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23.06.2024

Sonst noch was, 2023?! - Pablo Bolivar & Nacho Sanchez - Distances




PABLO BOLIVAR & NACHO SANCHEZ - DISTANCES


"Don't let the voices in your head stop you from feeling free." (Rick Rubin)


Achtung, Achtung! Unkontrollierte, unreflektierte Lobhudelei incoming - und ich schäme mich nicht mal. Einfach nur ganz viel Liebe für ein umwerfendes Album. Es gibt im Prinzip auch nichts anderes zu berichten.

Aber so manches geht eben übers Prinzip hinaus und wenn ich jedes Mal nach dreieinhalb holzig formulierten Sätzen den Reviewladen wieder verrammeln würde, hätten wir zwar alle gemeinsam mehr Gehirnzellen übrig, aber ich kann darauf keine Rücksicht nehmen, man mag's mir bittschön nachsehen. Ich bin außerdem der Auffassung, dass "Distances" viel zu wenig Aufmerksamkeit erhält und erhielt und das muss sich ändern. Musikrezensionen sind nun wirklich nicht mehr en vogue, und in Zeiten, in denen die meisten Mailorder schlicht den mitgelieferten Promotext copy/pasten und es irgendwie als redaktionellen Inhalt aussehen lassen, ist es ja auch viel zu anstrengend, die eigenen Gedanken mal Gassi gehen und sie an die nächste Straßenlaterne strullen zu lassen. Und wer soll's denn in Gottes Namen auch lesen, "jetzt bleiben se mal ernst!" (Pispers)

Wo es doch vor allem gehört werden muss. 

Mir ist das alles egal, es muss einfach raus. Dabei wäre mir "Distances" beinahe wieder durch die Lappen gegangen. Pablo und sein großartiges "Seven Villas" Label waren schon einige Male zu Gast in meinem literarisch gefluteten Kellerverlies der ästhetischen Absonderlichkeiten, unvergessen beispielsweise "Details Am Rande" mit seinem Buddy Sensual Physics aka Jörg Schuster - aber obwohl ich in Fällen, in welchen ich aufgrund vorangegangener Verdienste bereits den prunkvollen Loyalitätstempel gebaut und sogar mal feucht durchgewischt habe und also ganz besonders aufmerksam bin, erfuhr ich von "Distances" gar so spät, dass die auf nur 300 Stück limitierte Vinylausgabe in den einschlägigen Mailordern entweder bereits ausverkauft oder aber so unfassbar fucking teuer war. Nun habe ich grundlegend nur eine schwach ausgeprägte Impulskontrolle hinsichtlich neuer Schallplatten - Geld muss weg und das letzte Hemd hat keine Taschen, es stimmt, stop your internal dialogue - aber bei 50 Euro pro Exemplar bekomme ich einen Schlaganfall (Jochbeinbruch,  Nasenbluten). Erst vor wenigen Wochen bekam ich endlich die Gelegenheit, "Distances" mit seinem wunderbaren Coverartwork und dem violett-weiß-marmorierten Doppelvinyl für einen Preis zu ergattern, bei dem ich mich nicht selbst vollkotzen muss. Und damit wir uns richtig verstehen: für die volle Experience braucht's einfach die Schallplatte. 

Verliebt hatte ich mich in diese so introspektive und doch so leb- und bildhafte Musik jedoch schon sehr früh nach dem Erstkontakt über die Nullen und Einsen der digitalen Welt. Der Verbindungsaufbau in den Emo-Maschinenraum erfolgt unmittelbar, weil da so viel Vertrauen aus dieser Musik entspringt. Zumindest dieser Teil funktioniert also auch ohne den ganzen prätentiösen "Vinyl hier, Vinyl da"-Scheißdreck. Kann man mal sehen! 

In Spannungsdreieck von Deep House, Ambient und Dubtechno setzt "Distances" ein ganzes Rudel bekiffter Ausrufezeichen, und es hätten viel, viel mehr Menschen mitbekommen sollen. Die beiden Produzenten Pablo Bolivar und Nacho Sanchez zollen auf ihrer ersten gemeinsam gestalteten LP den beiden großen Fixpunkten Detroit und Berlin Respekt und haben einen expansiven Ballungsraum für die entsprechenden Spielarten erschaffen, der zu gleichen Teilen den bereits erlebten wie auch den kommenden Zeiten Beachtung und Anerkennung schenkt. Ein sich ständig neu konfiguriendes Kaleidoskop aus Klang, Bedeutung, Farben und Emotionen. 

