23.11.2008

Zeitenwende



Dass das fünfte Album Donald Byrds als Bandleader bis heute als eine seiner besten Arbeiten gilt, verdankt "Free Form" drei fundamentalen Aspekten. Erstens: hier arbeitete das ehemalige Mitglied von Art Blakeys The Jazz Messengers mit dem damals noch jungen Herbie Hancock zusammen, und war damit einer der ersten etablierten Musiker, der den Pianisten in sein Line-Up integrierte. Zweitens: aus dem "Free Form"-Zusammentreffen des in früheren Jahren ebenfalls den Jazz Messengers zugehörigen Saxofonisten Wayne Shorter mit ebenjenem Hancock, entwickelte sich später nicht nur eine dicke Freundschaft zwischen den beiden Musikern, sondern Mitte/Ende der sechziger Jahre die gemeinsame Mitgliedschaft in der allenthalben als beste Inkarnation der Miles Davis Band bezeichneten Truppe um den Startrompeter. Und drittens: der Titeltrack.

Dabei ist "Free Form" aus meiner Sicht musikalisch und als Album gesehen im Grunde lediglich Blue Note Standardprogramm. Byrd begann sich ganz leicht in Richtung des zu jener Zeit langsam in Schwung kommenden modalen Jazz zu entwickeln, war aber über weite Strecken noch tief im Hard Bop verwurzelt. Nach dem gospel-beeinflussten Opener "Pentecostal Feelin'", das insbesondere durch das swingende Drumming von Billy Higgins seinen Charme erhält, und wie eine Coverversion eines Lee Morgan-Hits erscheint, der guten Hancock-Ballade "Night Flower" und dem nicht besonders beeindruckenden "Nai Nai", setzt "Free Form" mit "French Spice" ein erstes ernsthaftes Ausrufezeichen. Das Stück, von Byrd ursprünglich für eine Gruppe Revuetänzerinnen aus Chigaco geschrieben, nimmt nach dem einleitenden Thema speziell durch Shorters lyrisches Solospiel an Fahrt auf und bleibt über die gesamte Länge von acht Minuten fesselnd und sehr variantenreich. "French Spice" ist somit der Anheizer für den Höhepunkt der Platte: "Free Form" ist untrügliches Zeichen für Byrds Experimentierwillen, für seinen ständig fließenenden "Train Of Thoughts"-Gedanken. Hancock wird folgendermaßen zitiert:"His (Byrds) mind is too quick and his curiosity too active for him to get caught in any single groove.". Schon der Einstieg mit einem Basslauf von Butch Warren, den eine Alternativeband wie Tool 35 Jahre später auf einem ihrer Alben hätte verwenden können, lässt die Synapsen seilspringen. "Free Form" ist indes kein Free Jazz; es klingt verschoben, aus den Angeln gehoben, windschief. Die Erklärung dafür liefert der Trompeter selbst:"The tune has no relation to the tempo. I mean that nobody played in the tempo Billy maintains, and we didn't even use it to bring in the melody. Billys (Higgins) work is just there as a percussive factor, but it's not present as a mark of the time. There is no time in the usual sense, so far as the soloists are concerned." Was eine echte Herausforderung für die Musiker darstellt, schenkt dem Hörer zehn Minuten an großartiger, intensiver und freier Jazzimprovisation.

"Free Form" von Donald Byrd ist im Jahre 1961 auf Blue Note Records erschienen.




15.11.2008

Die Mitte Bin Ich




Wenn sich das Wohnzimmerlicht von alleine dimmt, die gehäkelte Tischdecke von Mutti die Duftkerze anschwitzt, und der Hund im Steppdeckenbademantel gigolohaft am Cuba Libre nagt, dann spricht der Musiklaberer von gestern morgen vom Begriff des "Autorentechno". Nicht ganz so lieb gemeint darf man es auch "Wohnzimmertralalala" nennen, oder Couchfunk (sprich: Kautschfank). Auf einem fernen Planeten Erde läuft dann Trentemöllers Schnarchsack "The Last Resort" auf Junge Union-Arschmassagenparties im Hintergrund, und "Nina, 22" überlegt angestrengt, wie man mit "22"(Spiegel) schon derart infernalisch "vernagelt" (G.Polt) sein kann.

