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27.04.2024

Best of 2023 ° Platz 4: Allen Epley - Everything



ALLEN EPLEY - EVERYTHING


“Forget the future, these times are such a mess
Tune out the past, and just say yes.”
(Sonic Youth)


Die Musik von Allen Epley schlägt immer eine ganz spezielle Saite im Nukleus meines Emotionskadavers an, und ich bin immer wehrlos dagegen. Nicht, dass ich mich wirklich wehren würde - seit dem Debut seiner Band The Life And Times aus dem Jahr 2005 bin ich bekennender Fanboy und habe das Power-Spacerock-Trio nicht nur ein Mal als "beste aktive Rockband des Planeten" bezeichnet. Mittlerweile müsste strenggenommen überdacht werden, ob "aktiv" noch das Wort der Wahl wäre, denn die Gruppe schweigt seit der vor sieben Jahren erschienenen letzten Platte, und es sieht aus der Ferne betrachtet nicht so aus, als solle sich an jenem Schwebezustand - eine Auflösung wurde offiziell nie bestätigt - mittelfristig etwas ändern. Nun ist es aber dennoch eine Realität, dass es selbst bei meinen Lieblingsbands einen Moment in ihren Karrieren gibt, an dem bei mir eine Art Übersättigung eintritt, sei es, weil ich mich stilistisch, ästhetisch, emotional oder sonst was/wie fortbewegt habe und mich außer einer imaginierten Loyalität nicht mehr viel hält, oder aber weil die Musiker selbst ihr Mojo verloren haben, oftmals einhergehend mit einer Verschiebung von Prioritäten (Haus, Familie, Job) und dem damit verbundenen Erlischen der Leidenschaft und des Feuers für die eigene Kunst. Ich werfe das niemandem vor, das sind schließlich in der Regel normal verlaufende Lebenslinien - und egal, wie hart einen die Nostalgie manchmal ficken mag: es gibt für alles und jeden eine Zeit und einen Ort, für die juvenile Entflammbarkeit wie für das erkaltete "Adieu". 

Für Allen Epley gilt das alles nicht. Was auch immer er aus seiner Stimme und seiner Gitarre herausholt, setzt meist umgehend einen Anker. Mit seiner legendären 1990er Band Shiner im etwas ruppigeren Grunge, Noise und Alternative-Teilchenbeschleuniger, mit The Life And Times und ihrer Shoegaze, Spacerock und Wall of Sound-Ästhetik - und nun erstmals solo mit all den so liebgewonnenen Merkmalen seiner Musik: der sich tief eingrabenden Melancholie und der Introvertiertheit, die sich in intensiven Momenten entlädt, einem so außergewöhnlichen wie einzigartigen Melodieverständnis, für das Epley in erster Linie den schwierigen, verborgenen, verwinkelten Weg sucht, anstatt an der Oberfläche zu bleiben und die Simpletons mit Eingängigkeit zwangszuernähren. Oder den mit allerlei Effekten überladenen, sirupartig aus den Lautsprechern quillenden Gitarren, die in Kombination mit seiner mehrfach gelayerten Stimme, den langgezogenen Melodiebögen und den ungewöhnlichen Gesangsharmonien eine psychedelische Qualität erreichen, die Erinnerungen an die Hippiegeneration wachkitzeln. Ohne das Powerdrumming von The Life And Times-Schlagzeuger Chris Metcalf und dem massiven Ampeg-Bass-Knurren von Eric Abert steht "Everything" mit einem viertel Bein tatsächlich etwas mehr in der entrückteren Ecke geparkten Abteilung der Singer/Songwriter Tradition. Oder, um präziser zu sein, weist im Fundament subtile Schattierungen von jener Musik auf, die in Nordamerika unter dem Rubrum "AM Gold" gelistet wird: Softrock und Top 40 Songs der 1960er und 1970er Jahre von The Carpenters, James Taylor, Scott McKenzie, Aretha Franklin, The Hollies, Dionne Warwick, America. Musik also, für die eine vordergründige Leichtigkeit so essentell war wie eine zwischenweltliche Schwermut und der die Anerkennung des eigenen Standorts so wichtig war wie die Hoffnung auf ein besseres Leben. Und die darüber hinaus vor allem in den psychedelischen Momenten geprägt war von einem neu entdeckten und erweiterten Begriffs der Selbstbewusstheit, von einer Expansion ins Surreale, auch ins Abgründige. 

Epleys Musik hatte stets ein eskapistisches Moment. Weniger im Sinne einer potemkinschen Scharade, die im Außen Herrlichkeit suggeriert, während ein paar Meter dahinter ein Atomkraftwerk vor sich hinglüht, sondern im Sinne einer Suche, einer über den status quo hinausgehenden Erkundung neuer Welten und Perspektiven. Die Schwermut, die über seiner Musik liegt, findet die richtigen Frequenzen so unmittelbar, weil sie uns in der Enttäuschung über die Wirklichkeit eint. Wir spüren: wir müssen hier raus. Und im gleichen Moment trifft es uns wie ein Blitz: wir kommen hier nicht raus.

Außer natürlich, man legt "Everything" auf und zieht ein Ticket für die Rundreise durchs große, weite Universum.


  


Erschienen auf Spartan Records, 2023.


10.02.2024

Best of 2023 ° Platz 15: SPELLLING - Spellling & The Mystery School




SPELLLING - SPELLLING & THE MYSTERY SCHOOL


„Bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie Ich sagen.“ (Theodor W. Adorno)


Als Anthony Fantano, "Internet's busiest music nerd", vor gut zwei Jahren glatte und überaus seltene zehn Punkte an "The Turning Wheel" der kalifornischen Künstlerin SPELLLING vergab, war klar, was zu tun ist: kaufen! Und zwar so, wie ich es am liebsten mache, "commando", also nackig und also ohne vorangegangenes Testhören, wie immer planlos und mit offener Hose. Fantanos Beschreibung der Musik reichte aus, um schnell angefixt zu sein. Und wenn ich für die Bestenliste 2021 nicht in den Dornröschenschlaf gefallen wäre, hätten meine werten Leserinnen und Leser bereits damals lesen können, wie ich mit der Bewertung (i.S.v. "Kategorisierung") des dritten Albums von Tia Cabral zwar meine liebe Mühe hatte, aber gleichzeitig fasziniert war von diesem Kaleidoskop unterschiedlicher Einflüsse, dem außerweltlichen Gesang und den mit reichlich Mystik inszenierten Songs. Das Album ist nicht nur in meinem persönlichen musikalischen Kosmos eine Ausnahmeerscheinung, und ich finde vieles davon bis heute unerklärlich und rätselhaft. 

Das im August 2023 erschienene "SPELLLING & The Mystery School" ist eine Zusammenstellung von Neuinterpretationen ihrer früheren Songs, die nun hier zum Teil erstmals in einem Bandkontext vorgestellt werden und deren neue Versionen sich aus den mit voller Band gespielten Konzerten der "The Turning Wheel"-Tournee entwickelten. Vor allem für jene Titel, die den ersten beiden Alben "Pantheon Of Me" (2017 in Eigenregie veröffentlicht) und "Mazy Fly" entnommen wurden, sind die Überarbeitungen ein künstlerischer Gewinn: SPELLLINGs Musik war in den ersten Karrierejahren sehr reduziert, kühl, sehr synthielastig und stilistisch mit Elementen des Darkwave und sogar einer gewissen Goth-Ästhetik spielend. Das hatte durchaus einen geisterhaften, geheimnisvollen Charme. Der Sprung von "Mazy Fly" zu "The Turning Wheel" war dann allerdings ein gewaltiger, wie auch Fantano in seiner Rezension hervorhob: der vormals auf das Wesentliche beschränkte und eher dürr zu bezeichnende Ansatz ihrer Musik erfuhr plötzlich die voluminöse, detaillierte, sich stetig ausbreitende Produktion eines Art Pop-Projekts, ein bisschen transzendental und metaphysisch, wie es bei Alben von beispielsweise Kate Bush oder auch Björk erfahrbar ist. An dieser Stelle setzt "SPELLLING & The Mystery School" an. 