"Distances" liefert mystische Science Fiction-Vibes, zaubert Vernebelung im Deep Space, schleudert Kältedruckwellen und purpur-glühende Lichtfäden in den freien Raum, die sich unter Langzeitbelichtung in der Atmosphäre einbrennen und dort Wegweiser und Monument sind. Ein majestätisch und bedächtig durch die Zeit treibendes Generationenschiff mit Bewusstheit und -sein für den Kontext der frühen Meisterinnen und Meister, und verstandenem Auftrag für das Übermorgen. 

Immer daran erinnern: Akustische Levitation ist möglich.


 


Erschienen auf Seven Villas, 2023. 

23.04.2023

Best Of 2022 ° Platz 7: Pablo Bolivar & Sensual Physics - Details Am Rande




PABLO BOLIVAR & SENSUAL PHYSICS - DETAILS AM RANDE


Das zweite Album aus dem Hause Seven Villas Music in meiner Bestenliste des Jahres 2022 kommt immerhin zur Hälfte vom Chef persönlich. Pablo Bolivar betreibt das Label in der Region Kantabrien an der Nordküste Spaniens und veröffentlicht mit beeindruckender Stilsicherheit elektronische Musik im Spannungsfeld zwischen Deep House, Ambient und Dubtechno - mal schmissiger, mal mehr laid back, aber der Vibe spannt sich über alle Veröffentlichungen von Seven Villas: warm, maritim, organisch, elegisch. 

Eine Beschreibung über Pablos Zusammenarbeit mit Sensual Physics (aka Jörg Schuster; u.a. bekannt als LUFTH und Digitalverein) auf "Details Am Rande" könnte an dieser Stelle bereits in die Zielgerade einbiegen, denn mit "warm, maritim, organisch, elegisch" wäre im Prinzip alles gesagt. Und wenn solche elektronischen Sounds auch Dein mesolimbisches System fröhlich und quietschvergnügt mit Dopamin fluten, könnte die Lektüre ebenfalls hier und jetzt abgebrochen werden, damit der Mailorder Deines Vertrauens mit dem Verpacken beginnen kann, und die Post möglichst schnell zwei Mal klingelt. Manchmal ist es wirklich so einfach. "Details Am Rande" klingt genau so. 

Die Synthie-Melodie-Pads watteweich und seidenfein, die trippigen Dub-Flächen erzeugen Raum und Tiefe und Umspielen die verästelten perkussiven Elemente spielerisch und zärtlich, der Sound ist lückenlos gefüllt mit Sonne und schwüler Hitze. Es riecht nach Orangenblüten aus Valencia und die Brise, die vom Atlantik herüberströmt, befreit Seele, Herz und Geist endgültig von jeder auch nur entfernt gräulich-schimmernden Wolke. Atmosphärisch bewegen wir uns eher in the heat of the night, aber mein über Wochen sorgfältig austariertes Testszenario ergab, dass auch das Hineingleiten in einen neuen Tag mit Morgenlatte und dazu gehörendem -kaffee bedeutend erträglicher, um nicht zu sagen: lustvoller, wird, dreht sich "Details Am Rande" auf dem Plattenteller.

Wer es nicht ganz so gut mit mir meint und außerdem mit eintätowiertem Binärcode durchs Leben geht, also zwischen Nullen und Einsen keinerlei Differenzierung und Abstufung existieren, könnte jetzt meine oftmals geäußerte Abneigung gegenüber als zu glatt und steril empfundener Musik ins Spiel bringen. Der Kniff von "Details Am Rande" liegt aber genau in dieser vermeintlichen Sorgenfalte: diese Musik pulsiert, atmet, tanzt, sie ist verführerisch, sexy und einnehmend. Ihr Substrat ist Expansion. Es ist vielleicht nicht zwingend im Erstkontakt zu begreifen, aber das Album nimmt seit Monaten jeden Lebenswinkel in Beschlag. Die Welt ist ein bisschen besser, wenn "Details Am Rande" im Dämmerlicht seine Kreise zieht. 


Vinyl: die Pressung der Doppel-LP auf schwarzem Vinyl ist fehlerfrei, das wunderbare Cover-Artwork spiegelt die Atmosphäre der gesamten Produktion wider. Leider kein Bandcamp-Downloadcode inklusive, dafür aber bereits direkt vom Label mit 40 Euro (plus Versand aus Spanien) unangenehm - ich bin versucht "unangemessen" zu schreiben - teuer. Andererseits klemmt man sich einfach den nächsten lieblos hingerotzten Universal-Majordreck für 50 Euro und schmeißt die Kohle lieber in Richtung der echten Basis. Das Album gehört auf Vinyl gehört. Klingt nach prätentiösem Scheißdreck aus der Redaktionsstube der MINT, aber ich kann das jetzt auch nicht ändern. Your call!


 



Erschienen auf Seven Villas Music, 2022.