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09.08.2020

Das Beste des (eigenen) Jahrzehnts: Sun Never Sets - The Absurd




SUN NEVER SETS - THE ABSURD


"Ich nehme seit 1998 Platten auf und schreibe seitdem sowohl eigene Texte als auch eigene Musik und es gibt praktisch keine veröffentlichte Song- und Textsammlung, für die ich nicht ohne Zögern einen Atomkrieg anzetteln würde, auf dass dieser selbst ausgedachte Schmonz endlich vaporisiert und also vom Antlitz der Erde getilgt wird."

Bon, so schwer wie der dramatisch anmutende Ausblick zum Ende des letzten Artikels - "Kommt ihr nie drauf!" - war es dann vielleicht doch nicht, denn auch wenn ich versuche, das Ego klein und die Demut groß zu halten und darüber hinaus ein Begriff wie "stolz" weder im Sprachschatz noch Wertesystem eine Rolle spielt, bin ich von den vier mit meiner Beteiligung entstandenen Alben aus dem vergangenen Jahrzehnt mit mindestens zwei über das normale Maß hinaus verbunden. Ich habe auf diesem Blog und anderswo nie allzu großen Wirbel um die eigene Musik gemacht, und weil die zwei verbliebenen Gehirnzellen in meinem Kopf in permanentem Autopilot-Modus gegeneinander kämpfen, stellt sich Herr Dreikommablödvier im stillen Kämmerlein doch immer noch manchmal die Frage, was hätte passieren können, wäre der Wirbel ein anderer, ein größerer gewesen. Dabei ist der Traum von der Karriere als Musiker doch schon seit zwanzig Jahren ausgeträumt. 

Die Chronologie der Ereignisse verlangt den Start mit "The Absurd" von Sun Never Sets, erschienen im Sommer 2011. Die Geschichte dieser Band ist nicht in fünf Sätzen erzählt, und es gibt keinen Grund, es nicht dennoch zu versuchen: ich stieß im September des Jahres 2000 zu der damals noch unter dem Namen Soleilnoir (sic!) operierenden Band, übernahm das Mikrofon und fand mich schon ein halbes Jahr später in den Bazement-Studios von Markus Teske (u.a. Vanden Plas und Charlie Dominici) wieder, um die erste EP "Drown" aufzunehmen. Ein Jahr später wurde es leider sehr turbulent: Ich stieg aus und kehrte erst im Mai 2009 an die alte Wirkungsstätte zurück, während die Band zwischendrin mit Sänger Maggot noch zwei weitere EPs ("Interlude" und "Nucleus") veröffentlichte. Und weil rechte Sackgesichter sich mittlerweile die Begriffshoheit über die "Schwarze Sonne" (Soleil Noir) angeeignet hatten und wir deswegen von übereifrigen Volltrotteln von volltrotteligen Volltrottelbands sogar von Konzerten ausgeschlossen wurden, entschlossen wir uns recht zügig zu einer Namensänderung - Sun Never Sets waren geboren. Unser letztes Konzert spielten wir vor ziemlich genau acht Jahren, im August 2012 in Frankfurt. Offiziell aufgelöst wurde die Band kurioserweise nie, der Engländer würde wohl eher von einem "indefinite hiatus" sprechen. 

Das sind die nüchternen Fakten. Aus emotionaler Sicht stehen meine viereinhalb Jahre als Mitglied dieser Band möglicherweise als die intensivsten Bandjahre im Lebenslauf. Ich lernte Wolfgang, Jörg und Steffi kurz nach meiner ersten Krebsdiagnose und -OP kennen, und Leben und Hirn drehten sich wie Brummkreisel. Ich war Stammgast in den medizinischen Abteilungen der Frankfurter Stadtbibliothek, musste mich gegen empathiebefreite Ärzte verteidigen und mit angsterfüllten Familienmitgliedern verhandeln, dazu war ich immer noch frisch verliebt, lernte jeden Tag soviel Neues, dass ich mich jeden Morgen wie tatsächlich neu geboren fühlte, und dennoch: die Zukunft war ungewiss. Ich begegnete all dem Irrsinn mit, logo: vollen Hosen und auch einem gewissen Hedonismus, der sich in erster Linie in wahren Kreativitäsexplosionen manifestierte. Die ersten Aufnahmen im Winter 2001 verbrachte die Band für eine volle Woche Tag und Nacht gemeinsam im Studio und ich werde die gemeinsamen Abende mit Musik, Diskussionen, Rauchwaren und Pink Floyds "Ummagumma" (natürlich bis heute ihre beste Platte, fight me!) niemals vergessen. 

Ähnliches ereignete sich auch bei den Aufnahmen im Winter 2010. Erneut waren wir bei Markus Teske zu Gast, dieses Mal aber gleich für ganze zwei Wochen. Und weil die neuerliche Kreativitätsexplosion derart ergiebig war, sollte es nun erstmals ein ganzes Album mit neun Songs werden; Songs, die allesamt in den vorangegangenen sechs Monaten geschrieben wurden. Für eine nicht rund um die Uhr professionell arbeitende Band ist das gar nicht so übel.

Als wir endlich mit unserem ersten Album das Studio verließen, war das für mich ehrlicherweise ein sehr bedeutender Moment. Nicht nur, weil es unser Albumdebut war, das wir in den Händen hielten. Auch und ganz besonders, weil ich zum ersten Mal erlebte, was möglich ist, wenn jeder an der Produktion beteiligte die Idee und die Leidenschaft teilt. Die Platte klingt für das Jahr 2010 und für die zwei Wochen Produktionszeit ausnehmend gut und wirkt selbst zehn Jahre später nicht unangenehm gealtert. Und ich muss das nun zugeben: ich höre "The Absurd" immer noch gerne - und das ist sehr ungewöhnlich für mich. Weil ich aufgrund der eingangs erwähnten und persönlich wahrgenommenen Unzulänglichkeiten von Musik mit meiner Beteiligung ansonsten immer schnell in den Krümeln suchen muss: da wackelt die Stimme! Das Wort ist falsch phrasiert! Das Timing stimmt nicht! Und was ist das bitte für 1 Text? Sich mit dem eigenen Versagen zu arrangieren ist nun wahrlich keine einfache Übung. 