Ich gehe so weit zu sagen, dass die Songs von "Patheon Of Me" und "Mazy Fly" hier die "The Turning Wheel"-Behandlung bekamen - und in diesen Fällen kristallisieren sich einige echte Höhepunkte des Albums heraus. Der Opener "Walking Up Your House" wächst aus der Synth/Stimme-Miniatur des Debuts zum großzügig aufgezogenen Überflieger, "Under The Sun" durchläuft dank Piano, Schlagzeug und des Streicher-Arrangements des Del Sol String Quartetts gleich mehrere Metamorphosen, vom 70er-Abba-Vibe zu Beginn zum abruptem Wechsel in das Zaubergartenlabyrinth mit Fliegenpilzeintopf und dem Schlussakkord, der die folkige Stimmung mit selbstbewusster Kickdrum durchbricht. "Haunted Water" spielt wie "Phantom Farewell" mit dem bereits im Original wahrnehmbaren dunklem Wave-Geflacker und verbindet es mit tanzbaren Beats und einer Ahnung von Pop-Appeal zwischen (späten) Dead Can Dance und (mittleren) Depeche Mode. Die vier Neueinspielungen von "The Turning Wheel" zeigen sich dagegen eher etwas konservativer, weil sie das grundsätzliche Sounddesign des Albums beibehalten und lediglich in den Arrangements die Entwicklungsstufen der Band dokumentieren, nachzuhören im Hit "Boys At School" mit seiner neuen Streicherinstrumentierung und einer verfeinerten Dynamik im Zusammenspiel der Band. Das ist freilich immer noch hervorragend in Szene gesetzt und lohnenswert. 

SPELLLINGs Musik ist auch auf dem Stand des Jahres 2023 noch immer herausfordernd, bizarr, außerweltlich und einzigartig. Es kann vielleicht ein Weilchen dauern, bis so halbwegs klar ist, was hier passiert - und manchmal passiert womöglich gar nichts. Was einem dann noch bleibt, ist universell: einfach zuhören. 



   



Erschienen auf Sacred Bones Records, 2023.

27.01.2024

Best of 2023 ° Platz 17: IAMX - Fault Lines¹




IAMX - FAULT LINES¹


"Glückliche Menschen langweilen mich." (Wolf Wondratschek)


Wir haben miteinander gefeiert, sind gemeinsam zusammengebrochen, haben gelacht und geweint, getanzt, geschwitzt, uns angezogen und wieder abgestoßen. Haben die Theatralik bestaunt, das Drama bestanden, sind auf dem Boden des Atlantiks aufgeschlagen und haben die Sonne geküsst. Das Chaos umarmt, die Einsamkeit ausgehalten. Wir waren frei und entfesselt, haben dem Hedonismus ein "How ya doin'?" vor die Füße gerotzt und dem Tabu ein Grab geschaufelt. Haben in den Spiegel geschaut und die Risse in unserem Gesicht gesehen, die sich in die Breite verästelnden Zerwürfnisse nachgezeichnet, die Ketten mit Spucke poliert, die Zeit verflucht, den Tagen, Wochen, Monaten und Jahren den Mittelfinger entgegengestreckt. Erlebten Agonie und haltlose Hysterie, waren ohne Orientierung und voller Pläne. Überwältigt von der Kälte, überfordert mit der Hitze. In Embryohaltung dem Staub beim Zerfallen zugeschaut und uns so schnell gedreht, dass wir uns selbst überholten. Blitze geschleudert, das Meer geteilt, den Sturm gesät und Zerstörung geerntet. Das Licht zum Explodieren gebracht, die Dunkelheit ausgelöscht. Die Liebe, das Leben, eine einzige Orgie.

"The fanatics are winning and I wanna go home."


 



 



Erschienen auf Unfall Productions, 2023.

04.05.2021

The Story Of thOught industry

Meine leider etwas holzig formulierte Lobeshymne auf eine der interessantesten, mutigsten, vielseitigsten, technisch versiertesten und scheißrein, ich sag's jetzt: besten Bands der 1990er Jahre ist schockierenderweise beinahe volle 12 Jahre alt, und es ist einer jener Texte, bei denen ich mir heute wünsche, ich hätte sie etwas später geschrieben. Es zeigt sich wiederholt, dass zwischen "gut gemeint" und "gut gemacht" zwei bis drei Enden der Welt liegen können; zumindestens gilt das für die frühen Texte des "Flohihaan" (Monaco Franze) - und manchmal sogar immer noch für das aktuell Erbrochene. Sad.

Inhaltlich gibt es indes nur wenig zu mäkeln, auch wenn meine Ergebenheit gegenüber ihrer Musik im Jahr 2021 sicherlich noch größer ist und im Falle eines heute geschriebenen Textes eine nochmal bedeutend euphorischere Wortwahl verwendet werden müsste. thOught industry stehen in meiner Realität in jener Reihe großer Bands, denen der "OK, Boomer!"-Sticker mit der Aufschrift "Solche Bands werden heute nicht mehr gebaut" bestens zu Gesicht stehen würden. Und verfickt nochmal, ich sag's jetzt nochmal, und zwar laut:


SOLCHE BANDS WERDEN HEUTE NICHT MEHR GEBAUT!!!1111eins1


Ich habe mich über die Jahre sehr oft gefragt, was die ehemaligen Mitglieder wohl heute so treiben mögen und auch wenn ich darauf immer noch keine Antwort habe, kam ich dem Mysterium dieser Irren kürzlich ein bisschen mehr auf die Schliche: Der Youtube-Kanal STAUNCH T.V. hat tatsächlich den früheren Gitarristen Christopher Lee Simmonds ausfindig gemacht und ihn eine knappe dreiviertel Stunde über die Geschichte der Band erzählen lassen. Es bieten sich so faszinierende wie abstoßende Einblicke in die Welt der thOught industry. Die wichtigsten Erkenntnisse, erstens: man muss nicht miteinander befreundet sein, um großartige Musik zu machen. Zweitens: Metal Blade waren (?) offenbar mal ein totaler Saftladen. Drittens: Suff und Drogen killen jede große Band, es ist schlicht erschütternd. 

Wer die Band bislang nicht auf dem Radar hatte und nun Lust auf ihre Musik bekommen haben sollte: es ist egal, welches ihrer Alben man anwählt - sie sind alle (!) großartig. Kein Witz. Isso.


 


 

17.03.2021

Best of 2020 ° Platz 8 ° Hum - Inlet



HUM - INLET

All the dreamers have gone to the side of the road which we will lay on
Inundated by media, virtual mind fucks in streams
(D'Angelo And The Vanguards)


"The Summoning". Grundgütiger, "The Summoning". 

Diese sich wie zähflüssige Lava den Weg freiwalzenden Gitarren. Ich habe schon lange keine mehr so gut klingenden Gitarren gehört. Diese Melodie, die so lange nachhallt, bis die Venus acht Mal umrundet wurde und man sich wieder auf dem Rückweg zur Erde befindet. Das Break im letzten Viertel, das sich gegen Ende auftürmt wie ein Gebirgsmassiv vor Millionen Jahren. Die stoische Stimme, die kaum mehr braucht als Begleitung und Erinnerung. Ein Jahrhundertsong. Aber eben auch nur einer von insgesamt gleich vieren: es sind vor allem die jeweils über acht Minuten langen, episch inszenierten Songs, die mich komplett plattmachen, auseinanderreißen, zerschmettern und dann wieder zusammenkleben, mit Spucke und einer Riesenpackung Hubba Bubba: "Desert Rambler", "Folding", "Shapeshifter" und eben "The Summoning", allesamt Giganten aus dem Stoff, aus dem 90er-Shoegaze und Alternative Rock-Herrlichkeiten gestrickt waren, bis unters Dach vollgepackt mit Understatement, Emotionalität, Tiefgründigkeit und Weite - und mit mit einer ganz eigentümlichen, nach innen gerichteten Intensität. 

Das Quartett aus Illinois, spätestens ab Mitte der 1990er Jahre und dem zaghaft ins US-Mainstreamradio einbrechenden Hit "Stars" eine Untergundsensation, war zu jener Zeit sehr knapp vor dem Sprung in die erste Liga, bevor die Band Ende des Jahrzehnts zunächst vom Label gedroppt und anschließend intern auseinanderbrach. Jetzt kommen sie im unheiligen Jahr des Clusterfucks 2020 praktisch aus dem Nichts mit neuer Musik zurück - 23 Jahre nach dem letzten Album "Downward Is Heavenward". Und auch wenn ich die Band erst Mitte der nuller Jahre von Freund Andreas ans Herz geschweißt bekam und also wie so oft ein totaler Spätzünder war, fühlt sich "Inlet" so vertraut an wie jede Gedanken- und Gefühlsreise in meine Adoleszenz in den 1990er Jahren, zwischen Teenage Angst, Flanellhemd, Benson & Hedges und dem süßen Duft der Freiheit (Wunderbaum Vanille; Opel Corsa I), der mindestens soviel Hoffnung machte, wie er mir bis in jede Faser meines Hirns Panikattacken schickte. Es gibt einen gar nicht so kleinen Teil in mir, der sich wünscht, bis ans Ende meiner Zeit in diesem emotionalen Schwebezustand der eigenen Vergangenheit zu verbleiben, mit all der Verklärung, der Ignoranz, dem Gilb und Kitsch des Vertrauten, Eingefahrenen, Sicheren. Das Getöse des Unmittelbaren ersetzen mit der damals  so geliebten wie gehassten und doch so verinnerlichten Stille. Auszeit. 

Insofern ist "Inlet" die perfekte Spiegelung dieser Ambivalenz, auf jeder Ebene. Laut und leise, rustikal und subtil. Erinnerung und Gegenwart. Hoffnung und Enttäuschung. Verwegenheit und Furcht. 

Heavy Music for introverts. Für immer die Liebe.


   


Erschienen auf Earth Analog Records, 2020.


09.03.2021

Best of 2020 ° Platz 10 ° Bob Mould - Blue Hearts



BOB MOULD - BLUE HEARTS

Goodbye my friends
Goodbye to the money
Adieu to the fuckers that think that it's funny
I just want to turn the lights on
In these volatile times
(IAMX)


Ich darf vorstellen, Bob Mould, Weltkulturerbe. Seit 40 Jahren schreibt niemand sonst solche Songs. Keine andere Gitarre, keine andere Stimme klingt wie seine. Wer würde es angesichts dieser Karriere wagen, nicht alle Hüte zu ziehen?

Ich war zu jung, um Hüsker Dü mitzuerleben, aber ich kam gerade richtig für Sugars "Copper Blue": diese seltsame Mischung aus Melodie und Monotonie, Pop und Punk wurde für mich zu einem der einflussreichsten Alben der 1990er Jahre. Ich lernte viel von dieser Platte. Vielleicht war es für einen, der sich lange im Heavy Metal herumtrieb und seit ein paar Monaten im völlig besinnungslosen Grunge-Fieber war, auch eine der ersten Platten, die sich "Indie" anfühlte. Ich verlor danach Mould für sehr lange Zeit aus den Augen. Erst 2016 mit dem Album "Patch The Sky" stieg ich wieder ein und es gehört zu den eher unverzeihlichen Fehlern dieses Blogs, bislang noch kein Wort darüber verloren zu haben, denn "Patch The Sky" war Türöffner und Auferstehung zugleich: nicht nur verpasse ich seitdem kein neues Album mehr, ich habe auch die Sammlung mit früheren Werken aufgefüllt. Ab dem 2012 erschienenen und sowohl von Fans als auch Kritik gleichermaßen gefeierten "Silver Age" nagelt mir der Mann im Prinzip ausschließlich Hochklassiges auf den Plattenspieler. Für meine Begriffe liegt das nicht zuletzt an seiner Band: Jason Narducy am Bass und Monstertrommler John Wurster am Schlagzeug haben genügend Drive und Punch, um auch manchmal Schaumgebremstes mit Wucht und Spielfreude über die Ziellinie zu kicken, wenn es notwendig ist.

"Blue Hearts" ist Moulds 13.Soloalbum und es ist eines seiner Zornigsten. Trump, Umweltverschmutzung, Rassismus, Republikaner, Scheinheiligkeit, Fanatismus - Mould hat die Schnauze voll, er schreit, er bebt, er tobt. Mit zitternder Stimme singt er in der Einleitung "I wear my heart on my sleeve, don't know who to believe any more". Alles muss raus. Und es geht wortwörtlich Schlag auf Schlag: die Band macht zwischen den Songs praktisch keine Pause. Ein brillanter Pop-Indie-Alternative-Punk-Smash-Hit nach dem anderen batscht mir auf die heruntergeklappte Kinnlade, dazu gibt's die so heiß geliebten Momente der Tiefe wie in "Forecast Of Rain" oder "Password To My Soul", die in dieser Form wirklich nur Bob Mould und seine Band spielen können. Alleine in einem Gitarrenanschlag stecken mindestens dreikommaviernull Millionen Universen an Farben, Tönen, Perspektiven und Emotionen. 

Wenn mir der Trump'sche Irre aus dem Weißen Haus oder die Nazis der AFD und ihre lobotomierten Sackgesichter auf Social Media zu nahe auf die Pelle rücken und mir das Hirn verklebten: "Blue Hearts" war ein hervorragend funktionierendes Antidot.


   



Erschienen auf Merge Records, 2020. 


17.01.2021

Die besten Vinyl-Nachzügler (3): Ministry - The Mind Is A Terrible Thing To Taste



MINISTRY - THE MIND IS A TERRIBLE THING TO TASTE


"Man muss die Erscheinung des hässlichen Echten grundsätzlich verteidigen", schrieb Roger Willemsen mal in Anlehnung an die lebensverändernde Begegnung mit der Ausnahmekünstlerin Sinéad O'Connor und ihren Kampf mit einer Unterhaltungsindustrie, die keine Liebe für sie hatte, denn: wenn kein Konsens herzustellen ist, ist es nicht attraktiv. Wenn Künstler sich selbst und ihrer Verwertungsmaschinerie Schaden zufügen können, wenn es Selbstzerstörerisch wird, peinlich, werden Existenzberechtigungen in der Öffentlichkeit entzogen. 

Mich erinnerte das an meinen im Jahr 2020 zweiten gefeierten Frühling mit Ministry und ihrer wohl prägendsten Phase von 1988 bis 1998. Weniger, weil man Ministry Existenzberechtigungen entziehen wollte, schließlich fand die erfolgreiche Selbstidentifikation mit der Band nicht zuletzt über den inszenierten Tabubruch statt, über Extreme und Enthemmung, sondern weil Ministry in ihrer Hochphase für totale Anarchie standen, für beidseitigen Kontrollverlust. Das war in der dargestellten Echtheit tatsächlich hässlich, peinlich, selbstzerstörerisch und damit auch gefährlich. Für jene, die außer Kontrolle waren, für jene, die sie kontrollieren wollten, wo nicht mussten, und für jene, die von Außen zuschauten. 

Ministry waren ein großer Zirkus, eine Attraktion, der Mann mit den zwei Köpfen und vier Pimmeln - aber sie waren es vor allem, weil sie echt waren, echt kaputt. Disturbed. Die Anziehungskraft einer Platte wie "The Mind Is A Terrible Thing To Taste" geht von einer wahren, realen Gefährlichkeit aus. 

Al Jourgensen und Paul Barker waren über knapp 15 Jahre außer Rand und Band. Ich kann mich von schäbigem Voyeurismus leider nicht durchgängig freisprechen.


         

Erschienen auf Sire, 1989.


04.01.2021

Die besten Second Hand-Funde 2020 (1): Three Fish - The Quiet Table



THREE FISH - THE QUIET TABLE

Harald Schmidt sagte mal, dass maximal zwanzig Bücher ausreichten, um das Leben angemessen ausgestattet zu bestreiten, verbunden mit dem Hinweis auf die Tagebücher von Julien Green, in denen es heißt, dass am Ende seines Lebens nicht mal mehr Thomas Mann der groben Entflechtung des Literaturbestands standhielt. Immer öfter stehe ich selbst vor der Schallplattenwand und ertappe mich bei ähnlichen Gedanken. 50 Alben - mehr braucht's eigentlich nicht. Gib mir meinen Coltrane, meinen Scott-Heron, den Soundtrack meiner 90er Jahre Adoleszenz und fünf, sechs Metal-Hackepeter aus der Ursuppe der 1980er Jahre und ich bin okay. 

