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06.07.2024

Sonst noch was, 2023?! - Beach Fossils - Bunny




BEACH FOSSILS - BUNNY


"Wenn man Hannelore Kohl, die Sharon Stone aus Oggersheim zu Gast hat, dann ist es schon sinnlich, wenn man mit der flachen Hand auf einen ausgestopften Saumagen klopft." (Oliver Kalkofe)


Sechs Jahre nach ihrem letzten Album "Somersault", das ich seinerzeit mit der Einschätzung in meine Top 30 des Jahres 2017 rollte, es klänge, als hätten  "Paul McCartney, Robert Smith, Sam Prekop und Johnny Marr am Strand von Kalifornien gehascht und wegen des gemeinsam bestaunten Sonnenuntergangs vor Ergriffenheit das Heulen angefangen", versüßte das Quartett aus Brooklyn mit dem Comeback "Bunny" meinen letzten Sommer - und das in Zeiten, die von tiefer Trauer über den Tod unseres Hunds Fabbi geprägt waren. Eigentlich eine unlösbare Aufgabe, aber ähnlich wie Element Of Crimes "Morgens Um Vier" traf "Bunny" einen ganz besonderen Nerv. 

Dass es ausgerechnet diese Musik schafft, mich so weichzuklopfen, ist mittlerweile eigentlich keine Erwähnung mehr wert. Wie oft habe ich schließlich schon in niemals enden wollenden und unverständlichen Satzungetümen darüber referiert, welche Anziehungskraft bisweilen von Projekten wie Tropics, Absolute Boys, Dreamscape, Slow Magic oder den leider sehr unrühmlich verglühten HOOPS ausgeht. 

Dieser unwiderstehlichen Mischung aus Lo-Fi Indie Pop (fürs Understatement), Shoegaze (fürs Schwüle, Warme, Feuchte) und einer Prise Postpunk (für die Zehenamputation wegen Unterkühlung), die den Schaltplan für Romantik, Nostalgie und Tagträume erstellt. Nach dem Zauber und dem Glanz in der Tristesse zu suchen war ein nobles Hobby in meiner Adoleszenz, nicht notwendigerweise aus Selbstmitleid, sondern weil die Vertiefung so verführerisch war. Insofern schließt sich hier der Kreis zum vergangenen Sommer: "Bunny" war gleichermaßen Trost und Heilung, weil es den Blick über die Trauer erhob und die Gefühlspalette erweiterte. Wir sahen ein paar Lichtstrahlen, ein paar Reflektionen. Spürten Sonne auf der Haut. Und wir erinnerten uns. 

Der immer noch so behutsam verhuschte Sound der Beach Fossils ist einerseits verknüpft mit einem außergewöhnlichen Gespür für Melodien - beispielhaft der zum Sterben schöne Harmoniewechsel im Refrain von "(Just Like The) Setting Sun" mit seinem im Zwielicht orchestrierten Streicherarrangement oder das Gitarrengeflacker in "Anything Is Anything", in dem jeder noch so schüchtern gespielte Anschlag eine melodische Dringlichkeit entwickelt - andererseits ist er der Mutterboden für die Ästhetik des melancholischen Großstadtslackers. 

Für immer 25, für immer emotionales Chaos, für immer verliebt, für immer Hoffnungslosigkeit. 

What year is it today?
It's funny how time slips away
Living in Nеw York, it can grind you down
I tell you, it will grind you down


Es ist zu gleichen Teilen imponierend wie beängstigend, wie mich die Beach Fossils zwanzig, dreißig Jahre in mein früheres Leben zurückschleudern - und wie fucking wehrlos ich dagegen bin. Ich spüre, wie sehr ich mich hier fallen lassen kann. Wie sehr ich hier verschwinden will. Und wie sehr ich für immer dort bleiben will.


 



Erschienen auf Bayonet Records, 2023.

04.05.2024

Best of 2023 ° Platz 3: Rod Modell - Ghost Lights




ROD MODELL - GHOST LIGHTS


"You can't play that with your fingers, motherfucker!" (Stewart Copeland)


Irgendwann erwischt es Dich. Irgendwann kommt der Moment, an dem Du aufschreckst. Alles stehen und liegen lässt, zwei oder zweihundert Meter Abstand einnimmst, Deinen Hals nach hinten streckst und versuchst, das Bild, die Situation so schnell wie möglich einzuordnen. "Was war das denn eben gerade?" - und im Grunde ist die Dechiffrierung zum Scheitern verurteilt. Denn das Bild, das Rod Modell auf "Ghost Lights" aufreißt, ist riesig. Das Panorama ist überwältigend. Ganzheitlich und immersiv. 

Alles ist in Bewegung. Alles passiert im Zeitraffer. Alles dehnt sich in Zeitlupe. 

Mit "Ghost Lights" taucht die Dubtechno-Ikone und der Gründer von Echospace zum wiederholten Male auf Astral Industries auf. Seine Geschichte mit dem Londonder Spezialistenlabel geht zurück ins Jahr 2014, als er mit seinem Deepchord-Alias und dem Album "Lanterns" die Katalognummer AI-01 stellte und umgehend einen großen Erfolg verbuchen konnte - das Konzept, "Lanterns" lediglich als einmalige Vinylpressung für einen damals absolut obszönen Betrag von 40 Euro zu vermarkten - "NO REPRESS, NO DIGITAL" - nur um ein paar Jahre später den Repress und die digitale Version dann eben doch anzubieten, treibt mich selbst zehn Jahre später noch in einen veritablen Tobsuchtanfall. Nur damit wir das mal klar haben, dass kapitalistische Fuckups einen fluffigen Flutschi auf Genres oder die Glaubwürdigkeit von Labels (lol, jetzt bleibense mal ernst!) geben. Eigentlich gehört dieser ganze Scheißhaufen ja bis ans Ende aller Tage gnadenlos boykottiert - oder wir halten fortan wenigstens die Klappe, wenn ein lieblos zusammengestümperter Repress für 50 Euro - mit den berüchtigten moralischen Bauchschmerzen, logo! - zunächst ver- und anschließend wie an der Schnur gezogen gekauft wird. Aber wie wir sehen: Herr Dreikommaviernull ist immer noch da, streichelt apathisch lächelnd seinen "Lanterns" Firstpress, quietschfidel und zugekleistert mit prätentiöser Egowichse. Um diese kognitiven Gräben zuzuschütten, reicht der ganze verkackte Sand dieser Welt nicht aus. Apropos Sand: wir haben ja eh schon Sandmangel! 

Jedenfalls: die vier überlangen Kompositionen auf "Ghost Lights" zeigen Modells Exkursionen in die Unterwelt des Ambient. Kein Beat, kein Puls - wobei, das ist nicht ganz richtig. Den Puls gibt es, aber er liegt erstens praktisch unter der Wahrnehmungsgrenze, weil er zweitens im Grunde unter die kompletten 70 Minuten Musik gespannt ist und sich damit nur im angesprochenen Panorama zeigt. 

Im Zoom hat Modell seine berüchtigte "Großstadt bei Nacht"-Ästhetik auch ohne die hörbare Kickdrum auf die musikalische Leinwand gezaubert und dabei die Frequenz der Bildfolge auf das Maximum erhöht. Versteckte und dunkle Nischen, abgelegene, unheil versprechende Ecken, Sackgassen, Regen und nasse Straßen, der aus der Kanalisation aufsteigende Dampf, die roten Rücklichter der durch die Straßen schwebenden Raumschiffe, der sich räuspernde Donner aus der Ferne, das maschinelle Grundrauschen aus den Fabriken und Kraftwerken. Das ist nicht immer nur angenehm zu hören. 

Es ist der manchmal aus tiefsten Tiefen grummelnde Bass, der einem geradewegs die Haare zu Berge stehen lässt. Es ist die Leere, die entsteht, wenn zwar der Film ruht, der Blick jedoch immer noch auf der Suche ist und außer Unbehagen nichts findet. Es ist das schwingende Echo einer vom Ende der Welt angeschlagenen Glocke. Der Vogelschrei, der sowohl Verzückung wie Agonie bedeuten kann. Und wer ganz tief in Modells Welt eintaucht, wird vielleicht auch auf Probleme mit der Einschätzung von Nähe und Distanz stoßen. Denn je kleiner der Ausschnitt, oder je nach Interpretation: der Abgrund ist, in den wir hineinblicken, desto mehr hat unser Gehirn mit der Verarbeitung der schieren Menge an Eindrücken, Reflexen, Effekten zu tun. 

"Ghost Lights" ist keine Hingabe an den Rückzug, es ist eine Ode an die Auseinandersetzung und die Überforderung.


 


Erschienen auf Astral Industries, 2023.