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03.05.2025

Sonst noch was, 2024?! (6): Nailah Hunter - Lovegaze




NAILAH HUNTER - LOVEGAZE


"I dream of beheadings and goose-feather bedding on fire" (Nailah Hunter)


Als vor vier Jahren die Debut-EP "Spells" der Harfenistin Nailah Hunter erschien, kam ich über verschlungene Pfade zum Plattensammlerportal Discogs, oder präziser: zu einer Rezension über "Spells", die sich ausnahmsweise mal nicht mit der Qualität der Vinylpressung, sondern tatsächlich mit der Musik auseinandersetzte. Ein Satz aus dieser Rezension lautete:

"Like taking acid and going to Rivendell."

Ich möchte offen sprechen: danach musste ich nicht mal mehr eine Reinhörvorrichtung bemühen, um die Platte umgehend in mein Warenkörbchen zu legen. Alleine ob der vagen Aussicht darauf, das Debut dieser US-amerikanischen Allrounderin könnte auch nur entfernt so klingen, wie es dieser eine Satz versprach, war also bereits ein veritabler Kontrollverlust einzukalkulieren. Aber es wurde sogar noch besser, als das Versprechen tatsächlich eingelöst wurde. Welch Raffinesse in der Gestaltung. Welch Gespür für die Instrumentierung. Außerweltlich. Außerkörperlich. Erneuerung. Expansion. Eine Platte wie ein Märchen aus einem verzauberten Wald, in dem alles Stoffliche zum Leben erwacht. In einer anderen Zeit, in einer anderen Welt. Eine fantastische Reise. Man reiche mir bitte die Pappen.

Drei Jahre später, Hunter ist mittlerweile zum Label Fat Possum Records gewechselt und hat die EP "Quietude" und einige Singles ihrer Diskografie hinzugefügt, erscheint ihr Albumdebut "Lovegaze" - und ich bin noch immer fasziniert von dieser Musik. Einiges wirkt aufgeräumter, im Sinne von klarer, als noch auf "Spells", vor allem hinsichtlich der sich deutlicher abzeichnenden Pop-Umrisse. Der vor diesem Hintergrund durchaus geschickt gewählte Einstieg mit "Sweet Delights" überrascht dann sogleich mit vollmundigem Pop- und Jazz-Appeal und erleichtert das Eintauchen in diese Platte. Denn, soviel sei gesagt: so geht's nicht unbedingt durchgängig weiter. Von weiteren Ausnahmen wie dem Titelsong oder "Garden" abgesehen, die melodisch greifbarer sind, baut Hunter ihre Kompositionen mit Hilfe komplexer und zugleich flüchtiger Arrangements, die der geheimnisvollen Ausstrahlung ihrer Musik stets weitere Ebenen hinzufügen. In "Through The Din" lamentiert Hunters entrückt wirkende Stimme über Trip Hop-Ruinen durch den Märchenwald, "Finding Mirrors" weckt mit schwüler LA-Hitze aufgeladenem Post-Soul Erinnerungen an das immer noch fantastische Debut von INC, während Songs wie "Cloudbreath" - ein völlig durchlässiges und schwereloses Ambient-Instrumental - oder "000" sich so weit draußen in den Obertönen bewegen, dass sie nur schwer zu erfassen sind. Das ist der Plan: die Zwischenwelten besetzen und niemals die Schwingung unterbrechen. Mir scheinen hier speziell Hunters Gesangslinien von großer Bedeutung zu sein, operieren sie doch besonders in den experimentellen Stückes des Albums nicht selten im Verborgenen. Sie erwecken den Anschein, als seien sie just in den Momenten erfunden worden, in denen die Musikerin sich zunächst in Trance versetzte, bevor Produzentin Cicely Goulder den Aufnahmeknopf drückte. So unmittelbar wie vergänglich. Eigentlich weiß man nie so recht, was man gerade gehört hat. Aber je tiefer sich die Verbindung zwischen "Lovegaze" und der eigenen Realität ins Bewusstsein eingräbt, desto stärker lichtet sich die Konsternation. 

Wir kommen schon wieder einfach nicht drum herum - wir brauchen Zeit. Und Geduld. Und vielleicht am Wichtigsten: Gefühl.





Erschienen auf Fat Possum Records, 2024.

