Eine Bestenliste des letzten Jahrzehnts ohne diesen Meilenstein ist kaum vorstellbar. Auch auf die Gefahr hin, ein bisschen zu dick aufzutragen: "The Epic" hat die Welt verändert, praktisch aus dem Nichts. Und jeder, der es hörte, ahnte schon früh, dass die Ohren bitteschön zu spitzen seien.
Denn etwas Großes war im Gange, man möchte fast zum despektierlichen "Größenwahn" greifen: 180 Minuten Musik verteilt auf drei LPs beziehungsweise CDs, ein Orchester, ein Chor, überlange Songs, für deren Arrangements die Beschreibung "opulent" nichts weiter als ein abgeschmackter Euphemismus ist, ein ikonisches Coverartwork und eine inszenierte Sogwirkung, die in ihrer Begeisterung alles mitriss, was sich nicht in die hinterste Ecke des Jazzclubs zu den anderen Betonköpfen retten konnte, die seit 50 Jahren auf "Bitches Brew" herumquallen und dabei langsam zu Staub zerfallen.
"The Epic" wurde zum großen Vermittler und zur spirituellen Einigungsstelle und ja, "The Epic" hat die Welt zu einem besseren Ort gemacht. Das mag angesichts eines Irren, der nur 18 Monate später als herumstammelnde Hämorrhoide das Weiße Haus besetzen sollte, etwas schwer zu begreifen sein - aber wer diese Platte gehört hat, wird schon verstehen.
(Mehr Hintergrundinformationen gibt es in meinen alten Posts HIER und HIER)
Nach dem letztjährigen Wirbel und dem sich anschließenden sehr beachtlichen Erfolg um "Both Directions At Once" schiebt Impulse nur ein Jahr später eine weitere bislang unentdeckte Aufnahme des klassischen Coltrane-Quartetts nach. Bei "Blue World" handelt es sich um eine 1964 aufgenommene Auftragsarbeit für den kanadischen Filmemacher Gilles Groulx und dessen Film "Le Chat Dans Le Sac". Die Legende sagt, dass die Bänder der Session für 55 Jahre im Archiv des National Film Board of Canada lagerten und erst 2018 an Impulse übergeben wurden.
"Blue World" gibt der Welt selbst bei heruntergedimmtem Licht betrachtet keine neuen Songs, sondern lediglich neu arrangierte Takes bekannter Stücke des Quartetts, aber weder dieser Umstand noch die Tatsache, dass sich im Grunde nur fünf Titel auf "Blue World" befinden ("Naima" ist mit zwei, "Village Blues" gar mit drei alternativen Takes vertreten), tun wenigstens meiner Freude und Begeisterung keinen Abbruch. Höhepunkt des Albums ist der Titelsong, der unter dem Namen "Out Of This World" bereits auf der 1962 erschienenen LP "Coltrane" zu finden war und schon dort zum Besten zählte, was ich je von der vielleicht besten Jazzband aller Zeiten hörte. Das 1944 von Harold Arlen komponierte Stück wurde für "Blue World" gestrafft und etwas verlangsamt, was die Eindringlichkeit nur noch weiter zu steigern vermag. Die atmosphärischen Parallelen zu "A Love Supreme" sind überdeutlich zu hören - und gleichzeitig gibt der Song bereits zu Beginn die Stimmung und Ausrichtung der gesamten Session vor: balladesk, dunkel, tief in sich versunken. Es sind sehr besondere Momente, die das Quartett hier verewigt hat und ich muss es ohne jede Übertreibung oder Ironie sagen: "Blue World" hat mein Leben im abgelaufenen Jahr sehr bereichert und ich empfinde es als großes Glück, diese Musik hören zu dürfen. Höre und staune.
JOHN COLTRANE - BOTH DIRECTIONS AT ONCE - THE LOST ALBUM
Ich schreibe nicht gerne über Coltrane. In den beinahe 12 Jahren, die dieser Blog existiert, gibt es exakt keinen einzigen Artikel zu einer seiner Aufnahmen, während die Stichwortsuche immerhin gleich mehr als zwei Dutzend Beiträge ausspuckt. Ich war immer der Auffassung, sein Werk sei ohnehin in Trilliarden Aufsätzen, Rezensionen und Analysen schon bis ins letzte Detail dechiffriert worden - und meistens von Leuten, die das besser können als meinereiner. Coltrane gehört eben zum Kanon, und auch wenn ich der festen Überzeugung bin, dass er mit allem vorstellbaren Fug und Recht auch da reingehört, ziehe ich es vor, allzu offensichtlich erscheinende Fingerübungen über Ubiquitäres von diesem virtuellen Tagebuch fern zu halten. Außerdem, und das ist sehr wahrscheinlich der schwerwiegendere Grund für meine Entscheidung: ich konnte bis heute keine Worte für das finden, was er mir mit seiner Musik bedeutet. Beziehungsweise: ich habe mich nicht mal getraut, nach ihnen zu suchen. Nicht, dass es sich nun im März 2019 grundlegend geändert hätte, aber wir ja hier "ja aus...ääähh...Gründen".
Mein Leben wäre ohne die Entdeckung von "A Love Supreme" im Winter 2005 sicherlich anders verlaufen, und trotzdem gibt es einen Vorläufer zu dieser Sternstunde, der für deren Entdeckung noch wichtiger war: das Debut des SF Jazz Collective, von einem Mitarbeiter des Media Markts Wiesbaden fälschlicherweise ins Electronica-Fach einsortiert und mit einem mich sehr neugierig machenden Coverartwork ausgestattet, brachte mich erstens zum Jazz und dadurch zweitens zu "A Love Supreme". Einmal eigetaucht, gab es keinen Weg zurück. Bis heute versuche ich es vor allem mir selbst zu erklären, was die Faszination ausmacht. Was bringt mich dazu, schon ab der ersten gespielten Note von "Acknowledgment" funkensprühend von diesem Klang eingenommen zu werden? Bis heute bleibe ich mir eine zufriedenstellende Erklärung schuldig. Vielleicht ist es auch schlicht zu akzeptieren, manchmal einfach keine Antworten zu haben.
Dass wir im Jahre 2018 überhaupt nochmal über Coltrane im Rahmen einer Jahresbestenliste sprechen müssen, grenzt an ein Wunder, das der Saxofonist und Weggefährte Coltranes Sonny Rollins mit dem Fund einer neuen Kammer in der Cheops-Pyramide vergleicht. Die Aufnahmen der vielleicht größten Jazzband aller Zeiten mit Elvin Jones am Schlagzeug, Jimmy Garrison am Bass und McCoy Tyner am Piano fanden im Jahr 1963 in den Studios des legendären Produzenten Rudy van Gelder statt - und verschwanden danach für 55 Jahre im Nirgendwo. Coltrane stieß 1961 zum damals neu gegründeten Impulse!-Label und es mag nun trefflich darüber spekuliert werden, warum die beiden Chefs Bob Thiele und Creed Taylor die Aufnahmen nicht veröffentlichten. Tatsächlich geschah noch weitaus Schlimmeres als nur das: nachdem die Mastertapes zunächst einige Jahre im Archiv des Labels lagerten, wurden die Bänder im Zuge von Aufräumarbeiten wegen Platzmangels zerstört. So ist es lediglich Rudy van Gelder zu verdanken, heute in die Geschichte zurück hören zu können: er überließ dem Saxofongiganten nach Abschluss der Session einen Originalabzug der Aufnahmen, der sich nun wieder im Nachlass von Coltranes verstorbener ersten Frau Naima wieder fand. Coltranes Sohn Ravi vollendete die Produktion für diese Wiederveröffentlichung.
