Eine jener Platten, für die man traurig darüber ist, nicht mehr in seinen Zwanzigern zu sein. Als ich im herbstigen Teil des Jahres 2004 zum ersten Mal "You Forgot It In People" hörte, hatte es signifikanten Einfluss auf mein Lebensgefühl, dort in der urbanen Stadtmitte Wiesbadens und in den Wochenendparties im Club. Als alles Wattemusik, Streifenlabbershirt und ja auch nach all den enttäuschenden Jahren in Blut, Tod und Teufel irgendwie Aufbruch war, mit England und Kanada sowieso. Da gingen Broken Social Scene offensichtlich tiefer, als ich es damals hätte glauben können. Aus der Entfernung von 14 Jahren erscheint das beinahe unwirklich, weil seitdem so viel passiert ist. Manchmal erkenne ich schließlich mein vor drei Monaten gelebtes Leben kaum mehr wieder - und was da gerade nach Koketterie klingt, ist leider viel näher an der Wahrheit, als es mir selbst lieb ist, es zuzugeben.
Aber ist denn wirklich immer alles nur Romantik? Immer alles nur öde Nostalgie? Die man bei genauerem Hinsehen dann meistens doch als ziemlich traurige Realität eines weniger guten, dafür aber früheren Daseins enttarnen muss? "Hug Of Thunder" ist ein waschechtes Comebackalbum nach sechs Jahren Pause und holt mir satte 14 Jahre Lebenserinnerung in die Gegenwart zurück. Es kribbelt. Fuck it, das ist nicht alles Romantik - das war doch echt! Was auch sonst, wie kann ein Leben nicht echt sein? Keine Traurigkeit, weil man keine 20 mehr ist. Viel mehr Freude darüber, selbst mit den mittlerweile 40 Jahren auf dem rostigen Buckel und darüber hinaus zwischen gefräßiger Lohnarbeit, Leasingfahrzeug und Low-Carb-Diät und im Strudel des Irrsinns liebevoll um sich schlagend, von Musik immer noch derart berührt zu werden. Das sind diese strahlenden Momente, in denen mir klar wird: Zyniker haben so ganz allmählich keine Freude mehr mit mir.
Platz 9 - RICHARD EDWARDS - LEMON COTTON CANDY SUNSET
Und dann fühlte ich mich schlecht. Weil da einer über sein am seidenen Faden hängendes Leben singt, darüber wie alles zusammen zu brechen schien: die Ehefrau weg, das gemeinsame Haus weg, das gemeinsame Kind weg. Über eine rätselhafte Krankheit, die ihm in praktisch nullkommanix 25 Kilo Körpergewicht raubte. Darüber, dass er Schmerzmittel futtert wie andere Leute Pommes. Und trotzdem auf Tour geht, wegen der Schmerzen 23 Stunden in Embryonalstellung verbringt und sich für die eine Stunde auf der Bühne mit allem, was er hat, zusammenreißt. Und der germanische Sesselpupser, der auf "Lemon Cotton Candy Sunset" zunächst und in erster Linie wegen des ikonischen Covers und wegen der beiden unterschiedlich eingefärbten Schallplatten auf dieses Doppelalbum aufmerksam wird, hört eine romantische, melancholische, eingängige und mit bittersüßen Melodien verzierte Musik, die einen kalifornischen oder eben Sossenheimer Sonnenuntergang begleiten kann - wenn nicht muss. Dabei ist das hier die vertonte Agonie. Hoffnungslosigkeit. Das Ende ist nah. Die Krankheit wird nach Monaten als die gefährliche Darmerkrankung Clostridium difficile diagnostiziert, zu einem Zeitpunkt, an dem Edwards' schon beinahe dem Tod geweiht ist. Und er entscheidet sich dazu, darüber zu singen. Eine berührende, persönliche Musik, die die Wiederauferstehung ihres Schöpfers, als auch, in der Essenz, das Leben feiert.
Richard talking about the creation of this song:
"I wrote this song when I was really, really sick in the gut," says Edwards. "I had come to believe that being sick made me a bad person. I could feel relationships in my life suffering, but it was hard to do much about it when I was suffering to the extent that I was physically. I used to sit in my office and listen to 'Texas Girl at the Funeral of Her Father' over and over at night and feel really hopeless. It was a hard time. But my little daughter kept treating me the same, not looking at me like I was sick, and she got me through it, I s'pose. She wanted to sing on the record and this song felt like the place. She howls all through the bridge. So that's, quite obviously, my favorite part."
Monsieur Etten nannte den in seinem Heimatland Norwegen hart am Superstar-Status kratzenden Thomas Dybdahl mal im Rahmen seiner ersten beiden Alben "That Great October Sound" und "Stray Cats" den "Styler unter den Singer/Songwritern" und traf damit den Nagel auf den Kopf. Mittlerweile hat sich ländliche Idylle und eine Art von Kammermusik stärker als zuletzt in seine Songs eingewebt, allerdings nicht ohne eine bisweilen durchaus bemerkenswerte Portion Psychedelica-Pop einzubauen. Die von seiner Musik geschaffenen Bilder erscheinen dadurch oft verschwommen, träumerisch und apart. "The Great Plains" überrascht darüber hinaus mit einigen sehr offenen und luftigen Pop-Arrangements mit erstaunlichem Tiefgang, die nicht selten, wie im Falle von "No Turning Back", mit einem herzhaften Biss ins Fliegenpilzbaguette gebrochen werden. Zu gleichen Teilen einfühlsam und kraftvoll bewegen sich Dybdahl nebst seiner Begleitmusiker durch eine purpur schimmernde und intime Platte, die man am besten zu Kerzenschein in den Nachtstunden genießt.
Erschienen auf V2, 2017.
Platz 11 - PROPAGANDHI - VICTORY LAP
Über den Stellenwert dieser legendären Band für meine Welt zu sprechen, hieße Nazis in die AFD zu tragen, und weil man es ja trotzdem nie oft genug betonen kann, hier nochmal in Kurzform: sie veränderten mein Leben. Erstmals mit der neuen Gitarristin Sulynn Hago an Bord, war ich sehr gespannt auf "Victory Lap" und wurde nicht enttäuscht. Beginnt das Album mit dem Titeltrack noch überraschend eingängig, gerät die Denkvorrichtung schon mit dem folgenden "Comply/Resist" (einem ihrer besten Songs aller Zeiten) ein bisschen außer Balance und baumelt spätestens im dritten Albumviertel mit seinem sperrigen Thrashpunkmetal am seidenen Faden. Wer hier vorgibt, schon nach den ersten drei Durchgängen alles gerafft zu haben, nimmt es mit der Wahrheit wohl auch sonst nicht so supergenau. Qualitativ bewegt man sich auf "Victory Lap" in etwa auf "Failed States"-Niveau, hat mit "Letter To A Young Anus" und "Failed Imagineer" Hits bekannter Güte (und Machart) im Köcher und lässt wie üblich mit dem Rausschmeißer "Adventures In Zoochosis" alle Sicherungen durchkokeln, dieses Mal ganz besonders wegen eines persönlichen und emotionalen Textes, der mir die Augen jedes Mal aufs Neue unter Wasser setzt. "Potemkin City Limits" und vor allem "Supporting Caste" bleiben derweil unerreicht, weil mir an der ein oder anderen Stelle die alles zerberstende Durchschlagskraft etwas fehlt (was vermutlich den in Teilen heruntergestimmten Gitarren geschuldet ist), dass "Victory Lap" im herausragenden Post-2000 Oevre dieser einzigartigen Band seinen Platz finden wird, steht freilich nicht zur Debatte.
Erschienen auf Epitaph Records, 2017.
Platz 10 - CIGARETTES AFTER SEX - CIGARETTES AFTER SEX
Größtes Aha-Erlebnis des Jahres mit extraweiter Augenbrauenlüftung, nachdem sich die Nadel des Plattenspielers zum ersten Mal absenkte und ich die ersten 30 Sekunden des Openers "K" hörte. Schwer zu glauben, dass hier tatsächlich ein Geschlechtsgenosse singt, ein bärtiger zumal - daher habe ich mir auch für volle zwei Wochen eine Chanteuse am Mikrofon imaginiert, die ihre Selbstbeschreibung auf Twitter lediglich auf den alten Hot Shots-Spruch "In meinen Händen wird nichts zu Wachs" beschränkt hat. Mit anderen und weniger bedachten Worten: Angesichts des wie ein heißes Messer durch gefrorene Butter gleitenden Gesangs bin ich auf dem besten Weg, meine Heterosexualität nochmal neu zu bewerten. Auf dem Debutalbum der New Yorker stehen zehn Slomo-Slowdance-Blues-Smoothie-Hymnen, die Cigarettes After Sex im Handumdrehen zur Band der Stunde machten und die melancholisch zu nennen eine glatte Untertreibung ist. Sentimental, romantisch, erotisch, kurz: "ein tiefes Rot" (Dirk von Lowtzow). Wer diese Platte hört, befindet sich für knappe 50 Minuten im Paradies und blinzelt verträumt in einen meinetwegen auch herbei halluzinierten Sonnenuntergang im Hochsommer ohne Klimaanlage auf einer durchgelegenen und versifften Matratze in einem heruntergerockten 11qm Rattenloch mitten in New York, im Arm die Liebe des Lebens, in der Hand die Post-Vögel-Kippe. Wir starren an: die Decke.