Der Scharfrichter in mir hat natürlich auch bei "The Absurd" viel zu tun und ich könnte aus dem Stand zwei Dutzend Momente auf- und beschreiben, die schlicht falsch sind und etwas Besseres verdient hätten. Die Zeit heilt alle Wunden, heißt es - ich kann das nicht bestätigen. Der Mumpitz ist auch 10 Jahre später immer noch sehr real.  

Dennoch tut er meiner Verbundenheit mit dieser Band, dieser Zeit und dieser Platte keinen Abbruch. 

"The Absurd" erschien im Sommer 2011 in einer Auflage von gerade mal 50 CDs im Digipak und ist natürlich komplett untergegangen. Vom Zeitgeist waren wir ganze Universen entfernt (bei Konzerten hörten wir nicht selten "Geiiiil, voll Neunziger!"), im Bandumfeld gab es praktisch keine "Fans" mehr, weil wir bis auf Schlagzeuger Johannes alle schon viel zu alt waren und der Bekanntenkreis, sofern er noch existierte, sich längst mit Frau und Kind im Eigenheim befand, und auch wenn wir pro Jahr sicher um die 25 bis 30 Konzerte mitunter in den kleinsten Käffern und Löchern spielten, tat sich erschütternd wenig. Selbst dann nicht, als wir im Frühjahr des Jahres 2012 im Frankfurt Bett im Vorprogramm einer größeren Alternative Band aus den Staaten und also vor 400 Zuschauern spielten. Hinzu kam sicherlich als der möglicherweise entscheidendste Faktor, dass wir schlicht nicht mehr alles geben wollten und konnten. Einen kleinen fünfstelligen Betrag an eine Deppenagentur überweisen, um vier Wochen durch Europas schimmeligste Clubs zu tingeln? Familie und Job aufs Spiel setzen? Im allerbesten Fall war die Mehrheit von uns, mir inklusive, in dieser Hinsicht indifferent - und das ist dann einfach zu wenig. Eigentlich ist man damit auch gleichzeitig sehr nahe an der Selbst-Sabotage. Und natürlich kann man das machen, aber dann verbietet sich streng genommen auch die Jammerei.  

Trotzdem: hätten ein paar mehr Leute die Möglichkeit gehabt, "The Absurd" überhaupt mal zu hören, wäre vielleicht ein bisschen mehr drin gewesen. Ich bin natürlich komplett voreingenommen. Für mich ist das immer noch eine tolle und ganz persönlich sehr wichtige Platte. 

Mittlerweile ist das Album praktisch nicht mehr digital erhältlich, daher habe ich es auf meinem Soundcloud-Account hochgeladen. Vielleicht wird es ja zehn Jahre später noch von ein paar Menschen entdeckt. Verdient wäre es.


18.07.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Propagandhi - Failed States




PROPAGANDHI - FAILED STATES


Es wäre einigermaßen undenkbar, Propagandhi in der Serie über die besten Platten des vergangenen Jahrzehnts nicht zu erwähnen - auch wenn sich das Quartett aus dem kanadischen Winnipeg in zehn Jahren für gerade mal zwei Aufnahmen ins Studio schleppen konnte und die Auswahlmöglichkeiten damit signifikant ausdünnte. Ich habe bereits an anderen Stellen dieses Blogs wortreich dargestellt, wie wichtig diese Band für mich war (und weiterhin ist), und wie viel sie dafür getan hat, dass ich heute genau jener Mensch bin, der ich bin. Die sowohl mir als auch der Band weniger gut gesinnten mögen das in der Endabrechnung zwar nicht unbedingt positiv hervorheben und eher als tragischen Beleg so mancher charakterlicher Unzulänglichkeit interpretieren, aber das kann ich aushalten. Und Propagandhi sowieso. 

"Failed States" aus dem Jahr 2012 kann es zwar, wie auch auch 5 Jahre später erschienene Nachfolger "Victory Lap", nicht ganz mit den beiden Sternstunden "Supporting Caste" und "Potemkin City Limits" aufnehmen, aber erstens: wer kann das schon? Und zweitens wischt die Band auch mit minimal gedrosselter Durchschlagskraft noch immer mit der gesamten Genrekonkurrenz den Boden auf: ein durchtrainiertes Kraftpaket wie das fünfundsechzig Sekunden furios durch Raum und Zeit ballernde "Status Update" hat keine einzige andere Band jemals geschrieben. Wahrscheinlich hat es auch noch keine andere Band jemals auch nur versucht. Und vielleicht können all die "bitter ex-musician cum embedded rock-journalists" und Milchsemmel-Know-It-Alls, die jede achtelsteife Punkrock-Parodie mit dem dampfendem Germknödel-Uffta-Uffta-Beat aus Schnarchhausen an der Brenz sich ja wenigstens dieses eine Mal die gute Minute freinehmen, um die Murmel wieder zu kalibrieren und den ganzen schamlos-kraftlosen Rest auf den großen Haufen Wohlfühlabfall zu werfen, an den sich eine ganze Szene bis zur totalen Besinnungslosigkeit drankuschelt. 




Von der ersten Sekunde des ungewöhnlichen und hinsichtlich der Intensität entfernt gar an New Model Army erinnernden Openers "Note To Self" bis zum letzten Wahnsinnsstakkato des umwerfenden Abschlusstracks "Duplicate Keys Icaro (An Interim Report)" ist "Failed States" ein atemberaubendes, herausforderndes, sehniges und ruppiges Meisterwerk, technisch auf allerhöchstem Niveau, textlich beinahe pathologisch klar, multidimensional und herzzerreißend schmerzhaft. Oder schmerzhaft herzzerreißend?

There is no me. There is no you. There is all. There is no you. There is no me. And that is all. A profound acceptance of an enormous pageantry. A haunting certainty that the unifying principle of this universe is love.

(aus "Duplicate Keys Icaro")


Ein auf ewig hell leuchtendes Vorbild. 




Erschienen auf Epitaph Records, 2012. 

12.07.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Arch/Matheos - Winter Ethereal




ARCH/MATHEOS - WINTER ETHEREAL


Es liegt ein bisschen in der (meiner) Natur der (meiner) Sache, dass jene Alben, die in den letzten nasagenwirmal ein bis zwei  Jahren erschienen sind, in dieser Bestenliste etwas unterrepräsentiert sind. Ich habe die Neigung, Platten erleben zu wollen. Gemeinsame Geschichten schreiben, Erinnerungen entwickeln, Anker setzen, tiefer graben. Das geht fast immer nur mit Zeit. Manchmal dauert es Jahre, bis die Annäherung deutlich geworden ist. Und manchmal geht es andererseits überraschend flott, meistens dann, wenn die Gegebenheiten nicht völlig neu und unbekannt sind. Bei The Sea And Cake beispielsweise ist's einfach, da stehen sämtliche Scheunentore schon seit Jahren offen und der Weg zur großen ganzen Ergebenheit ist nicht mehr so weit. Ähnliches darf ich auch über das aktuellste Album in dieser Liste schreiben, denn der Boden für "Winter Ethereal" ist im Prinzip gleichfalls seit Jahren vorbereitet. 