Dabei kommt es immer wieder mal vor, dass bislang unveröffentlichte Liveaufnahmen großer Jazzmusiker gefunden werden, manchmal auch mehrere Jahrzehnte nach ihrer Entstehung. Vor wenigen Monaten schrub ich beispielsweise an dieser Stelle über ein vergessenes Livedokument des Pianisten Bill Evans. Auch für Coltrane gab Überraschungsfunde. Da ist zum einen das 1957 im Rahmen des Benefizkonzerts "Thanksgiving Jazz" aufgenommene Gipfeltreffen in der New Yorker Carnegie Hall mit Thelonious Monk, dessen Aufnahmen im September 2005 erstmals veröffentlicht wurde, nachdem die Bänder knapp 48 unentdeckt in der US-Amerikanischen Kongressbibliothek standen. Oder das ebenfalls 2005 präsentierte Livealbum "One Down, One Up" mit Radioaufnahmen aus dem Jahr 1965, das den damaligen Entwicklungsstand des großen Coltrane-Quartetts dokumentiert und gleichzeitig offenlegt, warum Tyner und Jones nur kurze Zeit später die Band verlassen sollten. Gerüchte über einen möglicherwiese zu jener Zeit einsetzenden LSD Konsums Coltranes erscheinen im Lichte der Aufnahmen nicht all zu weit hergeholt: der Titeltrack, damals bekanntes Forschungsobjekt für die Band und hier erstmals in einer wahrlich atemberaubenden knapp 28 Minuten langen Version zu hören, besteht im Grunde aus einem ebenso langen Solo Coltranes und zeigt eine sich entfesselt in den Subraum schraubende Band, die hier hörbar an der Grenze zum Wahnsinn entlang irrlichtet. Diese Aufnahmen gehören zum faszinierendsten, was mein CD und Plattenschrank hergibt und in Verbindung mit den ausführlichen Linernotes bin ich jedes Mals aufs Neue wie vor den Kopf geschlagen: Es wird berichtet, dass die Band in der Zeit ihres Residency-Engagements im Halfnote oft erst tief in der Nacht die Bühne betrat und damit die Sperrstunde verletzte. Der Inhaber des Clubs verschloss dann von innen die Eingangstüren, während die Band nicht selten bis morgens um 5 Uhr spielte. Aufnahmen solcher Nächte gab es zu jener Zeit ausschließlich im New Yorker Lokalradio. Von solchen Übertragungen existierten bis 2005 lediglich von Hörern damals mitgeschnittene Bootlegs, die unter Coltrane-Devotees schnell die Runde machten und zum Kult wurden.
Und hier schließt sich auch der Kreis zu "Both Directions At Once": "One Down, One Up" ist hier erstmal in einer Studioversion zu hören - allerdings deutlich kürzer und mehr auf den Punkt als die ausufernden Liveaufnahmen.
"Both Directions At Once" erlaubt den Einblick in die Entwicklung und de Arbeitsweise des Coltrane Quartetts und darüber hinaus eine über 50 Jahre später möglich werdende Einordnung in das Oevre dieser vier Giganten, von welchen uns drei bereits wieder verlassen haben (Pianist McCoy Tyner ist als einziges Bandmitglied noch am Leben). Ich frage mich fortwährend, wie dieses Album wohl damals rezipiert worden wäre und ob es einen ähnlichen Klassikerstatus erreicht hätte wie beispielsweise "Coltrane" oder "Crescent". Aus meiner Sicht ist "Both Directions At Once" vor allem deswegen hochinteressant, weil es ein Zwischenstadium des Quartetts dokumentiert und wir in diesen kurzen Moment, in der Geschwindigkeit von Coltranes Entwicklung vermutlich nicht länger als ein Augenaufschlag, nun tatsächlich hineinhören können. Es ist, als hätten wir endlich eine funktionierende Zeitmaschine bauen und uns in das van Gelder Studio in Englewood Cliffs beamen können. Die Band zeigt sich gespalten, steht mit einem Bein in der Tradition und wagt sich mit dem anderen Bein in die Zukunft. Coltrane wittert Veränderung und sägt in "Slow Blues" am melodischen Ast der Hardbop-Harmonien und schwingt sich vielleicht erstmals zaghaft in jene spirituellen Höhen auf, die die Band spätestens ab "A Love Supreme" im Studio und auch in den Live-Performances besuchen sollte.
"Es war nicht Ekstase, nicht Magie, es war Läuterung, Reinigung, etwas eindeutig Religiöses, von dem wir ergriffen wurden. Viele im Publikum weinten und schämten sich nicht dafür."
(Martin Kluger)
Interessant ist nun noch die Frage, warum die Aufnahmen überhaupt ins Archiv wanderten und nicht veröffentlicht wurden. Dafür gibt es mehrere Erklärungsversuche: Erstens nahm Coltrane mit seinem Stammproduzenten Bob Thiele so oder so schon mehr Musik auf, als Impulse überhaupt veröffentlichen konnte. Zweitens wollte Coltrane den Markt nicht mit alten Aufnahmen überschwemmen. Drittens darf vermutet werden, dass Impulse den kurz zuvor erzielten Erfolg von "My Favourite Things" nicht mit einer eher herausfordernden Session gleich wieder gefährden wollten und stattdessen eine traditionellere Ausrichtung bevorzugten. Die vierte Option ist zugleich die vielleicht waghalsigste: Jazz-Kenner streiten sich darüber, ob dieser Aufnahmetermin überhaupt zu einer neuen Platte führen sollte - und erkennen im Spiel der Band, ganz besonders bei Drummer Elvin Jones, einige Unzulänglichkeiten. Sie interpretieren jene als einen Hinweis auf eine grundsätzliche andere Ausrichtung dieser Session: am darauf folgenden Tag nimmt das Quartett mit dem Sänger Johnny Hartman (nebenbei der einzige Sänger, mit dem Coltrane jemals gearbeitet hat) ein Album auf, das aus sechs Balladen besteht. Es wird daher spekuliert, dass "Both Directions At Once" lediglich eine Warmup-Session für die Aufnahmen am nächsten Tag ist, ein bewusstes Auspowern, um für die Balladen das richtige Energie- und Dynamiklevel zu finden. Möglicherweise hat van Gelder, bekannt für seine Pedanterie in Bezug auf die Mikrofonierung, die Session auch für einen Soundcheck für die Aufnahmen mit Hartman genutzt. Ich finde auch diese Auseinandersetzung mit "Both Directions At Once" als sehr lohnenswert. Es ist wirklich ein großes Glück, diese Platte hören zu dürfen.
Pressung: +++++ (Tadellos)
Ausstattung: +++++ (Ich nenne die Deluxe-Ausgabe mein Eigen: Gatefold, die-cut sleeve, Prägedruck, bedruckte Innenhüllen und ein großes Poster nebst ausführlichen Linernotes - toll!)
