Posts mit dem Label ilian tape werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label ilian tape werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

26.05.2024

Sonst noch was, 2023?! - Packed Rich - Warp Fields




PACKED RICH - WARP FIELDS


“Right now, however, the extreme asymmetries of knowledge and power that have accrued to surveillance capitalism abrogate these elemental rights as our lives are unilaterally rendered as data, expropriated, and repurposed in new forms of social control, all of it in the service of others’ interests and in the absence of our awareness or means of combat." (Shoshana Zuboff)



Ich hab drauf geschlafen. Nicht wörtlich, bon - aber ich habe es verpennt, "Warp Fields" für die Bestenliste 2023 zu nominieren, und selten hat mich ein solcher Umstand mehr geärgert als hier. Sowas passiert manchmal - und vor allem dann, wenn ich, ganz banal, ein Album schlicht zu spät in die Finger bekomme. Hier war's im Dezember und ich stand bereits knietief in den sowohl geplanten als auch schon geschriebenen Reviews für das abgelaufene Musikjahr. Unter normalen Umständen ist "Warp Fields" ohne eine Nanosekunde des Zögerns ein Kandidat für die Top 5, vielleicht sogar Top 3. Daher müssen wir also jetzt im fuckin' Mai 2024 eine kurze Rückschau organisieren, verbunden mit der ziemlich vehementen Aufforderung, sich auf Bandcamp umgehend die 180g-Schallplatte für nur 16 Euro zu besorgen. Es sind noch fünf Exemplare direkt vom Label zu haben,  und alleine das ist ja schon ein mittelschwerer Skandal. Ich glaube, es geht los?! Was stimmt denn nicht mit Euch?!

Ich falle auch gleich mit der Tür ins Haus, wenn's genehm ist: "Warp Fields" klingt wie eine tiefenentspannte Frischkäse-Version eines Blue Hour-Sets von Flying Lotus, inklusive des Marijuananebels, der aus jeder Rille dieser Platte zu strömen scheint. Konzentriertes Drum'n'Bass-Gefuchtel, Lo-Fi Hip Hop-Kopfnicker, jazzy Broken Beats mit ätherischen Krautanteilen und verwinkelten Thundercat-Basslines verknoten sich mit einem hintergründigen, mehrdimensionalen Melodieverständnis, expansiven Ambient-Soundcollagen aus dem Katzenaugennebel und einer mystischen Science Fiction-Ästhetik als dicht gewebte Unterbodenstruktur. An den Rändern nehme ich überraschenderweise sehr subtile Nuancen aus dem Spiritual Jazz wahr, aber die zeigen sich in erster Linie in der Aura der Produktion, im Ansatz des Miteinanders (als Gäste dabei: Jessica Pham, Marvz, Marco Zenker und Robin Jermer), der Offenheit, der Umarmung. 

Denn auch wenn bei ich "Warp Fields" eine aus den entsprechenden Genres adaptierte intellektuelle Distanz oder meinetwegen "Verkopftheit" (note to self: muss aus dem eigenen Sprachgebrauch entfernt werden, und zwar schnell!) spüren kann, liegt das möglicherweise attraktivste Angebot dieses Albums darin, eine emotionale Verbindung aufzubauen. "Warp Fields" kann einerseits über die Abstraktion und die technisch anspruchs- und eindrucksvollen Aspekte der Musik einen Connect realisieren, aber der Magnetismus der Wärme, des Kollektivs und der Faszination über die Möglichkeiten des gemeinsamen Erlebens, der im Kern dieser Musik pulsiert und strahlt, ist schlicht unwiderstehlich. "Warp Fields" batikt Dir neue Nervenbahnen ins energetische Netz Deines Lebens. Das muss man zulassen wollen - oder auch nur können. Aber ich bezweifle, dass Gegenwehr eine Option ist.

Resistance is futile.


 


Erschienen auf Ilian Tape, 2023.