07.04.2024

Best of 2023 ° Platz 7: Andrea - Due In Color




ANDREA - DUE IN COLOR


"I have measured out my life with coffee spoons." (T.S. Eliot)


Ilian Tape ist in Bezug zur Qualität seiner Veröffentlichungen nicht erst seit gestern auf der Überholspur unterwegs. Das Münchner Label ist nicht nur Heimstätte des Produzenten Skee Mask, einem der profiliertesten Vertreter von Elektro-Gefummel zwischen Techno, Drum & Bass, Ambient, Dub und IDM (besonders empfehlenswert für Album-Nerds: das faszinierende "Compro" und der 3-LP-Brocken "Pool" aus dem Jahr 2021, auf dem auch die letzten Genre-Barrieren atomisiert werden), sondern bietet auch jenen Musiker*innen einen Platz, die stilistisch über den Tellerrand schauen und sich experimentelleren Ansätzen widmen - hier müssen beispielhaft Alben wie "Warp Fields" und Packed Rich oder "Time Zones" von Full Bloom genannt werden, letztere ein organischer Nujazz-Abstract-Ambient-Soul-Hybrid, "Warp Field" ein Trommelfeuer aus Ambient, Jungle und Elementen des Hip Hop - das ich im vergangenen Jahr leider zu spät in die Finger bekam, sonst wäre eine Platzierung in meinen Top 20 sicher gewesen. Ilian Tapes haben eine Nische in der Nische gefunden und sich ein so vielfältiges wie konsistentes Labelprogramm zusammengebastelt, dem der expansive Vibe der Erneuerung innewohnt. Es scheint manchmal, als würde das Fenster in die Zukunft mit jedem Release ein Stückchen weiter geöffnet werden.

In diese Linie passt auch das zweite Album des Turiner Produzenten Andrea für die Münchner, das mich indes völlig unvorbereitet getroffen hat. Beim monatlichen Check für neue Platten blieb ich zunächst am großartigen Covermotiv hängen (Foto: Anisa Dawas), und ich freue mich, erneut bestätigen zu dürfen, dass meine Intuition mich mittlerweile nur noch selten täuscht: schon nach kurzem Reinhören in den Opener "Jaim" mit seinen Ambient-Hochebenen, dem spielerisch flackernden Ridebecken und den robusten Drum & Bass-Breaks, war die Spannung groß genug, um einen Blindflug anzutreten. Make my day!

Auch wenn "Jaim" keine Blaupause dafür ist, was Andrea auf den folgenden elf Songs zusammenpuzzelt, dafür ist das Album insgesamt zu divers aufgestellt, ziehen sich die verschiedenen Elemente wie ein roter Faden durch "Due In Color". Für die Grundierung sind oftmals weiche, schwerelose Synth Pads gewählt, die eine diesige, unwirkliche Atmosphäre aufziehen und zusätzlich schon in jenen tieferen Schichten die melodische Basis in Stellung bringen. In der Zwischenebene stehen dicke Basspfeiler für die schlabbernden Hosenbeine - sofern man überhaupt noch Hosen trägt, mein Mitgefühl - und den Groove, wie beispielsweise in "Sephr", das wie ein in Stahlbeton gegossenes Dubstep-Monster durch ein Sumpfgebiet walzt, oder als Antithese in "Chessbio" die Umgebung für ein leichtfüßiges, angejazztes Spiel mit Cymbals in den Obertönen liefert. Am Ende der Klangpyramide stehen die unwiderstehlichen jazzy Beats, die sich verspielt und tänzelnd wie ein Hochamt des Nu Jazz durch eine Hanfplantage fräsen. Ein solcher Höhepunkt ist "Ress", eine kühl funkelnde Broken Beat-Endorphinschleuder, sowohl für einen introspektiven Sonntagmorgen im Frühling als auch beim Klosteinschniefen in Clubatmosphäre funktioniert. Wer anschließend noch das Feld mit den besinnlichen Ambient-Schwingungen entdecken möchte, taucht in "Dove Mai" und "Return Lei" ein: Ersterer eine Blubberparade mit Unterwasservibes, die so magisch arrangiert ist, dass sich die sechsminütige Spielzeit gefühlt mindestens halbiert, letztgenannter der mit kontemplativer Grandezza infusierte Abschlusstrack mit weitläufigem Blick über die vorangegangenen 65 Minuten, der sogar ein klein wenig an die wolkigen Klangungetüme von Brock van Wey's bvdub erinnert. 

Ich bin versucht, für "Due In Color" die "Größer als die Summe der einzelnen Teile"-Phrase niederzuschreiben, weil das Album als Ganzes so ein großes Ausrufezeichen setzt; der Vibe, die Komposition und Verschmelzung unterschiedlicher Spielarten elektronischer Musik, der Drang, sich kopfüber ins Ungewisse zu werfen, weil die Vision präsenter ist als der Zweifel. Andererseits ist's den "einzelnen Teilen" gegenüber schon recht despektierlich - hier funktioniert schon so ziemlich alles. Im Sinne von: ALLES.







Erschienen auf Ilian Tape, 2023.