Ich hatte "They Shall Inherit", das Vorgängeralbum dieses australischen Kollektivs, bereits vor über vier Jahren hier in diesem Blog präsentiert, damals noch mit der Anmerkung, die Platte zu spät für meine damaligen Jahrescharts entdeckt zu haben. Nochmal passiert mir das nicht!
Dabei ist das keine Konzessionsentscheidung zugunsten des aktuellen Werks "The Arrow Of Time", denn die Platte steht mit ihrer Qualität für sich und wäre auch ohne das frühere Versäumnis bereit für die Top 20 des Jahres 2018 gewesen. Chef-Multitalent/-instrumentalist Lance Ferguson hat erneut nicht weniger als zehn weitere Musiker um sich geschart und um klassische Spiritual Jazz-Themen wie die Erforschung des Weltraums, die menschliche Entwicklung und, es darf ein großer Schluck aus der Pulle genommen werden: die Zukunft der Menschheit fünf Kompositionen gebastelt, die zwischen Space Funk, Spiritual und Modal Jazz zwar ohne den künstlerischen Größenwahn eines Kamasi Washington auskommen, aber dafür mehr in die Tiefe gehen als dessen etwas abgeschliffenen "Heaven & Earth" Brocken aus dem letzten Jahr. Herausragend vor allem der treibende Opener "Evolution" als einziger Vocal-Song mit dem predigerhaft agierenden Fallon Williams am Mikrofon, das funkig-peitschende und mit tollen Harmonien ausgestattete "Spiral", sowie der Abschluss "Nova", der dank des perlenden Pianothemas tatsächlich zunächst an moderne ECM Stars wie Nik Bärtsch erinnert, bevor ein an SunRa angelehntes Saxofon den Horizont erweitert.
Ferguson betont, er sei in erster Linie von Labels wie Strata East, Tribe und Black Jazz inspiriert, wenn er Musik für Menagerie komponiert und beschreibt deren Sound auch über 40 Jahre nach deren Höhepunkten als noch immer zeitlos. Es gibt so oder so keine andere Musik als Jazz, dem die Zeit so gut wie nichts anhaben kann, und "The Arrow Of Time" ist in dieser Frage für die nächsten Jahrhunderte gewappnet: Frisch, deep, visionär.
Pressung: ++++ (wahrscheinlich low-budget (1), aber ultraleise ohne Auffälligkeiten, kräftiger, voluminöser Sound, schwarzes Vinyl only)
Ausstattung: + (wahrscheinlich low budget (2): keine gefütterte Innenhülle, Cover nur schwarz/weiß, single LP, Texte auf dem Backcover)
Ich hatte es ja gleich zu Beginn geschrieben: das hier ist ein Wunschkonzert. Und keine andere Platte kommt dieser Ankündigung so nahe wie "Shadows" des US-amerikanischen Posaunisten Grachan Moncur III. Wunschkonzert, weil ich zu der Platte kurioserweise gar nichts sagen kann, denn: Ich habe sie nie gehört. Sie ist unter den gängigen Quellen, oder besser: jenen, die für meine Wenigkeit sowohl gängig als auch zugänglich sind, nicht zu finden, erschien niemals auf CD oder gar Tape und ist aktuell lediglich als illegaler Download auf einem Jazzblog verfügbar. ABER! Ich habe mir vor Jahren die Herausforderung auferlegt, so viele Alben wie möglich von Grachan Moncur zu sammeln, sei es als Leader oder als Sidekick. Moncur ist einer meiner Lieblingsjazzer, weil er es wie außer ihm "höggschdens" (Bundesjogi) noch Jackie McLean in den 1960 Jahren verstand, zwischen freiem, sowie modalem Hardbop außergewöhnliche und teils bizarre Bilder aus Noten zu malen und Grenzen verschwimmen zu lassen. Seine Alben als Leader sind bisweilen irritierend progressive Juwelen, und selbst sein Spätwerk aus den nuller Jahren lebt von der einzigartigen Spielweise des mittlerweile verstummten (aber offenbar noch lebenden) 83-jährigen Amerikaners. "Shadows" erschien 1977 lediglich (i) in Japan und (ii) auf Vinyl auf dem mittlerweile gelöschten Label Denon Jazz und wurde in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts auch nicht für einen CD-Release in Betracht gezogen, als A&M Records kurzzeitig den Vertrieb für die Japaner übernahmen. Die Original-LP kostet in gutem Zustand um die 100 Euro - und ich bin ja nicht bescheuert. Also: es erbarme sich bitte jemand. Zum Schluss noch ein Hinweis für Jazznerds: Marion Brown am Saxofon, Dave Burrell am Piano. "Mehr habe ich nicht hinzuzufügen." (Polt)
Wahrscheinlichkeit 1/5
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SANDWELL DISTRICT - FEED FORWARD
Das vielleicht beste Techno Album aller Zeiten kommt vom Produzenten-Duo Sandwell District - und es kam sogar mal ganz kurz auf Vinyl heraus: wer im Jahr 2011 schnell und schlau genug war, konnte ein ordentlich herausgeputztes Exemplar für gerade mal 30 Euro abgreifen. 30 Euro waren allerdings meine damalige Schallmauer für 2nd Hand Platten, und selbst dieses Kleingeld nahm ich praktisch nie in die Hand, weil die meisten für mich interessanten Titel noch deutlich darunter lagen. Für Neuveröffentlichungen hingegen waren 30 Euro vor sieben Jahren völlig inakzeptabel. Ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern, aber ich vermute, dass ich trotz regelmäßiger Bestellung beim englischen Boomkat Mailorder in erster Linie wegen der Preisgestaltung für "Feed Forward" nicht tätig wurde. Heute kostet die Platte in der Regel mindestens 200 Euro. Ein Repress ist nicht in Sicht, da sich das Duo seitdem sehr rar gemacht hat und wenigstens unter dem Namen Sandwell District keine weitere Musik veröffentlichte. Etwas obskur sind nicht nur die für jedes Medium, also für LP, CD & Digital, unterschiedlichen Songreihenfolgen, womit keine einheitliche Version zu finden ist, obskur ist auch die Musik: dunkel pumpend, atmosphärisch unter Null, desolat - aber gleichzeitig ein Drive, wie ich ihn selten gehört habe. Ein außergewöhnliches Werk, das Dich spätestens nach dem zweiten Track zerkleinerte Spülitabs durch die Nase ziehen lässt. Imfuckingpressive.