Die beiden Platten der Low-Key-Supergroup Three Fish würden diesen Auswahlprozess mühelos überstehen, sie fielen in den Eimer mit den dreckigen, nach Benson & Hedges und Zino müffelnden Karohemden meiner Neunziger. Tribe After Tribe Sänger/Gitarrist Robbi Robb, Pearl Jam-Bassist Jeff Ament und Wundertrommler Richard Stuverud veröffentlichten vor über 20 Jahren zwei herausragende, größtenteils ruhige, spirituelle Werke, geschmückt mit Einflüssen und Instrumenten des mittleren bis fernen Ostens, meistens aus lockeren Jamsessions entwickelt und in Aments Homestudio in den Bergen von Montana aufgenommen. Während das selbstbetitelte Debut noch hier und da auffindbar ist, ist das Vinyl von Album Nummer Zwo - "The Quiet Table" - mittlerweile leider sehr selten geworden. Es wurde über die letzten Jahre zu einer meiner meistgesuchten Schallplatten.  

Seit dem Quarantänen-Sommer 2020, einer Gelegenheit sowie einem großen Schuck aus der "I Just Don't Give A Fuck Anymore"-Pulle, liegt die Platte nun also regelmäßig auf meinem Teller, und ich freue mich sehr über diese zeitlose, klischeefreie, psychedelische und leider vergessene Perle der neunziger Jahre. 

Die perfekte musikalische Begleitung für den nächsten gemütlichen Abend im Opiumrausch. Der Quarantäne-Winter 2021 kann kommen. 


   


Erschienen auf Epic Records, 1999.


03.01.2021

Die besten Vinyl-Reissues 2020 (5): PJ Harvey - Dry

 




PJ HARVEY - DRY


1992 in der Keimzelle des Anything Goes-Vibes veröffentlicht und ein Klassiker des Alternative Rock, vielleicht gar eines der letzten wirklich großen Rockalben von der Insel der Brexit-Besinnungslosen: das Debut der britischen Sängerin und Multiinstrumentalistin ist lauter Weirdo-Blues, giftiger Feministenpunk, knarzender Noise. Das Trio, allen voran Schlagzeuger Rob Ellis mit seinem unwiderstehlichen Powerhouse-Drumming, holzt sich bis auf wenige Ausnahmen ("Happy And Bleeding" und "Plants And Rags") furios durch ein Album, von dem PJ einst dachte, es würde nicht nur ihr erstes, sondern auch gleichzeitig ihr letztes sein - was sie dazu bewog, für die Produktion alles in die Waagschale zu schmeißen, was sie hatte. 

Wie viel sie wirklich hatte, wird auf diesem fantastisch klingenden Reissue nochmal offensichtlicher. Nie war der Vergleich zwischen totkomprimierter gestreamter Billigscheiße von den Musikhassern von Shitify und einer famos gemischten, gemasterten und perfekt gepressten Schallplatte sowohl eindrucksvoller als auch schmerzhafter als hier. Ein einzigartig beißender Gitarren- und Basssound, ein die Mauern von Jericho zum Einsturz bringendes Drumset und eine Stimme, die zu gleichen Teilen selbstbewusst, sexy und fragil eine ungeheure Präsenz ausstrahlt. Die grundsätzliche Idee, "Dry" exakt auf diese Art zu inszenieren, war für den im karierten Flanellhemd steckenden "Flori" (Mama) schon 1992 eine bemerkenswerte Entscheidung - knapp dreißig Jahre später wird sie dank dieser Neuauflage zur Sensation.


 



Erschienen auf Too Pure, 1992/2020.

09.08.2020

Das Beste des (eigenen) Jahrzehnts: Sun Never Sets - The Absurd




SUN NEVER SETS - THE ABSURD


"Ich nehme seit 1998 Platten auf und schreibe seitdem sowohl eigene Texte als auch eigene Musik und es gibt praktisch keine veröffentlichte Song- und Textsammlung, für die ich nicht ohne Zögern einen Atomkrieg anzetteln würde, auf dass dieser selbst ausgedachte Schmonz endlich vaporisiert und also vom Antlitz der Erde getilgt wird."

Bon, so schwer wie der dramatisch anmutende Ausblick zum Ende des letzten Artikels - "Kommt ihr nie drauf!" - war es dann vielleicht doch nicht, denn auch wenn ich versuche, das Ego klein und die Demut groß zu halten und darüber hinaus ein Begriff wie "stolz" weder im Sprachschatz noch Wertesystem eine Rolle spielt, bin ich von den vier mit meiner Beteiligung entstandenen Alben aus dem vergangenen Jahrzehnt mit mindestens zwei über das normale Maß hinaus verbunden. Ich habe auf diesem Blog und anderswo nie allzu großen Wirbel um die eigene Musik gemacht, und weil die zwei verbliebenen Gehirnzellen in meinem Kopf in permanentem Autopilot-Modus gegeneinander kämpfen, stellt sich Herr Dreikommablödvier im stillen Kämmerlein doch immer noch manchmal die Frage, was hätte passieren können, wäre der Wirbel ein anderer, ein größerer gewesen. Dabei ist der Traum von der Karriere als Musiker doch schon seit zwanzig Jahren ausgeträumt. 

Die Chronologie der Ereignisse verlangt den Start mit "The Absurd" von Sun Never Sets, erschienen im Sommer 2011. Die Geschichte dieser Band ist nicht in fünf Sätzen erzählt, und es gibt keinen Grund, es nicht dennoch zu versuchen: ich stieß im September des Jahres 2000 zu der damals noch unter dem Namen Soleilnoir (sic!) operierenden Band, übernahm das Mikrofon und fand mich schon ein halbes Jahr später in den Bazement-Studios von Markus Teske (u.a. Vanden Plas und Charlie Dominici) wieder, um die erste EP "Drown" aufzunehmen. Ein Jahr später wurde es leider sehr turbulent: Ich stieg aus und kehrte erst im Mai 2009 an die alte Wirkungsstätte zurück, während die Band zwischendrin mit Sänger Maggot noch zwei weitere EPs ("Interlude" und "Nucleus") veröffentlichte. Und weil rechte Sackgesichter sich mittlerweile die Begriffshoheit über die "Schwarze Sonne" (Soleil Noir) angeeignet hatten und wir deswegen von übereifrigen Volltrotteln von volltrotteligen Volltrottelbands sogar von Konzerten ausgeschlossen wurden, entschlossen wir uns recht zügig zu einer Namensänderung - Sun Never Sets waren geboren. Unser letztes Konzert spielten wir vor ziemlich genau acht Jahren, im August 2012 in Frankfurt. Offiziell aufgelöst wurde die Band kurioserweise nie, der Engländer würde wohl eher von einem "indefinite hiatus" sprechen. 

Das sind die nüchternen Fakten. Aus emotionaler Sicht stehen meine viereinhalb Jahre als Mitglied dieser Band möglicherweise als die intensivsten Bandjahre im Lebenslauf. Ich lernte Wolfgang, Jörg und Steffi kurz nach meiner ersten Krebsdiagnose und -OP kennen, und Leben und Hirn drehten sich wie Brummkreisel. Ich war Stammgast in den medizinischen Abteilungen der Frankfurter Stadtbibliothek, musste mich gegen empathiebefreite Ärzte verteidigen und mit angsterfüllten Familienmitgliedern verhandeln, dazu war ich immer noch frisch verliebt, lernte jeden Tag soviel Neues, dass ich mich jeden Morgen wie tatsächlich neu geboren fühlte, und dennoch: die Zukunft war ungewiss. Ich begegnete all dem Irrsinn mit, logo: vollen Hosen und auch einem gewissen Hedonismus, der sich in erster Linie in wahren Kreativitäsexplosionen manifestierte. Die ersten Aufnahmen im Winter 2001 verbrachte die Band für eine volle Woche Tag und Nacht gemeinsam im Studio und ich werde die gemeinsamen Abende mit Musik, Diskussionen, Rauchwaren und Pink Floyds "Ummagumma" (natürlich bis heute ihre beste Platte, fight me!) niemals vergessen. 

