25.03.2017

2016 ° Platz 6 ° Jud - Generation Vulture




Meine ausführliche Besprechung zu "Generation Vulture" ist keine 100 Tage alt, und die in jenem Text induzierten Hellseherfähigkeiten des stets leicht vertstrubbelten Bloggers aus Dreikommaviernullhausen hinsichtlich der möglicherweise übersichtlich angelegten Erfolgsaussichten dieses Comebacks muss ich nicht mal in meinen Lebenslauf eintragen. Jud waren schon fast immer die Übersehenen - und sollte nicht ein kleines Wunder geschehen werden sie es auch für fast immer bleiben. Und wie auch immer ich es versuche zu drehen: ich komme nicht dahinter, warum das so ist. Extraorginell, hochemotional, klischeefrei, smart, in der Lage, breitbeinig zu rocken und gleichzeitig verletzlich und sensibel zu wirken  - warum die Heerscharen, die nach dem offiziellen Ende des Grunge auf der Suche nach ihrem musikalischen Methadon waren und Ende der 90er und Anfang der 00er Jahre die Musik von beispielsweise Queens Of The Stone Age und Blackmail in die Charts gewuchtet haben, dem Exil-Berliner Clemmons und seiner wie gewohnt supertight aufspielenden Truppe (Jan Hampicke, James Schmidt, Steve Cordrey und Anne de Wolff) nicht schon seit Jahr und Tag die Bude einrennen, ist eines der großen Rätsel der Rockmusik. Und wenn Du jetzt denkst, dass ich damit ja wohl mal viel zu dick auftrage, dann hast Du weder "Chasing California" noch "The Perfect Life" gehört. Ganz zu schweigen von "Generation Vulture".

Dann bist Du das Problem.

Harte Wahrheiten, supersexy formuliert: eine meiner großen Stärken.

"Generation Vulture" traf im Herbst des vergangenen Jahres mit voller Wucht auf sämtliche Nervenbahnen und bretterte über holprige Wald- und Wiesenwege direkt in mein emotionales Schmerzzentrum. Es bebt. Es brodelt. Es zittert, beißt, kratzt, streichelt, küsst. Und es lebt.

For fuck's sake: ES LEBT!

Im Laufe der letzten drei Monate hat sich die im ersten Text aus dem Dezember 2016 angedeutete Trilogie des Albums stärker herausarbeiten lassen; inhaltlich nimmt "Generation Vulture" eine aus dem Wut- und Frustrationszirkel stammende Entwicklung über Rebellion, Enttäuschung, Klarheit, Akzeptanz und einem kleinen Spritzer Optimismus (Huch!) mit erschütternd ernsthaft vorgetragener Leidenschaft. Unbestrittener und sich über die guten acht Minuten immer weiter hochschraubender Drama-Höhepunkt ist weiterhin "Humanity, The Lie", der vielleicht beste Song, den die Band bislang geschrieben und aufgenommen hat. Ein kathartischer, reinigender Moment. Wie eine wochenlange Reikibehandlung aus flüssigem und purpurnem Stahl, der vom Scheitel bis zur Sohle durch Körper und Geist fließt.

Ein bemerkenswertes Lebenszeichen einer bemerkenswerten Band.







Erschienen auf Supermusic, 2016

18.03.2017

2016 ° Platz 7 ° Purl - Form Is Emptiness



Purls "Stillpoint" war im Jahr 2015 mein Album des Jahres. Sein Debut für das kanadische Label Silent Season beschrieb ich damals als "die schönste, beruhigendste, hell funkelndste, strahlendste, melancholischste, bittersüßeste, reichste Musik des vergangenen Jahres" und ich bin versucht, ähnliches über "Form Is Emptiness" zu schreiben. Eben mit dem Unterschied, dass es seine erste Veröffentlichung für das spanische Label Archives in diesem Jahr zwar nicht auf die Pole Position, dafür aber immerhin unter die Top Ten geschafft hat. Ich weiß, es geht hier nicht in erster Linie um schnöde Zahlen und Platzierungen, aber es liegt mir etwas daran, das weiter zu differenzieren.