Wahrscheinlichkeit 1/5
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MOTHER TONGUE - STREETLIGHT
Über die bewegte Geschichte dieses kalifornischen Quartetts ließe sich ein ganzer Roman schreiben, aber so war das hier ja nicht gerade gedacht. Daher in aller Kürze: 1994 mit dem Major-Debut und riesigen Hoffnungen gestartet, kurz danach vom Label humorlos gedroppt, Auflösung 1996. 2002 dann das überraschende Comeback mit "Streetlight", nur ein Jahr später der Nachfolger "Ghost Note", ausverkaufte Deutschland-Tourneen, mitreißende und denkwürdige Konzerte, die Visions macht die Band im Liebesrausch praktisch zur inoffiziellen Redaktionsband, bevor der Kontakt erneut abreißt: Pause. 2008 dann das bis heute letzte und ohne Unterstützung eines Labels aufgenommene und veröffentlichte Album "Follow The Trail", gefolgt von einer erneuten Deutschlandtournee, die trotz der langen Pause erneut volle Häuser für die Band bereit hält. Seitdem darf davon ausgegangen werden, dass Mother Tongue mittlerweile final den Deckel auf die Karriere nagelten. "Streetlight" wird im Falle des (Wieder)Entdeckens auch meine Leser reich belohnen: emotional kraftvoller Blues/Alternative Rock mit Soul, Funk und Stonereinflüssen, so locker groovend aus der Hüfte geschossen, als hätten sie's auf der linken Arschbacke ausgedacht und aufgenommen. "Streetlight" brodelt und glüht, ist hedonistisch, wild, juvenil. Es ist ein vermaledeiter Deppensatz, aber er muss sein: diese Musik MUSST Du auf Vinyl hören. Jetzt das Problem: Die Originalausgabe ist entweder gar nicht mehr, oder nur für sehr viel Geld (ca. 100 - bis 140 Euro) zu haben und angesichts einer nicht mehr real existierenden Band ohne Label, die dafür immerhin mit einem kleinen Häufchen loyaler Die Hard Fans in Deutschland ausgestattet ist, wird sich wohl niemand auf ein finanzielles Himmelfahrtkommando mit einem Rerelease einlassen. Die Band galt lange Zeit als Stehaufmännchen - es wird Zeit, dass sie es nochmal beweisen.
Wahrscheinlichkeit 1/5
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THE LIFE AND TIMES - SUBURBAN HYMNS
Ich erhielt das Debut von The Life And Times Mitte der nuller Jahre im Rahmen meines Engagements beim Hamburger Webzine Tinnitus als Promo-CD, und damit zu einer Zeit, in der ich das Schallplattenkaufen wenigstens für neue Releases praktisch komplett eingestellt hatte. Einerseits tastete ich mich musikalisch gerade in elektronisch-abstrakte Gefilde vor, in denen kein großer Wert auf Vinyl gelegt wurde und zweitens befanden wir uns, wenn auch knapp, erst kurz vor dem Auftürmen der Comebackwelle der schwarzen Scheiben, weshalb es die meisten Titel erst gar nicht ins Presswerk schafften. Das Power Trio aus Kansas City war indes seit seiner Gründung immer auf der Seite des Vinyls, und das gilt auch für "Suburban Hymns" - aber ich schlief. Und ich schlief lange. Verdammt lange. Noch vor drei, vier Jahren wäre es kein Problem gewesen, die Vinylversion für schlappe 15 Euro zu bekommen. Und plötzlich machte es mir nichts Dir nichts *klick* und sie war verschwunden. Nicht mehr aufzutreiben. Man wird ja wahnsinnig. Aber es wird noch "doller": Den speziell für eine US-Tour und in kleiner Auflage (77 Stück) gepresste Rerelease mit "screen printed cover" gibt's mittlerweile nicht mehr unter 200 Euro. Ich habe mittlerweile alles von dieser tollen Band auf Schallplatte, inklusive der 7"s und 10"s. "Suburban Hymns" fehlt, und das kann so nicht bleiben. Was ebensowenig bleiben kann: Europa stand noch nie auf ihrem Tourplan. Gehört streng genommen nicht in diesen Text, aber ich bin hier Scheff, also suck it up.
Wahrscheinlichkeit 3/5
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DANZIG - DANZIG III - HOW THE GODS KILL
"Mother" hin, "Schinkengott" her - "How The Gods Kill" ist die beste Danzig Platte. Ich habe sie extra für diesen Text nochmal auf voller Lautstärke gehört ("WILLST DU VIELLEICHT NICHT NOCH EIN BISSCHEN LAUTER MACHEN? ICH GLAUBE MAN KANN ES NOCH NICHT HÖREN...IN URUGUAY!" - Die Herzallerliebste) und ich bleibe dabei: nie war das Songwriting so flüssig und variabel, die Produktion so fleischig und druckvoll, die Atmosphäre so eindringlich. Aber: es herrscht Ebbe in Vinylhausen. Weil die Originalpressungen nicht nur schwer zu finden, sondern üblicherweise auch noch sehr teuer in der Anschaffung sind - "How The Gods Kill" liegt mittlerweile bei 100 Euro plus/minus X - tauchten vor einigen Jahren Bootlegs zu den ersten vier, und damit klassischen Alben des Muskelbonsais auf. Über die optische Aufmachung konnte man ob der guten Qualität der Drucksachen (Gatefold-Sleeves, glossy print, Artwork gestochen scharf) nur erstaunt sein, hinsichtlich des Sounds mussten jedoch, vor allem hinsichtlich der Lautstärke, Abstriche gemacht werden - alles andere als ein CD-Rip als Grundlage würde mich überraschen. Ich selbst konnte das Debut in einer Bootlegversion ergattern ("Lucifuge" stehlt als im Original im Schrank), brenne aber wie verrückt auf "How The Gods Kill": "Godless", "Anything", "Sistinas", "Dirty Black Summer" und der Titeltrack: holy fucking shit, besser war der Schinken nie. Und wie bei so manch anderer sehr populären Band fragt man sich auch hier: warum kommt niemand auf die Idee und haut den ganzen Kram offiziell und in guter Qualität nochmal raus? Das waren ja immerhin und beinahe Millionenseller, für die es auch heute immer noch eine Nachfrage gibt. Sind's wirklich die Anwälte? Die Bands? Die Kohle? Die Verträge? Die Labels? Kann das mal jemand aufklären?
Wahrscheinlichkeit 2/5
Damit beendet die 3,40qm-Redaktion die kleine Serie zum Schallplattenkonsumrauschen und tänzelt nun frohlockend in ein Novum dieses Blogs: die anderen sprechen jetzt. Nämlich. Oder schreiben.
Wir kommen nach einer fantastischen Reise durch technische Probleme aus Computerhausen, die selbst so einen wie mich zum wiederholten Male daran erinnerten, dass billiger Scheißdreck einfach billiger Scheißdreck ist, der sich "im Prinzip" (Franz Beckenbauer) niemals lohnt, nun also zum ersten Teil der Sonderedition "Reissue Now, Mofo!". Lesern, denen der allseits beliebte 1990er Jahre-Overkill aus den beiden vorangegangenen Postings auf die Nerven ging - und wenn dem so sein sollte, dann sei an dieser Stelle ein satt-liebevolles "Yuck Fou!" in den noch nicht gefallenen Schnee vor ihre Haustüren gestrullt - können sich etwas entspannen und die Spekuliereisen wieder zurechtrücken.
Die Sache mit den Reissues ist nämlich auch irgendwie die des Vinyl-Hypes der letzten zehn Jahre, in deren Verlauf zwar nicht nur alte Kotze von Springsteen, Dylan und den Beatles zum dreikommaviermillionsten Mal, sondern auch so mancher Undergroundklassiker aus der musikalischen Neuzeit, also aus diesem Jahrtausend, wieder veröffentlicht wurde. Sammler, Jäger und eine im Volumen grundlegend geradewegs explodierte Zielgruppe sorgten gleichzeitig auch dafür, dass die kleinen Auflagen von 300 bis 500 Stück (1) rasend schnell ausverkauft waren und (2) wenige Tage nach dem Releasetermin für den zehnfachen Ausgabepreis auf Discogs landeten. Und wer nicht schnell genug war, der....ja, der hört sich den Mist halt auf seinen alten CD's an oder bemüht das Streaming.
