeit schenken. Schließlich gibt es keine Regeln. Tut man es dennoch, lernt man fürs Leben. Es dehnt sich aus. 

Vinyl: Einzel-LP in der "Orange in Black"-Version in matt-texturiertem Cover. Stilistisch sehr ansprechend. Die Pressung ist von kleineren Stögeräuschen abgesehen okay, keine Non-Fills. Kein Downloadcode. (+++)


 


Erschienen auf Century Media, 2022.

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