Ähnliches ereignete sich auch bei den Aufnahmen im Winter 2010. Erneut waren wir bei Markus Teske zu Gast, dieses Mal aber gleich für ganze zwei Wochen. Und weil die neuerliche Kreativitätsexplosion derart ergiebig war, sollte es nun erstmals ein ganzes Album mit neun Songs werden; Songs, die allesamt in den vorangegangenen sechs Monaten geschrieben wurden. Für eine nicht rund um die Uhr professionell arbeitende Band ist das gar nicht so übel.

Als wir endlich mit unserem ersten Album das Studio verließen, war das für mich ehrlicherweise ein sehr bedeutender Moment. Nicht nur, weil es unser Albumdebut war, das wir in den Händen hielten. Auch und ganz besonders, weil ich zum ersten Mal erlebte, was möglich ist, wenn jeder an der Produktion beteiligte die Idee und die Leidenschaft teilt. Die Platte klingt für das Jahr 2010 und für die zwei Wochen Produktionszeit ausnehmend gut und wirkt selbst zehn Jahre später nicht unangenehm gealtert. Und ich muss das nun zugeben: ich höre "The Absurd" immer noch gerne - und das ist sehr ungewöhnlich für mich. Weil ich aufgrund der eingangs erwähnten und persönlich wahrgenommenen Unzulänglichkeiten von Musik mit meiner Beteiligung ansonsten immer schnell in den Krümeln suchen muss: da wackelt die Stimme! Das Wort ist falsch phrasiert! Das Timing stimmt nicht! Und was ist das bitte für 1 Text? Sich mit dem eigenen Versagen zu arrangieren ist nun wahrlich keine einfache Übung. 

Der Scharfrichter in mir hat natürlich auch bei "The Absurd" viel zu tun und ich könnte aus dem Stand zwei Dutzend Momente auf- und beschreiben, die schlicht falsch sind und etwas Besseres verdient hätten. Die Zeit heilt alle Wunden, heißt es - ich kann das nicht bestätigen. Der Mumpitz ist auch 10 Jahre später immer noch sehr real.  

Dennoch tut er meiner Verbundenheit mit dieser Band, dieser Zeit und dieser Platte keinen Abbruch. 

"The Absurd" erschien im Sommer 2011 in einer Auflage von gerade mal 50 CDs im Digipak und ist natürlich komplett untergegangen. Vom Zeitgeist waren wir ganze Universen entfernt (bei Konzerten hörten wir nicht selten "Geiiiil, voll Neunziger!"), im Bandumfeld gab es praktisch keine "Fans" mehr, weil wir bis auf Schlagzeuger Johannes alle schon viel zu alt waren und der Bekanntenkreis, sofern er noch existierte, sich längst mit Frau und Kind im Eigenheim befand, und auch wenn wir pro Jahr sicher um die 25 bis 30 Konzerte mitunter in den kleinsten Käffern und Löchern spielten, tat sich erschütternd wenig. Selbst dann nicht, als wir im Frühjahr des Jahres 2012 im Frankfurt Bett im Vorprogramm einer größeren Alternative Band aus den Staaten und also vor 400 Zuschauern spielten. Hinzu kam sicherlich als der möglicherweise entscheidendste Faktor, dass wir schlicht nicht mehr alles geben wollten und konnten. Einen kleinen fünfstelligen Betrag an eine Deppenagentur überweisen, um vier Wochen durch Europas schimmeligste Clubs zu tingeln? Familie und Job aufs Spiel setzen? Im allerbesten Fall war die Mehrheit von uns, mir inklusive, in dieser Hinsicht indifferent - und das ist dann einfach zu wenig. Eigentlich ist man damit auch gleichzeitig sehr nahe an der Selbst-Sabotage. Und natürlich kann man das machen, aber dann verbietet sich streng genommen auch die Jammerei.  

Trotzdem: hätten ein paar mehr Leute die Möglichkeit gehabt, "The Absurd" überhaupt mal zu hören, wäre vielleicht ein bisschen mehr drin gewesen. Ich bin natürlich komplett voreingenommen. Für mich ist das immer noch eine tolle und ganz persönlich sehr wichtige Platte. 

Mittlerweile ist das Album praktisch nicht mehr digital erhältlich, daher habe ich es auf meinem Soundcloud-Account hochgeladen. Vielleicht wird es ja zehn Jahre später noch von ein paar Menschen entdeckt. Verdient wäre es.


18.07.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Propagandhi - Failed States




PROPAGANDHI - FAILED STATES


Es wäre einigermaßen undenkbar, Propagandhi in der Serie über die besten Platten des vergangenen Jahrzehnts nicht zu erwähnen - auch wenn sich das Quartett aus dem kanadischen Winnipeg in zehn Jahren für gerade mal zwei Aufnahmen ins Studio schleppen konnte und die Auswahlmöglichkeiten damit signifikant ausdünnte. Ich habe bereits an anderen Stellen dieses Blogs wortreich dargestellt, wie wichtig diese Band für mich war (und weiterhin ist), und wie viel sie dafür getan hat, dass ich heute genau jener Mensch bin, der ich bin. Die sowohl mir als auch der Band weniger gut gesinnten mögen das in der Endabrechnung zwar nicht unbedingt positiv hervorheben und eher als tragischen Beleg so mancher charakterlicher Unzulänglichkeit interpretieren, aber das kann ich aushalten. Und Propagandhi sowieso. 

"Failed States" aus dem Jahr 2012 kann es zwar, wie auch auch 5 Jahre später erschienene Nachfolger "Victory Lap", nicht ganz mit den beiden Sternstunden "Supporting Caste" und "Potemkin City Limits" aufnehmen, aber erstens: wer kann das schon? Und zweitens wischt die Band auch mit minimal gedrosselter Durchschlagskraft noch immer mit der gesamten Genrekonkurrenz den Boden auf: ein durchtrainiertes Kraftpaket wie das fünfundsechzig Sekunden furios durch Raum und Zeit ballernde "Status Update" hat keine einzige andere Band jemals geschrieben. Wahrscheinlich hat es auch noch keine andere Band jemals auch nur versucht. Und vielleicht können all die "bitter ex-musician cum embedded rock-journalists" und Milchsemmel-Know-It-Alls, die jede achtelsteife Punkrock-Parodie mit dem dampfendem Germknödel-Uffta-Uffta-Beat aus Schnarchhausen an der Brenz sich ja wenigstens dieses eine Mal die gute Minute freinehmen, um die Murmel wieder zu kalibrieren und den ganzen schamlos-kraftlosen Rest auf den großen Haufen Wohlfühlabfall zu werfen, an den sich eine ganze Szene bis zur totalen Besinnungslosigkeit drankuschelt. 




Von der ersten Sekunde des ungewöhnlichen und hinsichtlich der Intensität entfernt gar an New Model Army erinnernden Openers "Note To Self" bis zum letzten Wahnsinnsstakkato des umwerfenden Abschlusstracks "Duplicate Keys Icaro (An Interim Report)" ist "Failed States" ein atemberaubendes, herausforderndes, sehniges und ruppiges Meisterwerk, technisch auf allerhöchstem Niveau, textlich beinahe pathologisch klar, multidimensional und herzzerreißend schmerzhaft. Oder schmerzhaft herzzerreißend?

There is no me. There is no you. There is all. There is no you. There is no me. And that is all. A profound acceptance of an enormous pageantry. A haunting certainty that the unifying principle of this universe is love.

(aus "Duplicate Keys Icaro")


Ein auf ewig hell leuchtendes Vorbild. 




Erschienen auf Epitaph Records, 2012. 