Oooooooder kauft den teuren Scheiß halt trotzdem. Weil man's kann. ES IST JA AUCH ALLES GAR NICHT SO SCHLIMM, beziehungsweise eben doch. Für mich. Und vielleicht für ein paar andere Menschen auch noch.
Was die paar anderen Menschen dazu zu sagen haben, dazu kommen wir auch noch. Später.
Für den Moment mach' ich hier mal weiter. Aus dem Weg, ich bin heißer und fettiger Arzt.
Die Wahrscheinlichkeitslegende:
5: Praktisch schon auf dem Weg zum Presswerk
4: Das Glas ist halbvoll. Licht am Ende des Tunnels. Eintracht Frankfurt Internationaaaaal.
3: Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Irgendwann mal. Auf jeden Fall später. Hm.
2: Don't hold your breath, Argentina!
1: LOL, bist' deppert?
VOIVOD - THE OUTER LIMITS
Das meistgesuchte Voivod-Album auf Vinyl - und auch für mich gibt es keine andere Platte, auf die ich SO RICHTIG ARG DOLLE warte wie auf "The Outer Limits" der kanadischen Science Fiction Metal-Legende. Wer mich etwas näher kennt, weiß, wie oft ich im Beisein von Menschen, die mich danach erfreulicherweise nicht komplett für verrückt erklärt haben, in einem vernebelten Fiebertraum umhertänzelnd davon spreche, dass mir bestimmt irgendwann mal die Hauptsicherung im Dachgeschoss durchkokelt und ich irgendeine von diesen 300 Euro teuren Scheißdingern von der Erstpressung auf Discogs kaufe. Aus Finnland. Oder Brasilien. Scheiß doch auf den Hunni für Versand und Zoll, #yolo, Fucker! Veröffentlicht im Sommer 1993 in überschaubarer Vinylauflage und seitdem in einem Spiegelkabinett aus eingestampften Plattenfirmen, Anwaltskanzleien und einer Band gefangen, der es mittlerweile wohl auch ganz grundsätzlich nicht mehr so irre wichtig ist, ergeht es "The Outer Limits" ähnlich wie dem Vorgänger "Angel Rat": ich bin mir sehr sicher, dass da noch was kommt, aber es wird noch ein paar Jahre dauern. Bis dahin muss man als Fan irgendwie versuchen, die Füße still zu halten.
Wahrscheinlichkeit 3/5
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GRACE JONES - HURRICANE
Nicht wenige hätten "Hurricane", das immer noch großartige Comebackalbum von Grace Jones aus dem Jahre 2009, wohl eher in der "First Time"-Rubrik verortet, tatsächlich gibt es aber bereits eine Schallplatte: das britische Nischenlabel The Vinyl Factory hat das Album etwa ein Jahr nach der Veröffentlichung in einer Auflage von 500 Exemplaren auf Vinyl gepresst und mit allerlei geilem Schnickschnack aufgepimpt: pink-fluoreszierendes Artwork, custom made inner sleeves, beigelegte Kunstdrucke von Jones-Intimus Chris Levine, Vinylmastering von Bob Ludwig, all das auf einer alten und wahrscheinlich mundgeblasenen EMI Pressmaschine in England auf zwei 200g Scheiben gepresst und von der Diva höchstpersönlich signiert.
Das kann man jetzt natürlich elitär, prätentiös, grotesk, größenwahnsinnig und nerdy as fucking fuck nennen. Und angesichts der 300 Pfund Sterling, die das Label pro Exemplar aufrief, erscheint's fast ein bisschen naheliegend. Man kann aber auch sagen: ganz schön geil! Mittlerweile liegt der mittlere Verkaufspreis bei ca. 350 Euro. Dubios: "Hurricane" hatte Anfang des Jahres 2010 sogar schon einen via Einzelhandel und Amazon festgelegten Veröffentlichungstermin für eine Vinyl-Standardversion. Ich weiß das, weil ich bereits vorbestellt hatte - nach einigen Wochen Vertrösterei wurde ich darüber informiert, dass die Veröffentlichung gestoppt sei, woran sich bis heute nichts geändert hat. Ein kleiner Silberstreif am Horizont war die 2011 erschienene "Hurricane Dub"-LP mit wuchtigen und abgedunkelten Dub-Remixes der "Hurricane" Songs in einer 500er Auflage mit umwerfendem Artwork und einer exzellenten Pressung. Hierfür müssen aktuell zwichen 120 und 150 Euro bezahlt werden.
Wahrscheinlichkeit 1/5
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THE BRONX - THE BRONX
Das hier kann man kurz machen: "The Bronx I" ist nicht nur eines der drei besten Punkalben der letzten 20 Jahre, es ist auch bis heute ziemlich uneinholbar das beste Werk dieser kalifornischen Band - und außerdem eine meiner meistgesuchten Platten. Gleichzeitig ist es auch einer der Hauptakteure des großen Rätsels, warum so mancher Titel mit größerer Nachfrage nicht einfach als stinknormaler Reissue wenigstens mal kontinuierlich verfügbar gemacht wird. Im vorliegenden Fall erschien 2017 ein australischer Repress und im vergangenen Jahr ein neuerlicher für die Vereinigten Staaten von diesem irrwitzigen und mit unschlagbaren Hits gespickten Debut ("The Bronx II" und "The Bronx III" jeweils mit identischem Release Plan, by the way). Beide Versionen waren innerhalb von wenigen Tagen ausverkauft und werden seitdem, der Originalpressung von 2003 nicht unähnlich, hoffnungslos überteuert auf Discogs angeboten. Es ist zum verrückt werden. Wenn wir jetzt nochmal 15 Jahre warten müssen, flipp! ich! aus!
Wahrscheinlichkeit 3/5
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MARK HOLLIS - MARK HOLLIS
Ein mysteriöses Werk eines mysteriösen Musikers mit exakt zwei mysteriösen Vinylveröffentlichungen. Der ehemalige Sänger von Talk Talk veröffentlichte 1998 sein beeindruckend intimes Debut - und verschwand danach (fast) vollständig von der Bildfläche. Keine Auftritte, keine Aufnahmen, keine Interviews. Einfach weg. Fünf Jahre später schob Polydor eine Vinylversion nach, die gerüchteweise durch einen Pressfehler durch verunreinigtes Vinyl-Rohmaterial der deutschen Pallas-Presswerke bis auf wenige Exemplare eingestampft wurde und aus diesem Grund sehr selten ist. Das hindert natürlich trotzdem weder die einen, im Mittel zwischen 150 und 200 Euro aufzurufen, noch die anderen daran, das auch tatsächlich zu bezahlen. Im Jahr 2011 schwang sich das New Yorker Badabing Label zu einem neuen Versuch auf und ging damit ebenfalls komplett badadingbaden: die Vinyloberfläche glich jener eines Golfballs, was zu Verzerrungen und lautem Knacksen führte, ganz zu schweigen von einem schwachen Vinylmastering, das der subtilen Dynamik dieser sehr leisen Platte nicht gerecht wurde. Und das war es seitdem. Überflüssig zu erwähnen, dass auch letztgenannte Doofie-Pressung mittlerweile zwischen 70 und 100 Euro kosten kann. Neben der Frage, ob sich künftig nochmal jemand an das Projekt "Repress" wagt, dürfen aber auch Zweifel angemeldet werden, ob "Mark Hollis" wirklich für die Vinylschallplatte gemacht und gedacht ist. Um die Frage abschließend zu beantworten, wäre indes eine fehlerfrei gepresste und perfekt gemasterte Schallplatte notwendig. Ich habe es bereits an anderer Stelle geschrieben, aber ehrlich: es kann doch wirklich nicht so fucking schwer sein?!