Wenn ich in meiner Einführung zum Top 20-Countdown möglicherweise etwas arg dramatisch davon berichtete, die Entscheidungen hinsichtlich der Auswahl der besten Alben für das Jahr 2016 seien hart und härter als jemals zuvor gewesen, dann ist das keine Übertreibung; noch furchtbarer rang ich aber mit mir und den tatsächlichen Platzierungen, und zwar in einem Ausmaß, das mich erstmals daran denken ließ, den Countdown mal schön Countdown sein zu lassen und stattdessen eine alphabetische Reihenfolge zu präsentieren. Ich kam nach ein paar Wochen (sic!) wieder davon an - man muss sich ja auch mal entscheiden können - aber es zeigt auch, wie ungerne ich eine Platte wie "Form Is Emptiness" in den Plätzen 10 bis 20 vergraben wollte. Eine Platte, die, und das werden wir im weiteren Verlauf dieses Wahnsinns noch öfter lesen, manchmal ein ganzes Wochenende im Hause Dreikommaviernull durchlief. Auch das ist keine Übertreibung. Ich knipste sie beispielsweise an einem Samstagmorgen zum ersten und ritualisierten Kaffee mit der Herzallerliebsten an, stellte den CD Player auf Repeat und schaltete ihn erst tief in der Nacht zum Sonntag wieder aus - nur um das Prozedere am Sonntagmorgen exakt so zu wiederholen. 

Es ist eine von Ruhe und Schönheit geküsste Musik, die jeden Raum des Hauses mit Licht und Liebe flutet und mich meinen Mittelpunkt finden lässt. Es ist ganz offensichtlich, dass mein Geist im vergangenen Jahr nach jeder sich bietenden Möglichkeit suchte, um in sich zu gehen und sich gleichzeitig damit auszuklinken. Durchzuatmen. Einen Ort des Friedens zu betreten. Weit weg von Emails, Telefonen und Exceltabellen, ohne Druck, den selbstgemachten zumal, und ohne Verantwortung. Einfach nur die Liebe meines Lebens, die Katze, der Hund und eine heiße Tasse Kaffee auf der Couch. Dazu lief "Form Is Emptiness" mit seinen so sensibel und delikat kuratierten Soundscapes und diesem im Hintergrund pumpenden Puls des Lebens.

Das waren meine schönsten und gleichzeitig inspirierendsten Momente im letzten Jahr. 




Erschienen auf Archives, 2016.

10.03.2017

2016 ° Platz 8 ° Fates Warning - Theories Of Flight




Die Behauptung, "Theories Of Flight" sei das beste Metalalbum des Jahres, wäre kühn - vor allem, weil ich außer des Metal Church Comebacks "XI" kein anderes Genrealbum vollständig gehört habe, und die Wahl angesichts der immer noch schwächelnden Power Metal Legende aus Seattle folgerichtig denkbar einfach war. Darüber hinaus kroch mir aus Kuttenhausen nichts Nennenswertes ins Schallgesimms; der Großteil der Szene hat es sich mit dem Herumkrebsen zwischen der Erwartungshaltung überwiegend stockkonservativer Fans und der gefälligst breitbeinig vorzutragenen Rock-Kirmes seit gut 20 Jahren am kreativen Nullpunkt schön gemütlich gemacht, und solange der Rubel immer noch so schön rollt, wie er rollt, dann rollt man eben mit. Für jemanden, der die Sturm & Drang Phase des Metals in den 1980er Jahren und mit den 1990ern seine Transformation miterlebte, ist die beinahe bodenlose Harm- und Mutlosigkeit von heute auch gleichfalls eine nur schwer anzuerkennende Erinnerung an das eigene Versagen als Fan. So wie Mudhoney nicht akzeptieren wollten, dass sich 15 Jahre später eine Band wie Creed auf sie berief, will ich, der Bands wie Janes Addiction, Judas Priest, Pearl Jam und Possessed, Motörhead und Stone Temple Pilots nicht nur ganz selbstverständlich nebeneinander existieren ließ, sondern sie auch abgöttisch liebte, nicht für Volbeat und Sabaton verantwortlich gemacht werden. Oder dafür, dass die zittrigen Klapperrochen alternden Stars der Szene wie WASP, Scorpions, Metallica, Maiden und Sabbath langsam aber sicher auf die Bühne geschoben werden müssen. Aber wer soll's auch sonst und ohne sie richten, wenn der Nachwuchs derart untalentiert ist?

Angesichts der langen und kritischen Einfahrt in diesen Text ist es lohnenswert darauf hinzuweisen, dass der Status von "Theories Of Flight" nicht damit gemindert werden darf, dass bei tiefstehender Sonne auch Zwerge lange Schatten werfen. Das zwölfte Studioalbum unserer Helden ist auch ein gutes halbes Jahr nach Veröffentlichung noch regelmäßiger Gast in jeder vollstellbaren Abspielvorrichtung im Hause Dreikommaviernull und noch immer ein verlässlicher Auslöser für spitze Jubelschreie und Gänsehautschauer - ausnahmsweise unisono mit der Herzallerliebsten, die bei aktuellem Metal für gewöhnlich noch schneller auf Durchzug stellt als meinereiner.