Und so schrieb ich es bereits vor wenigen Monaten ins Internet hinein: wenn es in den 35 Jahren meiner Leidenschaft für Musik eine Konstante gibt, dann ist es Progressive Rock und Metal, meinetwegen in allen Spielarten, Subgenres und Auswüchsen. Ich bin mir nicht sicher, ob diese Affinität tatsächlich wiederbelebt werden musste, möglicherweise gilt das höchstens und im Besonderen für aktuelle Bands und Platten, aber "Darkness In A Different Light" und vor allem "Theories Of Flight" von Fates Warning waren zweifellos verdammt laute Weckrufe für ein Genre, das ich nicht unbedingt im Verdacht hatte, mich nochmal derart zu begeistern. Vor diesem Hintergrund ist es vermutlich keine riesige Überraschung mehr, "Winter Ethereal" bereits ein gutes Jahr nach der Veröffentlichung schon in einer Bestenliste für das ganze Jahrzehnt zu sehen. Der Apfel fällt eben nicht weit vom Stamm.

Und da schließt sich folgerichtig ein weiterer Kreis für "Winter Ethereal", sind John Arch und Jim Matheos doch die teils ehemaligen (Arch), teils noch aktiven (Matheos) Protagonisten von Fates Warning. Sieben Jahre nach dem Debut "Sympathetic Resonance" haben die beiden Superhelden im Jahr 2019 alle Regler auf Anschlag gedreht: Virtuosität, Kraft, Melodie, Komplexität, Tiefe, Klang - viel mehr ist für einen, der den jüngeren Entwicklungen im Metal mit einiger Skepsis gegenübersteht, kaum mehr vorstellbar. Keine aufgesetzte Härte, kein martialisches Herumprotzen, kein Image-Dachschaden, keine nukleare Atomreaktor-Produktion, stattdessen echte Durchschlagskraft durch überragende technische Fähigkeiten, ein über alle Ebenen gespanntes und bis in die letzte Ritze totalarrangiertes Melodieverständnis und mit John Arch ein Sänger, der die komplette Kontrolle über alle lyrischen Höhen und Tiefen hat und sich wie entfesselt durch diese neun Songs schraubt - unaufhaltsam, uneinholbar, unnachahmlich. Sollten sich von seiner Entscheidung, künftig nicht mehr auf Tournee gehen zu wollen, Indikationen auf das baldige Ende seiner Gesangskarriere ableiten lassen, so hat sich dieser Mann mit "Winter Ethereal" sein eigenes, ultimatives Denkmal gesetzt. Ich wüsste auch ehrlich gesagt nicht, was noch einer solchen Darbietung noch kommen soll. 

Herzklopfen. Feuchte Hände. Freudentränen. Ein echter Meilenstein des Heavy Metal. 




Erschienen auf Metal Blade, 2019. 



04.07.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Segue - Over The Mountains




SEGUE - OVER THE MOUNTAINS


Segues 2013 erschienenes Album "Pacifica" war sowas wie ein Überraschungserfolg im Nischensegment Dub Techno und Ambient; immerhin ließ das Label Silent Season verlauten, man sei von der Geschwindigkeit, in der die 300 gepressten CDs ausverkauft waren, auf dem falschen Fuß erwischt worden. Die kurz darauf folgende Veröffentlichung der LP war ebenfalls in nullkommanix aus allen Katalogen gestrichen und wurde erst fünf Jahre später neu aufgelegt - und Neuauflagen sind für ein Label wie Silent Season alles andere als selbstverständlich. Vor diesem Hintergrund wäre die Nennung von "Pacifica" in meiner "Das Beste des Jahrzehnts"-Aufstellung sicher kein Fehler gewesen. Mal ganz davon abgesehen, dass es ganz zweifellos eine sehr tolle Platte ist.

Es hat allerdings seinen Grund, weshalb ich vor einigen Jahren im Review zu "Over The Mountains" schrieb, das Album müsste "bald in einem Atemzug mit "Music Has The Right To Children", "Amber" und "Substrata" genannt werden": Jordan Sauer wagt sich auf seinem zweiten Album auf Silent Season weiter ins offene Wasser hinaus als zuvor und eröffnet sowohl seinen Sounds als auch seinen Zuhörern völlig neue Perspektiven auf das Leben, die Natur, den Geist und die Seele - und krempelt damit im Prinzip ein ganzes Genre auf links. So wie es eben alle Großen tun. Die klangliche Ästhetik seiner Produktionen, die sehr geschmackvollen und bildhaften Sounds, die nach sattem, im milchigen Morgendunst liegendem und in Nebel gehülltem Grün klingen, nach verschlungenen und unberührten Pfaden durch mystische Wälder, sind völlig einzigartig, erhebend und inspirierend.

Niemand klingt so wie Segue.

Haben wir eigentlich alle schon geschnallt, wie glücklich wir uns mit dieser Musik schätzen können?





Erschienen auf Silent Season, 2016. 

26.06.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: The Sea And Cake - Any Day




THE SEA AND CAKE - ANY DAY


In den letzten zehn Jahren erschienen gerade mal zwei Alben von The Sea And Cake, und wer sich nicht erst seit gestern auf diesem Blog herumtreibt oder mich gar, Himmel hilf!, persönlich kennt, ahnt, dass frei nach Vicco von Bülow eine Bestenliste ohne The Sea And Cake zwar möglich, aber komplett sinnlos gewesen wäre. Seit 15 Jahre trage ich meine Liebe zu diesem Quartett auf, neben, unter, vor und hinter dem Herzen spazieren und es gibt nur wenige Bands, die mich mit links zu einem furiosen, mit leuchtenden Augen und bebender Stimme vorgetragenen Monolog über Schönheit, Raffinesse, Subtilität, Virtuosität von Musik schubsen können. 