Wahrscheinlichkeit 2/5
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THE TEA PARTY - SPLENDOR SOLIS
Die gute Nachricht gleich zu Beginn: der Repress von "Splendor Solis", dem Debut der Tea Party, wird in den kommenden Tagen erscheinen. Die Band scheint daraus überraschenderweise ein kleines Geheimnis zu machen: auf allen offiziellen Kanälen ist kein Sterbenswörtchen über die Veröffentlichung zu finden. Ich selbst kam der Neuigkeit nur durch eine sehr verwinkelte Recherche zu dieser kleinen Serie auf die Schliche - und erhielt heute die Bestätigung von niemand geringerem als Schlagzeuger Jeff Burrows, der meine Anfrage auf seinem Instagram positiv beantwortete. "Splendor Solis" feiert in diesem Jahr den 25.Geburtstag und es scheint, als habe die Truppe, ähnlich dem 20-jährigen Jubiläum des "Transmission" Meisterwerks aus dem Jahr 2017, dem endlich Rechnung getragen. Das Debut rangiert in meiner persönlichen Tea Party Rangliste und angesichts vollendeter Klassiker wie "The Edges Of Twilight", "Triptych" und dem erwähnten "Transmission" zwar lediglich an vierter Stelle, aber ich bin, wie auch die Herzallerliebste, ernsthaft aus dem Häuschen über die Aussicht, dieses kleine Album endlich auf Schallplatte genießen zu können. Es sind neben dem Bandklassiker "Save Me" vor allem die ruhigen Töne, die bis heute Begeisterung auslösen, beispielsweise die romantischen "Midsummer Day" und "Winter Solstice" und die Ballade "In This Time". Ich kann es kaum erwarten.
Einen Schocker hält indes auch diese Veröffentlichung bereit: die bislang aufgerufenen Vorbestellerpreise schwanken zwischen 50 und 60 Euro und liegen damit nochmal deutlich über den schon damals sehr frechen 40 Euro für "Transmission". Mir sind die Gründe dafür nicht bekannt, daher kann ich nur über einen fehlenden deutschen, oder gar europäischen Vertrieb spekulieren. Die Band existiert aus kommerziellen Gesichtspunkten gesehen praktisch nur noch in ihren beiden Hauptmärkten Kanada und Australien, wo sie bisweilen vor mehreren tausend Besuchern auftritt.
Ich hatte einen Funken Hoffnung, Inside Out würden das 20-jährige Jubiläum von "Break" für einen Überraschungscoup nutzen - zumal sie das Enchant-Debut "A Blueprint Of The World" erst kürzlich (und außerdem erstmals) auf Vinyl, sowie ein CD-Boxset mit kompletter Werkschau der kalifornischen Kultprogger veröffentlichten und damit also wieder etwas Bewegung in eine Band brachten, die sich über die letzten 15 Jahre praktisch im Dämmerschlaf befand. Ich habe nicht zuletzt deshalb Hoffnung. Und "Break" ist trotz des Legendenstatus des Debuts ohne Zweifel ihre beste Platte, auch wegen der hörbaren Zäsur in ihrem Sound: Enchant experimentierten ab 1998 mit dezenten, aber wahrnehmbaren Alternative-Riffs und Harmonien und bauten damit um die angenehme Stimme Ted Leonards stimmungsvolle, melancholische und klischeefreie Rocksongs, die ich wirklich gerne auf Schallplatte hören würde. Los, Inside Out. Gebt Euch einen Ruck. Doppel-LP, Gatefold, blaues Vinyl, 300er Auflage - so schwer wird's schon nicht sein. Gebt Euch nur ein bisschen mehr Mühe mit dem Mastering als bei Euren Spock's Beard Reissues und wir werden Freunde.
Wahrscheinlichkeit 3/5
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DOUGHBOYS - CRUSH
Zwischen Punkrock, Pop und Alternativerock hatte es sich diese kanadische Formation bequem gemacht, und mit ihrem Major Label Debut "Crush" konnte sie zumindest im Heimatland einigen Erfolg einheimsen. Für mich war das ein klassischer Fall von familiärer Sozialisation: mein Bruder hatte sich die ersten Alben Ende der 1980er Jahre als teure Importe mit achtwöchiger Lieferzeit aus Kanada bestellt, war also bereits ab dem Debut "Whatever" glühender Fan und nahm mir ihre Musik auf Tape auf. "Crush" platzte 1993 genau in meine Alternativerock-Adoleszenz und wurde zu einer meiner absoluten Lieblingsplatten. Die Doughboys lösten sich 1996 nach einer weiteren, sehr harmlosen Platte auf. Ihrem Label A&M Records erging es nach dem zwischenzeitlichen Verkauf an, Riesenüberraschung: die Universal Music Group ähnlich. Was zur fickenden Hölle wurde eigentlich nicht von der fickenden Universal Music Group gekauft? Anyway, Bestandsaufnahme: Label tot, Band tot, Alternativerock tot, Punk tot. Vinyl lebt. Ergebnis: 4:1 - "da kommt nix mehr" (Antitainment).
Wahrscheinlichkeit 1/5
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KEITH JARRETT - RADIANCE
Ach, ECM. Seit Jahrzehnten Musik und Artworks für die Ewigkeit. Echte Hingabe und Leidenschaft für den Künstler und die Musik. Dazu das passende Selbstverständnis nebst aufgebautem Image: edel, exklusiv, existenziell. Aber nun: reality strikes back! Zunächst verpennt ihr den Vinyl-Hype gleich für mehrere Jahre, und jetzt, nachdem ihr aufgewacht seid und ihr eure Platten offensichtlich von einer Horde intellektueller Biber um südöstlichen Ural pressen lasst, wünscht man sich fast, ihr hättet ein bisschen mehr und öfter von den bunten Schlaftabletten genascht. Daher nun, von mir und für euch, mit schönem Gruß ans Produktmanagement: ihr nehmt die Mastertapes dieses 2002 in Japan aufgenommenem Konzerts und schickt sie an das Pallas-Presswerk, sagt Ihnen, sie sollen die 140 Minuten Musik auf vier 180g schweren Vinylscheiben verteilen und also unterbringen und das Wechselgeld behalten, dann hört ihr euch die Testpressungen über mindestens drei Wochen jeden verschissenen Tag auf höchster Lautstärke an und gebt auch erst dann wirklich grünes Licht, wenn kein einziger Kratzer und Schleifer mehr zu hören ist (ES KANN DOCH NICHT SO FUCKING SCHWER SEIN!), packt die Scheiben in wattierte und bedruckte Inlays, ihr bastelt euch eine schöne, leicht überformatige, dicke und stabile Papp-Box mit diesem wunderbaren Artwork zusammen, legt ein Poster dazu, lasst den durchgeknallten genialen Jarrett noch durchgeknalltere genialere Linernotes schreiben, macht eine Schleife drum und verkauft es an durchgeknatterte Jarrett- und Vinyl-Freaks für 50 Euro. Die 5000er Auflage ist in zweieinhalb Stunden ausverkauft, der Eicher Manfred kann sich zwei, drei neue Studiolautsprecher für 50 Mille das Stück besorgen, und das nerdy Nerdmagazin für Nerds "Mint" kann ihren für die Rubrik "Was fehlt?" ausgedachten Witz "Eine fehlerfreie Vinylpressung von ECM" an Mike Krüger verscherbeln, der euch den Nippel durch die Lasche zieht. Gern geschehen, immer wieder. Macht's halt einfach!
