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15.08.2025

My Nineties Were Better Than Your Nineties - #186: Tiamat - A Different Kind Of Slumber




TIAMAT - A DEEPER KIND OF SLUMBER


„Die Eintagsfliege wird bereits zwölf Stunden nach ihrer Geburt von ihrer Midlife-Crisis erwischt. Das muss man sich mal klarmachen!“ (Loriot)


Mir fällt es schwer, die Gedanken zu "A Deeper Kind Of Slumber" zu sortieren. Ich habe auch außerhalb dieser Rückschau auf die neunziger Jahre immer wieder unangenehm häufig von "Anything Goes!" gesprochen, um die Aufbruchstimmung, den kreativen Mut und die Offenheit sowohl von Musikern als auch von Fans in diesem so besonderen Jahrzehnt zu beschreiben - und jedes Mal frage ich mich, ob derlei Charakterisierungsquark möglicherweise nicht doch auch nur ein typisch romantisiertes Narrativ ist, das sich über die Jahre wie eine Nebelbank über die eigene Erinnerung gelegt hat. "A Deeper Kind Of Slumber" war 1997 ein wirklich mutiger Schritt für eine Band, die erst sieben Jahre früher mit tiefschwarz rumpelnden Death Metal auf "Sumerian Cry" debutierte. Selbst wenn die nachfolgenden Alben, allen voran die heute als Klassiker geltenden "Clouds" (1992) und ganz besonders "Wildhoney" (1994), weitgehend mit der Death Metal Vergangenheit brachen und damit die nicht gerade für ihre Toleranz bekannte Fanbase immerhin darauf vorbereiteten, dass Bandgründer und Songschreiber Johan Edlund kein Interesse daran hat, Erwartungen zu erfüllen und sich stilistisch einzuschränken, war der Sprung zum fünften Studioalbum der Band ein gewaltiger. 

Und weil das umgehend in den ersten vier Minuten des Albums klargemacht werden musste, eröffnete Edlund das Werk nicht nur mit dem von einer poppigen Gitarrenmelodie getragenen und sehr eingängigen "Cold Seed", sondern koppelte den Song auch noch als erste (und einzige) Single aus, um wirklich jedes Missverständnis hinsichtlich seiner kreativen Vision aus dem Weg zu räumen. 

Die Mehrheit derer, die sich von "A Deeper Kind Of Slumber" eine Fortführung des auf "Wildhoney" etablierten Black Floyd Pink Sabbath-Stils erhofften, gingen also hier schon über Bord - und sie hätten für die nächsten 55 Minuten des Albums so oder so vor gewaltigen Herausforderungen gestanden. Denn eigentlich legen Tiamat sogar erst nach dem Opener so richtig los: Edlund verarbeitet seine Erfahrungen mit Psilocybin und LSD und erkundet Traumwelten, in die sich Dead Can Dance, Depeche Mode und Pink Floyd für eine psychedelische Orgie zu Midsommar eingebucht haben. "A Deeper Kind Of Slumber" ist außergewöhnlich couragiert und ambitioniert - und fiel zu seiner Zeit erwartungsgemäß beim Publikum durch. Ich sehe knapp dreißig Jahre später Anzeichen einer Rehabilitierung, aber die Frage bleibt: waren die Neunziger am Ende also doch nicht so aufgeschlossen und unvoreingenommen, wie ich sie abgespeichert habe? Ich habe dafür keine endgültige Antwort in der Tasche, zumindest keine, die sich in fünf oder fünfhundert Zeilen ausformulieren ließe, aber immerhin lieferte das Jahrzehnt jenen Nährboden, der Platten wie "A Deeper Kind Of Slumber" überhaupt erst ermöglichte. 

Das mag jetzt ein wenig prätentiös sein, aber ich bin wirklich glücklich darüber, diese Zeiten miterlebt zu haben.


Vinyl und so: Die 1997er Originalpressung mit dem Artwork der europäischen Albumversion bekommt man in gutem Zustand für +/-50 Euro. Erstmal wurde die Platte im Jahr 2009 von Black Sleeves auf Vinyl neu aufgelegt, gefolgt von Century Media-Nachpressungen im Jahr 2018 in vier verschiedenen Farben als Gatefold und mit dem US-Amerikanischen Artwork (das tatsächlich noch diskussionswürdiger ist als die EU-Variante). Gepresst in Deutschland von Optimal Media - und zwar fehlerfrei und mit tollem Sound. Anschließend veröffentlichten Transcending Records aus Chicago (ein äußerst fragwürdiger Laden, Vorsicht ist geboten) und Church Of Vinyl (mit nochmals verändertem Artwork) Nachpressungen.


 



Erschienen auf Century Media, 1997.

02.08.2025

My Nineties Were Better Than Your Nineties - #188: Candlebox - Candlebox




CANDLEBOX - CANDLEBOX


"Das Leben ist eine immer dichter werdende Folge von Finsternissen." (Thomas Bernhard)


Dieser 1990 gegründeten Band aus Seattle haftete für lange Zeit ein ähnlicher Makel wie den Stone Temple Pilots an, dass sie also nur deshalb auf der Erfolgswelle surften und es bis nach ganz oben schafften, weil Majorlabels noch den allerletzten Dollar aus Seattle, Grunge und Flanellhemden herauspressen wollten und dafür Kanonenfutter Bands benötigten, die einen bestenfalls identischen Sound wie die großen Vier - Nirvana, Pearl Jam, Alice In Chains, Soundgarden - spielten, und die vor allem schnell wieder vor die Tür gesetzt werden konnten, wenn die nächste musikalische Sau durchs Dorf getrieben werden musste. Ein Schweinesystem ist eben ein Schweinesystem. 

Musikalisch substanzlos, billig, irrelevant, alles nur geklaut - und dann auch noch schlecht: die Hasswichsorgien in der Musikpresse nahmen kein Ende. Dabei war die Basis für derlei Argumentation in erster Linie ein ganzes Pfund Neid, gefolgt von gekränkten Egos, dem Eros des Verrisses und selbstredend einer schweren Hirninfektion, denn richtig zugehört hatte hier niemand. Bis eben auf die vier Millionen US-Amerikaner, die das Debut von Candlebox kauften und bis auf Platz 7 der Billboard Charts schoben. Zwar erreichte das Album die Top 10 erst im Zuge des Durchbruchs der dritten Single "Far Behind" mit einer Verspätung von einem Jahr, aber dann blieb "Candlebox" für sagenhafte 104 Wochen in den Charts. Je sais, je sais: Ähnliches hat Bohlens musikalischer Penisbruch Modern Talking auch schon geschafft. Ich hör' ja schon auf.

Drei Jahrzehnte später wirken solche Diskussionen in Hinblick auf Seattle-Bands der dritten Welle völlig bizarr. Während ich immer noch darauf warte, dass endlich mal jemand diesen ganzen Quatsch aus der ersten Hälfte der 90er Jahre in einem Buch neu einordnet und mit ein paar der beklopptesten Narrative kurzen Prozess macht, erzähle ich noch schnell etwas über "Candlebox", denn darum sind wir ja alle hier: Wer sich also eine Melange aus Blind Melon, einem Klecks Mother Love Bone und den eingängigen, rockigen Momenten der ersten beiden Pearl Jam-Alben mit einem wirklich herausragenden Sänger (Kevin Martin) vorstellen kann, hat ein ganz stimmiges Bild dessen vor Augen, was auf der Agenda steht. Das Album warf mindestens dreieinhalb erfolgreiche Singles ab, ich bin aber der Ansicht, dass die übrigen Songs mindestens genau so viel Spaß machen - vor allem, wenn die Band wie in "Mothers Dream" mit psychedelischen Elementen herumspielt. Das ist mitnichten gefährlich oder gar eine Grenzverschiebung. Aber es ist über die Maßen vergnüglich. Sorry, not sorry. 


Vinyl und so: "Candlebox" erschien auf Vinyl erstmals 1995 im Doppelpack mit dem zweiten Album der Band "Lucy" (absolut ebenbürtig und ebenfalls überaus empfehlenswert!). Diese Edition war für viele Jahre nicht nur sehr selten, sondern fast schon zwangsläufig sehr teuer. Wenn man mich fragt, ist das genau die Ausgabe, für die es sich am meisten lohnt, die Augen aufzusperren - in erster Linie, weil es für "Lucy" bislang noch kein eigenständiges Reissue gibt. 2017 gab es von der Doppelveröffentlichung einen Re-Release, der aber aktuell vor allem in den USA zu bekommen ist. Das Debut wurde 2020 erstmals von Music On Vinyl als Einzelrelease auf silbernem und schwarzem Plastik wiederveröffentlicht - das schwarze Vinyl bekommt man aktuell mit etwas Glück noch für 30 bis 40 Euro. Wer richtig in die Vollen gehen will, besorgt sich hingegen das auf Rhino erschienene "Maverick Years" Boxset mit vier Alben auf insgesamt sieben LPs.


 




Erschienen auf Maverick, 1993.

26.07.2025

My Nineties Were Better Than Your Nineties - #189: Corrosion Of Conformity - Wiseblood




CORROSION OF CONFORMITY - WISEBLOOD


"Nicht Merkel hat die Flüchtlingsströme ausgelöst. Der Auslöser war, dass den Millionen von Flüchtlingen in der Türkei, Jordanien und dem Libanon von den reichen Industrienationen die Hilfsgelder für die Nahrungsversorgung aus purem Geiz halbiert wurden, gegen alle Warnungen der Fachleute. Dann haben sich Hunderttausende in Bewegung gesetzt." (Georg Schramm)

 

Corrosion Of Conformity haben in den neunziger Jahren drei Alben veröffentlicht - und die Entscheidung, einfach alle stumpf in die Top 200 zu schmeißen, wäre so grundfalsch nicht. Oder lassen Sie es mich präzisieren: jedes Neunziger-Werk der Band aus North Carolina könnte in den Top 200 stehen. Aber es ist wie im Kapitalismus: jeder kann hier reich werden - aber eben nicht alle. 

Nun ist allzu breitbeinige Rockmusik mit Südstaatenduktus und Macho-Attitüde so ziemlich das letzte, mit dem ich in Verbindung gebracht werden möchte, und wer vor allem ihre Alben ab "Blind" (1991) kennt, könnte angesichts dieses just öffentlich gewordenen Widerspruchs des feinen Herrn Florian die Stirn mal wieder in eine schöne Mondlandschaft verwandeln. Aber kann ich mich gegen diesen unerbittlichen Groove wehren? Gegen diese Gitarrenriffs, die durch Panzerglas marschieren können? Gegen eine Produktion, die so lebhaft, so dreckig, so real ist? Ich lamentiere seit Jahren über den ganzen zeitgenössischen rockmusikalischen "Schmarrn" (Beckenbauer), der vom Bodensatz sowohl moralisch wie künstlerisch heruntergekommener Produzenten, Managern und Musikern so anpassungsfähig und zum Kotzen schmutzabweisend hingestrickt wurde, als sei's eine beige OuTdOoRjAcKe für die Sonntagswanderung auf den Rotzenbiegel oder wohin - da lass' ich mal Fünfe gerade sein, wenn das atmosphärische Testosteronniveau in den roten Bereich ausschlägt. 

Die Entscheidung für DIE_LISTE fiel praktisch im letzten Moment auf "Wiseblood", das damit den vormals gesetzten und im Jahr 1994 erschienenen Vorgänger "Deliverance" aus dem Rennen nahm. Die Herzallerliebste fragte mich zuletzt beim Testhören, was das denn jetzt eigentlich sei: "Läuft das eigentlich unter Metal? Stoner? Alternative? Oder ist es einfach nur...naja....Rock?!" - und "Wiseblood" ist genau das Album ihrer Diskografie mit der eindeutigsten Antwort auf Fragen wie jene: All of the above. Maximal eklektisch - und gleichzeitig genuin und kompromisslos. Und außerdem einfach heavy as fuck! 


Vinyl und so: Das auf Reissues spezialisierte Label Music On Vinyl (MOV) veröffentlichte in den letzten Jahren einige Titel der Band, neben dem ebenfalls als Klassiker geltenden und oben erwähnten "Deliverance" gehört auch "Wiseblood" dazu. Die Version auf schwarzem Vinyl ist aktuell noch für um die 30 Euro erhältlich und auf jeder Ebene absolut empfehlenswert. Es wird gemunkelt, dass Music On Vinyl hinsichtlich der Lizenzierungen für ihre Nachpressungen hier und da im Zwielicht agieren, ihre Qualitätsstandards liegen allerdings auf dem allerhöchsten Regal. Für die 2019, beziehungsweise 2020 erschienenen Varianten auf farbigem Vinyl, ebenfalls über MOV, müssen zwischen 50 und 70 Euro bezahlt werden. Für die Originalpressung in halbwegs gutem Zustand - die Platte ist immerhin mittlerweile auch knapp 30 Jahre alt - kann es dreistellig werden.



Erschienen auf Columbia Records, 1996.

12.07.2025

My Nineties Were Better Than Your Nineties - #192: Quicksand - Slip




QUICKSAND - SLIP


“Love heals scars love left” (Henry Rollins)


Ähnlich wie zuletzt im Text zu Anacrusis' "Manic Impressions" über das kleine Zeitfenster der sogenannten Techno Thrash-Bewegung dargelegt, gab es auch für den Sound, den Quicksand über ihre zwei Alben "Slip" und "Manic Compression" bis zur Mitte der neunziger Jahren zusammenbauten, zunächst nur eine kurze Lebensdauer. Dabei ließe sich ein kleines bisschen damit argumentieren, dass immerhin seine Weiterentwicklung zur zweiten Hälfte des Jahrzehnts zunächst zu Nu Metal und Nu Rock führte - aber die noch deutlich dem Hardcore entnommene und machofreie Ästhetik des Quicksand-Sounds, gesättigt mit ohnmächtiger Wut und roher Emotion, mit Verletzbarkeit und Introspektion, spätestens dann perdu war, als eine ganze Generation an rote Baseballkappen verloren ging und Zwischentöne plötzlich nicht nur keine Rolle mehr spielten, sondern den Protagonisten zum Nachteil ausgelegt wurden. Quicksands charakteristischer, transparenter Sound, allen voran die Stimme von Bandgründer Walter Schreifels, sowie ihr ausgefuchstes Spiel mit Laut/Leise Dynamiken und harmonischen Dissonanzen, tauchte nach dem vorübergezogenen Testosteron-Blitzkrieg später in der Musik erfolgreicher Bands wie Cave-In, Thursday, Refused oder Trail Of Dead wieder auf. "Slip" wirkt, als hätten Quicksand die Anfänge von Helmet und deren mathematische und punktuell gesetzte Intensität in alle Richtungen verbreitert und damit die Wucht ihrer Songs noch gesteigert. Am besten verdeutlicht das möglicherweise einer der Höhepunkte "Lie And Wait" mit diesem schlicht unnachahmlichen, sich berohlich verästelnden Riffing und manischem Groove. Oder das kantige "Baphomet" und dem alles durchdringenden und ausufernden Crescendo zum Abschluss. Hot Take bei 37°C Außemperatur: Ich verwette eine Tonne Waldmeistereis mit Sahne, dass Tool zur Ära von "Opiate" besonders diese beide Songs auf very heavy rotation hatten. Aber vielleicht spricht auch gerade nur der Hitzschlag aus mir. 