Vielleicht erfuhr meine Wertschätzung mit "Any Day" einen neuen Höhepunkt, denn das ist das Schöne am Älterwerden: man lernt Außergewöhnliches eben doch noch mehr zu schätzen, als wenn Testosteron, Samenstau und generelle juvenile Quadratblödheit im Weg stehen. Fünf Jahre nach dem ebenfalls hervorragenden "Runner" haben sich die dreieinhalb stillen Helden tatsächlich nochmal aufgerafft und ihren unnachahmlichen Sound weiter verfeinern können. Jede noch so diffizile Akzentuierung gelingt mühelos, jedes Break wird sicher und souverän durch alle Stromschnellen hindurch geführt, jede Melodie als Kokon sorgfältig verschnürt und mit großer Selbstverständlichkeit und einem Klaps auf den Hintern in die Freiheit geschickt. Wer ihnen genau auf die Finger und auf die funkelnden Hochenergiesynapsen in den vernetzt arbeitenden Gehirnen und Herzen schaut, wird im Verlauf von "Any Day" kaum ohne spitze Freudenschreie auskommen. 

Nie war dieses Urteil wertvoller und wahrer als heute: Was für ein Erlebnis, diesen absoluten Könnern zuzuhören. Ich lebe für solche Momente. 

The Sea And Cake ist Leben. 




Erschienen auf Thrill Jockey, 2018. 


11.06.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Justin Timberlake - The 20/20 Experience




JUSTIN TIMBERLAKE - THE 20/20 EXPERIENCE


"Unter strengen Maßstäben" (Schäuble) müsste hier eigentlich nur die Videoverlinkung zu Timberlakes Auftritt in der US-amerikanischen Talkshow "Ellen" zu sehen sein, ohne jeden weiteren Kommentar. Um nicht zu sagen: kommentarlos. Nicht nur, dass er das nicht gerade leicht zu singende "Mirrors" bis auf die letzte Nuance perfekt auf die Bühne bringt und der Song ohnehin einer der Höhepunkte auf dem ersten Teil seines "The 20/20 Experience"-Projekts ist - die Performance mit seiner Begleitband The Tennessee Kids ist so atemberaubend groß und mit positiven Power-Vibes geflutet, dass es mir einen Adrenalinschub nach dem anderen durch die müde Hülle meines irgendwie noch immer eher weltlichen Daseins peitscht. Noch dazu, und auch das muss gesagt werden, löst der smarte Timberlake einen leichten Man-Crush bei mir aus. Wie es ein ehemaliger Arbeitskollege einmal ausdrückte:"Flo, im nächsten Leben bin ich eine Frau und habe Fixgehalt." Count me the fuck in! 

Auch über "Mirrors" hinaus ist Teil 1 der "20/20 Experience" immer noch von herausragender Qualität. Ich bleibe zwar bei meiner früheren und außerdem hier geäußerten Einschätzung, das Album komme mit dem ungewöhnlichen Eröffnungsdoppel "Pusher Love Girl" (alleine die Chuzpe, mit diesem achtminütigen Slomo-Feger zwischen klassischen Streicherarrangements, Ketamin-RnB und Future Beats den Startschuss zu geben) und der ersten Single "Suit & Tie" noch etwas schwer in die Gänge, aber dann Jeschäftsfreunde! Aaaaber dann!

Ab "Don't Hold The Wall" brechen alle Dämme. Timberland und Timbaland schütteln federleichte und gleichzeitig mit ordentlich Gravitas verzierte Sieben- bis Achtminüter aus dem Pophimmel, mit all den pompösen Albernheiten und funky Arschgewackel und auf die Knie zwingendes Pathos und Schmetterlinge im Bauch und Marriannengraben-Tiefe mit dreifach-doppelten Böden und gefühlsechtem Blümchensex und JALECKENSIEMICHDOCHAMARSCH: so geil war's seit "Thriller" oder "Lovesexy" nicht mehr. Alles am Ende gekrönt von der ungewöhnlich subtil arrangierten Megaballade "Blue Ocean Floor", die mit all dem unwürdigen Rest aus der Kotzekiste eines schmierigen Pop-Produzenten und dessen fürs ewig krähende Formatradio gezüchteten Gesangsdarstellern den fucking Boden aufwischt. 

"The 20/20 Experience I" ist das beste, anspruchsvollste und ausgefeilteste Album Timberlakes. Und ich will jetzt kein peinliches Geflenne wegen N'Sync und Teenie und Dauerwelle hören. 

Grow a pair. 




Erschienen auf RCA, 2013. 

06.06.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Marillion - FEAR



MARILLION - FEAR

Ich spreche zwar oft davon, aber ich konnte mich bislang noch nicht dazu durchringen, die besten Platten der 90er Jahre auf die virtuelle Schiefertafel zu hämmern (wegen Phlegma, Apathie, Sauerteigbrot, Ficken - Zutreffendes bitte durchstreichen). Wenn ich es allerdings täterätääääte, dann wäre "Afraid Of Sunlight", das 1995er Album dieser britischen Progressive Rock-Institution, ohne auch nur den Hauch eines Zweifels in der Auswahl enthalten - womit sich der dreikommaviernull Dekaden umspannende Blogkreis schließen würde: Marillion wären damit die einzige Band meines musikalischen Universums, die in jedem Jahrzehnt ihrer Platten veröffentlichenden Existenz ein Dauerparker auf dem Treppchen ist. Für die 1980er Jahre bleibt das Debut "Script For A Jester's Tear" ungeschlagener Weltmeister in der Disziplin "Genesis 2.0", für die nuller Jahre ist "Marbles" aus dem Jahr 2004 Klassenbester und im just beendeten Jahrzehnt ist es, logo: "FEAR (Fuck Everyone And Run)" - ein Album, das sicher aufgrund seiner Message als auch wegen seiner bewegenden 75 Minuten Musik zu einem - und man muss das so sagen - Überraschungserfolg wurde. Wer sich die beinahe verschwundene öffentliche Anerkennung und Wahrnehmung dieser Band über die letzten dreißig Jahre hinweg vor Augen und Ohren hält, mit all der Ablehnung, der Ignoranz und Frustration, der darf sich angesichts von einer plötzlich erzielten Top 5-Chartplatzierungen für "FEAR" und einer in diesem Zuge ausverkauften Royal Albert Hall durchaus verwundert Augen und Kleinhirn reiben. Vielleicht muss man für eine Erklärung dieses Phänomens ganz tief in die Klischeeschublade abtauchen und das alte Palaver von "zur richtigen Zeit am richtigen Ort" abspulen. An sich glauben. Durchhalten. Das eigene Ding machen. 

