CHELSEA WOLFE - SHE REACHES OUT TO SHE REACHES OUT TO SHE
"I wish I could be invisible and just play music and not have to worry about anyone looking at me." (Chelsea Wolfe)
Die Platte des Jahres kommt von einer Künstlerin, deren frühere Arbeiten ich ganz offensichtlich auf eine beinahe schon groteske Art fehleinschätzte, und die deswegen in all den Jahren keinen Fuß in die Tür zur Casa Dreikommaviernull bekam. Ich habe das schon öfter betont, wie komplett irre so eine intellektuelle Generalverriegelung sein kann, wenn also irgendwas zwickt, irgendwas verzerrt ist - und sei's nur die eigene Wahrnehmung. Andererseits passiert sowas eben manchmal. Und dann hole ich das große Feigenblatt raus und sage: es gibt für alles den richtigen Moment, die richtige Zeit, den richtigen Ort. Musik findet Dich einfach, wenn es soweit ist.
Im Falle von Chelsea Wolfe war das Wirken der in Kalifornien lebenden Musikerin stets in erster Linie mit ihren Kollaborationen mit den Hardcore-Superstars von Converge verbunden. Und so gerne ich mir von Zeit zu Zeit mit Geschrei und Gebrüll das Kleinhirn auf halbacht fönen lasse, kam ich an Converge nie ran, nichtmal in die Nähe. Und wenn ich mich mal dazu entschlossen habe, Abstand zu halten, dann bin ich wenigstens in dieser Hinsicht so richtig behämmert deutsch und also konsequent. Aus Gründen, die ich mir heute nicht mehr selbst erklären kann, halluzinierte ich also eine stilistische Nähe zwischen Converge und ihrer eigenen Musik herbei, was dazu führte, Chelseas Soloscheiben schlicht zu ignorieren. Weil eine Mauer alleine ja nicht ausreicht, wird eben selbst der ganze Dunstkreis ausgesperrt. Was soll ich sagen?!
Als im Februar des vergangenen Jahres "She Reaches Out To She Reaches Out To She" angekündigt wurde, und die ersten Berichte elektronische, trip-hoppige, sogar in den Bereich von Drum'n'Bass reichende Einflüsse erwähnten, wurde ich allerdings hellhörig. Und schon beim Erstkontakt mit "House Of Self-Undoing" war ich hoffnungslos verloren. Die Folgen: die gesamte Diskografie wurde nachgekauft, wir besuchten ihr Gastspiel in der Kölner Kantine, die Herzallerliebste reiste sogar nochmal solo zum Konzert nach München, und meine allerliebsten Lieblingsleserinnen und -leser quälen sich gerade durch die Rezension zu meiner Lieblingsplatte des Jahres 2024.
Zusammen mit dem Produzenten Dave Sitek betreten Wolfe und ihre Band im Vergleich zu ihren früheren Werken auf mehreren Ebenen Neuland. Aus technischer Sicht war die Industrialästhetik zwar auch schon auf einem Album wie beispielsweise "Abyss" (2015) wahrnehmbar, durch den neu gesetzten Schwerpunkt auf elektronische Elemente wirken einerseits Songs wie der irrlichtende Opener "Whisper In The Echo Chamber" oder das experimentelle "Eyes Like Nightshade" noch abrasiver als zuvor. Das mit Breakbeat-Elementen spielende "House Of Self-Undoing", dessen hypnotische Ästhetik bisweilen sogar an Siteks Band TV On The Radio erinnert und clever die ganze Dynamikklaviatur aus Härte und bohrenden Ambientdrones bespielt, ist trotz stilistischer Öffnung auch noch recht gut zu entschlüsseln. Aber dann wird die Sache komplizierter zu erläutern, wenn man nicht in Allerweltsgefasel abrutschen will.
Für meinen Geschmack ist es vor allem die zweite Hälfte des Albums, auf der die visionäre, stilprägende Kraft dieser Produktion klar wird. Im Grunde sind Songs wie "The Liminal", "Salt", "Place In The Sun" oder ganz besonders "Dusk" dunkle Popsongs, die problemlos auch in einem akustischen, eher Folk-betonten Kontext funktionieren würden, durch die elektronische Ausrichtung aber plötzlich die Tore zu neuen Welten aufstoßen. Die verrauchten Trip Hop Beats, die gebrochenen Akzente vom Geflacker eines Pianos, die inszenierte Tiefe und Weite machen die Musik dunkler, bedrohlicher, mystischer, außerweltlicher. Paradoxerweise dehnt sie sich in dieser atmosphärischen Verdichtung weiter aus und macht Räume frei für Anschauung. Das Arrangement von Chelseas Stimme spielt dabei ebenfalls eine zentrale Rolle, sie ist das vermittelnde Element zwischen Anziehung und Abstoßung, Licht und Schatten. Sie ist stets im Vordergrund und dirigiert durch das Dickicht, tatsächlich macht sie jene Räume erst wahrnehmbar. Und gleichzeitig spürt man: dieser Raum ist Unendlichkeit. Dieser Raum ist Heilung. Dieser Raum ist kein Raum. Er ist Leben.
Visionär. Majestätisch. Transzendental.
Erschienen auf Loma Vista, 2024.