MARILLION - AN HOUR BEFORE IT'S DARK
An einer anderen Stelle in diesem Internet schrub ich zur Veröffentlichung von "An Hour Before It's Dark" im März 2022:
"An album that feels like four warm blankets, 12 hot-water bottles, 38 umbrella heaters, 97 gallons of hot chocolate and 239 baking trays of fresh and warm apple pie all at once."
und zugegebenermaßen schrub ich im gleichen Atemzug, es schon im März mit der Platte des Jahres zu tun zu haben - und jetzt sind wir auf Platz 15. "Da sind wir jetzt ganz schön angeschissen, hm?!" (Hagen Rether, Zitat ähnlich)
Wo ich mich im Kontext von "Uff, Rockmusik!" normalerweise vollkotzen müsste, so warm, weich, flauschig und reibungslos sich das Flagschiff britischen Progressive Rocks durch die knapp 55 Minuten neuer Musik mäandert, so beeindruckt bin ich immer wieder aufs Neue von dieser Band - und ironischerweise nicht zuletzt aus den gleichen Gründen. In den außergewöhnlichen Momenten ihrer Karriere kann ihnen, so verraten es mir meine Aufzeichnungen auch noch im Jahr 2023, immer noch nichts und niemand das Wasser reichen. Solche Momente sind auf ihrem 18.Studioalbum im direkten Vergleich mit dem Vorgänger "FEAR" ein Spürchen dünner gesät, denn auch für diese Götter ist irgendwann mal sechste Stunde. Dennoch zählt "An Hour Before It's Dark" zu ihren besten Alben, an manchen Tagen sogar zu den besten fünf.
Dabei ist das Grundgerüst mit "FEAR" durchaus vergleichbar. Das sehr wahrscheinlich kommerziell erfolgreichste Werk seit ihren goldenen Jahren in den 1980ern ist der konzeptionelle Fixpunkt: drei in mehrere Abschnitte aufgeteilte Longtracks, ein eklatantes Zugeständnis an Shitify und ein volleres Bandkonto (und zumindest letzteres sei ihnen gegönnt, just for the record), zwei leichter zu verdauende und also kürzere Standards - und weil vielleicht noch das ein oder andere Schippchen Erfolg draufgepackt werden sollte, mit "Murder Machines" eine ungewöhnlich offenherzig auf den Mainstream zugeschnittene Singleauskopplung, deren von trivialer Metaphorik durchzogener Text vor allem bei der Herzallerliebsten einen lange ausgehaltenen Seufzer der Misbilligung auslöst. Aber auch darüber hinaus scheint mir "An Hour Before It's Dark" von jedem überflüssigen Ballast befreit und mit unkomplizierter Eingängigkeit beschenkt worden zu sein. Die Band erlaubt sich selbst in den drei Longtracks keine einzige Sekunde Leerlauf, sondern vertieft ihre Themen mit rigoroser Hochverdichtung. Die 55 Minuten vergehen wie im Flug - und während das eine große Qualität dieser Platte ist, bleibt folgerichtig jene Komplexität auf der Strecke, die für gewöhnlich für die ungebrochene Lust an der Auseinandersetzung mit ihrer Musik verantwortlich ist. "An Hour Before It's Dark" ist vergleichsweise schnell entschlüsselt.