Und sich ab und an mal so ganz dolle am Riemen reißen, über sich hinauswachsen, ein extradickes Inspirationsbrett bohren und Texte schreiben, die einen zum hemmungslosen Heulen bringen.           

So gehört es sich eben auch für die beste Band der Welt. 

"Je öfter ich das sage, desto richtiger wird's." (Harald Schmidt). 


Wer noch mehr Lobhudelei benötigt und außerdem einen der längsten Texte seit Bestehen dieses Blogs lesen möchte, der schaut HIER vorbei. 

Da es aufgrund der (digitalen) Aufteilung von "FEAR" schwierig ist, einen der drei Longtracks ohne Unterbrechungen auf Youtube zu finden, habe ich mich für den zwanzigminütigen Abriss von "The Leavers" vom Livealbum "All One Tonight" entschieden - wer dazu nochmal etwas nachlesen mag, geht HIER entlang.




Erschienen auf EarMusic, 2016.

26.05.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Fates Warning - Theories Of Flight




FATES WARNING - THEORIES OF FLIGHT


Jim Matheos und Ray Alder bliesen mir vor vier Jahren den eigentlich längt eingemottet geglaubten Heavy Metal-Marsch zurück ins Haus, und wo das gesagt ist: nicht nur mir! Die Herzallerliebste, schwerem Metall ansonsten nicht über alle Maßen zugeneigt, zeigte sich ebenfalls beeindruckt und hörte vor allem den zentralen Über-Song dieses Albums "The Light And Shade Of Things" über einen kompletten Sommer hinweg täglich auf heavy rotation - in voller Anerkennung des Kults um die Frühwerke der Band seitens der sowieso sehr loyalen Fanbase, ist dieser zehnminütige Wahnsinnstrack vielleicht das Beste, was jemals aus Herz und Hirn der beiden eingangs erwähnten Männer herausfiel. 

Folgerichtig sind die zwei auch die Stars dieser Platte. Alder mit seiner unnachahmlich dunkel-aufgerauten, gereiften und nie besser klingenden Stimme und Gitarrist/Songwriter/Kompass Jim Matheos, letzterer aus drei Gründen. Erstens: niemand spielt so wie er. Zweitens: niemand schreibt so wie er. Drittens: Niemand produziert so wie er. Wer hat denn bitte jemals eine besser klingende Metalgitarre gehört als in der Single "Seven Stars" und ihrem in voller Breitseite durchgepeitschten offenen D-Akkord? Eben - niemand! 

"Theories Of Flight" ist das beste Fates Warning-Album aller Zeiten.




Erschienen auf Inside Out, 2016.

21.05.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Young Magic - Still Life




YOUNG MAGIC - STILL LIFE


Ich orakelte schon im 2016er Jahresrückblick über die zu erwartende Ausnahmestellung von "Still Life", und siehe da: ich kenne mich manchmal doch besser als gedacht. 

"Es gab in 2016 so einige Platten, die mein Leben vermutlich auch über das immer noch andauernde Superscheißjahr 2016 hinaus prägen werden; in erster Linie, weil ich mit Ihnen eine bestimmte Zeit, auch ganz besonders ein Lebensgefühl verbinden werde. Und einige davon werden vielleicht wichtig für das restliche Leben werden, sei es, weil sie besondere Saiten in mir angeschlagen haben, sei es, weil ich mit ihnen überhaupt nicht rechnete und die Überraschung und Begeisterung nicht zuletzt genau davon getragen wird und wurde. "Still Life" könnte so eine Platte werden."

Das musikalische Tagesbuch von Sängerin Melati Malay und ihrem Partner Isaac Emmanuel, erdacht und ausgetüftelt auf Malays Reisen, unter anderem auch in ihr Heimatland Indonesien auf der Suche nach den Lebensspuren ihres damals just verstorbenen Vaters, oszilliert durch ätherische Zwischenwelten, sediert die Sinne, durchdringt die Trauer und feiert das Leben. 

Und dennoch fehlen mir immer noch die Worte für die Gefühle, die "Still Life" in mir auslöst. Ich konnte es schon vor vier Jahren nicht genau beschreiben und es macht mich auch im Supersupersuperfuckingsuperscheißjahr 2020 ratlos. Irgendetwas in dieser Musik scheint mir so verflucht nahe zu kommen, dass ich mich beinahe davor fürchte, genauer hinzuschauen. 

Vielleicht das persönlichste und möglicherweise deshalb auch rätselhafteste Album des Jahrzehnts. 




Erschienen auf Carpark Records, 2016.

16.05.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Kamasi Washington - The Epic




KAMASI WASHINGTON - THE EPIC


Eine Bestenliste des letzten Jahrzehnts ohne diesen Meilenstein ist kaum vorstellbar. Auch auf die Gefahr hin, ein bisschen zu dick aufzutragen: "The Epic" hat die Welt verändert, praktisch aus dem Nichts. Und jeder, der es hörte, ahnte schon früh, dass die Ohren bitteschön zu spitzen seien. 

Denn etwas Großes war im Gange, man möchte fast zum despektierlichen "Größenwahn" greifen: 180 Minuten Musik verteilt auf drei LPs beziehungsweise CDs, ein Orchester, ein Chor, überlange Songs, für deren Arrangements die Beschreibung "opulent" nichts weiter als ein abgeschmackter Euphemismus ist, ein ikonisches Coverartwork und eine inszenierte Sogwirkung, die in ihrer Begeisterung alles mitriss, was sich nicht in die hinterste Ecke des Jazzclubs zu den anderen Betonköpfen retten konnte, die seit 50 Jahren auf "Bitches Brew" herumquallen und dabei langsam zu Staub zerfallen. 

"The Epic" wurde zum großen Vermittler und zur spirituellen Einigungsstelle und ja, "The Epic" hat die Welt zu einem besseren Ort gemacht. Das mag angesichts eines Irren, der nur 18 Monate später als herumstammelnde Hämorrhoide das Weiße Haus besetzen sollte, etwas schwer zu begreifen sein - aber wer diese Platte gehört hat, wird schon verstehen. 

(Mehr Hintergrundinformationen gibt es in meinen alten Posts HIER und HIER)



Erschienen auf Brainfeeder, 2015.