12.07.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Arch/Matheos - Winter Ethereal




ARCH/MATHEOS - WINTER ETHEREAL


Es liegt ein bisschen in der (meiner) Natur der (meiner) Sache, dass jene Alben, die in den letzten nasagenwirmal ein bis zwei  Jahren erschienen sind, in dieser Bestenliste etwas unterrepräsentiert sind. Ich habe die Neigung, Platten erleben zu wollen. Gemeinsame Geschichten schreiben, Erinnerungen entwickeln, Anker setzen, tiefer graben. Das geht fast immer nur mit Zeit. Manchmal dauert es Jahre, bis die Annäherung deutlich geworden ist. Und manchmal geht es andererseits überraschend flott, meistens dann, wenn die Gegebenheiten nicht völlig neu und unbekannt sind. Bei The Sea And Cake beispielsweise ist's einfach, da stehen sämtliche Scheunentore schon seit Jahren offen und der Weg zur großen ganzen Ergebenheit ist nicht mehr so weit. Ähnliches darf ich auch über das aktuellste Album in dieser Liste schreiben, denn der Boden für "Winter Ethereal" ist im Prinzip gleichfalls seit Jahren vorbereitet. 

Und so schrieb ich es bereits vor wenigen Monaten ins Internet hinein: wenn es in den 35 Jahren meiner Leidenschaft für Musik eine Konstante gibt, dann ist es Progressive Rock und Metal, meinetwegen in allen Spielarten, Subgenres und Auswüchsen. Ich bin mir nicht sicher, ob diese Affinität tatsächlich wiederbelebt werden musste, möglicherweise gilt das höchstens und im Besonderen für aktuelle Bands und Platten, aber "Darkness In A Different Light" und vor allem "Theories Of Flight" von Fates Warning waren zweifellos verdammt laute Weckrufe für ein Genre, das ich nicht unbedingt im Verdacht hatte, mich nochmal derart zu begeistern. Vor diesem Hintergrund ist es vermutlich keine riesige Überraschung mehr, "Winter Ethereal" bereits ein gutes Jahr nach der Veröffentlichung schon in einer Bestenliste für das ganze Jahrzehnt zu sehen. Der Apfel fällt eben nicht weit vom Stamm.

Und da schließt sich folgerichtig ein weiterer Kreis für "Winter Ethereal", sind John Arch und Jim Matheos doch die teils ehemaligen (Arch), teils noch aktiven (Matheos) Protagonisten von Fates Warning. Sieben Jahre nach dem Debut "Sympathetic Resonance" haben die beiden Superhelden im Jahr 2019 alle Regler auf Anschlag gedreht: Virtuosität, Kraft, Melodie, Komplexität, Tiefe, Klang - viel mehr ist für einen, der den jüngeren Entwicklungen im Metal mit einiger Skepsis gegenübersteht, kaum mehr vorstellbar. Keine aufgesetzte Härte, kein martialisches Herumprotzen, kein Image-Dachschaden, keine nukleare Atomreaktor-Produktion, stattdessen echte Durchschlagskraft durch überragende technische Fähigkeiten, ein über alle Ebenen gespanntes und bis in die letzte Ritze totalarrangiertes Melodieverständnis und mit John Arch ein Sänger, der die komplette Kontrolle über alle lyrischen Höhen und Tiefen hat und sich wie entfesselt durch diese neun Songs schraubt - unaufhaltsam, uneinholbar, unnachahmlich. Sollten sich von seiner Entscheidung, künftig nicht mehr auf Tournee gehen zu wollen, Indikationen auf das baldige Ende seiner Gesangskarriere ableiten lassen, so hat sich dieser Mann mit "Winter Ethereal" sein eigenes, ultimatives Denkmal gesetzt. Ich wüsste auch ehrlich gesagt nicht, was noch einer solchen Darbietung noch kommen soll. 

Herzklopfen. Feuchte Hände. Freudentränen. Ein echter Meilenstein des Heavy Metal. 




Erschienen auf Metal Blade, 2019. 



26.05.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Fates Warning - Theories Of Flight




FATES WARNING - THEORIES OF FLIGHT


Jim Matheos und Ray Alder bliesen mir vor vier Jahren den eigentlich längt eingemottet geglaubten Heavy Metal-Marsch zurück ins Haus, und wo das gesagt ist: nicht nur mir! Die Herzallerliebste, schwerem Metall ansonsten nicht über alle Maßen zugeneigt, zeigte sich ebenfalls beeindruckt und hörte vor allem den zentralen Über-Song dieses Albums "The Light And Shade Of Things" über einen kompletten Sommer hinweg täglich auf heavy rotation - in voller Anerkennung des Kults um die Frühwerke der Band seitens der sowieso sehr loyalen Fanbase, ist dieser zehnminütige Wahnsinnstrack vielleicht das Beste, was jemals aus Herz und Hirn der beiden eingangs erwähnten Männer herausfiel. 

Folgerichtig sind die zwei auch die Stars dieser Platte. Alder mit seiner unnachahmlich dunkel-aufgerauten, gereiften und nie besser klingenden Stimme und Gitarrist/Songwriter/Kompass Jim Matheos, letzterer aus drei Gründen. Erstens: niemand spielt so wie er. Zweitens: niemand schreibt so wie er. Drittens: Niemand produziert so wie er. Wer hat denn bitte jemals eine besser klingende Metalgitarre gehört als in der Single "Seven Stars" und ihrem in voller Breitseite durchgepeitschten offenen D-Akkord? Eben - niemand! 

"Theories Of Flight" ist das beste Fates Warning-Album aller Zeiten.




Erschienen auf Inside Out, 2016.

21.03.2020

Werbeunterbrechung



Bevor wir mit den besten Platten des letzten Jahrzehnts weitermachen, gibt's noch eine kurze Pinkelpause Werbepause. Meine kleine Punkband hat ihr Zeltlager auf Bandcamp etwas umgemodelt und bietet nun die komplette Diskografie für sagenhafte 4 Euro an - das sind immerhin dreieinhalb Alben mit...naja: ein paar Minuten Spielzeit. Mit einem Klick ist all das Dein.





Damit wir uns von der Kohle keinen vierten Geldspeicher in ein unberührtes Waldgebiet in Südamerika bauen lassen müssen, haben wir uns dazu entschlossen, die Wiesbadener Kulturkneipe Sabot zu unterstützen. Das Sabot erhielt im vergangenen Jahr bereits die Kündigung der Räumlichkeiten zugestellt und hätte die Pforten zum 31.März schließen müssen - der Coronadreck und die anschließenden Auflagen für die Konzerte und Parties haben dann leider eine vorgezogene Schließung ab Mitte März notwendig gemacht.

Aktuell suchen die Betreiber eine neue Bleibe - und ein Lager:

"Aktuell suchen wir noch nach einer Lagermöglichkeit, trocken sollte sie sein und 10-15qm Fläche haben. Gerne ebenerdig und jederzeit zugänglich. Falls ihr Ideen oder Tipps habt, gebt uns gerne Bescheid. Für den Herbst suchen wir nach einer neuen Location, auch hier sind wir auf eure Augen und Ohren angewiesen. Egal ob ein runtergerockter Keller oder eine alte Werkstatt im Hinterhof, alles ist möglich!"

http://kulturkneipe-sabot.de/?p=210

Blank When Zero haben über die Jahre vier Mal im Sabot gespielt, zum ersten Mal im Winter 2012 als Support für die Stage Bottles. Hier sind ein paar Bilder dieses Abends:









Wir haben uns im Sabot mit seinen tollen Mitarbeitern und Gästen immer wohlgefühlt. Und es war bislang der einzige Club, den wir tatsächlich mal leerspielten - Nach 15 Minuten unseres Gebretters war nur noch die Dame am Mischpult und der Herr hinter dem Tresen im Raum.

Das Sabot war für die Untergrundszene eine Oase im piefigen Wiesbaden (um Missverständnisse zu vermeiden: ich liebe Wiesbaden mit jeder Faser meines Körpers, aber ich bin auch superpiefig!). Es wäre ausgesprochen wünschenswert, wenn der Laden an anderer Stelle weiter existieren kann.