Wahrscheinlichkeit 0/5
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TRIBE AFTER TRIBE - PEARLS BEFORE SWINE
Vor sieben Jahren schrub ich an anderer Stelle in diesem virtuellen Tagebuch: "Wenn man mir die Pistole auf die Brust setzt und mich nach meinem liebsten Tribe After Tribe-Album fragt - ich würde wohl letzten Endes "Pearls Before Swine" antworten." So viele Geschichten und Erinnerungen sind mit dieser Platte, dieser Zeit und diesem Abend im Frankfurter Nachtleben verbunden; einem Abend, an dem ich mich mit meinem damaligen Busenfreund C. in eine andere Galaxie schießen ließ. Während die Vorgängeralben allesamt auf Vinyl erschienen, kam "Pearls Before Swine" leider nur als CD in den Handel. Auch Tribe After Tribe sind mittlerweile Geschichte und trotz ihres exzellenten Rufs vor allem zu Beginn ihrer Karriere längst vergessen: auf dem Plattensammlerportal Discogs besitzen gerade mal 77 Menschen dieses Meisterwerk. Es wird alle höchste Eisenbahn, dass unschlagbare Hymnen wie "Boy", "Fire Dancers" und "Hopeless The Clown" mit einem Vinyl-Release zumindest den hoffnungslos Verrückten zugänglich gemacht werden. Ich möchte offen sprechen, wenn nicht gar schreiben: Es wird kaum mehr besser als auf dieser Platte.
P.S.: Meine umfangreiche Auseinandersetzung mit Tribe After Tribe ist übrigens hier zu finden: Teil 1 // Teil 2
Wahrscheinlichkeit 1/5
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THOUGHT INDUSTRY - BLACK UMBRELLA
Eine der mutigsten, interessantesten und gleichzeitig erfolglosesten Bands der neunziger Jahre kam, abgesehen von einer 7-inch Single, in ihrer Karriere komplett ohne Vinylrelease aus - und das, obwohl das Label Metal Blade hieß, die sich der Bedeutung physischer Tonträger für Metalfans ja bis heute bewusst sind. Aber Labelchef Brian Slagel wusste sowohl von der Unberechenbarkeit dieser fünf Verrückten als auch davon, dass sie im Metal-Stadel, in dem Mutlosigkeit, Herkömmlichkeit und tradiertes Festhalten an Bekanntem das Zepter schwingen, keine Chance haben werden. Umso höher muss man es dem Traditionslabel anrechnen, die Band bis zur Auflösung zu Beginn der 00er Jahre unterstützt zu haben. Alle Alben der Thought Industry sind einzigartige Erlebnisse zwischen Progressive Metal, Thrash, Hardcore, Alternative und Indierock und alle hätten eine Veröffentlichung auf Vinyl verdient, aber mein Gefühlszentrum schreit mir nun seit Tagen "Black Umbrella" ins Gesicht; ihr, vom noch sehr metallischen Debut abgesehen, stilistisch vielleicht kompaktestes, jedoch ganz sicher melancholischstes Werk, das sich von Mitt/Spätneunziger Indierock beeinflusst sieht. Eine Werkschau dieser einzigartigen Band wäre doch mal was, Metal Blade. Ein schönes Boxset vielleicht? Die 100 Pieps auf der Welt, die die Band nicht vergessen haben, freuen sich bestimmt den Arsch ab - inklusive meiner Wenigkeit.
Beeindruckende Momente der Tiefe, der Einkehr und der Schönheit. Auf diesem im Jahr 2006 aufgenommenen Album spielen sich Bassist Charlie Haden und Antonio Forcione an der Gitarre in einen waren Tiefenrausch. Wer mal die Zeit anhalten will, vorzugsweise nachts gegen drei Uhr bei einer Tasse Kaffee und in gedimmten Licht, der hört "Heartplay" - dessen Faszination umso größer wird, hört man den beiden Musikern aufmerksam zu. Das mag gespreizt und prätentiös klingen, aber wie so oft bei Jazz steigt jedenfalls meine beinahe extatische Begeisterung, wenn ich die Wege der Musiker genau verfolge, ihr Zusammenspiel, die Raffinesse, das Einfühlvermögen. In solchen Momenten erscheint plötzlich sehr vieles, was sich im heimischen Plattenschrank vor allem unter dem Moniker "Uff, Rockmusik!" tummelt als fad, eintönig und there I said it: stumpf. Das ist im Grunde kein Problem für mich, schließlich mag ich es auch gerne stumpf, genau genommen bin ich sogar schon stumpf aufgewachsen, "ich weiß, wovon ich rede."(Polt), jedenfalls: der Reichtum von "Heartbeat" wächst exponentiell mit der Aufmerksamkeit, die man ihm entgegenbringt.
Forciones Talent für gleichzeitig in der emotionalen Ansprache üppige wie in der Ausführung sparsam eingesetzte Melodik konnte ich erstmal 1994 im Neuen Theater in Frankfurt-Höchst bewundern, als er mit seinem Partner Marcial Heredia unter dem Programm "Flamencomedy" eine abendfüllende Mischung aus Musik, Artistik und Humor präsentierte.
Teil 1:
Teil 2:
Die an diesem Abend erstandene CD, Forciones "Acoustic Revenge", zählt seither zu den unumstößlichen Grundpfeilern meiner musikalischen Adoleszenz, ganz besonders zeigt der Abschlusstrack "Heart Beat" die ganze Palette seines Könnens. Forcione bearbeitet in seinem Spiel jeden Quadratzentimeter seiner Gitarre, nutzt Boden, Decke, Hals und selbst die Mechanik als perkussives Instrument und lässt gleichzeitig viel Raum für die Entfaltung von Melodien und Stimmungen.
Über Kontrabasslegende Charlie Haden muss man indes nicht mehr so irre viele Worte verlieren. Der 2014 verstorbene Bassist war einer der einflussreichsten Musiker der letzten 50 Jahre, dazu ein kritischer, politischer, aktiver Geist, der nicht zuletzt mit seiner Beteiligung an Ornette Colemans "Free Jazz" und seinem Meilenstein nebst namengebendem Projekt "Liberaton Music Orchestra" stilprägend für folgende Musikergenerationen sein sollte. Außerdem ist mir sein Album "Nocturne" seit Jahren ein treuer Begleiter in warmen Sommernächten.