Im April des vergangenen Jahres schrieb ich zu dem Vorgänger "Darkness In A Different Light":

Am stärksten sind Fates Warning mittlerweile dann, wenn sie ihrem Händchen für große melancholische Momente und Melodien freien Lauf lassen und nicht auf Biegen und Brechen versuchen, "Metal" zu sein (...)"

uns es freut mich ungemein, dass die Band auf "Theories Of Flight" diese Schwachstelle beseitigen konnte, ohne gleichzeitig die 2013 neu entdeckte Wucht der Moderne zu vernachlässigen. Songschreiber und Gitarrist Jim Matheos hat mit seinem Mut zum "kommerziellen Nachwaschen" (Andreas Schöwe) und der damit einhergehenden Fokussierung auf eingängige und dabei weitgehend klischeefreie Melodien Luft und Raum in die Arrangements gelassen und damit vor allem Schlagzeuger Bobby Jarzombek wenigstens gefühlt etwas einfangen können. Ich war bislang kein großer Freund Jarzombeks Stils, musste aber anerkennen, dass die Schuhe seines immer leichtfüßigen und überkreativen Vorgängers Mark Zonders für mich auch ganz besonders groß waren. Dabei ist Jarzombek ein technisch starker und moderner Metal-Schlagzeuger, dessen Bassdrumarbeit auf "Theories Of Flight" in so manchen Momenten ein echter Hinhörer ist - dass mir die Doublebass indes immer noch viel zu oft reflexartig aus der Kiste geholt wird, anstatt sich um eine variantenreichere und interessantere Lösung zu bemühen, ist vermutlich weniger der Faulheit der Protagonisten, als viel mehr den heutigen Genrestandards geschuldet. Es darf einfach keine Lücken mehr geben. Und dort setzte Matheos für "Theories Of Flight" an: Jarzombek hat vor allem in der Beinarbeit immer noch viele Freiheiten und trümmert jedes auch nur entfernt entstehende Soundloch humorlos dicht, dafür hat Matheos seine Kompositionen im Allgemeinen und seine Riffs im Speziellen gestrafft und die Abstimmung mit dem knallharten Druck der Rhythmusfraktion - Joey Vera am Bass und eben Jarzombek - verbessert. Bestes Beispiel sind die beiden Eingängigkeitsmonster "White Flag" und ganz besonders "Seven Stars", die die früheren und mittlerweile über 25 Jahre zurückliegenden Versuche der Band, dank Radiorotation in Dream Theater'sche Erfolgssphären zu gelangen, in Sachen Sound und Hit-Potential geradewegs pulverisieren.

Womit wir beim strahlendsten Faktor von "Theories Of Flight" angelangt sind: Sänger Ray Alder. Ich darf mich erneut kurz wiederholen und einen Auszug aus dem Text zu "Darkness In A Different Light" zitieren - Vorsicht, wir betreten nun den Sektor "Unreflektierte Lobhudelei":

"Alder ist aufgrund seiner Arbeiten in den letzten 25 Jahren für mich einer der zehn besten Sänger der kompletten Szene, und es gibt auch auf "Darkness In A Different Light" Gesangslinien, die in Verbindung mit den Texten eine intellektuelle Tiefe erreichen, die ich schon sehr lange nicht mehr auf einem Metalalbum gehört habe. Ich bin beinahe geneigt festzustellen, dass ihm, nachdem es plötzlich auch im Heavy Metal en vogue geworden ist, auf gute Sänger mit ausdrucksstarken Stimmen keinen gesteigerten Wert mehr zu legen, in kreativer und emotionaler Hinsicht praktisch niemand mehr das Wasser reichen kann - auf der Bühne sieht das bisweilen wegen seines Tabakkonsums etwas anders aus, und der Mann wird schließlich auch nicht jünger. Dennoch: eine Platte mit seiner Beteiligung sollte immer gehört werden. Heute mehr denn je, und sei es nur, damit man sich daran erinnert, wie wichtig, toll und fantastisch eine großartige Stimme auf einer Heavy Metal Platte klingen kann."