Auch textlich gibt es wenig Raum für Interpretation und angesichts der drei großen Themen dieses Albums mag man beinahe ein "glücklicherweise" in dem Satz verbauen: der Klimawandel, unser außer Kontrolle geratenes Konsumverhalten und natürlich das Virus, das seit dem Frühjahr 2020 die Welt verändert hat, sind nicht nur Themen von schneidender Relevanz, sie sind inhaltlich auch miteinander verbunden, haben Abhängigkeiten, gemeinsame Wahrheiten und Ursachen. Sie bilden den roten Faden, der sich mit Ausnahme des Tributs an Leonard Cohen in "The Crow & The Nightingale" (am Wegesrand: STEVE FUCKING ROTHERY!) durch jeden Song zieht und sich im abschließenden "Care" möglicherweise zu einer Zusammenführung der einzelnen Erzählstränge bündelt. Sänger Steve Hogarth sagt über "Care":
"Care is really a reflection on our mortality. No one knows how much time they’ve got left. None of us do. The middle section of the song (ii An Hour Before it’s Dark, and iii. Every Cell) represents someone reconciling themselves to dying, treasuring his sacred memories and acknowledging and being grateful to those who have loved him and those he loves. The third section represents the journey out of life but is also a thank you to the healthcare professionals who dedicate their lives and sometimes give their lives in the cause of caring for others. The angels in this world are not rendered in bronze or stone. They are working while we’re all sleeping. They’re caring."
Das Gekrähe aus Boomerhausen, man möge doch bitte von derlei Ernsthaftigkeiten verschont bleiben, wenn man sich mal unbeschwert von Musik berieseln lassen möchte, ist natürlich die perfekte Rechtfertigung dafür, sich mit solchen Realitäten auch und ganz besonders in der Kultur auseinanderzusetzen. Offenbar haben vor allem die früheren Generationen (inklusive meiner eigenen) den Schuss noch nicht so ganz deutlich gehört, und die dort ausgelösten Reflexe, von all dem Übel doch bitte unbehelligt bleiben zu wollen, wenn der schwere Rote im Glas und das schwere Weiße im Ohrensessel herumgeleetiert, sind nur ein weiterer Ausdruck grotesker Hilflosigkeit und Ignoranz.
Ich muss an dieser Stelle zugeben, kein zweites oder in der Wirkung neues "FEAR" erwartet zu haben. Die Band schreibt in meiner Realität ein Mal pro Jahrzehnt einen unantastbaren Meilenstein: das Debut "Script For A Jester's Tear" in den achtziger Jahren, "Afraid Of Sunlight" in den Neunzigern, "Marbles" in den Nullern und eben "FEAR" in der vergangenen Dekade - und ich rechnete wirklich nicht damit, dass sie bereits mit dessen Nachfolger diese Serie fortsetzen werden. Aber die Zwanziger werden ja voraussichtlich noch ein paar Jährchen andauern, und ich habe keinerlei Zweifel an der nach wie vor ungebrochenen kreativen Kraft der besten Band der Welt. There, I said it!
Bis dahin ist "An Hour Before It's Dark" ein erstklassiges und hochkonzentriert inszeniertes (Progressive) Rock-Album, das sich in etwa im selben Qualitäts-Stockwerk mit "Anoraknophobia" aufhält - und wer sich noch daran erinnert, wie sehr ich die Platte aus dem Jahr 2001 schätze, wird mein Urteil ziemlich akkurat einordnen können.
Vinyl: Ihre Standardpressungen sind fast nie komplett frei von Problemen, und so ist es auch mit meiner schwarzen Vinylversion, immerhin von Optimal. Nichts wirklich Schwerwiegendes, aber eben auch nicht frei von Knacksern und kleineren Störgeräuschen. In meiner Welt reicht das nicht aus, um vor einer Anschaffung Abstand zu nehmen. Bedruckte und ungefütterte Innenhüllen, Gatefold-Cover und ein fabelhaftes Artwork. Das in einigen Rezensionen anzutreffende Gerede vom angemuffelten Sound der Aufnahmen scheint mir eher ein Reflex von mittelalterlichen Dudes zu sein, die mit der frisch gewichsten Spitze ihres Pimmels uns allen mal unbedingt aufschreiben wollen, was sie sich für eine ULTRAGEILES UND ULTRATEURES Equipment leisten können. Die mit der Renaissance des Vinyls parallel verlaufende Erfolgswelle für Hi-Fi-Equipment ist ein ärgerlicher Kollateralschaden.
Erschienen auf Ear Music. 2022.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen