23.07.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Gil Scott-Heron - I'm New Here




GIL SCOTT-HERON - I'M NEW HERE


"I'm New Here" ist möglicherweise die wichtigste Platte des vergangenen Jahrzehnts. Mir wurde das in vollem Umfang erst in den letzten Tagen so richtig bewusst, als ich mich nochmal mit dem Werk beschäftigte, um die richtigen Worte für diesen Text zu finden (und im Anschluss des neuerlichen ersten Durchlaufs natürlich dann doch die kürzlich veröffentlichte Jubiläumsausgabe auf pinkem und grünem Vinyl bestellte - einfach, weil ich nie gesagt habe, ich sei nicht quadratverblödet). 

Bis in den Februar des Jahres 2010 war mir der Name Gil Scott-Heron zwar durchaus geläufig, aber ich kann mich nicht daran erinnern, seine Musik jemals bewusst gehört zu haben. In den 1980er und in weiten Teilen der 1990er Jahre wäre ich für seinen Sound sowieso noch komplett juvenil-vernagelt gewesen, und die erste Hälfte der nuller Jahre waren hinsichtlich der musikalischen Ausrichtung noch zu sehr von den Irrungen und Wirrungen meiner Orientierungslosigkeit aus den späten neunziger Jahren geprägt, als ich mit den neuen Entwicklungen in der alten Komfortzone nicht mehr klar kam. Oder deutlicher: als Heavy Metal anfing, so richtig knalldoof zu werden. Erst mit der Entdeckung Coltranes in der zweiten Hälfte der 2000er Jahre wurde vieles wieder klarer. Und just, als ich knietief in Freejazz-Kakophonien von Clifford Thornton und William Parker stand und mich mit entsprechender Literatur immer tiefer in den Kaninchenbau hineinwühlte, holte Produzent und XL Recordings-Gründer Richard Russell den vom Leben gebeutelten Scott-Heron aus der Versenkung. Ich war bereit. 

Russell hatte dieses Projekt schon lange geplant. Er kontaktierte Scott-Heron erstmals, als jener noch wegen Kokainbesitz auf Rikers Island einsaß und erzählte später, sie hätten schon in ihren ersten Briefwechseln auf einer Wellenlänge miteinander kommuniziert. Russells Begeisterung war offenbar ansteckend: der Godfather of Rap lehnte normalerweise die meisten Anfragen ab, für "I'm New Here" sagte er jedoch sofort zu - auch wenn er später davon sprach, das Album sei in erster Linie Russells Werk:

"This is Richard's CD. My only knowledge when I got to the studio was how he seemed to have wanted this for a long time. You're in a position to have somebody do something that they really want to do, and it was not something that would hurt me or damage me—why not? All the dreams you show up in are not your own."


Richard hatte von Beginn an eine Vision für "I'm New Here", die von Scott-Herons Debut "Small Talk at 125th and Lenox" beeinflusst war: minimalistisch, spartanisch, dürr. Auch die kurze Spieldauer von gerade mal 29 Minuten entspringt diesem Gedanken, denn auch, wenn die Sessions mehr aufgenommenes Material hergaben, sollte die Platte in einem hochkonzentrierten Durchgang alles sagen, was es zu sagen gibt. Das ist geglückt. "I'm New Here" ist ein tief grummelndes, nachdenkliches Stück Musik zwischen dystopisch pumpenden Beats und dunkel schimmerndem Blues, in dessen Kern Scott-Herons schlackernder Bariton-Sprechgesang das Leben reflektiert, Bilanz zieht. Und so hart er mit sich selbst ins Gericht geht, so weise sind seine Pointen. 
Because I always feel like running
Not away, because there is no such place
Because if there was I would have found it by now
Because it's easier to run
Easier than staying and finding out you're the only one
Who didn't run
(aus "Running")

And I'm shedding plates like a snake
And it may be crazy, but I'm
The closest thing I have
To a voice of reason 
(aus "I'm New Here")

Ich war von "I'm New Here" ab der ersten Sekunde fasziniert. Alles, was dieser Mann in diesen 29 Minuten sang und sprach klang wichtig. Fürs Leben. Fürs Anerkennen der eigenen Limitiertheit. Fürs Erforschen der Möglichkeiten - weil es hinterm Horizont eben weitergeht, dem eigenen zumal. Wusste schon Udo "Dichter Denker" Lindenberg. Und hinter meinem Horizont ging es tatsächlich weiter, denn "I'm New Here" war die Initialzündung für das Entdecken von Scott-Herons Musik. Die frühen Arbeiten aus den 1970er Jahren mit seinem kongenialen Mitstreiter Brian Jackson. Die drei Soloalben aus den Achtzigern, die bislang nicht neu aufgelegt wurden und kommerziell nie an die früheren Klassiker heranreichten. Das 1994er Album "Spirits", das seinen Ruf als "Godfather of Rap" nur weiter im Boden des zu jener Zeit in voller kommerzieller Blüte stehenden HipHops verwurzelte. 

So wie Iron Maidens "Live After Death" mich zum Metal, "Nevermind" zum Alternative Rock, Bad Religions "Generator" zum Punk, bvdubs "The Art Of Dying Alone" zum Ambient und das SF Jazz Collective zum Jazz brachte, öffnete "I'm New Here" die Türen zum Soul und Funk. All diese Begegnungen mit Musik waren lebensverändernd, grenzenlos wichtig für das eigene Selbstverständnis, zur Selbstidentifikation. Ich sah die Welt jedes Mal mit anderen Augen, wenn sie mir von Steve Harris, Kurt Cobain, Greg Graffin, Brock van Wey, John Coltrane und Gil Scott Heron in neuem Licht gezeigt wurde. 

Vielleicht ging es vielen Menschen mit "I'm New Here" ähnlich. Richard Russell sollte sein Ziel, Scott-Heron auch jungen Menschen näher zu bringen erreichen - was nicht zuletzt mit den aus den Sessions entstanden Remix- und Tributeplatten gelingen sollte, die Jamie XX mit "We're New Here" und kürzlich Schlagzeuger Makaya McCraven mit "We're New Again" produzierten. 



I think, for whatever reason, I feel a bit of duty to introduce him to people because he was never that commercial, crossover figure. What Makaya [McCraven] did and what I asked Jamie [xx] to do earlier is all a part of that reintroducing. Historically, there’s a lot of great artists who get overlooked. It makes me happy that Gil is not one of them and that people are still discovering him. 

Ich habe Gil Scott Heron wegen Richard Russell entdeckt. Der Einfluss auf mein Leben war und ist bis heute allgegenwärtig. Dankbarkeit. 









Erschienen auf XL Recordings, 2010.

18.07.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Propagandhi - Failed States




PROPAGANDHI - FAILED STATES


Es wäre einigermaßen undenkbar, Propagandhi in der Serie über die besten Platten des vergangenen Jahrzehnts nicht zu erwähnen - auch wenn sich das Quartett aus dem kanadischen Winnipeg in zehn Jahren für gerade mal zwei Aufnahmen ins Studio schleppen konnte und die Auswahlmöglichkeiten damit signifikant ausdünnte. Ich habe bereits an anderen Stellen dieses Blogs wortreich dargestellt, wie wichtig diese Band für mich war (und weiterhin ist), und wie viel sie dafür getan hat, dass ich heute genau jener Mensch bin, der ich bin. Die sowohl mir als auch der Band weniger gut gesinnten mögen das in der Endabrechnung zwar nicht unbedingt positiv hervorheben und eher als tragischen Beleg so mancher charakterlicher Unzulänglichkeit interpretieren, aber das kann ich aushalten. Und Propagandhi sowieso. 

"Failed States" aus dem Jahr 2012 kann es zwar, wie auch auch 5 Jahre später erschienene Nachfolger "Victory Lap", nicht ganz mit den beiden Sternstunden "Supporting Caste" und "Potemkin City Limits" aufnehmen, aber erstens: wer kann das schon? Und zweitens wischt die Band auch mit minimal gedrosselter Durchschlagskraft noch immer mit der gesamten Genrekonkurrenz den Boden auf: ein durchtrainiertes Kraftpaket wie das fünfundsechzig Sekunden furios durch Raum und Zeit ballernde "Status Update" hat keine einzige andere Band jemals geschrieben. Wahrscheinlich hat es auch noch keine andere Band jemals auch nur versucht. Und vielleicht können all die "bitter ex-musician cum embedded rock-journalists" und Milchsemmel-Know-It-Alls, die jede achtelsteife Punkrock-Parodie mit dem dampfendem Germknödel-Uffta-Uffta-Beat aus Schnarchhausen an der Brenz sich ja wenigstens dieses eine Mal die gute Minute freinehmen, um die Murmel wieder zu kalibrieren und den ganzen schamlos-kraftlosen Rest auf den großen Haufen Wohlfühlabfall zu werfen, an den sich eine ganze Szene bis zur totalen Besinnungslosigkeit drankuschelt. 




Von der ersten Sekunde des ungewöhnlichen und hinsichtlich der Intensität entfernt gar an New Model Army erinnernden Openers "Note To Self" bis zum letzten Wahnsinnsstakkato des umwerfenden Abschlusstracks "Duplicate Keys Icaro (An Interim Report)" ist "Failed States" ein atemberaubendes, herausforderndes, sehniges und ruppiges Meisterwerk, technisch auf allerhöchstem Niveau, textlich beinahe pathologisch klar, multidimensional und herzzerreißend schmerzhaft. Oder schmerzhaft herzzerreißend?

There is no me. There is no you. There is all. There is no you. There is no me. And that is all. A profound acceptance of an enormous pageantry. A haunting certainty that the unifying principle of this universe is love.

(aus "Duplicate Keys Icaro")


Ein auf ewig hell leuchtendes Vorbild. 




Erschienen auf Epitaph Records, 2012. 

12.07.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Arch/Matheos - Winter Ethereal




ARCH/MATHEOS - WINTER ETHEREAL


Es liegt ein bisschen in der (meiner) Natur der (meiner) Sache, dass jene Alben, die in den letzten nasagenwirmal ein bis zwei  Jahren erschienen sind, in dieser Bestenliste etwas unterrepräsentiert sind. Ich habe die Neigung, Platten erleben zu wollen. Gemeinsame Geschichten schreiben, Erinnerungen entwickeln, Anker setzen, tiefer graben. Das geht fast immer nur mit Zeit. Manchmal dauert es Jahre, bis die Annäherung deutlich geworden ist. Und manchmal geht es andererseits überraschend flott, meistens dann, wenn die Gegebenheiten nicht völlig neu und unbekannt sind. Bei The Sea And Cake beispielsweise ist's einfach, da stehen sämtliche Scheunentore schon seit Jahren offen und der Weg zur großen ganzen Ergebenheit ist nicht mehr so weit. Ähnliches darf ich auch über das aktuellste Album in dieser Liste schreiben, denn der Boden für "Winter Ethereal" ist im Prinzip gleichfalls seit Jahren vorbereitet. 

Und so schrieb ich es bereits vor wenigen Monaten ins Internet hinein: wenn es in den 35 Jahren meiner Leidenschaft für Musik eine Konstante gibt, dann ist es Progressive Rock und Metal, meinetwegen in allen Spielarten, Subgenres und Auswüchsen. Ich bin mir nicht sicher, ob diese Affinität tatsächlich wiederbelebt werden musste, möglicherweise gilt das höchstens und im Besonderen für aktuelle Bands und Platten, aber "Darkness In A Different Light" und vor allem "Theories Of Flight" von Fates Warning waren zweifellos verdammt laute Weckrufe für ein Genre, das ich nicht unbedingt im Verdacht hatte, mich nochmal derart zu begeistern. Vor diesem Hintergrund ist es vermutlich keine riesige Überraschung mehr, "Winter Ethereal" bereits ein gutes Jahr nach der Veröffentlichung schon in einer Bestenliste für das ganze Jahrzehnt zu sehen. Der Apfel fällt eben nicht weit vom Stamm.