09.05.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: George Fitzgerald - Fading Love




GEORGE FITZGERALD - FADING LOVE


Der Sommer 2015 mit dieser Platte im Reisegepäck wird unvergessen bleiben. Wir verbrachten einige Tage bei der Familie in Lübeck und fuhren jeden Tag mit dem Auto an einen Hundestrand an der Ostsee (Fabbi liebt den Strand!), und was schon auf der sechsstündigen Anreise offensichtlich war, dass wir also unsere Sommerplatte des Jahres gefunden hatten, wurde auf den täglichen Fahrten nur noch bestätigt: es verging keine Sekunde ohne "Fading Love". 

Bittersüße Melodien, Melancholie im Nicki-Strampler mit einem trockenen Martini in der Hand, Sonnenuntergänge im Sepiafilter. Herausragender Moment ist sicher die Single "Full Circle", die mühelos das gesamte Album tragen kann und bis heute Emotionen und Bilder hervorruft, die gegensätzlicher nicht sein könnten. Im Grunde will man die Welt umarmen und dabei Rotz und Wasser heulen. Und weil das gleichzeitig eine sehr akkurate Beschreibung des eigenen Gemütszustandes am Rande des Wahnsinns ist, finde ich, das trifft's auch im Frühjahr 2020 noch ganz anständig. 





Erschienen auf Double Six, 2015.

01.05.2020

2010 - 2019 - Das Beste Des Jahrzehnts: Melanie De Biasio - No Deal




MELANIE DE BIASIO - NO DEAL


Eine DER Entdeckungen des vergangenen Jahrzehnts, und es ist vor allem dieses umwerfende Debut der belgischen Sängerin, das mir über Gebühr den Kopf verdrehte. 

"No Deal" ist nokturne Erotik zwischen Chansons und Jazz, selbstbewusst und lasziv, zu gleichen Teilen stark und zerbrechlich. Ein heruntergedimmtes, tiefrot pulsierendes Glühen in einer vernebelten Nacht, in der die Adern der Großstadt zu schlafen scheinen - und doch: im Untergrund brodelt es, der Puls ist erhöht, die durch die Dunkelheit treibenden Gestalten so anziehend wie abstoßend. Das Spiel mit dem Verbotenen, dem Gefährlichen, das Zögern und das Dehnen, die bittersüße Versuchung ziehen sich durch jede Sekunde von "No Deal", bis sich die daraus geformte ambivalente Spannung im Abschlusstrack "With All My Love" langsam entlädt - ein Stück, das auch sechs Jahre später nichts von der betörenden Intensität verloren hat. 

Die minutenlang schwingende Erlösung zum Schluss war zweifellos einer der eindrücklichsten Momente des letzten Jahrzehnts.





Erschienen auf Play It Again Sam, 2014.

26.04.2020

2010 - 2019 - Das Beste Des Jahrzehnts: Electric Wire Hustle - Love Can Prevail




ELECTRIC WIRE HUSTLE - LOVE CAN PREVAIL


Möglicherweise ist der Sound dieses Produzenten-Duos aus Neuseeland zu speziell und zu anspruchsvoll für den Mainstream - ich habe ansonsten keine Erklärung dafür, warum ganz besonders dieses Album so dermaßen unter jedem Radar blieb. 

Seit ihrem im Untergrund gefeierten Debut aus dem Jahr 2010 mit prominenten Fürsprechern wie beispielsweise Gilles Peterson, warte ich eigentlich auf den ganz großen Durchbruch für Electric Wire Hustle - stattdessen ist es nach ihrem letzten Album "The 13th Sky" beunruhigend leise geworden. "Love Can Prevail" ist ein Geniestreich: die Mischung aus Soul, Broken Beats, Jazz und Electronica ist völlig einzigartig, Songs wie "Loveless", "Light Goes A Long Way" oder mein Favorit auf Lebenszeit "Blackwater" oszillieren zwischen visionärem Sounddesign und Pop-Appeal, und das Video zur Single "By & Bye" ist in der künstlerischen Eleganz in Verbindung mit einem rastlosem, nie so recht ankommen wollenden Arrangement das Beste, was in den letzten zehn Jahren zu Klang gedreht wurde. 

Thinking Man's Urban Soul Party.





Erschienen auf Somethink Sounds, Okayplayer Records, 2014.


19.04.2020

2010 - 2019 - Das Beste Des Jahrzehnts: Zara McFarlane - If You Knew Her




ZARA McFARLANE - IF YOU KNEW HER


Urlaube waren dank unseres Haustierzoos rar in der letzten Dekade. Als es uns 2017 doch mal in die Ferne trieb, genauer gesagt zu einem Herbsturlaub an die stürmische Nordsee, machten wir zu später Stunde Gebrauch vom im Strandhaus befindlichen Kamin, öffneten eine Flasche Rotwein und versuchten, die sehr volatil arbeitende Heizung mit Decken und aneinandergekuschelten Körpern zu ignorieren. Es liest sich wie billigstes Klischee, aber der Chronist in mir verlangt nach Akkuratesse. 

Jedenfalls: wir hörten Zara McFarlanes "If You Knew Her" bis in die frühen Morgenstunden und es wurde einer jener Momente, in denen aus einer sehr, sehr guten Platte eine wird, die man künftig nur selten auflegen mag, aus Angst, diesem magischen Moment etwas von seiner überwältigenden Romantik zu nehmen. 

Der unten verlinkte Hit "Open Heart" darf als Blaupause für eine Platte gelten, die randvoll mit so subtil wie selbstbewusst inszeniertem Souljazz gepackt ist - urban und nokturn, zerbrechlich und mit einer nur selten gehörten Dringlichkeit. 

Last Exit Olympus.




Erschienen auf Brownswood Recordings, 2013/2014.

17.04.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: INC - No World




INC - NO WORLD


Wenn der ganze Misthaufen um uns herum in nasagenwirmal: 20 Jahren wirklich noch steht, im Sinne von fröhlich vor sich hindampft wie Jockel Fischer in der Sauna oder in der Kantine von Siemens, 's eh schon alles scheißegal, dann wird es Menschen geben, die "No World" als vergessene Perle, als unterschätztes und unbekanntes Meisterwerk bezeichnen - darauf verwette ich ein Maxi-Eiweißshake "Straciatella" mit aufgeschäumten Büffelsperma. 