Knappe 40 Minuten pure Schönheit, Eleganz und Lushness: "Lonely Planet" ist ein mystisch-vernebelter Soundtrack für die Entdeckungsreise auf einer unbewohnten und halb versunkenen Insel im Indischen Ozean. Ich kam im vergangenen Jahr zu keiner anderen Platte so oft zurück wie zu dieser und hörte sie regelmäßig über volle zehn Monate immer und immer wieder. Musikalisch ist das mit so unterschiedlichen Fluchtpunkten aus Synthiepop der 1980er Jahre, bekifften Mittelmeersounds und Einflüssen aus frühen Arbeiten von Grace Jones (mit Sly & Robbie) und sogar den verdammten Dire Straits ein starkes Stück (höre: "Voices"), das sich außer auf der aus 10.000 Fuß wahrnehmbaren Hanfplantage nebst aller erwünschten Nebenwirkungen auf nichts so wirklich festnageln lässt. Alles was zählt ist der filmische Fluss dieser Kompositionen nebst ihren Bildern und ihren Farben. Könnte bald zu einem kleinen Klassiker im Elektro-Underground werden. Ist es am End' ja eh schon.
Erschienen auf Running Back, 2017.
Platz 14 - DEATH MACHINE - COCOON
Der Bandname ist völlig debil und hätte mich Freund Jens nicht auf "Cocoon" aufmerksam gemacht, wäre ich alleine deshalb nicht mal im Traum darauf gekommen, meine schrumpeligen Finger nach dieser Platte auszustrecken. Und sie mussten sich schon ziemlich arg strecken, um in den Besitz der Vinylversion zu kommen; das Heimatland der Death Machine, Dänemark, sollte es schließlich richten. Death Machine haben mir in den zurückliegenden Herbst - und Wintermonaten gerade noch gefehlt, und das meine ich ausnahmsweise völlig unironisch. Ihre im weitesten Sinne dem zurückgezogenen Indiepop zugeneigten Songs sind bittersüß-verstrubbelte Himmelsstürmer zwischen resignierender Verzweiflung und kurzen Blitzen aus Kraft und Stärke, verbinden sich mit anämischem Folk und einem Road Movie Soundtrack vom Wochenendausflug auf der Venus. Ein auf vielen Ebenen außergewöhnliches Werk.
Erschienen auf Gateway Music, 2017.
Platz 13 - THE WAR ON DRUGS - A DEEPER UNDERSTANDING
Ich komme etwa drei Jahre zur spät zur Party, aber das liegt an meiner in Teilen bestens ausgeprägten Soziopathie, denn wo viele Menschen dasselbe Lied singen, springen bei mir für gewöhnlich alle Alarmglocken an. Bei The War On Drugs sangen (und singen) verdammt viele Menschen dasselbe Lied und es brauchte einige Überzeugungsarbeit aus dem Schwäbischen, um mir die Vorurteile zu nehmen. Belohnt wurde die "Arbeit an mir selbst" (Jürgen Fliege) mit einem Album, das mir bis heute einige Rätsel aufgibt: warum sitzt da schon wieder Angelo Sasso am Schlagzeug? Und warum spielt Angelo Sasso keine Becken? Warum hackt Angelo Sasso denn wirklich jeden Uptempo-Song ohne jedes Feeling durch wie ein frisch aus dem Hungerstreik gepellter Mähdrescher? Warum wühlt diese aus einem Haufen Schulterpolster der US-amerikanischen 1980er Jahre zusammengenähte Rockmusik mit dem Bruce Springsteen-Gedächtnisstirnband im schlimm müffelnden Zahnzwischenraum von Bob Dylan herum? Ein Wahnsinn, dass der "jungen Generation" (Peter Altmeier) hier nicht der 3-Liter Kanister Mountain Dew durch die Nase hochkommt. Und warum hat "A Deeper Understanding" trotzdem eine derart überwältigende Anziehungskraft auf mich? Ich weiß es bis heute nicht. Nur eines: hier versammeln sich einige der zweifellos besten und gefühlvollsten Momente des Jahres 2017.