Und da schließt sich folgerichtig ein weiterer Kreis für "Winter Ethereal", sind John Arch und Jim Matheos doch die teils ehemaligen (Arch), teils noch aktiven (Matheos) Protagonisten von Fates Warning. Sieben Jahre nach dem Debut "Sympathetic Resonance" haben die beiden Superhelden im Jahr 2019 alle Regler auf Anschlag gedreht: Virtuosität, Kraft, Melodie, Komplexität, Tiefe, Klang - viel mehr ist für einen, der den jüngeren Entwicklungen im Metal mit einiger Skepsis gegenübersteht, kaum mehr vorstellbar. Keine aufgesetzte Härte, kein martialisches Herumprotzen, kein Image-Dachschaden, keine nukleare Atomreaktor-Produktion, stattdessen echte Durchschlagskraft durch überragende technische Fähigkeiten, ein über alle Ebenen gespanntes und bis in die letzte Ritze totalarrangiertes Melodieverständnis und mit John Arch ein Sänger, der die komplette Kontrolle über alle lyrischen Höhen und Tiefen hat und sich wie entfesselt durch diese neun Songs schraubt - unaufhaltsam, uneinholbar, unnachahmlich. Sollten sich von seiner Entscheidung, künftig nicht mehr auf Tournee gehen zu wollen, Indikationen auf das baldige Ende seiner Gesangskarriere ableiten lassen, so hat sich dieser Mann mit "Winter Ethereal" sein eigenes, ultimatives Denkmal gesetzt. Ich wüsste auch ehrlich gesagt nicht, was noch einer solchen Darbietung noch kommen soll. 

Herzklopfen. Feuchte Hände. Freudentränen. Ein echter Meilenstein des Heavy Metal. 




Erschienen auf Metal Blade, 2019. 



04.07.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Segue - Over The Mountains




SEGUE - OVER THE MOUNTAINS


Segues 2013 erschienenes Album "Pacifica" war sowas wie ein Überraschungserfolg im Nischensegment Dub Techno und Ambient; immerhin ließ das Label Silent Season verlauten, man sei von der Geschwindigkeit, in der die 300 gepressten CDs ausverkauft waren, auf dem falschen Fuß erwischt worden. Die kurz darauf folgende Veröffentlichung der LP war ebenfalls in nullkommanix aus allen Katalogen gestrichen und wurde erst fünf Jahre später neu aufgelegt - und Neuauflagen sind für ein Label wie Silent Season alles andere als selbstverständlich. Vor diesem Hintergrund wäre die Nennung von "Pacifica" in meiner "Das Beste des Jahrzehnts"-Aufstellung sicher kein Fehler gewesen. Mal ganz davon abgesehen, dass es ganz zweifellos eine sehr tolle Platte ist.

Es hat allerdings seinen Grund, weshalb ich vor einigen Jahren im Review zu "Over The Mountains" schrieb, das Album müsste "bald in einem Atemzug mit "Music Has The Right To Children", "Amber" und "Substrata" genannt werden": Jordan Sauer wagt sich auf seinem zweiten Album auf Silent Season weiter ins offene Wasser hinaus als zuvor und eröffnet sowohl seinen Sounds als auch seinen Zuhörern völlig neue Perspektiven auf das Leben, die Natur, den Geist und die Seele - und krempelt damit im Prinzip ein ganzes Genre auf links. So wie es eben alle Großen tun. Die klangliche Ästhetik seiner Produktionen, die sehr geschmackvollen und bildhaften Sounds, die nach sattem, im milchigen Morgendunst liegendem und in Nebel gehülltem Grün klingen, nach verschlungenen und unberührten Pfaden durch mystische Wälder, sind völlig einzigartig, erhebend und inspirierend.

Niemand klingt so wie Segue.

Haben wir eigentlich alle schon geschnallt, wie glücklich wir uns mit dieser Musik schätzen können?





Erschienen auf Silent Season, 2016.