Vinyl und so: Die Originalpressungen sind unanständig teuer, aber es gibt ein rettendes Ufer im Meer des Schwachsinns: das Album wurde zwischenzeitlich mehrfach neu aufgelegt und just dieser Tage erscheint der nächste Schwung schön aufgemachter Vinyl-Represses. Los, los, los!





Erschienen auf Polydor, 1993. 

06.07.2025

My Nineties Were Better Than Your Nineties - #193: Rodan - Rusty




RODAN - RUSTY


"Ich glaube, dass 90% der Leute nicht definieren können, was Zynismus bedeutet. Ich hab mal gelesen bei Sloterdijk, das falsche aufgeklärte Bewusstsein, das heißt also im Grunde: ab zweieinhalbtausend netto ist jeder Zyniker. Da ist was dran." (Harald Schmidt)


Als Louisville, Kentucky das Kreissaal-Epizentrum für Post Rock und Post Hardcore war. Die beiden Extreme dieser Platte stehen gleich am Anfang: das fast siebenminütige "Bible Silver Corner" eröffnet "Rusty" mit behutsam arrangierten Akustikgitarren, die sich kreuz und quer, über-, gegen und miteinander im Dickicht verlaufen und sich alle Zeit der Welt lassen, die passend ausgeleuchtete Stimmung und die richtige Temperatur zu finden. Direkt im Anschluss folgt das brachiale "Shiner", ein zweieinhalb Minuten dauernder Wutanfall mit dissonantem Noisegetöse und blutiger Nase - und damit sind wir auf alles vorbereitet, was zumindest stilistisch in den kommenden Minuten auf diesem wegweisenden Album aus dem Jahr 1994 passiert. 

Es ist möglicherweise genau eine Platte zu spät, um Patient Zero des Post Rock zu sein, aber der Einfluss dieses Quartetts auf eines der wichtigsten und - ich möchte offen sprechen: coolsten Genres der neunziger Jahre, bleibt davon unberührt. Die Frage, ob intellektuelle Distanzierung oder soziale Unbeholfenheit, grenzauflösende Intimität oder rezessiver Lebenswille die stärksten Druckpunkte dieser Musik sind, beantwortet "Rusty" mit einem bebenden "Ja!" - und zwar vor allem im zwölfminütigen Herzstück "The Everyday World Of Bodies", das sich geradezu manisch durch Hoch- und Tiefebenen bohrt. 

Neverending Hyperfocus. 


Vinyl und so: Das einzige Album Rodans wurde kürzlich zu seinem 30.Geburtstag auf farbigem Vinyl wiederveröffentlicht. Empfehlenswert sind darüber hinaus die bereits im Jahr 1993 aufgenommene und 2019 veröffentlichte Zusammenstellung von späteren "Rusty" Songs mit dem Titel "The Hat Factory '93" sowie "Fifteen Quiet Years" aus dem Jahr 2013 mit bis dato unveröffentlichten Songs, Sampler- sowie 7"-Beiträgen und drei Songs aus den 1994 entstandenen John Peel Sessions. 


Rest In Power, Jason Noble.


 



Erschienen auf Quarterstick Records, 1994.


19.06.2025

My Nineties Were Better Than Your Nineties - #196: Killing Joke - Pandemonium




KILLING JOKE - PANDEMONIUM


"I think we’ve reached the stage where the only good thing that can happen is destruction on some level. Let’s give the cockroaches a go!" (Jaz Coleman)


Es ist ein bisschen peinlich, aber ich fühle mich dennoch verpflichtet, es öffentlich zu äußern: ich bin erschütternd spät zu Killing Joke gekommen. Und wenn ich's halbwegs genau nähme, hat es erst im Laufe der letzten zehn Jahre zwischen uns so richtig gefunkt. Für lange Zeit nahm ich der Band die stilistischen Anpassungen ihres Sounds, ganz besonders jene, die sie zu Beginn der neunziger Jahre vornahm, nicht ab und hielt besonders "Pandemonium" für eine unangenehm dem damaligen Zeitgeist folgende Angelegenheit, was stets Abzüge im Glaubwürdigkeitsranking mit sich brachte. "Pandemonium" war 1994 das bis dato mit einigem Abstand härteste Killing Joke-Projekt und wies darüber hinaus nur noch Spurenelemente ihres früheren Sounds auf, der allerdings - und auch das half der Credibility nicht so recht - auch schon in den 1980er Jahren ein paar deutliche Kurskorrekturen durchmachen musste. 

Das Trio mauerte 1994 eine meterdicke Wand aus sirupartig aufgetragenen Gitarren und robusten, gewaltig groovenden Beats, gegen die Sänger Jaz Coleman mit heiserem Gekreische anbrüllen konnte. Das zog auch hinsichtlich der als weiteres Stilmittel eingeführten Monotonie einige Parallelen zur "Psalm 69"-Phase von Ministry oder auch Trent Reznors Nine Inch Nails und passte insgesamt bestens in die florierende Alternative/Industrial-Szene. Killing Joke walzen auf "Pandemonium" nicht selten mit maximal drei Riffs durch fünf bis sieben Minuten dauernde Songs, und sie hören einfach nicht damit auf - ein Rezept, das auch auf ihren späteren Alben ab Mitte der 2000er öfter zur Anwendung kam. Das muss man aushalten können. Und wollen. Angesichts der Legion musikalischer Harmlosigkeiten, die die Rockszene in den letzten dreißig Jahren hervorbrachte, wirkt "Pandemonium" selbst im Jahr 2025 fast noch ein bisschen wahnsinniger und gefährlicher als 1994. Sowas lässt sich nicht oft über dreißig Jahre alte Platten sagen. 


Vinyl und so: Es gibt LP-Reissues von "Pandemonium" von Let Them Eat Vinyl (2008) und Spinefarm Records (2020) und zumindest letztgenannte ist trotz der Herstellung bei GZ Media eine hervorragend klingende Pressung. Ich habe keinen Vergleich zum Original aus dem Jahr 1994, das allerdings in gutem Zustand auch deutlich teurer ist, wenngleich weit entfernt von den üblichen komplett absurden Preisen.


Rest In Power, Geordie. 



 



Erschienen auf Butterfly Records/Zoo Entertainment, 1994. 

08.04.2025

Sonst noch was, 2024?! (2): Amblare - Amblare




AMBLARE - AMBLARE


"Matt and Alex especially want to thank Bryan for his love, encouragement, friendship, excitement, and passion. This recording is dedicated to his life and memory. We will miss him forever." (Amblare)


RIP Bryan St. Pere

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Das könnte die kürzeste Rezension aller Zeiten auf diesem Blog werden. Die Sache ist nämlich wirklich schreiend einfach: Du magst eine (!) der folgenden Bands, und Du wirst "Amblare" lieben. Das ist die Dreikommaviernull-Zufriedenheitsgarantie im Best Practice und Service Excellence Cluster. 


A Perfect Circle, Hum, The Life And Times, Helmet, Failure, Shiner.


Jep, eine reicht. 


Vielen Dank, Merci Beacoup, Mille Grazie -  das war's, schönen Abend noch, hoabe d'Ehre!
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Ich habe gesagt, es "KÖNNTE" die kürzeste Rezension aller Zeiten auf diesem Blog werden. Aber nicht mit mir, Freunde der Sonne!

Alles, was ich da just ins Weltnetz erbrochen habe stimmt freilich, und ich nehme davon auch keine Nanosilbe zurück. Es fehlt allerdings noch eine Kleinigkeit. Denn es wäre nun ebenso freilich ein Leichtes, mir so unschöne Repliken wie "aufgewärmter Kaffee", "nicht gerade originell", "also alles schonmal dagewesen", "wer will denn so 'ne alte Scheiße heute noch hören?" vor die Tür zu karren, und bevor ich den ganzen Plunder mit einem rasenden Raketenfurz von Angus Youngs Gardinenstange in die Luft gehen lasse, sei noch eine Frage erlaubt: was ist denn an aufgewärmten Kaffee auszusetzen? Hm? Schön in den Edelstahlkochtopf, bisschen Ziegenkäse, bisschen Melasse, bisschen Bärlauch, schnell aufkochen lassen und dann ab damit ins Klo, aber Vorsicht: es könnte das Porzellan angreifen! Huch, ich bin im Rezept verrutscht, KEINE MELASSE, das versaut einem echt alles. Senf! Senf muss rein!

"Amblare" wurde von den drei Musikern Matt McGuyer (u.a. bei Mock Orange), Alex Wallwork von den Stonern Faerie Ring und Bryan St.Pere der 90er-Alterna-Stars HUM (pun intended!) erdacht und wird jedem Kind der Neunziger die Freudentränen in die Augen treiben. Emotional, melancholisch, drückend, zerbrechlich, heavy, deep, groovend, dazu mit einer gewissen Nerdigkeit, die bionatürlich jedes Klischee draußen vor der Tür lässt. Breaks, die einen Quantum Break verursachen können. Gitarren, die untenrum ganze Planeten wegschieben und obenrum Glühwürmchen im Weltall unsittlich berühren. Ein Schlagzeuger, der mit Ambossen auf die Kessel drischt. Eine an das letzte Hum-Meisterwerk "Inlet" erinnernde Produktion, was wenig Raum für Überraschungen lässt, wenn der Mann an den Reglern Matt Talbott heißt und bei Hum die Gitarre bedient und am Mikrofon steht - ein außergewöhnliches Gespür für Raum und Tiefe, für spaciges Geflacker und gleichzeitig für die Verdichtung von Sound und Vision. Wenn's einen Beweis benötigt: ich habe keine Vorstellung davon, wem bei einem absoluten Monstrum wie "Mine'd" nicht die Knie weich werden würden. 

Und wo ich jetzt schon einen Titel explizit erwähnte, muss ich zwangsläufig auf den zweiten Smash-Hit dieses Albums hinweisen, genau genommen ist es DER Hit, der in anderen Zeiten Leben verändern könnte: "Underest" hat alles für die Tanzfläche und alles fürs Gefühl, eine Hymne für Generationen. Warum hört hier keiner zu? Warum läuft das so komplett unter jedem Radar? Warum ist Rockmusik so kolossal am Arsch? 

Nun, darum: Die Herzallerliebste und meine Wenigkeit wohnten die Tage einer Nirvana Tribute-Party in einer Frankfurter Diskothek bei, Todestag und Tralala, Untertitel "Hardcore, Garage, Grunge". Ich wiederhole das besser nochmal: eine Nirvana Tribute-Party mit dem Untertitel: "Hardcore, Garage, Grunge". Unendliche Möglichkeiten, einen fantastischen Abend zu haben. Ein ganzes Jahrzehnt vollgestopft mit der besten Musik der Welt zur Auswahl. Ich könnte - Uhrenvergleich: JETZT - mit dem Aufzählen von Songs und Bands und Alben in den Sektoren "Hardcore, Garage, Grunge" beginnen und wenn Du mich in 72 Stunden wieder siehst, werde ich immer noch nicht damit aufgehört haben. Right? Right!

Was stattdessen passierte: Der DJ ballerte zur besten Sendezeit gegen halb eins die neunminütige (!) Guns'n'Roses-Saftgranate "Estranged" auf eine leere Tanzfläche. Für volle neun Minuten. N-E-U-N.


Es ist einfach alles egal geworden.  

Alles. Ist. Einfach Fucking. Scheiß. Egal. 

Hört diese Platte. 


 



Erschienen auf Melodic Virtue, 2024.


23.03.2025

Best Of 2024 ° Platz 1: Chelsea Wolfe - She Reaches Out To She Reaches Out To She




CHELSEA WOLFE - SHE REACHES OUT TO SHE REACHES OUT TO SHE


"I wish I could be invisible and just play music and not have to worry about anyone looking at me." (Chelsea Wolfe)



Die Platte des Jahres kommt von einer Künstlerin, deren frühere Arbeiten ich ganz offensichtlich auf eine beinahe schon groteske Art fehleinschätzte, und die deswegen in all den Jahren keinen Fuß in die Tür zur Casa Dreikommaviernull bekam. Ich habe das schon öfter betont, wie komplett irre so eine intellektuelle Generalverriegelung sein kann, wenn also irgendwas zwickt, irgendwas verzerrt ist - und sei's nur die eigene Wahrnehmung. Andererseits passiert sowas eben manchmal. Und dann hole ich das große Feigenblatt raus und sage: es gibt für alles den richtigen Moment, die richtige Zeit, den richtigen Ort. Musik findet Dich einfach, wenn es soweit ist. 

Im Falle von Chelsea Wolfe war das Wirken der in Kalifornien lebenden Musikerin stets in erster Linie mit ihren Kollaborationen mit den Hardcore-Superstars von Converge verbunden. Und so gerne ich mir von Zeit zu Zeit mit Geschrei und Gebrüll das Kleinhirn auf halbacht fönen lasse, kam ich an Converge nie ran, nichtmal in die Nähe. Und wenn ich mich mal dazu entschlossen habe, Abstand zu halten, dann bin ich wenigstens in dieser Hinsicht so richtig behämmert deutsch und also konsequent. Aus Gründen, die ich mir heute nicht mehr selbst erklären kann, halluzinierte ich also eine stilistische Nähe zwischen Converge und ihrer eigenen Musik herbei, was dazu führte, Chelseas Soloscheiben schlicht zu ignorieren. Weil eine Mauer alleine ja nicht ausreicht, wird eben selbst der ganze Dunstkreis ausgesperrt. Was soll ich sagen?!

Als im Februar des vergangenen Jahres "She Reaches Out To She Reaches Out To She" angekündigt wurde, und die ersten Berichte elektronische, trip-hoppige, sogar in den Bereich von Drum'n'Bass reichende Einflüsse erwähnten, wurde ich allerdings hellhörig. Und schon beim Erstkontakt mit "House Of Self-Undoing" war ich hoffnungslos verloren. Die Folgen: die gesamte Diskografie wurde nachgekauft, wir besuchten ihr Gastspiel in der Kölner Kantine, die Herzallerliebste reiste sogar nochmal solo zum Konzert nach München, und meine allerliebsten Lieblingsleserinnen und -leser quälen sich gerade durch die Rezension zu meiner Lieblingsplatte des Jahres 2024. 

Zusammen mit dem Produzenten Dave Sitek betreten Wolfe und ihre Band im Vergleich zu ihren früheren Werken auf mehreren Ebenen Neuland. Aus technischer Sicht war die Industrialästhetik zwar auch schon auf einem Album wie beispielsweise "Abyss" (2015) wahrnehmbar, durch den neu gesetzten Schwerpunkt auf elektronische Elemente wirken einerseits Songs wie der irrlichtende Opener "Whisper In The Echo Chamber" oder das experimentelle "Eyes Like Nightshade" noch abrasiver als zuvor. Das mit Breakbeat-Elementen spielende "House Of Self-Undoing", dessen hypnotische Ästhetik bisweilen sogar an Siteks Band TV On The Radio erinnert und clever die ganze Dynamikklaviatur aus Härte und bohrenden Ambientdrones bespielt, ist trotz stilistischer Öffnung auch noch recht gut zu entschlüsseln. Aber dann wird die Sache komplizierter zu erläutern, wenn man nicht in Allerweltsgefasel abrutschen will.

Für meinen Geschmack ist es vor allem die zweite Hälfte des Albums, auf der die visionäre, stilprägende Kraft dieser Produktion klar wird. Im Grunde sind Songs wie "The Liminal", "Salt", "Place In The Sun" oder ganz besonders "Dusk" dunkle Popsongs, die problemlos auch in einem akustischen, eher Folk-betonten Kontext funktionieren würden, durch die elektronische Ausrichtung aber plötzlich die Tore zu neuen Welten aufstoßen. Die verrauchten Trip Hop Beats, die gebrochenen Akzente vom Geflacker eines Pianos, die inszenierte Tiefe und Weite machen die Musik dunkler, bedrohlicher, mystischer, außerweltlicher. Paradoxerweise dehnt sie sich in dieser atmosphärischen Verdichtung weiter aus und macht Räume frei für Anschauung. Das Arrangement von Chelseas Stimme spielt dabei ebenfalls eine zentrale Rolle, sie ist das vermittelnde Element zwischen Anziehung und Abstoßung, Licht und Schatten. Sie ist stets im Vordergrund und dirigiert durch das Dickicht, tatsächlich macht sie jene Räume erst wahrnehmbar. Und gleichzeitig spürt man: dieser Raum ist Unendlichkeit. Dieser Raum ist Heilung. Dieser Raum ist kein Raum. Er ist Leben. 

Visionär. Majestätisch. Transzendental.


 


Erschienen auf Loma Vista, 2024.

08.02.2025

Best Of 2024 ° Platz 8: Kim Gordon - The Collective




KIM GORDON - THE COLLECTIVE


"Die Gedankenfreiheit haben wir. Jetzt brauchen wir nur noch die Gedanken." (Karl Kraus)


Ein Album wie eine Bestrafung. Eine Wand aus hartem und stumpf pumpendem Industrialnoise, mit Rissen und Kratern übersäht, dazu dumpfe Schläge gegen die Schläfen. Darunter liegen erbarmungslos stoische Trap Beats und Basslines, die an Björks "Army Of Me" erinnern, wenn sie durch einen Industriestaubsauger gejagt und anschließend von einem Irren mit Hackebeil zerstückelt wurden. Und dann kommt Kim Gordon mit ihren stream-of-consciousness Texten und dreht alle Intesitätsregler auf Kernschmelze. 

Noch nie habe ich mich beim Anhören einer Kofferpackliste so klaustrophobisch gefühlt wie im Opener "BYE BYE", andererseits hat mir auch niemand jemals eine Kofferpackliste vorgelesen. In "I'm A Man" klingt Kim wie ein betrunkener Psychopath in der Brunftzeit und singt "So what if I like the big truck? Giddy up, giddy up", und das bloße Anheben ihrer Stimme im letzten "Giddy up" jagt mir ein Gewitter durch die Großhirnrinde. Jede gesprochene und verzögerte Silbe, jede Pause, jeder Nachhall, jedes nachgehauchte "yeah" und halb verschluckte "uh", jeder noch so minimale Glitch in ihrer Stimme ist durchdachte Strategie. 

Was bemerkenswert ist, denn welches Bild und welche Assoziation schließlich bei uns allen ankommen, ist so ambivalent wie zufällig. Gordon feuert diese sowohl musikalische als auch lyrische Kakophonie aus tausend Rohren, ist manchmal verletzlich, manchmal monströs und es scheint, als ob die Deutungshoheit von genau jenem Nerv ausgeht, der gerade in mir selbst angepiekst wurde. Insofern, und hier schließt sich der Kreis zum Eingangssatz, hat Gordon den Boden mit glühenden  Legosteinen ausgelegt und schubst mich durch den dunklen Raum. 

Alle haben Spaß.


 



Erschienen auf Matador, 2024.


19.01.2025

Best Of 2024 ° Platz 11: Slomosa - Tundra Rock




SLOMOSA - TUNDRA ROCK


"Irgendwann wird es die Kraft der Polemik gar nicht mehr geben. Nur noch Worthülsen, die im Brackwasser der Beliebigkeit untergegangen sind!“ (Georg Schramm)


Dass mir am Ende des Jahres 2024 tatsächlich nochmal eine Stonerrockband derart die Beine weggrätscht, ist mit Verlaub unerhört. "Tundra Rock" von diesem aus Norwegen stammenden Quartett ist eine von jenen Platten, die schon ab der ersten Sekunde eigentlich keine Chance darauf hatte, sich durchzusetzen -  und fuck me, diese Chance hat sie genutzt. 

Langsam, langsam, laaaangsaaaam - die Barrieren im Kopf müssen erstmal von einem gepanzerten Unimog plattgemacht werden, klar - wurde es aber mit jedem Durchlauf offensichtlicher: das hier ist anders als der Rest der aalglatten Schwiegermuttercombos, die seit 20 Jahren das Genre mit aufgespritzten Bollersounds und manierierter "Echte Männer heiraten ihre Bremsstreifen"-Ästhetik in die nächstbeste Senkgrube manövriert haben. Es ist vor allem echter. Dabei, und ich kann nicht genug darauf herumreiten, ist hier musikalisch praktisch alles zusammengemopst. Und natürlich alles bei Kyuss und Queens Of The Stone Age. Und jetzt kommt's: es ist mir scheißegal. Das macht alles zu viel Spaß, sorry. 

Größtes Wunder ist möglicherweise, dass die Band es irgendwie hinbekommen hat, sich nicht ständig am absoluten Intensitätslimit zu bewegen, ohne dabei den Impact, die Wucht ihrer Grooves und Riffs zu opfern. Hier ist Luft zum Vibrieren. Maximale Heaviness bei maximaler Lässigkeit. Wer sich vom instrumentalen Schlussteil von "Red Thundra" mal aus den Latschen ballern ließ, wird's vermutlich sofort verstehen. Mein heimlicher Favorit auf einer nahezu makellosen Platte ist der Abschlusstrack "Dune" mit seinen beschwörenden Backingchören, die einem tagelang in den Ohren kleben bleiben. Die sind garantiert auch irgendwo geklaut. 

Ist das am End' von Boney M?





Erschienen auf Stickman Records, 2024.

27.04.2024

Best of 2023 ° Platz 4: Allen Epley - Everything



ALLEN EPLEY - EVERYTHING


“Forget the future, these times are such a mess
Tune out the past, and just say yes.”
(Sonic Youth)


Die Musik von Allen Epley schlägt immer eine ganz spezielle Saite im Nukleus meines Emotionskadavers an, und ich bin immer wehrlos dagegen. Nicht, dass ich mich wirklich wehren würde - seit dem Debut seiner Band The Life And Times aus dem Jahr 2005 bin ich bekennender Fanboy und habe das Power-Spacerock-Trio nicht nur ein Mal als "beste aktive Rockband des Planeten" bezeichnet. Mittlerweile müsste strenggenommen überdacht werden, ob "aktiv" noch das Wort der Wahl wäre, denn die Gruppe schweigt seit der vor sieben Jahren erschienenen letzten Platte, und es sieht aus der Ferne betrachtet nicht so aus, als solle sich an jenem Schwebezustand - eine Auflösung wurde offiziell nie bestätigt - mittelfristig etwas ändern. Nun ist es aber dennoch eine Realität, dass es selbst bei meinen Lieblingsbands einen Moment in ihren Karrieren gibt, an dem bei mir eine Art Übersättigung eintritt, sei es, weil ich mich stilistisch, ästhetisch, emotional oder sonst was/wie fortbewegt habe und mich außer einer imaginierten Loyalität nicht mehr viel hält, oder aber weil die Musiker selbst ihr Mojo verloren haben, oftmals einhergehend mit einer Verschiebung von Prioritäten (Haus, Familie, Job) und dem damit verbundenen Erlischen der Leidenschaft und des Feuers für die eigene Kunst. Ich werfe das niemandem vor, das sind schließlich in der Regel normal verlaufende Lebenslinien - und egal, wie hart einen die Nostalgie manchmal ficken mag: es gibt für alles und jeden eine Zeit und einen Ort, für die juvenile Entflammbarkeit wie für das erkaltete "Adieu". 

Für Allen Epley gilt das alles nicht. Was auch immer er aus seiner Stimme und seiner Gitarre herausholt, setzt meist umgehend einen Anker. Mit seiner legendären 1990er Band Shiner im etwas ruppigeren Grunge, Noise und Alternative-Teilchenbeschleuniger, mit The Life And Times und ihrer Shoegaze, Spacerock und Wall of Sound-Ästhetik - und nun erstmals solo mit all den so liebgewonnenen Merkmalen seiner Musik: der sich tief eingrabenden Melancholie und der Introvertiertheit, die sich in intensiven Momenten entlädt, einem so außergewöhnlichen wie einzigartigen Melodieverständnis, für das Epley in erster Linie den schwierigen, verborgenen, verwinkelten Weg sucht, anstatt an der Oberfläche zu bleiben und die Simpletons mit Eingängigkeit zwangszuernähren. Oder den mit allerlei Effekten überladenen, sirupartig aus den Lautsprechern quillenden Gitarren, die in Kombination mit seiner mehrfach gelayerten Stimme, den langgezogenen Melodiebögen und den ungewöhnlichen Gesangsharmonien eine psychedelische Qualität erreichen, die Erinnerungen an die Hippiegeneration wachkitzeln. Ohne das Powerdrumming von The Life And Times-Schlagzeuger Chris Metcalf und dem massiven Ampeg-Bass-Knurren von Eric Abert steht "Everything" mit einem viertel Bein tatsächlich etwas mehr in der entrückteren Ecke geparkten Abteilung der Singer/Songwriter Tradition. Oder, um präziser zu sein, weist im Fundament subtile Schattierungen von jener Musik auf, die in Nordamerika unter dem Rubrum "AM Gold" gelistet wird: Softrock und Top 40 Songs der 1960er und 1970er Jahre von The Carpenters, James Taylor, Scott McKenzie, Aretha Franklin, The Hollies, Dionne Warwick, America. Musik also, für die eine vordergründige Leichtigkeit so essentell war wie eine zwischenweltliche Schwermut und der die Anerkennung des eigenen Standorts so wichtig war wie die Hoffnung auf ein besseres Leben. Und die darüber hinaus vor allem in den psychedelischen Momenten geprägt war von einem neu entdeckten und erweiterten Begriffs der Selbstbewusstheit, von einer Expansion ins Surreale, auch ins Abgründige. 

Epleys Musik hatte stets ein eskapistisches Moment. Weniger im Sinne einer potemkinschen Scharade, die im Außen Herrlichkeit suggeriert, während ein paar Meter dahinter ein Atomkraftwerk vor sich hinglüht, sondern im Sinne einer Suche, einer über den status quo hinausgehenden Erkundung neuer Welten und Perspektiven. Die Schwermut, die über seiner Musik liegt, findet die richtigen Frequenzen so unmittelbar, weil sie uns in der Enttäuschung über die Wirklichkeit eint. Wir spüren: wir müssen hier raus. Und im gleichen Moment trifft es uns wie ein Blitz: wir kommen hier nicht raus.

Außer natürlich, man legt "Everything" auf und zieht ein Ticket für die Rundreise durchs große, weite Universum.


  


Erschienen auf Spartan Records, 2023.


10.02.2024

Best of 2023 ° Platz 15: SPELLLING - Spellling & The Mystery School




SPELLLING - SPELLLING & THE MYSTERY SCHOOL


„Bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie Ich sagen.“ (Theodor W. Adorno)


Als Anthony Fantano, "Internet's busiest music nerd", vor gut zwei Jahren glatte und überaus seltene zehn Punkte an "The Turning Wheel" der kalifornischen Künstlerin SPELLLING vergab, war klar, was zu tun ist: kaufen! Und zwar so, wie ich es am liebsten mache, "commando", also nackig und also ohne vorangegangenes Testhören, wie immer planlos und mit offener Hose. Fantanos Beschreibung der Musik reichte aus, um schnell angefixt zu sein. Und wenn ich für die Bestenliste 2021 nicht in den Dornröschenschlaf gefallen wäre, hätten meine werten Leserinnen und Leser bereits damals lesen können, wie ich mit der Bewertung (i.S.v. "Kategorisierung") des dritten Albums von Tia Cabral zwar meine liebe Mühe hatte, aber gleichzeitig fasziniert war von diesem Kaleidoskop unterschiedlicher Einflüsse, dem außerweltlichen Gesang und den mit reichlich Mystik inszenierten Songs. Das Album ist nicht nur in meinem persönlichen musikalischen Kosmos eine Ausnahmeerscheinung, und ich finde vieles davon bis heute unerklärlich und rätselhaft. 

Das im August 2023 erschienene "SPELLLING & The Mystery School" ist eine Zusammenstellung von Neuinterpretationen ihrer früheren Songs, die nun hier zum Teil erstmals in einem Bandkontext vorgestellt werden und deren neue Versionen sich aus den mit voller Band gespielten Konzerten der "The Turning Wheel"-Tournee entwickelten. Vor allem für jene Titel, die den ersten beiden Alben "Pantheon Of Me" (2017 in Eigenregie veröffentlicht) und "Mazy Fly" entnommen wurden, sind die Überarbeitungen ein künstlerischer Gewinn: SPELLLINGs Musik war in den ersten Karrierejahren sehr reduziert, kühl, sehr synthielastig und stilistisch mit Elementen des Darkwave und sogar einer gewissen Goth-Ästhetik spielend. Das hatte durchaus einen geisterhaften, geheimnisvollen Charme. Der Sprung von "Mazy Fly" zu "The Turning Wheel" war dann allerdings ein gewaltiger, wie auch Fantano in seiner Rezension hervorhob: der vormals auf das Wesentliche beschränkte und eher dürr zu bezeichnende Ansatz ihrer Musik erfuhr plötzlich die voluminöse, detaillierte, sich stetig ausbreitende Produktion eines Art Pop-Projekts, ein bisschen transzendental und metaphysisch, wie es bei Alben von beispielsweise Kate Bush oder auch Björk erfahrbar ist. An dieser Stelle setzt "SPELLLING & The Mystery School" an. 

Ich gehe so weit zu sagen, dass die Songs von "Patheon Of Me" und "Mazy Fly" hier die "The Turning Wheel"-Behandlung bekamen - und in diesen Fällen kristallisieren sich einige echte Höhepunkte des Albums heraus. Der Opener "Walking Up Your House" wächst aus der Synth/Stimme-Miniatur des Debuts zum großzügig aufgezogenen Überflieger, "Under The Sun" durchläuft dank Piano, Schlagzeug und des Streicher-Arrangements des Del Sol String Quartetts gleich mehrere Metamorphosen, vom 70er-Abba-Vibe zu Beginn zum abruptem Wechsel in das Zaubergartenlabyrinth mit Fliegenpilzeintopf und dem Schlussakkord, der die folkige Stimmung mit selbstbewusster Kickdrum durchbricht. "Haunted Water" spielt wie "Phantom Farewell" mit dem bereits im Original wahrnehmbaren dunklem Wave-Geflacker und verbindet es mit tanzbaren Beats und einer Ahnung von Pop-Appeal zwischen (späten) Dead Can Dance und (mittleren) Depeche Mode. Die vier Neueinspielungen von "The Turning Wheel" zeigen sich dagegen eher etwas konservativer, weil sie das grundsätzliche Sounddesign des Albums beibehalten und lediglich in den Arrangements die Entwicklungsstufen der Band dokumentieren, nachzuhören im Hit "Boys At School" mit seiner neuen Streicherinstrumentierung und einer verfeinerten Dynamik im Zusammenspiel der Band. Das ist freilich immer noch hervorragend in Szene gesetzt und lohnenswert. 

SPELLLINGs Musik ist auch auf dem Stand des Jahres 2023 noch immer herausfordernd, bizarr, außerweltlich und einzigartig. Es kann vielleicht ein Weilchen dauern, bis so halbwegs klar ist, was hier passiert - und manchmal passiert womöglich gar nichts. Was einem dann noch bleibt, ist universell: einfach zuhören. 