Acht Kompositionen stehen auf "Heartplay", vier davon stammen aus der Feder des italienischen Gitarristen, drei von Haden, dazu gesellt sich eine Coverversion von Fred Herschs "Child's Song". Hadens bekannte Stilistik, eine Mischung aus Verweigerung und Vereinfachung von Ton und Technik und dabei einer Haltung wie jener von Pianist Thelonious Monk nicht unähnlich, erhält hier eine neue Blaupause. Ganz besonders in Forciones Songs entwickelt Hadens fast schon stoisches Herumschlurfen einen ganz speziellen Puls, eine subtile, unterbewusst wahrnehmbare Rythmik - und Forcione reagiert darauf mit seinem ausgeprägten Gespür für Melodik und Raum. Die Ballade "Snow" und das folgende "Nocturne", die beide gegen Ende so leise und ätherisch werden, dass sie beinahe auseinanderfallen, sind Paradebeispiele für die Ausrichtung von "Heartplay".
Ein weises, introvertiertes, sparsames Album für Nächte im flackernden Kerzenschein. Klischees my ass.
Erschienen auf The Naim Label, 2015.
P.S.: Die Aufnahmen wurden in den Londonder Abbey Road Studios speziell für die Veröffentlichung auf Vinyl gemastert - leider ist die Pressung auf 180g Virgin Vinyl zumindest auf meinem Exemplar nicht frei von Problemen, was sich an durchgängigem, zwar sehr dezentem, aber eben doch wahrnehmbarem Knistern zeigt. Mich persönlich stört das nicht, manchmal gar ganz im Gegenteil, und ich würde die Langspielplatte auch nachwievor uneingeschränkt empfehlen, aber wer sich von der oben stehenden Lobhudelei genötigt fühlt, die LP-Version von "Heartplay" zu erstehen und dabei einen ausgeprägten Reinraum-Soundfimmel hat, ist hiermit leise vorgewarnt.
Das intensivste Stück von "Black Fire! New Spirits!" ist sicherlich "Universal Spiritual Revolt" von Tyrone Washington. Ein zunächst ausgelassen beginnender funky Jazztune, der urplötzlich in einen wilden Orkan mit Glocken, irrem Gebläse und "Freedom!, Freedom!" Geschrei umschlägt und am Ende wieder beschwingt in das Eingangsthema wechselt, als wäre nichts geschehen. "Universal Spiritual Revolt" hat eine unbändige Kraft, laut abgespielt kann man während dieser neun Minuten kaum stillsitzen. Washington nahm Ende 1967 sogar eine Platte für das Blue Note Label auf ("Natural Essence"), spielte Sessions mit Jackie McLean, Woody Shaw und Herbie Hancock - wenngleich die "Train Wreck Sessions" genannten Aufnahmen mit letztgenanntem nie offiziell veröffentlicht wurden - und verließ nach seiner letzten, 1974 erschienenen Platte "Do Right" und der Konvertierung zum Islam die Musikwelt.
Das erwähnte Blue Note-Album Washingtons "Natural Essence" habe ich mir mittlerweile auf Vinyl gegönnt: eine hochinteressante, weil vordergründig klassische Blue Note-Post Bop Jazzplatte der späten 1960er Jahr, die aber in der detaillierteren Auseinandersetzung mit einem ungewöhnlichen Twist in den Kompositionen überrascht. Von den beiden Nachfolgern "Roots" und "Do Right" ist bislang leider nur erstgenannte als wahrscheinlich unautorisierter Repress auf Vinyl wiederveröffentlicht worden, für den Schlusspunkt "Do Right" muss selbst für die 2006 erstmals erschienene CD schon etwas tiefer in die Tasche gegriffen werden. Für die Original-LP sollte man inklusive der Versandkosten nach Deutschland einen dreistelligen Betrag einplanen. Aber vielleicht kommt auch hier bald das Counterfeit.
In der Zwischenzeit ist nun auch immerhin der Counterfeit von "Roots" bei mir eingetroffen und liegt regelmäßig auf dem Plattenteller. Erschienen 1973 auf Perception Records, einem obskuren und mysteriösen Label, das nur für etwa fünf Jahre bestand und praktisch nichts für die Nachwelt hinterließ. DJ Spinna wird im Zuge seiner Perception-Retrospektive (siehe Mixcloud Link weiter unten) wie folgt zitiert:
“There’s no tapes, no multi-tracks or masters. Everything on the compilation for the most part came off of records, so something happened somewhere."
Washington war schon zu Blue Note Zeiten ein kritischer Geist. In den Liner Notes zu "Natural Essence" ist folgender Abschnitt zu finden, wohlgemerkt aus dem Jahr 1968:
“Man has lost himself in technological and materialistic creation. We can offer music as a new currency in a sense, and if man can dig that, then he might be able to save himself from suicidal mass destruction.”
Die Liner Notes von "Roots" sucht man dagegen vergebens. Stattdessen gibt es nur folgende zwei Sätze zu lesen:
“Liner notes on this album are totally unnecessary. Tyrone Washington is incredible.”
Die letzte bekannte Aufnahme Washington ist auf dem Roswell Rudd Album "Blown Bone" zu hören, aufgenommen im März 1976 und erschienen im gleichen Jahr auf Philips Records. Bob Washington, der in einer Kundenrezension (!) auf der Übersee-Seite von Amazon (!!) angibt, Tyrones Bruder zu sein, sagt, dass der Tenorsaxofonist mit den großen Karrierechancen sich 1976 komplett aus der Musikszene zurückzog und seinen Namen in Bialar Mohammed änderte, um seitdem seine religiösen Überzeugungen in Newark, New Jersey zu verbreiten. Weiterführende Informationen zu seinem Verbleib sind rar, um nicht zu sagen: nicht existent.
"Roots" ist auf mehreren Ebenen ein überaus interessantes, zwischen Post Bop, zarten Free Jazz Ausläufern im möglicherweise prophetischen Abräumer "1980", Frühsiebziger-Soul und unausgesprochenen politischen Statements hin und her pendelndes Album. Der Einstieg mit der Coverversion von Stevie Wonders "You Are The Sunshine Of My Life" gerät noch beschwingt. Aber der Schein trügt, denn schon mit dem folgenden "Spiritual Light of the Universe" segelt das Quartett mit dem Bassisten Stafford James, Schlagzeuger Clifford Barconadhii und Pianist Hubert Eaves in abseitigeren Gewässern: melodisch abgedunkelt und ein verzwicktes und ungewöhnliches Arrangement, das schon nach fünf Minuten den Kreis wieder schließt und zum Ende kommt.
Das vielleicht bekannteste Stück Washingtons ist "Submission". Der die A-Seite von "Roots" abschließende Tune wurde mehrfach von Hip Hop Acts gesampelt, unter anderen von Ikone Madlib - damals noch unter seinem Alter Ego Quasimoto - im Jahr 2000 für sein "Return of the Loop Digga" oder auch von A Tribe Called Quest für "Can I Kick It? (Spirit Mix)".
Wer also in die Arbeiten einer der mysteriösesten Musiker der 1960er und 1970er Jahre hineinschnuppern will - ein musikalisch hochinteressantes, nach dem Aufkauf von Liberty entstandenes Blue Note Album mit gleichfalls attraktiver Besetzung ("Natural Essence"), ein vergessenes Album auf einem obskuren Jazz/Rock-Label von 1973 ("Roots") und ein letztes Werk mit künstlerischem Befreiungsschlag ("Do Right") sowie dem selbst gewählten Abtauchen ins religiöse Nirwana - ist mit Tyrone Washington bestens bedient.
Und hier die "Natural Essence"-LP in voller Länge: