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28.07.2024

Sonst noch was, 2023?! - Gesammelte Werke




"Nobody's mad at you
Nobody's mad at you
You're having a private experience
Nobody's mad at you
Nobody's mad at you
Nobody really gives a fuck"
(Neal Brennan)


Ich schwör': ein allerletztes Mal gibt's den Blick zurück ins Jahr 2023. 

Danach...ohjehmine und spoiler alert: geht er sogar noch ein paar Jahre weiter zurück. 


Machen wir also jetzt final den Deckel auf 2023, is' ja auch schon bald August. Grundgütiger.


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EARTH HOUSE HOLD - HOW DEEP IS YOUR DEVOTION


Eigentlich war diese Werkschau von Brock van Wey's Earth House Hold-Projekt für lange Zeit meine Nummer 1 des Jahres 2023, bis ich mich schlussendlich dagegen entschied, eine Compilation in die Bestenliste zu wuchten, noch dazu auf die Spitzenposition. Dann ist es allerdings heute umso wichtiger, über "How Deep Is Your Devotion" zu sprechen. Während ich diese Zeilen schreibe, ist es 10 Uhr an einem Sonntag im Juli 2024. Es ist sonnig, aber glücklicherweise nicht zu warm. Das Fenster ist sperrangelweit offen und in Sossenheim herrscht eine Ruhe, wie ich sie als Kind von den sommerlichen Besuchen bei meinen Großeltern im pfälzischen Nirgendwo kenne. Man spürt das Nichts mehr, als dass man es hört. Es duftet nach schwarzem Kaffee mit einem Hauch Bergamotte. "How Deep Is Your Devotion" läuft, und ich wünsche mir, dass die Zeit stehenbleibt. Die Entwicklung zu verfolgen, die Brock über die vier EHH-Alben auf die muskalische Leinwand gezaubert hat, das Abdriften eines so oder so schon sehr speziellen Deep House-Ansatzes in eine immer weiter gedehnte, dekonstruierte, eigentlich sich in Auflösung befindliche Version mit solch skurriler Schönheit und mehr versteckten, vergrabenen, vernebelten Zwischentönen, als ich jemals hören könnte, ist das Eine. Das andere ist, dass man sich wünscht, diese Musik würde nie enden. Dieser Moment würde nie enden. 


 



Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2023.



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FILM SCHOOL - FIELD


Shoegazing in LA. Das kalifornische Sextett um Bandgründer und Chef im Ring Greg Bertens fiel mir erstmals mit ihrem zweiten Album "Film School" im Jahr 2006 positiv auf, und ich bin hocherfreut, dass die Truppe über die ganzen Jahre durchgehalten hat - das gilt umso mehr, wenn noch so starke Platten wie "Field" in ihren Herzen und Köpfen schlummern. Wer vom aktuellen Slowdive-Album auch so enttäuscht wurde, darf schon mal entspannt das nächste Tütchen drehen: "Field" ist ultrakompakt komponiert, hat einen guten Drive und trotzdem soviel Tiefe, dass einem Songs wie "Up Spacecraft" oder "Don't You Ever" (mit einem 1995er Monster Magnet-Gedächtnisriff) sofort unter die Haut kriechen.


 



Erschienen auf Felte, 2023.



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RAY ALDER - II


Soloalben sind immer so eine Sache. Eigentlich stehen sie schon ab dem Moment der Ankündigung ein paar Stufen unter dem Output der Hauptband. Das Solodebut von Fates Warning-Wundersänger Ray Alder "What The Water Wants" aus dem Jahr 2019 war im Rückblick und abgesehen von Alders gewohnt brillantem Gesang eine Enttäuschung. Zu zahm, zu oberflächlich, und irgendwie auch zu egal. Folglich waren meine an "II" geknüpften Erwartungen von leichter Unterkühlung geprägt, aber siehe da - "II" ist um Welten besser als das Debut, ist zu gleichen Teilen emotionaler als auch heavier. Insgesamt inszeniert Alder seine Musik natürlich gradliniger als im Kontext von Fates Warning, und sein immer noch vollkommen intaktes Gespür für einnehmende Gesangsmelodien im Zusammenspiel mit bisweilen satt tiefergelegtem Unterwasser-Riffing, erzeugen ein ums andere Mal echte Überraschungsmomente. Das gilt mittlerweile nicht mehr für Alders Gesangsleistung: man erwartet Übermenschliches - und das bekommt man dann auch. Weiß Gott keine Selbstverständlichkeit, aber das hat er nun davon, so fucking gut zu sein. SO FUCKING GUT!


 



Erschienen auf Inside Out, 2023. 



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DANNY PAUL GRODY - ARC OF DAY


Und nochmal Kalifornien, dieses Mal San Francisco. Sein Album "In Search Of Light" aus dem Jahr 2011 hatte ich seinerzeit als "Sorgenbrecher" bezeichnet, und seine Musik ist auch 13 Jahre später noch immer genau das. Ich hatte es leider versäumt, über sein 2021er Werk "Furniture Music II" zu berichten, das mir in der Pandemie Hoffnung und Licht ins Sossenheimer Outback brachte, aber das passiert mir nicht nochmal. Die Ruhe und die Kontemplation, die vom inneren Kern von "Arc Of Day" ausstrahlt, macht mein Leben besser. Ich schmecke die Luft an der US-amerikanischen Nordwestküste, spüre den Sand zwischen den Zehen, die Sonne auf der Haut. Eigentlich ist das Psychotherapie, nur ohne Reden. Zuhören sollte man aber. 





Erschienen auf Three Lobed Recordings, 2023.



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AYAAVAAKI & PURL - ANCIENT SKIES


Purl sagte kürzlich über "Ancient Skies", es sei eine der einzigartigsten Platten, die er je aufgenommen hat - und wer sich darüber im Klaren ist, wie viele Alben dieser Kosmopolit schon veröffentlichte und wie bescheiden er für gewöhnlich auftritt, mag erahnen, wie wichtig ihm ausgerechnet dieses Werk ist. Gleichzeitig kann der Eindruck entstehen, "Ancient Skies" sei ein wenig vom Radar der Ambientfans gerutscht und damit also unterschätzt und/oder übersehen - und das muss ich für meine Wenigkeit leider bestätigen. Es gibt einfach viel zu viel Musik und das Leben raubt mir viel zu viel Zeit - und dann legt Purl eben noch immer ein atemberaubendes Veröffentlichungstempo vor. Hinzu kommt: "Ancient Skies" ist in der (digitalen) Orginalfassung fast zweieinhalb Stunden lang, und einfach zu hören ist das nicht unbedingt. "Ancient Skies" ist einerseits dramatisch und opulent, andererseits spielt sich so viel unter den hörbaren Schwingungen dieser Musik ab, ist subtil, manchmal mystisch. Wenn der halbe westliche Planet damit beschäftigt zu sein scheint, das durchs Social Media-Dauerfeuer schön herangezüchtete ADHS zu füttern, erscheint es lohnenswerter denn je, sich einfach mal für zwei Stunden auszuklinken. 

Hinweis: die Doppel-LP hat lediglich acht (statt vierzehn) Songs in zum Vergleich zur digitalen Version editierten Fassungen.


  



Erschienen auf LILA लीला, 2023 




23.03.2024

Best of 2023 ° Platz 9: Jonny Nash - Point Of Entry




JONNY NASH - POINT OF ENTRY


"As you get older, the questions come down to about two or three. How long? And what do I do with the time I've got left?" (David Bowie)


Es gibt Platten, die in derart glühender Schönheit strahlen, dass sie beinahe Schmerzen verursachen - und sei es aus Sehnsucht. Und es gibt Platten, die mein aus dem selbt gewählten Trommelfeuer aus Reizüberflutung, schwer zu stillender Neugier und einem Schuss Flucht und Prokrastination herangezüchtetes ADS wenigstens für kurze, flüchtige Momente narkotisieren können. Das Eintauchen in "Point Of Entry", dem sechsten Soloalbum des in Amsterdam lebenden Musikers Jonny Nash, verbindet diese beiden Zustände, und in seinen besten Momenten passieren sie simultan. In Einigkeit. Und sie sorgen damit für jene so großen wie seltenen Momente der Klarheit, die manches Mal zu echten Lebensrettern werden. Die zurückwerfen, neu justieren, reinigen. 

Nash bezeichnet seine Musik als "Personal Folk Music". Sein Lieblingsinstrument ist die Gitarre, die er mal mit zärtlich-sprödem Picking durch eine abgelegene Dünenlandschaft navigiert, mal in übereinanderliegenden Schichten arrangiert und so mehrdimensionale Räume erschafft, die eine erstaunliche Tiefe entwickeln können. In einem der Höhepunkte des Albums "All I Ever Needed" verschrauben sich die Gitarrenfiguren miteinander und gegeneinander, levitieren und kreiseln so lange, bis das aus der Ferne herbeigerufene Feedback beschwichtigt und glättet. Dabei behält Nash die Einfachheit jederzeit im Zentrum seiner Musik, und das berühmte Zitat von Mark Hollis "Learn how to play one note." kommt mir nicht von ungefähr in den Sinn: Stimmung und Duktus von "Point Of Entry" lassen Erinnerungen sowohl an das Spätwerk Talk Talks als auch das legendär reduzierte Soloalbum Hollis' aus dem Jahr 1998 wach werden. Es ist die Weite, die Stille, das Aufziehen der Brennweite, die zu gleichen Teilen die tiefen Schichten vergrößert, wie sie das Verständnis für das umliegende Grenzgewebe in feiner Körnung vermittelt. Das teilt "Point Of Entry" mit jenen Werken, die den Mut zur totalen Reduktion aufbrachten und damit die Zeit gerinnen ließen. 

Nashs genuschelter, gehauchter, manchmal wie gelallt wirkender Gesang in "Silver Sand" und "Eternal Life" erinnert darüber hinaus an einen, der in seinen Mitteln ähnlich radikal vorging, wenngleich die Ausgangslagen sicherlich unterschiedlicher nicht sein könnten: Lewis Baloue, der zunächst vergessene und später durch das Label Light In The Attic wiederentdeckte Troubadour, verewigte auf seinen beiden Alben "Lewis" und "Romantic Times" ähnlich brüchige Momente des Disengagements, die keine Loslösung, sondern im Gegenteil Zuwendung und Umarmung bewirken sollten. Das ist nicht immer elegant, aber die sich in der Konsequenz zeigende Verbindung zur Schwingung dieser Musik, zu ihren Bildern und ihrer vernebelten Elegie, braucht keine Kultiviertheit. Sie braucht das Leben, den Sand in den Augen, den Wind in den Haaren, das Angeknackste, das Verwitterte. 

Die Freiheit solcher Orte hat eine große Wucht. 


      



Erschienen auf Melody As Truth, 2023.

09.03.2024

Best of 2023 ° Platz 11: Jason Collett - Head Full Of Wonder




JASON COLLETT - HEAD FULL OF WONDER


"You've got to kick at the darkness until it bleeds daylight" (Bruce Cockburn)

Zur besseren Einordnung reisen wir fix ins Jahr 2002 zurück, fucking hell: zweiundzwanzig Jahre! Florian öffnet die Metalrübe, holt tief Luft und taucht ins indierockige Kanada ein. "You Forgot It In People" des Kollektivs Broken Social Scene aus Toronto überrollt mich emotional und entzündet ein Freudenfeuer in meiner linken Herzkammer; ich bin hin und weg. Drei Jahre später erscheint der selbstbetitelte Nachfolger und löst den finalen Flächenbrand aus. Hier gehört Sänger und Gitarrist Jason Collett erstmals zum 17-köpfigen Ensemble. Das Konzert im Frankfurter Mousonturm ist ein verdrogter, psychedelischer Triumphzug, nach dessen Erleben ich mit ins Haar gedrehten Gänseblümchen auf die Straßen meiner Stadt stolpere. Einige Monate später, ich schreibe mittlerweile für das Hamburger Webzine Tinnitus erstmals öffentlich über Musik, kommt Post von Chefredakteur Haiko. Mit dabei im Promostapel: "Idols Of Exile" von Jason Collett. In meiner Rezension schreibe ich:

"Zwischen sprödem Folk und Americana, erfreulich beschwingtem Singer/Songwriter Einfluss und kanadischem Pop pendeln seine Lieder, die Autofahrten auf kerzengeraden Straßen durch die weite, unberührte Natur vertonen. Sonnenuntergang, glühend-roter Horizont. Ein versunkenes Lächeln auf dem Gesicht. Fast schwerelos gleiten  "We All Lose One Another" oder "I'll Bring The Sun" durch unsere Körper. Was gäbe man dafür, diese Sternstunden mal im nationalen Dudelfunk zu hören? Zwischen all dem Plastik, all dem Müll, der uns immer noch als der heiße Scheiß "aus den Achtzigern, den Neunzigern und dem größten Rotz von Heute" verkauft wird. Passen würde das ja, so oder so. Warum nicht mal ausnahmsweise einen guten Sommerhit für das Jahr 2006?"

Haiko hat daraufhin Lunte gerochen und schummelt mir einen Interviewtermin mit Jason in den Terminkalender. Es läuft trotz meiner totalen Unerfahrenheit und der deshalb vollen Hose gut. Nach einer Stunde verabschiedet sich Jason mit den Worten "When we're on tour in Germany, come say Hi! I want to meet you!". Im Mai 2006 steht er dann tatsächlich auf der Bühne der Frankfurt Brotfabrik, die Herzallerliebste und ich stehen im Publikum. Ein wunderbares Konzert - und ich habe anschließend Bammel davor, Jason zu nerven und sage natürlich nicht "Hi!". Tragische Doofheit, in einen 1,89m großen Körper gegossen, es ist zum Heulen. 

Jedenfalls: in den nächsten Jahren kaufe ich alle seine Platten, und zwar umgehend. Und ich liebe sie alle. Auf diesem Blog zeugt davon immerhin ein Beitrag über "Here's To Being Here" aus dem Jahr 2008. Sein letztes Soloalbum "Song And Dance Man" erschien 2016 und seitdem herrschte komplette Funkstille. Mir glaubt das vermutlich niemand, aber es ist ausnahmsweise mal keine Übertreibung, weil's für die Dramatik so schön passt: ich habe vermutlich bei keinem anderen Musiker so oft versucht herauszufinden, was er/sie treibt, wie bei Jason Collett. Hat er die Musik an den Nagel gehängt? Lebt er mit seiner Familie zurückgezogen auf dem Land? Oder ganz urban, in der Großstadt? A...arbeitet der denn jetzt 9 to 5? In einem Büro? Hoffentlich ist er gesund und es geht ihm gut. Es ist beinahe ausschließlich meinen exzellenten Stalking-Fähigkeiten zu verdanken, dass ich im vergangenen Frühjahr endlich ein paar Antworten erhalte - denn "Head Full Of Wonder" ist aus heiterem Himmel gelandet! Indes: die Platte ist in Deutschland und Europa nicht zu bekommen. Keine Chance, zero. Und dann tat ich das, was ich für gewöhnlich nur bei meinen absoluten Kings mache (und selbst da schmerzt das Bäuchlein), ich bestellte das Album direkt bei Arts & Crafts in Kanada. Versandkosten und Zollgebühren my ass! Da pfeif' ich drauf. 

Nach dieser endlos langen Einlaufkurve erlaube ich mir noch ein paar Worte zu "Head Full Of Wonder", denn ich liebe diese Platte. Stilistisch halten sich Jason und seine Mitstreiter Marcus Paquin (Produzent), Schlagzeuger Liam O'Neill (SUUNS), Gitarrist Joe Grass und Bassist Mike O'Brien (Zeus) im weitgehend bekannten Rahmen auf: (Alternative) Folk, Singer/Songwriter und Indiepop, melodisch zu gleichen Teilen in den 1970er Jahren wie im neuen Jahrtausend verwurzelt, dicke Weichzeichner und Schalala-Vibes, Handclaps, Sonne, Wärme, Saxofon, durftendes frisch gemähtes Heu, Kaffee auf der Veranda. Totale fucking Seelenbestrahlung. So ehrlich und aufrichtig wie es albern und naiv ist, lyrisch befreit von jedem Zynismus. Er hätte doch noch das Geschirr abspülen müssen - aber die Sonne hat gescheint und darum hat er lieber diesen Song geschrieben: 

Milk and Honey, Honey, Milk And Honey, Honey, Milk And Honey, Honeeeyyyyyy...

"In absorbing the tumult of the times, there's a lot of shit to write through, and the challenge is to get to the other side with something positive to contribute. I let go of some swagger and embraced intimacy and joy and wonder. I hear this in the record and it makes me very happy to have made it.” (Jason Collett)

Und mich erst. 


 


Erschienen auf Arts & Crafts. 2023.


10.02.2024

Best of 2023 ° Platz 15: SPELLLING - Spellling & The Mystery School




SPELLLING - SPELLLING & THE MYSTERY SCHOOL


„Bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie Ich sagen.“ (Theodor W. Adorno)


Als Anthony Fantano, "Internet's busiest music nerd", vor gut zwei Jahren glatte und überaus seltene zehn Punkte an "The Turning Wheel" der kalifornischen Künstlerin SPELLLING vergab, war klar, was zu tun ist: kaufen! Und zwar so, wie ich es am liebsten mache, "commando", also nackig und also ohne vorangegangenes Testhören, wie immer planlos und mit offener Hose. Fantanos Beschreibung der Musik reichte aus, um schnell angefixt zu sein. Und wenn ich für die Bestenliste 2021 nicht in den Dornröschenschlaf gefallen wäre, hätten meine werten Leserinnen und Leser bereits damals lesen können, wie ich mit der Bewertung (i.S.v. "Kategorisierung") des dritten Albums von Tia Cabral zwar meine liebe Mühe hatte, aber gleichzeitig fasziniert war von diesem Kaleidoskop unterschiedlicher Einflüsse, dem außerweltlichen Gesang und den mit reichlich Mystik inszenierten Songs. Das Album ist nicht nur in meinem persönlichen musikalischen Kosmos eine Ausnahmeerscheinung, und ich finde vieles davon bis heute unerklärlich und rätselhaft. 

Das im August 2023 erschienene "SPELLLING & The Mystery School" ist eine Zusammenstellung von Neuinterpretationen ihrer früheren Songs, die nun hier zum Teil erstmals in einem Bandkontext vorgestellt werden und deren neue Versionen sich aus den mit voller Band gespielten Konzerten der "The Turning Wheel"-Tournee entwickelten. Vor allem für jene Titel, die den ersten beiden Alben "Pantheon Of Me" (2017 in Eigenregie veröffentlicht) und "Mazy Fly" entnommen wurden, sind die Überarbeitungen ein künstlerischer Gewinn: SPELLLINGs Musik war in den ersten Karrierejahren sehr reduziert, kühl, sehr synthielastig und stilistisch mit Elementen des Darkwave und sogar einer gewissen Goth-Ästhetik spielend. Das hatte durchaus einen geisterhaften, geheimnisvollen Charme. Der Sprung von "Mazy Fly" zu "The Turning Wheel" war dann allerdings ein gewaltiger, wie auch Fantano in seiner Rezension hervorhob: der vormals auf das Wesentliche beschränkte und eher dürr zu bezeichnende Ansatz ihrer Musik erfuhr plötzlich die voluminöse, detaillierte, sich stetig ausbreitende Produktion eines Art Pop-Projekts, ein bisschen transzendental und metaphysisch, wie es bei Alben von beispielsweise Kate Bush oder auch Björk erfahrbar ist. An dieser Stelle setzt "SPELLLING & The Mystery School" an. 

Ich gehe so weit zu sagen, dass die Songs von "Patheon Of Me" und "Mazy Fly" hier die "The Turning Wheel"-Behandlung bekamen - und in diesen Fällen kristallisieren sich einige echte Höhepunkte des Albums heraus. Der Opener "Walking Up Your House" wächst aus der Synth/Stimme-Miniatur des Debuts zum großzügig aufgezogenen Überflieger, "Under The Sun" durchläuft dank Piano, Schlagzeug und des Streicher-Arrangements des Del Sol String Quartetts gleich mehrere Metamorphosen, vom 70er-Abba-Vibe zu Beginn zum abruptem Wechsel in das Zaubergartenlabyrinth mit Fliegenpilzeintopf und dem Schlussakkord, der die folkige Stimmung mit selbstbewusster Kickdrum durchbricht. "Haunted Water" spielt wie "Phantom Farewell" mit dem bereits im Original wahrnehmbaren dunklem Wave-Geflacker und verbindet es mit tanzbaren Beats und einer Ahnung von Pop-Appeal zwischen (späten) Dead Can Dance und (mittleren) Depeche Mode. Die vier Neueinspielungen von "The Turning Wheel" zeigen sich dagegen eher etwas konservativer, weil sie das grundsätzliche Sounddesign des Albums beibehalten und lediglich in den Arrangements die Entwicklungsstufen der Band dokumentieren, nachzuhören im Hit "Boys At School" mit seiner neuen Streicherinstrumentierung und einer verfeinerten Dynamik im Zusammenspiel der Band. Das ist freilich immer noch hervorragend in Szene gesetzt und lohnenswert. 

SPELLLINGs Musik ist auch auf dem Stand des Jahres 2023 noch immer herausfordernd, bizarr, außerweltlich und einzigartig. Es kann vielleicht ein Weilchen dauern, bis so halbwegs klar ist, was hier passiert - und manchmal passiert womöglich gar nichts. Was einem dann noch bleibt, ist universell: einfach zuhören. 



   



Erschienen auf Sacred Bones Records, 2023.

08.09.2023

Sonst noch was, 2022?! (3): Jonathan Jeremiah - Horsepower For The Streets

 




JONATHAN JEREMIAH - HORSEPOWER FOR THE STREETS


Als meine Wenigkeit vor fast exakt vier Jahren einen halbsteifen Beschwerdebrief in die eigenen vier Wände sandte, weil es beinahe unerklärlich sei, dass "Good Day" des britischen Songwriters nicht in der Liste der damaligen besten Platten des Jahres 2018 auftauchte - wo doch vor allem die Herzallerliebste einen regelrechten Narren an den so markanten wie zwanglosen Songs Jeremiahs gefressen hatte und wir "Good Day" also überdurchschnittlich oft (und gerne) hörten - ließ sich gleichfalls eine gewisse Ratlosigkeit in meinen Ausführungen nieder. Immer diese Stilfragen. Was ist das denn hier eigentlich? Und wo kommt es her? 

Überzogen mit einer Patina aus den sechziger und siebziger Jahren, mit Orchester-Grandezza und manchmal gar einem Galabühnen-Vibe, aber andererseits unmittelbar, glänzend, frisch und modern. Irgendwie, und ich nehme jetzt allen Mut zusammen: hip! Wer nun obenrum möglicherwiese mit einer opulenteren Ausstattung protzen darf, wird derlei stilistische Lästigkeiten aus den tödlichen Fängen des Egos nicht weiter beachten und stattdessen einfach die Musik genießen. Aus welchen Gründen schreibt der Musikexpress denn auch sonst seine Rezensionen? Frage ich Sie!

Aber wir sind glücklicherweise nicht im mentalen Springer-Hochhaus und damit im Keller jeglicher Moral, sondern in fucking Sossenheim, bitches! Hier darf sich nach Herzenslust der gelbe Schmackes mit rostigen Nägeln aus der Hinrinde gekratzt und im Warum, Wieso, Weshalb regelrecht gebadet werden. 

Im Vergleich mit "Good Day" erscheint mir "Horsepower For The Streets" tatsächlich stärker amerikanisch geprägt zu sein. Die "europäische Eleganz", die ich auf dem Vorgänger  ausmachen (im Sinne von "identifizieren") konnte und die man auch als vornehme Zurückhaltung interpretieren darf, ist in meiner Wahrnehmung etwas in den Hintergrund getreten und hat jenem kalifornischen Weichzeichner mehr Raum überlassen, den ich gleichfalls bereits vor vier Jahren auf "Good Day" zu entdecken glaubte. Ein bisschen mehr Form über Funktion, ein bisschen mehr Pathos denn Ironie, ein bisschen mehr Vogelperspektive als Detailtiefe. Das zeigt sich auch im Sound, vor allem das Schlagzeug und die Arrangements der Chöre sind mittlerweile full blown Petula Clarke im Jahr 1965, wenn auch sicher mit deutlicher Moll-Färbung und mit all der neuen Komplexität, mit der sich ein Mittvierziger in heutigen Zeiten beschäftigen muss. "Horsepower For The Streets" ist insgesamt melancholischer und introvertierter als "Good Day", steht deutlicher im Sixties/Seventies-Soul, und wäre immer noch der passende Soundtrack für eine Autofahrt im Ami-Schlitten-Cabrio am Strand von San Diego. Ein bisschen Klischee muss sein. 



Vinyl: Schönes, sehr ansprechend gestaltetes Gatefold-Cover mit tollem Foto auf der Innenseite. Die Pressung auf schwarzem Vinyl ist abgesehen von einigen No-Fills zu Beginn von "Sirens In The Silence", dem letzten Stück auf der B-Seite, fehlerfrei. (++++)






Erschienen auf Pias, 2022.

11.03.2023

Best Of 2022 ° Platz 16: S.Carey - Break Me Open




S.CAREY - BREAK ME OPEN

Es wird dunkel. 

Was auf Sean Careys "Hundred Acres" aus dem Jahr 2018 zunächst auf dem Cover-Artwork, später in seiner Musik ein nachglühender Sommertag im August war, ein Naturbild voller Leben, mit dem ausströmenden Duft einer Blumenwiese, dem leisen Plätschern eines Bachlaufs, zirpenden Grillen und zwitschernden Vögeln, ist auf "Break Me Open" eine kalte, tiefe Winternacht. Ein eisig schneidender Wind, der einem durch gleich drei Paar Wollsocken pfeift und dabei das Herz schockfrostet. Und wenn Sie noch mehr metaphorische Allerweltsbilder und Beobachtungen aus der Kategorie "Primark-Unterhosenset, handgebatikt & mundgeblasen" benötigen, rufen Sie mich einfach an. 

In den vier Jahren seit "Hundred Acres" musste Carey miterleben, wie seine Ehe zerbrach und sein Vater starb. Roger Willemsen schrieb einige Jahre vor seinem viel zu frühen Tod den Bestseller "Der Knacks", eine Auseinandersetzung mit dem einen Atemzug, "ab dem nichts mehr so sein sollte, wie es mal war". Dieser feine Riss im Leben, von dem man in genau jenem Moment weiß, dass er sich nicht mehr schließen, sondern weiter ausbreiten und in der Fläche verzweigen wird. "Break Me Open" ist nicht nur durch die Parallele im Titel die musikalische Aufarbeitung eines solchen Risses, es ist mehr noch eine Nachverfolgung, sowohl eine Suche nach den Ursachen, als auch eine Ahnung, in welche Ecken und Räume er sich noch ausbreiten wird. Am Eindrücklichsten zeigt sich diese Vertiefung in die an seine Kinder gerichteten Textzeilen wie 

If I ever lost you 
I'd throw myself into the deepest riverbend
And pray that I might find you
In places that I don't even believe in 

des Openers "Dark", der musikalisch nach einem dürren, desolaten Beginn in ein kräftig stampfendes Crescendo mit Bläsern und üppigen Syntiewallungen kippt, als sei es die doppelt unterstrichene Versicherung sich selbst gegenüber, eine Vergegenwärtigung der eigenen Moral, wie ein Echtheitszertifikat. 

Nun bin ich üblicherweise mit einer gesunden Ambivalenz für einen solchen Sound einerseits und jene über-emotionalen Inhalte andererseits ausgestattet. Es finden traditionell nur wenige Platten mit einer derartigen Ausrichtung den Weg in die Sammlung, und noch viel weniger den Weg auf diesen Blog. Mir erscheint das all zu zu oft als volkstümliche Unterhaltung, als eine klebrige Befindlichkeitssoße, kalkuliert, redundant, glatt und ranschmeißerisch. Ich möchte damit eigentlich nichts zu tun haben. "Break Me Open" von all jenem Pathos freizusprechen, wäre auf den ersten Blick unpassend; besonders die hymnischen, opulenten Momente tragen bisweilen eine dicke Gefühlswatte auf. Die Grundsubstanz indes ist bei näherer Betrachtung zierlich und fragil, und manches Arrangement scheint sich nur mit letzter Kraft auf den Beinen halten zu können. Das spärlich instrumentierte "Waking Up" begleitet Careys Lyrik nur mit einer getupften Pianomelodie, die zudem so intim aufgenommen wurde, dass sogar das Treten der Pedale des Instruments zu hören sind. 

Well, I'm waking up
Just a shell of who I was
But I want to shake you
It's me, it's me, it's me

Carey sagt , "Break Me Open" sein kein "Scheidungsalbum". Es handele von Liebe, von Hoffnung, von Aufrichtigkeit und Wachstum, es sei ein Aufruf dazu, sich verletzlich zu zeigen. Der Weg, den er wählte, um diese Themen zu verarbeiten, bewegt mich sehr. Fast jede Textzeile löst ein Gefühl der Verbundenheit in mir aus - mal, weil mir die Gedanken selbst so nahe stehen, mal weil die Empathie sämtliche Schleusen öffnet und ich mich plötzlich an seiner Stelle sehe. Ich war an diesem Ort schon einmal, vielleicht in einer anderen Zeit, vielleicht unter anderen Vorzeichen - aber ich spüre die Schwingung, den Schmerz, die Leere. Viel wichtiger aber ist die Rekonstruktion jenes Empfindens und das Wissen darüber, sich hier nicht lange aufhalten zu müssen. Da ist kein Vergessen und kein Verdrängen - da ist Einheit und Verständnis. Und irgendwie auch die vage Vermutung, auf das nächste Level gesprungen zu sein. 

Am Ende singt Carey in "Crestfallen"

I love you anyway
Don't be afraid
I'll be here till the end
I'll be a friend
Don't be afraid
Our time is paramount
We're running parallel

Und man ahnt, eine sehr grundsätzliche Komponente dessen, was Leben bedeutet, verstanden zu haben. 


Vinyl: Pressungen von Jagjaguwar sind traditionell mit Vorsicht zu genießen, oder besser: zu kaufen. Audiophile Giganerds, für die ein einzelnes Knacken zwischen zwei Songs ausreicht, um mit einem Atomschlag gegen das Presswerk zu drohen, halten besser Abstand. Meine Version auf schwarzem Vinyl fühlt sich bereits am Schnitt des Plattenrands dodgy an, sieht mit einigen, auch nach einer Wäsche nicht verschwindenden Schlieren auf der Platte dodgy aus und und hört sich angesichts einiger Hintergrundraspler manchmal auch dodgy an. Das ist keine desaströse Pressung, aber man spürt, dass hier was nicht komplett in der Reihe ist. Bedruckte (ungefütterte) Innenhülle mit Texten, kein Downloadcode. Das Cover empfinde ich vor allem im Vergleich mit dem Vorgänger als eine kleine Enttäuschung. (++)


 


Erschienen auf Jagjaguwar, 2022.

10.01.2021

Die besten Second Hand-Funde 2020 (5): Skyclad - Irrational Anthems


SKYCLAD - IRRATIONAL ANTHEMS


Von Hippie-Eso-Rock der 90er Jahre über Broken Beat, Future Jazz, Noise-Goth zu Folk Metal - und Sie fragen mich ernsthaft, warum hier niemand mitliest?! 

"Irrational Anthems" war das letzte fehlende Vinyl-Mitglied der Skyclad-Sammlung (was nicht ganz richtig ist, weil ich die Picture Disc vor genau 20 Jahren in einem Plattenladen in Lübeck entdeckte - aber...). Ich habe den Fund der Originalausgabe Freund Jens zu verdanken, der seine Augen und Ohren in den Social Media'schen Verkaufs- und Tauschgruppen für mich immer weit geöffnet hat. 

Wie ich zu dieser ehemals so fantastischen Band aus Newcastle stehe, lässt sich für Interessierte HIER nochmal ausführlich nachlesen - wenn's ein bisschen mehr sein darf, klickt man am unteren Bildrand auf "Neuerer Post" und kommt darüber zu den Einzelreviews - und wo wir gerade hier sind, verlangt es der Anstand, auch auf meinen damaligen Text über "Irrational Anthems" hinzuweisen, in dem ich abschließend befand, das Album sei zwar im Prinzip absolut fehlerfrei, als möglicherweise einziges Skyclad-Werk indes nicht so irre gut gealtert. Und es stimmt: einige Songs dieser Platte habe ich in meiner Jugend auch schlicht bis zum Ohnmachtsanfall abgenudelt; der Eindruck also, Hits wie "Penny Dreadful", "No Deposit, No Return" oder "Inequality Street" seien in einer Zeitkapsel eines bestimmten Lebensabschnitts eingeschlossen und könnten nie wieder unabhängig von den Erfahrungen und Erlebnissen jener Zeit gehört werden, ist sicherlich nachvollziehbar. 

Das nimmt allerdings nichts von Glanz und Wichtigkeit von "Irrational Anthems", was mir bei der neuerlichen Auseinandersetzung, ganz besonders mit den Songs der vermeintlich zweiten Reihe, bewusst wurde: "Snake Charming", "The Sinful Ensemble"(!), "My Mother In Darkness"(!!), "I Dubious"(!!!) und "Science Never Sleeps" sind einfach unsterbliche Klassiker. 

Und ich erneuere hiermit meine frühere Einschätzung: Diese Band hat in den 1990er Jahren keinen auch nur mittelmäßigen Ton aufgenommen. Alles aus Gold.


   



Erschienen auf Massacre Records, 1996. 

23.07.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Gil Scott-Heron - I'm New Here




GIL SCOTT-HERON - I'M NEW HERE


"I'm New Here" ist möglicherweise die wichtigste Platte des vergangenen Jahrzehnts. Mir wurde das in vollem Umfang erst in den letzten Tagen so richtig bewusst, als ich mich nochmal mit dem Werk beschäftigte, um die richtigen Worte für diesen Text zu finden (und im Anschluss des neuerlichen ersten Durchlaufs natürlich dann doch die kürzlich veröffentlichte Jubiläumsausgabe auf pinkem und grünem Vinyl bestellte - einfach, weil ich nie gesagt habe, ich sei nicht quadratverblödet). 

Bis in den Februar des Jahres 2010 war mir der Name Gil Scott-Heron zwar durchaus geläufig, aber ich kann mich nicht daran erinnern, seine Musik jemals bewusst gehört zu haben. In den 1980er und in weiten Teilen der 1990er Jahre wäre ich für seinen Sound sowieso noch komplett juvenil-vernagelt gewesen, und die erste Hälfte der nuller Jahre waren hinsichtlich der musikalischen Ausrichtung noch zu sehr von den Irrungen und Wirrungen meiner Orientierungslosigkeit aus den späten neunziger Jahren geprägt, als ich mit den neuen Entwicklungen in der alten Komfortzone nicht mehr klar kam. Oder deutlicher: als Heavy Metal anfing, so richtig knalldoof zu werden. Erst mit der Entdeckung Coltranes in der zweiten Hälfte der 2000er Jahre wurde vieles wieder klarer. Und just, als ich knietief in Freejazz-Kakophonien von Clifford Thornton und William Parker stand und mich mit entsprechender Literatur immer tiefer in den Kaninchenbau hineinwühlte, holte Produzent und XL Recordings-Gründer Richard Russell den vom Leben gebeutelten Scott-Heron aus der Versenkung. Ich war bereit. 

Russell hatte dieses Projekt schon lange geplant. Er kontaktierte Scott-Heron erstmals, als jener noch wegen Kokainbesitz auf Rikers Island einsaß und erzählte später, sie hätten schon in ihren ersten Briefwechseln auf einer Wellenlänge miteinander kommuniziert. Russells Begeisterung war offenbar ansteckend: der Godfather of Rap lehnte normalerweise die meisten Anfragen ab, für "I'm New Here" sagte er jedoch sofort zu - auch wenn er später davon sprach, das Album sei in erster Linie Russells Werk:

"This is Richard's CD. My only knowledge when I got to the studio was how he seemed to have wanted this for a long time. You're in a position to have somebody do something that they really want to do, and it was not something that would hurt me or damage me—why not? All the dreams you show up in are not your own."


Richard hatte von Beginn an eine Vision für "I'm New Here", die von Scott-Herons Debut "Small Talk at 125th and Lenox" beeinflusst war: minimalistisch, spartanisch, dürr. Auch die kurze Spieldauer von gerade mal 29 Minuten entspringt diesem Gedanken, denn auch, wenn die Sessions mehr aufgenommenes Material hergaben, sollte die Platte in einem hochkonzentrierten Durchgang alles sagen, was es zu sagen gibt. Das ist geglückt. "I'm New Here" ist ein tief grummelndes, nachdenkliches Stück Musik zwischen dystopisch pumpenden Beats und dunkel schimmerndem Blues, in dessen Kern Scott-Herons schlackernder Bariton-Sprechgesang das Leben reflektiert, Bilanz zieht. Und so hart er mit sich selbst ins Gericht geht, so weise sind seine Pointen. 
Because I always feel like running
Not away, because there is no such place
Because if there was I would have found it by now
Because it's easier to run
Easier than staying and finding out you're the only one
Who didn't run
(aus "Running")

And I'm shedding plates like a snake
And it may be crazy, but I'm
The closest thing I have
To a voice of reason 
(aus "I'm New Here")

Ich war von "I'm New Here" ab der ersten Sekunde fasziniert. Alles, was dieser Mann in diesen 29 Minuten sang und sprach klang wichtig. Fürs Leben. Fürs Anerkennen der eigenen Limitiertheit. Fürs Erforschen der Möglichkeiten - weil es hinterm Horizont eben weitergeht, dem eigenen zumal. Wusste schon Udo "Dichter Denker" Lindenberg. Und hinter meinem Horizont ging es tatsächlich weiter, denn "I'm New Here" war die Initialzündung für das Entdecken von Scott-Herons Musik. Die frühen Arbeiten aus den 1970er Jahren mit seinem kongenialen Mitstreiter Brian Jackson. Die drei Soloalben aus den Achtzigern, die bislang nicht neu aufgelegt wurden und kommerziell nie an die früheren Klassiker heranreichten. Das 1994er Album "Spirits", das seinen Ruf als "Godfather of Rap" nur weiter im Boden des zu jener Zeit in voller kommerzieller Blüte stehenden HipHops verwurzelte. 

So wie Iron Maidens "Live After Death" mich zum Metal, "Nevermind" zum Alternative Rock, Bad Religions "Generator" zum Punk, bvdubs "The Art Of Dying Alone" zum Ambient und das SF Jazz Collective zum Jazz brachte, öffnete "I'm New Here" die Türen zum Soul und Funk. All diese Begegnungen mit Musik waren lebensverändernd, grenzenlos wichtig für das eigene Selbstverständnis, zur Selbstidentifikation. Ich sah die Welt jedes Mal mit anderen Augen, wenn sie mir von Steve Harris, Kurt Cobain, Greg Graffin, Brock van Wey, John Coltrane und Gil Scott Heron in neuem Licht gezeigt wurde. 

Vielleicht ging es vielen Menschen mit "I'm New Here" ähnlich. Richard Russell sollte sein Ziel, Scott-Heron auch jungen Menschen näher zu bringen erreichen - was nicht zuletzt mit den aus den Sessions entstanden Remix- und Tributeplatten gelingen sollte, die Jamie XX mit "We're New Here" und kürzlich Schlagzeuger Makaya McCraven mit "We're New Again" produzierten. 



I think, for whatever reason, I feel a bit of duty to introduce him to people because he was never that commercial, crossover figure. What Makaya [McCraven] did and what I asked Jamie [xx] to do earlier is all a part of that reintroducing. Historically, there’s a lot of great artists who get overlooked. It makes me happy that Gil is not one of them and that people are still discovering him. 

Ich habe Gil Scott Heron wegen Richard Russell entdeckt. Der Einfluss auf mein Leben war und ist bis heute allgegenwärtig. Dankbarkeit. 









Erschienen auf XL Recordings, 2010.

01.05.2020

2010 - 2019 - Das Beste Des Jahrzehnts: Melanie De Biasio - No Deal




MELANIE DE BIASIO - NO DEAL


Eine DER Entdeckungen des vergangenen Jahrzehnts, und es ist vor allem dieses umwerfende Debut der belgischen Sängerin, das mir über Gebühr den Kopf verdrehte. 

"No Deal" ist nokturne Erotik zwischen Chansons und Jazz, selbstbewusst und lasziv, zu gleichen Teilen stark und zerbrechlich. Ein heruntergedimmtes, tiefrot pulsierendes Glühen in einer vernebelten Nacht, in der die Adern der Großstadt zu schlafen scheinen - und doch: im Untergrund brodelt es, der Puls ist erhöht, die durch die Dunkelheit treibenden Gestalten so anziehend wie abstoßend. Das Spiel mit dem Verbotenen, dem Gefährlichen, das Zögern und das Dehnen, die bittersüße Versuchung ziehen sich durch jede Sekunde von "No Deal", bis sich die daraus geformte ambivalente Spannung im Abschlusstrack "With All My Love" langsam entlädt - ein Stück, das auch sechs Jahre später nichts von der betörenden Intensität verloren hat. 

Die minutenlang schwingende Erlösung zum Schluss war zweifellos einer der eindrücklichsten Momente des letzten Jahrzehnts.





Erschienen auf Play It Again Sam, 2014.

19.04.2020

2010 - 2019 - Das Beste Des Jahrzehnts: Zara McFarlane - If You Knew Her




ZARA McFARLANE - IF YOU KNEW HER


Urlaube waren dank unseres Haustierzoos rar in der letzten Dekade. Als es uns 2017 doch mal in die Ferne trieb, genauer gesagt zu einem Herbsturlaub an die stürmische Nordsee, machten wir zu später Stunde Gebrauch vom im Strandhaus befindlichen Kamin, öffneten eine Flasche Rotwein und versuchten, die sehr volatil arbeitende Heizung mit Decken und aneinandergekuschelten Körpern zu ignorieren. Es liest sich wie billigstes Klischee, aber der Chronist in mir verlangt nach Akkuratesse. 

Jedenfalls: wir hörten Zara McFarlanes "If You Knew Her" bis in die frühen Morgenstunden und es wurde einer jener Momente, in denen aus einer sehr, sehr guten Platte eine wird, die man künftig nur selten auflegen mag, aus Angst, diesem magischen Moment etwas von seiner überwältigenden Romantik zu nehmen. 

Der unten verlinkte Hit "Open Heart" darf als Blaupause für eine Platte gelten, die randvoll mit so subtil wie selbstbewusst inszeniertem Souljazz gepackt ist - urban und nokturn, zerbrechlich und mit einer nur selten gehörten Dringlichkeit. 

Last Exit Olympus.




Erschienen auf Brownswood Recordings, 2013/2014.

17.04.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: INC - No World




INC - NO WORLD


Wenn der ganze Misthaufen um uns herum in nasagenwirmal: 20 Jahren wirklich noch steht, im Sinne von fröhlich vor sich hindampft wie Jockel Fischer in der Sauna oder in der Kantine von Siemens, 's eh schon alles scheißegal, dann wird es Menschen geben, die "No World" als vergessene Perle, als unterschätztes und unbekanntes Meisterwerk bezeichnen - darauf verwette ich ein Maxi-Eiweißshake "Straciatella" mit aufgeschäumten Büffelsperma. 

Denn auch wenn das Bruder-Duo aus Kalifornien es irgendwie geschafft hat, sich in den Soundtrack des Videospiels Grand Theft Auto reinzuschummeln und die Gamer den Song "The Place" auf fast eine Million Views auf Youtube geschoben haben, ist ihr sedierter Slomo-R&B unter wirklich jedem Mainstream-Radar geblieben. Bon, die beiden sehr schüchtern wirkenden und sich fast schon schmerzhaft natürlich gebenden Jungs sind vielleicht auch nicht gerade der feuchte Traum eines Marketingprofis. Immerhin war "No World" für einen der etwas skurrileren Beiträge auf diesem Blog verantwortlich. Ich weiß nicht genau, was mich damals geritten hat und ich sage auch nicht, dass selbst ich alles davon verstanden habe, aber unterhaltsam ist's schon. Unterhaltsam oder verstörend - manchmal sind die Grenzen ja fließend.  

Ihre Musik ist auch sieben Jahre nach der Veröffentlichung von "No World" immer noch einzigartig, stimmungsvoll und unwiderstehlich sexy. Eine Platte wie Kuschelsex auf einer Familienpackung Pilzen. 





Erschienen auf 4AD, 2013.

28.01.2020

Best Of 2019 ° Platz 5 ° Durand Jones & The Indications - American Love Call




DURAND JONES & THE INDICATIONS - AMERICAN LOVE CALL


Das selbstbetitelte Debut von Durand Jones & The Indications aus dem Jahr 2016 war bereits ein echter Hinhörer, für den die Musikpresse die große Schublade mit den Superlativen öffnete: das authentischste, oldschooligste, tiefgründigste Soulalbum seit Jahrzehnten sei geboren, der Heiland ist gekommen, usw. usf. - vielleicht hatte man aber auch einfach nur schon wieder das Debut von Charles Bradley vergessen. Natürlich hat es einen Grund, warum ich den 2017 verstorbenen Screaming Eagle Of Soul in diesem Zusammenhang erwähne, denn "American Love Call" ist tatsächlich die beste Soulplatte seit "No Time For Dreaming". 

Zweifellos war das Debut des Quartetts aus Indiana eine gute Platte, aber pardon: das hier ist next level shit. Die Band hatte im Gegensatz zum etwas gehudelt aufgenommenen Erstling für "American Love Call" mehr Zeit und Geld, um die Songideen detaillierter und sorgfältiger auszuarbeiten, und es lässt sich zu jeder Sekunde hören. Die vorab ausgekoppelte Single "Morning In America" ist in meinem Buch längst ein echter Klassiker, der mir immer und immer wieder einen Schauer über den Rücken jagt - aber auch die übrigens Songs stehen dem kaum nach: Hits, Hits, Hits. Deep, romantisch, wahnsinnig gut produziert und mit einem schlicht umwerfenden Schlagzeugsound ausgestattet ("Listen To Your Heart"!!!!11elf!), virtuos und zugleich lässig gespielt. Dazu ein zeitlos-elegantes Songwriting, das der Vergangenheit freundlich-anerkennend zunickt, aber gleichzeitig frisch und modern klingt. 

Es folgt ein Deppensatz, aber da "müssen" (Steinmeier) wir jetzt gemeinsam durch: Muss man gehört haben. 



Erschienen auf Dead Oceans/Colemine Records, 2019.





25.01.2020

Best Of 2019 ° Platz 7 ° New Model Army - From Here




NEW MODEL ARMY - FROM HERE


Ich fühle mich seltsamerweise immer noch nicht wirklich dazu berufen, umfassend über New Model Army zu schreiben. Meine erste echte Auseinandersetzung mit der Band begann schließlich erst mit dem letzten Studioalbum "Winter" aus dem Jahr 2016, davor nahm ich sie entweder über Coverversionen von Anacrusis und Sepultura wahr, oder sortierte sie angesichts der ersten fünf als Klassiker geltenden und von mir erst lange Zeit nach Veröffentlichung gehörten Alben in das Fach für jene Legenden ein, an die ich emotional nie so richtig herankommen sollte und mit denen daher die Bindung nie so bedeutsam eng wurde. "Winter" sollte das allerdings recht schnell ändern.

Angesichts meines Musikkonsums, der nicht immer zwingend vorsieht, mich in 30 Jahre alte Platten zu verlieben, liegt die Vermutung nahe, dass sowohl die direkte Beschäftigung mit "Winter", als auch das fleißige Baggern von Freund und Die Hard-Fan Jens dabei kräftig mithalfen. Auch Tobis Thekenumschau-Blog und sein NMA-Listensofa führten mich weiter in ihre Diskografie ein. So kamen der Vorgänger "Between Wolf And Man", sowie die eingeschobene Studio/Live-Mischmasch-LP "Between Wine And Blood" als nächstes ins Ohr und in die Sammlung. Es funkte also so allmählich zwischen New Model Army und mir. 