   



Erschienen auf Sacred Bones Records, 2023.

27.01.2024

Best of 2023 ° Platz 17: IAMX - Fault Lines¹




IAMX - FAULT LINES¹


"Glückliche Menschen langweilen mich." (Wolf Wondratschek)


Wir haben miteinander gefeiert, sind gemeinsam zusammengebrochen, haben gelacht und geweint, getanzt, geschwitzt, uns angezogen und wieder abgestoßen. Haben die Theatralik bestaunt, das Drama bestanden, sind auf dem Boden des Atlantiks aufgeschlagen und haben die Sonne geküsst. Das Chaos umarmt, die Einsamkeit ausgehalten. Wir waren frei und entfesselt, haben dem Hedonismus ein "How ya doin'?" vor die Füße gerotzt und dem Tabu ein Grab geschaufelt. Haben in den Spiegel geschaut und die Risse in unserem Gesicht gesehen, die sich in die Breite verästelnden Zerwürfnisse nachgezeichnet, die Ketten mit Spucke poliert, die Zeit verflucht, den Tagen, Wochen, Monaten und Jahren den Mittelfinger entgegengestreckt. Erlebten Agonie und haltlose Hysterie, waren ohne Orientierung und voller Pläne. Überwältigt von der Kälte, überfordert mit der Hitze. In Embryohaltung dem Staub beim Zerfallen zugeschaut und uns so schnell gedreht, dass wir uns selbst überholten. Blitze geschleudert, das Meer geteilt, den Sturm gesät und Zerstörung geerntet. Das Licht zum Explodieren gebracht, die Dunkelheit ausgelöscht. Die Liebe, das Leben, eine einzige Orgie.

"The fanatics are winning and I wanna go home."


 



 



Erschienen auf Unfall Productions, 2023.

04.05.2021

The Story Of thOught industry

Meine leider etwas holzig formulierte Lobeshymne auf eine der interessantesten, mutigsten, vielseitigsten, technisch versiertesten und scheißrein, ich sag's jetzt: besten Bands der 1990er Jahre ist schockierenderweise beinahe volle 12 Jahre alt, und es ist einer jener Texte, bei denen ich mir heute wünsche, ich hätte sie etwas später geschrieben. Es zeigt sich wiederholt, dass zwischen "gut gemeint" und "gut gemacht" zwei bis drei Enden der Welt liegen können; zumindestens gilt das für die frühen Texte des "Flohihaan" (Monaco Franze) - und manchmal sogar immer noch für das aktuell Erbrochene. Sad.

Inhaltlich gibt es indes nur wenig zu mäkeln, auch wenn meine Ergebenheit gegenüber ihrer Musik im Jahr 2021 sicherlich noch größer ist und im Falle eines heute geschriebenen Textes eine nochmal bedeutend euphorischere Wortwahl verwendet werden müsste. thOught industry stehen in meiner Realität in jener Reihe großer Bands, denen der "OK, Boomer!"-Sticker mit der Aufschrift "Solche Bands werden heute nicht mehr gebaut" bestens zu Gesicht stehen würden. Und verfickt nochmal, ich sag's jetzt nochmal, und zwar laut:


SOLCHE BANDS WERDEN HEUTE NICHT MEHR GEBAUT!!!1111eins1


Ich habe mich über die Jahre sehr oft gefragt, was die ehemaligen Mitglieder wohl heute so treiben mögen und auch wenn ich darauf immer noch keine Antwort habe, kam ich dem Mysterium dieser Irren kürzlich ein bisschen mehr auf die Schliche: Der Youtube-Kanal STAUNCH T.V. hat tatsächlich den früheren Gitarristen Christopher Lee Simmonds ausfindig gemacht und ihn eine knappe dreiviertel Stunde über die Geschichte der Band erzählen lassen. Es bieten sich so faszinierende wie abstoßende Einblicke in die Welt der thOught industry. Die wichtigsten Erkenntnisse, erstens: man muss nicht miteinander befreundet sein, um großartige Musik zu machen. Zweitens: Metal Blade waren (?) offenbar mal ein totaler Saftladen. Drittens: Suff und Drogen killen jede große Band, es ist schlicht erschütternd. 

Wer die Band bislang nicht auf dem Radar hatte und nun Lust auf ihre Musik bekommen haben sollte: es ist egal, welches ihrer Alben man anwählt - sie sind alle (!) großartig. Kein Witz. Isso.


 


 

17.03.2021

Best of 2020 ° Platz 8 ° Hum - Inlet



HUM - INLET

All the dreamers have gone to the side of the road which we will lay on
Inundated by media, virtual mind fucks in streams
(D'Angelo And The Vanguards)


"The Summoning". Grundgütiger, "The Summoning". 

Diese sich wie zähflüssige Lava den Weg freiwalzenden Gitarren. Ich habe schon lange keine mehr so gut klingenden Gitarren gehört. Diese Melodie, die so lange nachhallt, bis die Venus acht Mal umrundet wurde und man sich wieder auf dem Rückweg zur Erde befindet. Das Break im letzten Viertel, das sich gegen Ende auftürmt wie ein Gebirgsmassiv vor Millionen Jahren. Die stoische Stimme, die kaum mehr braucht als Begleitung und Erinnerung. Ein Jahrhundertsong. Aber eben auch nur einer von insgesamt gleich vieren: es sind vor allem die jeweils über acht Minuten langen, episch inszenierten Songs, die mich komplett plattmachen, auseinanderreißen, zerschmettern und dann wieder zusammenkleben, mit Spucke und einer Riesenpackung Hubba Bubba: "Desert Rambler", "Folding", "Shapeshifter" und eben "The Summoning", allesamt Giganten aus dem Stoff, aus dem 90er-Shoegaze und Alternative Rock-Herrlichkeiten gestrickt waren, bis unters Dach vollgepackt mit Understatement, Emotionalität, Tiefgründigkeit und Weite - und mit mit einer ganz eigentümlichen, nach innen gerichteten Intensität. 

Das Quartett aus Illinois, spätestens ab Mitte der 1990er Jahre und dem zaghaft ins US-Mainstreamradio einbrechenden Hit "Stars" eine Untergundsensation, war zu jener Zeit sehr knapp vor dem Sprung in die erste Liga, bevor die Band Ende des Jahrzehnts zunächst vom Label gedroppt und anschließend intern auseinanderbrach. Jetzt kommen sie im unheiligen Jahr des Clusterfucks 2020 praktisch aus dem Nichts mit neuer Musik zurück - 23 Jahre nach dem letzten Album "Downward Is Heavenward". Und auch wenn ich die Band erst Mitte der nuller Jahre von Freund Andreas ans Herz geschweißt bekam und also wie so oft ein totaler Spätzünder war, fühlt sich "Inlet" so vertraut an wie jede Gedanken- und Gefühlsreise in meine Adoleszenz in den 1990er Jahren, zwischen Teenage Angst, Flanellhemd, Benson & Hedges und dem süßen Duft der Freiheit (Wunderbaum Vanille; Opel Corsa I), der mindestens soviel Hoffnung machte, wie er mir bis in jede Faser meines Hirns Panikattacken schickte. Es gibt einen gar nicht so kleinen Teil in mir, der sich wünscht, bis ans Ende meiner Zeit in diesem emotionalen Schwebezustand der eigenen Vergangenheit zu verbleiben, mit all der Verklärung, der Ignoranz, dem Gilb und Kitsch des Vertrauten, Eingefahrenen, Sicheren. Das Getöse des Unmittelbaren ersetzen mit der damals  so geliebten wie gehassten und doch so verinnerlichten Stille. Auszeit. 