Um dabei ein bisschen zu helfen, haben wir uns dazu entschlossen, alle Einnahmen, die in der kommenden Zeit über die Downloads oder den Verkauf der limitierten Schallplatte unseres Albums "Einerseits" auf unserer Bandcampseite reinkommen, dem Sabot zu spenden.


Wenn ihr also ein paar Kröten übrig habt, dann freuen wir uns über Eure Unterstützung.

Vielen Dank!

Bleibt so schön!
Simon, Marek, Flo

07.03.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Minus The Bear - Omni




MINUS THE BEAR - OMNI


Der erste ernsthafte Versuch dieser, und es darf mittlerweile so gesagt werden: Indierock-Ikone aus Seattle, jeden in ihren Augen überflüssigen Ballast aus ihren Songs zu entfernen, führte zu einem Album, über das ich bereits vor acht Jahren dachte, man sei nur noch einen Katzensprung von einem unveröffentlichten Genesis-Album aus den 1980er Jahren entfernt - und bevor die Frage aufkommt, wie das jetzt schon wieder zu verstehen sei: natürlich nur im allerbesten Sinne. 

Ganz vielleicht wollten sowohl Band als auch Label mit "Omni" auch den Weg in Richtung Mainstream und damit Weltherrschaft gehen, bis ein paar Jahre später klar war, dass dafür schon so einiges zusammenkommen und -passen muss. Dabei hätte es meinethalben gerne klappen können - und ihr fünftes Album wäre geradezu dafür prädestiniert gewesen. Sänger Jake Snider sang auch auf "Omni" immer noch von allerlei Anzüglichem, während er sich bekifft in den Bettlaken räkelte, hatte aber nun die Mathrock-Hühnerbrust mit einem Holzfällerhemd verdeckt und ließ sich außerdem einen stattlichen Vollbart stehen, in dem sich die Sünden der vergangenen Nacht sammelten. 

Für unbeschwerte Sommertage mit Hanfplantage in Hanglage und einem handgepressten Pferdeapfelburger aus der Hipster-Manufaktur gibt es fast nichts Besseres. 



Erschienen auf Dangerbird Records, 2010.



29.02.2020

Warrior Soul - Live In London 2000




Endlich! Endlich, endlich, endlich! FUCKING ENDLICH!

Ich frage mich seit 20 Jahren, warum von der sagenumwobenen Reunionshow der besten Rockband des Planeten im herbstlichen London des Jahres 2000 bislang weder etwas zu sehen, noch zu hören war. Die Antwort auf diese Frage bleibt auch die heutige Entdeckung schuldig, aber immerhin ist hiermit nun die bild- und tonlose Zeit endlich vorüber.

Bereits im April des vergangenen Jahres erbarmte sich Gerry Gillan und lud die komplette Show auf Youtube hoch: Warrior Soul - Live In London.

Etwa zwei Monate nach diesem Gig veröffentlichte die Band das "Classics"-Album, eine Zusammenstellung ihrer größten Hits (in weiten Teilen sogar neu eingespielt) und wären diese vier Bekloppten jemals halbwegs bei Trost gewesen, hätten wir vielleicht sogar ein neues Studioalbum in der Originalbesetzung hören dürfen - aber es kam, wie es wohl kommen musste, und die Band, in dieser Besetzung traditionell ein einziges Pulverfass, brach erneut auseinander. Dieses Mal für immer: Schlagzeuger Mark Evans wurde 2005 in England ermordet. Mit ihm wurde auch das Original-Lineup begraben. 

Dieses Video ist pures Gold, ein heiliger Gral für die mittlerweile äußerst überschaubare Fangemeinde. 

Und wer nochmal nachlesen möchte, was ich vor über acht Jahren (fucking hell!) über Warrior Soul zu denken, sagen und schreiben hatte, nimmt sich einen halben Tag frei und macht schon mal die Hose auf:







08.02.2020

Best Of 2019 ° Platz 1 ° Arch/Matheos - Winter Ethereal




ARCH/MATHEOS - WINTER ETHEREAL


Selbst meine seit knapp 20 Jahren andauernden Streifzüge abseits der gleichfalls geliebten Rockmusik und also durch das Dickicht solch unterschiedlicher Genres wie Jazz, Electronica, Techno, Ambient, Soul und Funk können es nicht verhehlen. Es war nie sexy und es wird wohl auch niemals sexy sein, aber ich komme wohl nicht drum herum: Progressive Rock und -Metal sind meine Inseln, meine Leuchttürme und meine Rettungsanker. Und bevor mir noch ein weiteres maritimes Bild einfällt, will ich's schnell begründen. Sollte ich jemals auf die Idee kommen, meine, sagenwirmal 50 meistgeliebten Alben in einer Art Reihenfolge aufs Papier zu bringen, stehen die Chancen für einen mindestens 70% ausmachenden Anteil jener Musik nicht schlecht, die gemeinhin unter dem Rubrum "progressiv" firmiert. King Crimson, Dream Theater, Atheist, Marillion, Voivod, Fates Warning, Spock's Beard, Psychotic Waltz, Tool würden allesamt gleich mehrfach in dieser Liste auftauchen, und bis heute komme ich trotz meiner immer noch sehr ausgeprägten Auseinandersetzung mit neuer Musik immer wieder und sehr regelmäßig zu diesen Bands und ihren Platten zurück. Um ehrlich zu sein: je älter ich werde, desto öfter kehre ich zurück. 

"Winter Ethereal" sollte also auf fruchtbaren Boden fallen - auch ohne besondere Affinität zum Kultalbum Fates Warnings "Awaken The Guardian" aus dem Jahr 1986, das die Band zum letzten Mal mit Sänger John Arch zeigte, bevor Ray Alder zum Quartett aus Conneticut stieß, der seitdem höchstens noch von ein paar Betonköpfen von der Sängerposition wegzudenken ist.

Gut sieben Monate nach der Veröffentlichung ist "Winter Ethereal" meine Platte des Jahres 2019. 

Ich möchte den Anteil von Gitarrist Jim Matheos an diesem Titel nicht schmälern; der Mann erlebt bereits seit einigen Jahren seinen x-ten kreativen Frühling und seine aktuellen Kompositionen für Fates Warning sowie für "Winter Ethereal" sind vielleicht die besten, die er je geschrieben hat. Seine Produktionen sind absolut state-of-the-art; ich habe seit 20 Jahren keine so natürlich und gleichzeitig so groß und offen klingende Metalplatte mehr gehört. Seine Sounds sind geschmackvoll und mehrere Universen von stumpfem Haudrauf-Metal entfernt, stattdessen wohlüberlegt und mit großer Erfahrung ins Sounddesign eingepasst. Auch seine Auswahl von Begleitmusikern für "Winter Ethereal" ist beeindruckend: nicht nur hat er beinahe die ganze Fates Warning Truppe zusammengetrommelt, inklusive früherer Mitglieder Mark Zonder und Frank Aresti, sondern darüber hinaus auch noch Steve DiGiorgio, Sean Malone und Schlagzeuger Thomas Lang für dieses Projekt gewinnen können. Matheos ist ein nimmermüder Suchender, ein intelligenter, emotionaler und introvertierter Musiker, der immer den berühmten Schritt weitergehen möchte, ohne dabei die klassische Signatur seiner Musik zu verlieren. 