07.04.2024

Best of 2023 ° Platz 7: Andrea - Due In Color




ANDREA - DUE IN COLOR


"I have measured out my life with coffee spoons." (T.S. Eliot)


Ilian Tape ist in Bezug zur Qualität seiner Veröffentlichungen nicht erst seit gestern auf der Überholspur unterwegs. Das Münchner Label ist nicht nur Heimstätte des Produzenten Skee Mask, einem der profiliertesten Vertreter von Elektro-Gefummel zwischen Techno, Drum & Bass, Ambient, Dub und IDM (besonders empfehlenswert für Album-Nerds: das faszinierende "Compro" und der 3-LP-Brocken "Pool" aus dem Jahr 2021, auf dem auch die letzten Genre-Barrieren atomisiert werden), sondern bietet auch jenen Musiker*innen einen Platz, die stilistisch über den Tellerrand schauen und sich experimentelleren Ansätzen widmen - hier müssen beispielhaft Alben wie "Warp Fields" und Packed Rich oder "Time Zones" von Full Bloom genannt werden, letztere ein organischer Nujazz-Abstract-Ambient-Soul-Hybrid, "Warp Field" ein Trommelfeuer aus Ambient, Jungle und Elementen des Hip Hop - das ich im vergangenen Jahr leider zu spät in die Finger bekam, sonst wäre eine Platzierung in meinen Top 20 sicher gewesen. Ilian Tapes haben eine Nische in der Nische gefunden und sich ein so vielfältiges wie konsistentes Labelprogramm zusammengebastelt, dem der expansive Vibe der Erneuerung innewohnt. Es scheint manchmal, als würde das Fenster in die Zukunft mit jedem Release ein Stückchen weiter geöffnet werden.

In diese Linie passt auch das zweite Album des Turiner Produzenten Andrea für die Münchner, das mich indes völlig unvorbereitet getroffen hat. Beim monatlichen Check für neue Platten blieb ich zunächst am großartigen Covermotiv hängen (Foto: Anisa Dawas), und ich freue mich, erneut bestätigen zu dürfen, dass meine Intuition mich mittlerweile nur noch selten täuscht: schon nach kurzem Reinhören in den Opener "Jaim" mit seinen Ambient-Hochebenen, dem spielerisch flackernden Ridebecken und den robusten Drum & Bass-Breaks, war die Spannung groß genug, um einen Blindflug anzutreten. Make my day!

Auch wenn "Jaim" keine Blaupause dafür ist, was Andrea auf den folgenden elf Songs zusammenpuzzelt, dafür ist das Album insgesamt zu divers aufgestellt, ziehen sich die verschiedenen Elemente wie ein roter Faden durch "Due In Color". Für die Grundierung sind oftmals weiche, schwerelose Synth Pads gewählt, die eine diesige, unwirkliche Atmosphäre aufziehen und zusätzlich schon in jenen tieferen Schichten die melodische Basis in Stellung bringen. In der Zwischenebene stehen dicke Basspfeiler für die schlabbernden Hosenbeine - sofern man überhaupt noch Hosen trägt, mein Mitgefühl - und den Groove, wie beispielsweise in "Sephr", das wie ein in Stahlbeton gegossenes Dubstep-Monster durch ein Sumpfgebiet walzt, oder als Antithese in "Chessbio" die Umgebung für ein leichtfüßiges, angejazztes Spiel mit Cymbals in den Obertönen liefert. Am Ende der Klangpyramide stehen die unwiderstehlichen jazzy Beats, die sich verspielt und tänzelnd wie ein Hochamt des Nu Jazz durch eine Hanfplantage fräsen. Ein solcher Höhepunkt ist "Ress", eine kühl funkelnde Broken Beat-Endorphinschleuder, sowohl für einen introspektiven Sonntagmorgen im Frühling als auch beim Klosteinschniefen in Clubatmosphäre funktioniert. Wer anschließend noch das Feld mit den besinnlichen Ambient-Schwingungen entdecken möchte, taucht in "Dove Mai" und "Return Lei" ein: Ersterer eine Blubberparade mit Unterwasservibes, die so magisch arrangiert ist, dass sich die sechsminütige Spielzeit gefühlt mindestens halbiert, letztgenannter der mit kontemplativer Grandezza infusierte Abschlusstrack mit weitläufigem Blick über die vorangegangenen 65 Minuten, der sogar ein klein wenig an die wolkigen Klangungetüme von Brock van Wey's bvdub erinnert. 

Ich bin versucht, für "Due In Color" die "Größer als die Summe der einzelnen Teile"-Phrase niederzuschreiben, weil das Album als Ganzes so ein großes Ausrufezeichen setzt; der Vibe, die Komposition und Verschmelzung unterschiedlicher Spielarten elektronischer Musik, der Drang, sich kopfüber ins Ungewisse zu werfen, weil die Vision präsenter ist als der Zweifel. Andererseits ist's den "einzelnen Teilen" gegenüber schon recht despektierlich - hier funktioniert schon so ziemlich alles. Im Sinne von: ALLES.







Erschienen auf Ilian Tape, 2023.