James Holdens Soundtrack zur Party der Vollochsen setzt sich in die Beobachterposition clever in die hinterste Reihe, denn da hat er praktisch Narrenfreiheit und muss seine Hände auch nicht auf die Bettdecke legen. Da kann er mit Melodien spielen, mit Noise, mit Ambient, mit einem gefühlten Spritzer Kautschfunk, und er bleibt gleichzeitig Freak.

Wenn hier weder der Club, noch die heimische Toilette gefragt wird, sich der Flaschenhals gleich mehrfach windet, und ich nicht mehr wirklich auseinanderhalten kann, ob ich den hier frisierten Technopops insgesamt eher so geil oder vielleicht doch eher so CDU finde, dann rotiert's im Gebälk. Ehrlich, das hat schon alles die Ästhetik von nutellaverschmierten Effektreglern, von Earl Grey-Zahnbelag und Pipi im Bademantel. Allein letzteres wäre Grund genug, die Platte in Frischkäse zu tauchen und herzhaft zu zu beißen; der hüpfende Strich ist indes: Holden will mit dem Kram niemandem gefallen, dem Nutella im Bademantel gefällt. Der macht das nicht, um den Adam Green-Spacken den Ohrensessel zu lackieren. Und das Schöne ist: man hört's auch noch! Ich kann es zugegebenermaßen nicht zu oft hören, weil die Idiotenrallye genauso herausfordernd/anstrengend wie einlullend/nussplibratzig ist, und das ewige Hin- und Hergereiße macht mich total wuschig.

Insgesamt Musik zum Headbangen und Biertrinken!


"The Idiots Are Winning" ist im Jahre 2006 auf Border Community Records erschienen.


...und hat außerdem ein total schönes Coverartwork von Gregory Dourde.


09.11.2008

Haunted By Time, My Enemy



ENCHANT - BREAK


Ich habe neulich übrigens alle meine Dream Theater-Platten verkauft. Okay, alle bis auf die ersten drei Scheiben. Nicht, dass ich auf die Idee käme, sie mir künftig nochmal an zu hören, aber irgendwie halten mich die Erinnerungen an diese Musik und an die Zeit, in der sie entstanden ist doch fester im Griff, als ich es mir selbst eingestehen möchte.

Seltsam, dass mich meine seit locker 8 Jahren eigentlich ad acta gelegte Progressive Rock-Phase jeden Herbst auf's Neue einholt, und ich mich durch diese Mittneunziger-Neo-Prog-Soße aus dem Hause Inside Out hören muss. Dieses Jahr hat es mich mich mit den US-Amerikanern von Enchant gepackt; ihr viertes Album "Break" ließ mich schon bei dessen Erstveröffentlichung 1998 durchaus geplättet zurück. In den folgenden Jahren verlor ich die Band aber völlig aus den Augen, und ich konnte mich nur noch an diesen überirdischen Song "My Enemy" erinnern, der vor zehn Jahren fester Bestandteil eines jeden Mixtapes für das Auto war.

Durch einen Zufall hörte ich vor wenigen Wochen wieder einige Songs aus der Platte und ich war umgehend wieder angefixt, als wäre die Zeit stehen geblieben. Tatsächlich: nach neuerlicher intensiver Beschäftigung mit "Break" bleibt mir nichts anderes übrig, als das große "Weltklasse!"-Schild heraus zu holen. Zumindest, wenn wir über die erste Albumhälfte sprechen, auch wenn die zweite Hälfte nur Nuancen schwächer ist. Ich weiß allerdings auch heute noch nicht genau, was es ist, was ausgerechnet diese Platte so besonders macht. Ist es die gemütliche Wärme, die wohlige Melancholie, der Spalt zwischen sehr harmonischen Momenten einerseits und härteren, manchmal gar alternative-rockigen Gitarrenriffs andererseits, die stimmungsvolle und ruhige Produktion, der strahlende und überaus angenehme Gesang von Ted Leonard, der erfreulicherweise ohne das sonst typische Prog-Quieken auskommt, oder sind es die großartigen, melodisch vielschichtigen Kompositionen, die mit großer Leichtigkeit auf den Boden gebracht wurden?

Alles und nichts von alledem. Enchant kommen schlicht ohne schmockige Mucker-Eiterpickel aus und konzentrieren sich stattdessen auf weitgehend kitsch- und klischeefreie, dafür überraschend tiefsinnige Rockmusik, die weder eine aufgeblasene Muskelschau, noch einen übertriebenen Anspruch benötigt. Eine ganz, ganz feine Platte mit überragenden Songs.





Erschienen auf Inside Out Records, 1998.