Alder singt auf "Theories Of Flight" überragend. Sein Timbre ist über die letzten Jahre aus den erwähnten Gründen sicher etwas dunkler geworden, was seinen melancholischen Melodien und seiner transportierten Tiefe nur zu Gute kommt. Seine Gesangslinien und -harmonien sind in Verbindung mit den Matheos'schen Riffs Sternstunden des Heavy Metals der letzten 20 Jahre und ein nicht enden wollender Garant für fassungsloses Staunen. Er war nie besser als heute. Als Beweis ist die zehnminütige Blaupause eines epischen Longtracks anzuführen: "The Light And Shade Of Things" ist der unumstrittene Höhepunkt von "Theories Of Flight", ein völlig fehlerloses Monstrum eines Songs. Und es ist Ü-BER-RA-GEND gesungen.

Das letzte Metalalbum, das bei mir solche Reaktionen ausgelöst hat, wurde vor 18 Jahren von einer Band namens Dream Theater veröffentlicht und hieß "Scenes From A Memory". Dass mir sowas im Jahr 2016 wirklich nochmal passiert - ich hätte selbst als wahrhaftig schlimmster Höhenangstpatient einen Bungeesprung ohne Seil dagegen gewettet. Ohne "Theories Of Flight" wäre das letzte Jahr wirklich trister gewesen.






Erschienen auf Inside Out, 2016.


03.03.2017

2016 ° Platz 9 ° Halftribe - Luxia




Was auch immer das spanische Label Archives im vergangenen Jahr anpackte und also veröffentlichte, es gehörte in meinem  Rückspiegel für 2016 zu den bemerkenswertesten Alben des Jahres. Das beginnt bei der Gestaltung der in limitierter Stückzahl - man spricht von etwa 100 Exemplaren pro Titel - angebotenen CDs mit viel ästhetischem Stilempfinden auf die Musik und deren Aussage abgestimmten Artworks, wunderbaren Naturfotos von Wäldern, Pflanzen, Flüssen und Küsten und endet (noch lange nicht) bei der Musik von über die ganze Welt verstreut arbeitenden Künstlern.

Der letztjährige sich in meiner linken Herzkammer abspielende und möglicherweise finale Siegeszug des Ambient wurde nicht zuletzt von Archives im Allgemeinen und "Luxia" im Speziellen angeführt. Manchmal wartet man ja nur auf sowas - diesen einen Moment, der Ohren, Augen und Hosen öffnet und der neue Inspirationen aufsaugt wie ein von jahrelanger Dürre ausgetrockneter kalifornischer Waldboden einen unverhofften Regenguss. Zumindest, wenn die Umstände mitspielen, Set & Setting, und bei mir spielten sie mit. Trotzdem kann ich in diesem Rahmen und bei aller in überdurchschnittlichem Ausmaß vorhandener Selbstreflektion letzten Endes nur spekulieren, warum ich speziell im vergangenen Jahr so oft nur ein leises Säuseln, ein zaghaftes Rascheln, ein friedliches Vogelgezwitscher hören konnte und wollte: mein Geist schrie nach Ruhe. So viel Unruhe, so viel drohender Kontrollverlust, so viel gefühlte Überforderung - da lass' ich mich doch nicht in meiner Freizeit von einem kalten, langhaarigen Stahlbolzen anbrüllen. Oder mir von einem britischen Hipster Saufgeschichten in breitem Cockney-Slang ins Ohr näseln. Oder einer zu lauten Bassdrum aus Technohausen zu viel Aufmerksamkeit schenken.

Ich will ein bisschen Frieden. Eine weiße Gitarre. Und langes, wallendes, mit Timotei auf einer schweizerischen Alm und mit bestem Bergwasser gewaschenes Haar, aus dem sich Ralf Siegel eine Pumuperücke stricken kann. 

"Luxia" ist ruhig und beruhigend und lief an so manchem Wochenende über Stunden in Endlosschleife. Angedubbtes, warm gebürstetes Klanggold, das sich um den Nukleus aus weit aufgefächerten Soundscapes wickelt und mit vereinzelten Pianotupfern Struktur im luziden Raum gibt. Ganz besonders beeindruckend: dieser Hauch von intellektueller Kühle und Klarheit in einer ansonsten sehr intimen und weichgezeichneten Umgebung. "Luxia" benötigt keine Rettung aus dem Kitsch, aber es ist gut, ein wenig angedeutete Schärfe zu spüren. Macht klar im Kopf. Befreit den Geist. Macht Spaß zu Hören. 





Erschienen auf Archives, 2016.