Der eigentliche König auf "Winter Ethereal" ist aber Sänger John Arch. Ich habe schon sehr lange keinen Sänger mehr so singen hören. Arch hat sich nach seinem Abschied von Fates Warning vor über 30 Jahren sehr rar gemacht. Außer einer in den frühen nuller Jahren erschienenen EP tauchte er erst 2012 für das erste Arch/Matheos-Album "Sympathetic Resonance" wieder auf. Die Legende sagt, dass er in seinen Ruhephasen überhaupt nicht singt und deswegen ein ganzes verdammtes Jahr zur Vorbereitung benötigt, um entweder ein Aufnahmestudio zu besuchen oder eine Bühne zu betreten, damit er den Rost aus den Stimmbändern kratzen kann. Wer "Winter Ethereal" hört, mag das verstehen: Arch singt um sein Leben. Er singt viel, sehr viel sogar - beinahe ohne jede Verschnaufpause geht es in den allerhöchsten Stimmlagen über die gesamte Spielzeit dahin; tatsächlich wird seine Performance nur von zwei oder drei etwas längeren Gitarrenduellen zwischen Matheos und Aresti bewusst unterbrochen. Jeder ängstlich herbeihallizunierte Reflex, diesen extrem verschnörkelten, aus jedem Ruder laufenden, wieselflink zusammengepuzzelten Gesangslinien selbst zu folgen, sie also nachzusingen, wandert meist nach zwei Sekunden in die nächstbeste Tonne, stattdessen überfällt mich ein Gänsehautschauer nach dem anderen. Sein Gesang, seine Stimme, seine Texte so kraftvoll und so mächtig, seine Melodien so überwältigend, dass ich mir manchmal nicht anders zu helfen weiß als (i) in die Knie zu gehen, (ii) den Tränen freien lauf zu lassen oder (iii) der Herzallerliebsten nachts um 2 eine astreine Air-Mic-Vorstellung vor dem Plattenspieler zu geben. Irgendwo müssen die Gefühle ja hin. 

Alles, was mir musikalisch soviel bedeutet, ist hier zu finden: die emotionale Tiefe von Psychotic Waltz, die Dunkelheit und Melancholie der "Pleasant Shade Of Grey"-Phase von Fates Warning, die Komplexität und Wucht von Nevermore, die Verspieltheit von Dream Theater. Und doch könnte "Winter Ethereal" nicht weiter von Nostalgie und Pastiche entfernt sein.

Ich schrub im hellen Lichte von "Theories Of Flight" bereits vor drei Jahren, dass ich mich so darüber freuen konnte, diese Gefühle wieder entdeckt zu haben: ein hochklassiges, echtes, authentisches, tiefes, melancholisches, herausragend komponiertes und atemberaubend gut gesungenes Metalalbum hören zu dürfen. Jetzt ist es dank "Winter Ethereal" also wieder passiert, vielleicht sogar noch ausgeprägter als 2016. 

Ein echter Meilenstein, ein Meisterwerk, ein absolutes Ausnahmealbum, das mir bis zum Schlagen des letzten Stündleins nie mehr von der Seite weichen wird. 




Erschienen auf Metal Blade Records, 2019.


02.02.2020

Best Of 2019 ° Platz 3 ° GOLD - Why Aren't You Laughing?




GOLD - WHY AREN'T YOU LAUGHING?


Es hat etwas Zeit benötigt, bis ich den Zugang zu GOLD fand. Vermutlich waren angesichts personeller Parallelen zur mittlerweile aufgelösten Quatschcombo The Devil's Blood (GOLD-Gitarrist und -Gründer Thomas Sciarone) meine anfänglichen Vorbehalte zu prominent im Stammhirn platziert, was eine frühere Annäherung nahezu unmöglich machte - manchmal bin ich so, ich kann's nicht wirklich ändern. Mittlerweile sieht die Welt anders aus. GOLD sind die vielleicht bemerkenswerteste Rockband dieser Tage und haben seit dem eher unspektakulären Schalala-Rock ihres Debuts "Interbellum" aus dem Jahr 2012 eine atemberaubende Entwicklung durchgemacht. "Why Aren't You Laughing?" ist zweifellos der bisherige Höhepunkt dieser Transformation: die mystische, dunkel schimmernde Mixtur mit Elementen des Gothic-, Post- und Indierocks mit der gleichermaßen entrückt wie glasklar durch die Songs schwebenden, endlich auch selbstbewussten Stimme Milena Evas und die aus dem Black Metal aufgefächerten Gitarrenfiguren ergeben einen Sound, wie ihn die Welt bislang noch nicht gehört hat. 

Und das ist vielleicht das Problem für das Erreichen der Weltherrschaft. Die Band spielte vor wenigen Tagen im Aschaffenburger Colos-Saal vor gerade mal 50 Zuschauern eines ihrer seltenen Solokonzerte (ansonsten werden sie auch 2020 in erster Linie auf Festivals zu sehen sein) und mir wurde plötzlich klar: die sind mit dieser musikalischen Mischung nebst der konzeptionellen Choreografie und den starken, feministischen, für Gleichberechtigung und eine offene, freie Gesellschaft einstehenden Texten vielleicht ein paar Jahre zu früh dran. Und überhaupt: fragt mal eine feministische Band wie beispielsweise War On Women, was sich an frauenfeindlicher Scheiße in den Kommentarspalten ihrer Youtube Videos abspielt. Man kommt nicht drum herum: was der rockende Bauer nicht kennt, frisst er eben nicht, und so mancher ist darüber hinaus auch einfach, pardon, klotzehohl. Ich kann das sagen, weil ich schließlich auch hin und wieder die Heugabel im Kopf stecken habe; wer einen Beweis braucht: er findet sich im einleitenden Satz dieses Beitrags. 

Ich kann nur hoffen, dass die Band weitermacht - eigentlich sollten sowohl von dieser Band im Allgemeinen, als auch von dieser ganz hervorragenden und tief bewegenden Platte wahrlich ein paar mehr Menschen Notiz nehmen. Denn wer weiß, wie eiskalt mich aktuelle Rockmusik für gewöhnlich lässt und für wie austauschbar, stumpf, oberflächlich und mutlos ich den beinahe ganzen übrigen Sauhaufen halte, darf sich nun die wildesten Träume über die Qualität von GOLD ausmalen. 

Sie sind alle wahr. 



Erschienen auf Artoffact Records, 2019.

25.01.2020

Best Of 2019 ° Platz 7 ° New Model Army - From Here




NEW MODEL ARMY - FROM HERE


Ich fühle mich seltsamerweise immer noch nicht wirklich dazu berufen, umfassend über New Model Army zu schreiben. Meine erste echte Auseinandersetzung mit der Band begann schließlich erst mit dem letzten Studioalbum "Winter" aus dem Jahr 2016, davor nahm ich sie entweder über Coverversionen von Anacrusis und Sepultura wahr, oder sortierte sie angesichts der ersten fünf als Klassiker geltenden und von mir erst lange Zeit nach Veröffentlichung gehörten Alben in das Fach für jene Legenden ein, an die ich emotional nie so richtig herankommen sollte und mit denen daher die Bindung nie so bedeutsam eng wurde. "Winter" sollte das allerdings recht schnell ändern.

Angesichts meines Musikkonsums, der nicht immer zwingend vorsieht, mich in 30 Jahre alte Platten zu verlieben, liegt die Vermutung nahe, dass sowohl die direkte Beschäftigung mit "Winter", als auch das fleißige Baggern von Freund und Die Hard-Fan Jens dabei kräftig mithalfen. Auch Tobis Thekenumschau-Blog und sein NMA-Listensofa führten mich weiter in ihre Diskografie ein. So kamen der Vorgänger "Between Wolf And Man", sowie die eingeschobene Studio/Live-Mischmasch-LP "Between Wine And Blood" als nächstes ins Ohr und in die Sammlung. Es funkte also so allmählich zwischen New Model Army und mir. 

"From Here" hat nun sogar Brandbeschleuniger im Gepäck und ich verzichte demonstrativ auf einen Feuerlöscher. Und ganz möglicherweise kommt folgendes Statement bei dem ein oder anderen NMA-Jünger nicht so gut an wie Genschmans Balkonrede bei den Menschen in der deutschen Botschaft in Prag, aber sei's drum: das ist die beste New Model Army Platte, die ich kenne. Und damit wir uns richtig verstehen: ich kenne immerhin ein paar. Zugegeben, zwischen 1998 und 2013 klafft noch eine große Lücke, aber ICH KANN JA AUCH NICHT ALLES HÖREN! 

Jedenfalls: "From Here" ist hinsichtlich der Atmosphäre, der Instrumentierung, der Eindringlichkeit, der Songs, des Covers, der Stimme, der Texte, der Ernsthaftigkeit...Achtung, uffjepasst, jetzt kommt's nochmal: ihre beste Platte. 

Case closed. Get over it. 



Erschienen auf Attack Attack Records/Ear Music, 2019.