Denn auch wenn das Bruder-Duo aus Kalifornien es irgendwie geschafft hat, sich in den Soundtrack des Videospiels Grand Theft Auto reinzuschummeln und die Gamer den Song "The Place" auf fast eine Million Views auf Youtube geschoben haben, ist ihr sedierter Slomo-R&B unter wirklich jedem Mainstream-Radar geblieben. Bon, die beiden sehr schüchtern wirkenden und sich fast schon schmerzhaft natürlich gebenden Jungs sind vielleicht auch nicht gerade der feuchte Traum eines Marketingprofis. Immerhin war "No World" für einen der etwas skurrileren Beiträge auf diesem Blog verantwortlich. Ich weiß nicht genau, was mich damals geritten hat und ich sage auch nicht, dass selbst ich alles davon verstanden habe, aber unterhaltsam ist's schon. Unterhaltsam oder verstörend - manchmal sind die Grenzen ja fließend.  

Ihre Musik ist auch sieben Jahre nach der Veröffentlichung von "No World" immer noch einzigartig, stimmungsvoll und unwiderstehlich sexy. Eine Platte wie Kuschelsex auf einer Familienpackung Pilzen. 





Erschienen auf 4AD, 2013.

14.04.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Lav & Purl - A State Of Becoming


























LAV & PURL - A STATE OF BECOMING


The Gesamtkunstwerk of the Jahrzehnt. Idee, Ansatz, Musik, Ästhetik, Klang, Design aus einem Guss.

Das ist die Trumpfkarte von "A State Of Becoming". Wehrt Angriffe ab, macht unverletzbar, nimmt sich in jedem Bonuslevel die Kiste Gold am Ende des Regenbogens und verliert sich mit dem ehemals darüber wachenden Kobold Arm in Arm in den reflektierenden Traumwelten aus Wasser und Licht. Um sie herum: singende Vögel, raschelndes Laub, brausendes Meer, mächtige Mammutbäume, wie von Frau Jesus persönlich kunstvoll hingetupfte Nebelbänke, Regentropfen auf nasser Haut, Sonnenstrahlen, warmer Sand, kühles blau und umarmendes sepia.

Denn dass sowohl Christopher Landin (Lav), als auch Ludvig Cimbrelius (Purl) und Ryan Griffin (A Strangely Isolated Place) in den vergangenen zehn Jahren mehr als nur ein Mal ein beeindruckendes Zeugnis ihrer Kreativität und Kunstfertigkeit abgelegt haben, steht außer Frage. Gerade Purl war auf diesem virtuellen Audio-Tagebuch schon mehrfach zu Gast, nicht selten im Rahmen meiner Jahreslisten - und ebenfalls nicht selten unter den ersten drei Plätzen. Nicht zu vergessen, das inspirierende Abum "Awareness" von Lav. Und das in Kalifornien ansässige Label hat es mir ebenfalls nicht erst seit gestern angetan - falls es einen Beweis dafür braucht, here we go:





Und so war es dann auch auf den ersten Blick keine leichte Entscheidung, "A State Of Becoming" auszuwählen. Was ist mit Purls "Stillpoint"? Was ist mit all den tollen Alben, die via ASIP erschienen? Markus Guentners "Theia" oder dem visionären "Never Forget Us" von Earth House Hold? Und dann legten die drei Herren Landin, Cimbrelius und Griffin ihren Trumpf auf den Tisch: Dieses Artwork (von Noah MacDonald)! Das Innere des Gatefolds, an dem man sich gar nicht satt sehen kann! Die in altrosa gehaltenen Vinylscheiben. Die haargenau darauf abgestimmte und so subtil und feingliedrig inszenierte Musik, ihre Bilder, ihre Geschichten.





























Für mich war und ist "A State Of Becoming" aus zwei Gründen lebensverändernd. Erstens erkannte ich so klar wie wohl nie zuvor, was möglich ist, wenn jeder Bestandteil einer Produktion durchdacht und aufeinander abgestimmt ist und bis in tiefste Sphären den Kern eines Werks aufspürt und ihn an der Oberfläche in allen Facetten spiegeln kann. Formvollendet! Zweitens verändert sich die Wahrnehmung meiner Realität, wann immer die Musik auf mein Herz trifft. Der Tag verändert sich. Das Licht verändert sich, es wird weicher, milchiger. Und es scheint, als entfalten sich die Wahrheiten dieser Welt langsam im Sonnenaufgang.

Schicht für Schicht mehr Erkenntnis, mehr Hoffnung, mehr Verständnis, mehr Liebe.





Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2017. 

10.04.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Qluster - Antworten




QLUSTER - ANTWORTEN


Ein Album für gewisse Stunden. Für Zeit und Raum. Für Dunkelheit. Für Stille. Für Liebe. Für Einkehr. Für Inspiration. Für Kraft. Für Trauer. Für Trost. Für Selbstgestricktes. Für Gebäck. 

Was in dieser Nacht auf der Bühne der Berliner Philharmonie zwischen Hans-Joachim Roedelius und Onnen Bock geschah, das spirituelle Fluten von Synapsen mit Energie, Verständnis und Vertrauen, wird wohl auf ewig ohne eine angemessene Erklärung auskommen müssen. Dass wir diesem gewaltigen Naturschauspiel trotzdem beiwohnen dürfen, und zwar immer wieder aufs Neue, dass wir uns immer wieder in der Tiefe jener Nacht verlieren dürfen, ist ein großes Geschenk. Kein berühmter Name, kein Marketinggekröse und aus der Ferne betrachtet eigentlich ein eher kleines, unscheinbares Werk - bis zu jenem Moment, in dem sich die Nadel auf diese Platte herabsenkt, die erste Musikrille erreicht und mit jeder weiteren Sekunde die Kinnlade ein Stückchen weiter nach unten kracht. 

Aktives Zuhören scheint in Zeiten  von Dschingdarassabumm-Streaming und dem ubiquitären Profit-Geflacker von Weltkonzernen nicht mehr über Gebühr en vogue zu sein, und ich möchte auch nicht der hinterletzte pretentious prick sein, der fürs Ressort des Kulturpessimismus' den wöchentlichen Leitartikel schreibt, aber for fuck's sake: hört dieser Platte zu! 




Erschienen auf Bureau B, 2012.