"From Here" hat nun sogar Brandbeschleuniger im Gepäck und ich verzichte demonstrativ auf einen Feuerlöscher. Und ganz möglicherweise kommt folgendes Statement bei dem ein oder anderen NMA-Jünger nicht so gut an wie Genschmans Balkonrede bei den Menschen in der deutschen Botschaft in Prag, aber sei's drum: das ist die beste New Model Army Platte, die ich kenne. Und damit wir uns richtig verstehen: ich kenne immerhin ein paar. Zugegeben, zwischen 1998 und 2013 klafft noch eine große Lücke, aber ICH KANN JA AUCH NICHT ALLES HÖREN! 

Jedenfalls: "From Here" ist hinsichtlich der Atmosphäre, der Instrumentierung, der Eindringlichkeit, der Songs, des Covers, der Stimme, der Texte, der Ernsthaftigkeit...Achtung, uffjepasst, jetzt kommt's nochmal: ihre beste Platte. 

Case closed. Get over it. 



Erschienen auf Attack Attack Records/Ear Music, 2019.



21.01.2020

Best Of 2019 ° Platz 8 ° Alfa Mist - Structuralism




ALFA MIST - STRUCTURALISM


Gute Nachrichten: Im Gegensatz zum Vorgänger "Antiphon" gibt es das Vinyl von "Structuralism" noch zu normalen Preisen, ohne dafür allzu komplizierte Moves an Tagen mit ungerader Stundenzahl aufführen zu müssen. Der Release des Debuts, beziehungsweise dessen Vinylversionen, wurde vom britischen Pianisten seltsamerweise strikt limitiert, weshalb selbst Nachpressungen mittlerweile nur noch selten unter 50 Euro zu haben sind. Ein aktuellerer Discogs Kommentar spricht im Zuge der "Öffnung" (sic!) davon, dass der Alfa Mist ja auch schließlich "ein Mann des Volkes" sei und er daher den Release von "Structuralism" auf allen Streamingplattformen erlaubt habe. Da kann man mal sehen.

Abgesehen von all dem Business- und Hype-Remmidemmi unterscheidet sich "Structuralism" in der stilistischen Ausprägung nicht fundamental von seinem Vorgänger und was ich an anderer Stelle, et medium: bei anderen Platten, oft lautstark und enervierend wortreich beklage, dass nämlich more of the same in erster Linie eine Geschäfts- und seltener eine Kreativentscheidung und außerdem wie Norwegen (lang und weilig; Hape) und also supersackfuckingöde ist, stört es mich hier nicht die Bohne: ich verbrachte mal eine ganze Stunde mit dem Opener ".44" auf Endlosschleife in der 50°C heißen Badewanne und ließ mir Hirn, Herz und Hämmorhoiden dampfmangeln, bevor ich das Album anschließend für fünf weitere Stunden in ebenfalliger™️ Endlosschleife über die Anlage in die DNA purzeln ließ. Viel Atmosphäre, viel Groove, viel Virtuosität, viele leise Töne und ein bis drölf Säcke Kudos für die großartige Rythmusabteilung (allen voran an den Drums: Jamie Houghton und Peter Adam Hill, mein liebster Youtube-Kommentar: "Drummer is sick in the head."), die mit ihren punktgenauen Akzentuierungen für Freudenschreie sorgen.

Die Jazzpresse findet's derweil offenbar eher unterwältigend, eine halbe Million Plays alleine auf Youtube für einen Undergroundjazzer aus England sprechen hingegen eine deutliche Sprache.

Vielleicht ist Alfa Mist ja doch und tatsächlich ein "man of the people."




Erschienen auf Sekito, 2019.

21.07.2019

Good Day To Smile



JONATHAN JEREMIAH - GOOD DAY



Auch Mitte des Jahres 2019 bin ich immer noch mit Aufräumarbeiten aus dem vorangegangenen Jahr beschäftigt, und ein Blick auf die DIE_LISTE beweist, dass immer noch viel zu viel ungesagt, manchmal so gar: ungehört ist. Ich kann ein halbes Jahr später auch wirklich nicht mehr sagen, warum es "Good Day" nicht in die Top 20 schaffte, zumal sogar die Herzallerliebste rare Momente voller Begeisterung zeigte und wiederholtes Abspielen einforderte. Es ist indes fast niemals zu spät, doch nochmal die schwach bloggende Hand zu heben und mit Nachdruck darauf hinzuweisen, dass "Good Day" eines der besten Alben 2018 ist.

Auf den ersten Blick erscheint die Frohlockung ungewöhnlich, weil der Typus des generischen Hipster-Sangesbarden nur selten Einzug in meine Hall Of Fame findet - Musiker wie der Norweger Thomas Dybdahl sind eher die Regel bestätigenden Ausnahmen. Tatsächlich würden wir alle ohne den mit einiger Vehemenz vorgetragenen Hinweis von Freund Jens ("Einfach kaufen, Bongo!") hier und heute nicht sitzen, stehen, laufen und irrlichternd über "Good Day" schreiben und lesen können, allerdings verließen mich meine sämtlichen über die Jahre aufgebauten Vorbehalte gegenüber der erwarteten Schunkelstunde alleine beim Anblick des wunderbar stilvollen und sogar optimistischen Cover Artworks - und das schneller als das Warenkörbchen "Vielen Dank für Ihre Bestellung, Herr Bongo!" ausspucken konnte.

Jeremiah sagt, er sei für "Good Day" vor allem von europäischen Pop der 1960er und 1970er Jahre beeinflusst worden, von Serge Gainsbourg und Jaques Brel. Aufgenommen im Analogstudio des The Kinks-Sängers Ray Davies, klingt die Platte aufgeraut und warm, irgendwo zwischen dem natürlichen Rauschen des Fahrtwinds auf dem Weg in den Sommerurlaub (Villa Elso, Riccione, 1983) und dem in der Ferne simmernden Glanz des Sonnenuntergangs am Meer. Ich kann Jeremiahs Musik eine gewisse europäische Eleganz nicht absprechen; eine Eleganz, die im Vergleich zu den oftmals eher zahmen Vertretern auf der anderen Seite des großen Teichs eindringlicher erscheint. Trotzdem erinnert mich "Good Day" vor allem ob seiner Streicherarrangements an den Kalifornier Jim Sullivan und dessen "U.F.O." Album aus dem Jahr 1969: Sullivan ist natürlich ein Gefangener seiner Zeit, trägt das Hippie-Stirnband nicht nur am, sondern auch vor allem im Kopf und hat diese typische Westküsten-Lässigkeit in seinem Sound. Jeremiah schafft es indes, jenen Vibe im regnerischen London des Jahres 2018 zu spiegeln und ihn ohne Patina und lästigem Imitationsdrang mit dem Geist eines aufgeräumten John Martyn zu verbinden.

"Good Day" ist trotz seines klaren Hangs zur Ästhetik der späten sechziger und frühen siebziger Jahre ein modern klingendes und zu gleichen Teilen optimistisches sowie melancholisches Album. Funktioniert sicher auch im Spätsommer 2019. Einfach kaufen, Bongo!





Erschienen auf PIAS, 2018.