04.04.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Oddisee - People Hear What They See




ODDISEE - PEOPLE HEAR WHAT THEY SEE


Urban wie ein Solo-Sonntagsbrunch im Hamburger Neustadt-Kiez mit frisch gedruckter Wochenzeitung, intellektuell wie ein tiefes, reflektiertes Gespräch mit einem guten Freund. Ein bisschen Philosophie über guten Kaffee und die sozialen Verwerfungen in den USA, eine Idee über Tanzen und Realitätsflucht, Jazz und Soul. 

Unter der Conscious-Pudelmütze im Arbeitszimmer irgendwo in Brooklyn steckt ein Einzelgänger, ein mutiger, smarter, offener Geist, auf der Bühne steht und derwischt hingegen ein Teamplayer, der mit seiner Begleitband Good Compny jeden Laden in die Knie glühen kann. Ich durfte das Spektakel zwei Mal erleben, und vor allem das Konzert im leider eher unzulänglich besuchten Bett zu Frankfurt im November 2013 wird mir mit seinen positiv geladenen Power-Vibes zwischen klassischem Hip Hop, Soul, RnB und Jazz wohl auf ewig in Erinnerung bleiben. Sicherlich eines der besten Gigs, die ich im vergangenen Jahrzehnt gesehen habe. 

Wer es mit eigenen Augen und Ohren erleben will, klickt das folgende Video vom Into The Great Wide Open Festivals aus dem Jahr 2015 an und hält schon mal den Sack für die Glücksgefühle weit auf):



"People Hear What They See" war möglicherweise Oddisees Durchbruch im Hip Hop Underground - und auch wenn die größeren Hits wie "That's Love" oder "Things" auf den späteren, und darüber hinaus ebenfalls brillianten Alben "The Iceberg" und "The Good Fight" erschienen, ist das 2012 erschienene Soloalbum des (ex-)DC-Mannes nicht nur wegen der umwerfend aussehenden Vinylpressung der Klassiker seiner bisherigen Diskografie. Und es ist für mich bis heute ein Rätsel, wie dieser ultradicke und alles niederpumpende Bass auf "People Hear What They See" die Nadel nicht dazu bringt, nach zwei Sekunden aus der Rille zu flumpfen. 

"Hip Hop never died. It just went underground." 




Erschienen auf Mello Music Group, 2012.

31.03.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Fela Kuti Vs. De La Soul - Fela Soul




Fela Kuti Vs. De La Soul - Fela Soul  


Manchmal hat selbst Herr Blödkommatrübetassenull einen ganz guten Riecher: diesen Mashup aus Fela Kuti-Samples und De La Soul-Raps gab es 2012 lediglich als Download über Amerigo Gazaways Bandcamp-Seite, und als wenig später die Erstpressung des Bootlegs bei meinem Lieblingsmailorder auf die Verkaufsliste gesetzt wurde, in schwarzer Blankohülle, ohne Coverartwork oder gar aufgeklebten Titel, konnte ich unmöglich widerstehen. 

Mittlerweile hat "Fela Soul" einen derartigen Kultstatus im Untergrund erreicht, dass es regelmäßigen Nachschub mit einer nun hübsch aufgemachten, wenngleich angeblich immer noch mindestens halblegalen Vinylversion (und einer zusätzlichen Tape-Edition!) gibt, die sich auch immer noch hervorragend verkauft. Und das mit Recht, denn jede Jubelarie, die sich jeder coole Hipster über diese 33 Minuten ans dürre H&M-Hütchen steckt, ist wahr. "Fela Soul" ist aus meinem Leben nicht mehr wegzudenken und ist eine jener Platten, die ich immer (IMMER!) in greifbarer Nähe habe - und das in jedem vorstellbaren und passenden Format.




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BONUS TRACKS

Dass Amerigo nach diesem Meisterwerk noch weitere Mashups veröffentlichte, ist Lesern dieses Blogs natürlich geläufig. Zwei Alben davon sind absolutes Pflichtprogramm, und daran geht auch einfach kein Weg vorbei. Sorry, not sorry.


Erstens: A Tribe Called Quest & The Pharcyde - Bizarre Tribe

  


Zweitens: Yasiin Bey & Marvin Gaye - Yasiin Gaye




Ich verfahre wie immer mit der "Linke Reihe anstellen, jeder nur ein Kreuz"-Regel, daher ist nur Fela Soul in diese Liste gerutscht. Die beiden zusätzlich genannten sind, Achtung, ich sag's nochmal: absolutes Pflichtprogramm.

28.03.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Brock Van Wey - Home





BROCK VAN WEY - HOME


Hier hätte zunächst das Album stehen sollen, das meinen Einstieg in die Welt Brock van Weys markierte und die Stimmung des vergangenen Jahrzehnts im Erleben meiner Realität, der musikalischen zumal, so stark prägen sollte, wie sonst nichts anderes. "The Art Of Dying Alone", unter seinem hauptsächlich verwendeten Alias bvdub erschienen, verdrehte mir Herz und Kopf gleichermaßen und war dafür verantwortlich, in den kommenden knapp neun Jahren nicht weniger als 30 (!) Titel des Kaliforniers käuflich zu erwerben. 

Die Wahl auf das 2011 erschienene Album wäre also eine leichte gewesen. Weil leicht aber auch ziemlich langweilig ist, entschied ich mich für das unter seinem bürgerlichen Namen erschienene Mammutwerk "Home" und zitiere den Mann, der die Ehre hatte, diesen über 150 Minuten andauernden, mich förmlich gegen die Wand drückenden Emotionsorkan zu mastern. 

Liebe Freunde, Stephen Hitchell (Echospace): 

"The best work I've ever heard from Brock. This was the hardest mastering job I've ever done, it took months and months, I had tears in my eyes through the entire process, the emotion felt here is unlike anything I've heard before. If this doesn't capture the heart and souls of people, well, I don't know what will." 

Und was Hitchell hier angestellt hat, ist in der Bewertung von Home nicht zu vernachlässigen; "Home" als ausufernd zu bezeichnen, wäre eine oder hundert Nummern zu klein, und das liegt nicht nur an der Epik und Dramatik, die einem Brock van Wey sowieso schon aus jeder Pore kommen. Hitchell hat vor allem in den monumental inszenierten und manchmal über 15 Minuten durch Seele und Geist stürmenden Höhepunkten der Tracks wirklich alles aufgedreht, was es aufzudrehen gab. 

Mehr Weite und Drang war nie. 

Mehr Katharsis, Reinigung, Bewusstheit und Heilung war nie. 




Erschienen auf Echospace, 2014.