Insofern ist "Inlet" die perfekte Spiegelung dieser Ambivalenz, auf jeder Ebene. Laut und leise, rustikal und subtil. Erinnerung und Gegenwart. Hoffnung und Enttäuschung. Verwegenheit und Furcht. 

Heavy Music for introverts. Für immer die Liebe.


   


Erschienen auf Earth Analog Records, 2020.


09.03.2021

Best of 2020 ° Platz 10 ° Bob Mould - Blue Hearts



BOB MOULD - BLUE HEARTS

Goodbye my friends
Goodbye to the money
Adieu to the fuckers that think that it's funny
I just want to turn the lights on
In these volatile times
(IAMX)


Ich darf vorstellen, Bob Mould, Weltkulturerbe. Seit 40 Jahren schreibt niemand sonst solche Songs. Keine andere Gitarre, keine andere Stimme klingt wie seine. Wer würde es angesichts dieser Karriere wagen, nicht alle Hüte zu ziehen?

Ich war zu jung, um Hüsker Dü mitzuerleben, aber ich kam gerade richtig für Sugars "Copper Blue": diese seltsame Mischung aus Melodie und Monotonie, Pop und Punk wurde für mich zu einem der einflussreichsten Alben der 1990er Jahre. Ich lernte viel von dieser Platte. Vielleicht war es für einen, der sich lange im Heavy Metal herumtrieb und seit ein paar Monaten im völlig besinnungslosen Grunge-Fieber war, auch eine der ersten Platten, die sich "Indie" anfühlte. Ich verlor danach Mould für sehr lange Zeit aus den Augen. Erst 2016 mit dem Album "Patch The Sky" stieg ich wieder ein und es gehört zu den eher unverzeihlichen Fehlern dieses Blogs, bislang noch kein Wort darüber verloren zu haben, denn "Patch The Sky" war Türöffner und Auferstehung zugleich: nicht nur verpasse ich seitdem kein neues Album mehr, ich habe auch die Sammlung mit früheren Werken aufgefüllt. Ab dem 2012 erschienenen und sowohl von Fans als auch Kritik gleichermaßen gefeierten "Silver Age" nagelt mir der Mann im Prinzip ausschließlich Hochklassiges auf den Plattenspieler. Für meine Begriffe liegt das nicht zuletzt an seiner Band: Jason Narducy am Bass und Monstertrommler John Wurster am Schlagzeug haben genügend Drive und Punch, um auch manchmal Schaumgebremstes mit Wucht und Spielfreude über die Ziellinie zu kicken, wenn es notwendig ist.

"Blue Hearts" ist Moulds 13.Soloalbum und es ist eines seiner Zornigsten. Trump, Umweltverschmutzung, Rassismus, Republikaner, Scheinheiligkeit, Fanatismus - Mould hat die Schnauze voll, er schreit, er bebt, er tobt. Mit zitternder Stimme singt er in der Einleitung "I wear my heart on my sleeve, don't know who to believe any more". Alles muss raus. Und es geht wortwörtlich Schlag auf Schlag: die Band macht zwischen den Songs praktisch keine Pause. Ein brillanter Pop-Indie-Alternative-Punk-Smash-Hit nach dem anderen batscht mir auf die heruntergeklappte Kinnlade, dazu gibt's die so heiß geliebten Momente der Tiefe wie in "Forecast Of Rain" oder "Password To My Soul", die in dieser Form wirklich nur Bob Mould und seine Band spielen können. Alleine in einem Gitarrenanschlag stecken mindestens dreikommaviernull Millionen Universen an Farben, Tönen, Perspektiven und Emotionen. 

Wenn mir der Trump'sche Irre aus dem Weißen Haus oder die Nazis der AFD und ihre lobotomierten Sackgesichter auf Social Media zu nahe auf die Pelle rücken und mir das Hirn verklebten: "Blue Hearts" war ein hervorragend funktionierendes Antidot.


   



Erschienen auf Merge Records, 2020. 


17.01.2021

Die besten Vinyl-Nachzügler (3): Ministry - The Mind Is A Terrible Thing To Taste



MINISTRY - THE MIND IS A TERRIBLE THING TO TASTE


"Man muss die Erscheinung des hässlichen Echten grundsätzlich verteidigen", schrieb Roger Willemsen mal in Anlehnung an die lebensverändernde Begegnung mit der Ausnahmekünstlerin Sinéad O'Connor und ihren Kampf mit einer Unterhaltungsindustrie, die keine Liebe für sie hatte, denn: wenn kein Konsens herzustellen ist, ist es nicht attraktiv. Wenn Künstler sich selbst und ihrer Verwertungsmaschinerie Schaden zufügen können, wenn es Selbstzerstörerisch wird, peinlich, werden Existenzberechtigungen in der Öffentlichkeit entzogen. 

Mich erinnerte das an meinen im Jahr 2020 zweiten gefeierten Frühling mit Ministry und ihrer wohl prägendsten Phase von 1988 bis 1998. Weniger, weil man Ministry Existenzberechtigungen entziehen wollte, schließlich fand die erfolgreiche Selbstidentifikation mit der Band nicht zuletzt über den inszenierten Tabubruch statt, über Extreme und Enthemmung, sondern weil Ministry in ihrer Hochphase für totale Anarchie standen, für beidseitigen Kontrollverlust. Das war in der dargestellten Echtheit tatsächlich hässlich, peinlich, selbstzerstörerisch und damit auch gefährlich. Für jene, die außer Kontrolle waren, für jene, die sie kontrollieren wollten, wo nicht mussten, und für jene, die von Außen zuschauten. 

Ministry waren ein großer Zirkus, eine Attraktion, der Mann mit den zwei Köpfen und vier Pimmeln - aber sie waren es vor allem, weil sie echt waren, echt kaputt. Disturbed. Die Anziehungskraft einer Platte wie "The Mind Is A Terrible Thing To Taste" geht von einer wahren, realen Gefährlichkeit aus. 

Al Jourgensen und Paul Barker waren über knapp 15 Jahre außer Rand und Band. Ich kann mich von schäbigem Voyeurismus leider nicht durchgängig freisprechen.


         

Erschienen auf Sire, 1989.


04.01.2021

Die besten Second Hand-Funde 2020 (1): Three Fish - The Quiet Table



THREE FISH - THE QUIET TABLE

Harald Schmidt sagte mal, dass maximal zwanzig Bücher ausreichten, um das Leben angemessen ausgestattet zu bestreiten, verbunden mit dem Hinweis auf die Tagebücher von Julien Green, in denen es heißt, dass am Ende seines Lebens nicht mal mehr Thomas Mann der groben Entflechtung des Literaturbestands standhielt. Immer öfter stehe ich selbst vor der Schallplattenwand und ertappe mich bei ähnlichen Gedanken. 50 Alben - mehr braucht's eigentlich nicht. Gib mir meinen Coltrane, meinen Scott-Heron, den Soundtrack meiner 90er Jahre Adoleszenz und fünf, sechs Metal-Hackepeter aus der Ursuppe der 1980er Jahre und ich bin okay. 

Die beiden Platten der Low-Key-Supergroup Three Fish würden diesen Auswahlprozess mühelos überstehen, sie fielen in den Eimer mit den dreckigen, nach Benson & Hedges und Zino müffelnden Karohemden meiner Neunziger. Tribe After Tribe Sänger/Gitarrist Robbi Robb, Pearl Jam-Bassist Jeff Ament und Wundertrommler Richard Stuverud veröffentlichten vor über 20 Jahren zwei herausragende, größtenteils ruhige, spirituelle Werke, geschmückt mit Einflüssen und Instrumenten des mittleren bis fernen Ostens, meistens aus lockeren Jamsessions entwickelt und in Aments Homestudio in den Bergen von Montana aufgenommen. Während das selbstbetitelte Debut noch hier und da auffindbar ist, ist das Vinyl von Album Nummer Zwo - "The Quiet Table" - mittlerweile leider sehr selten geworden. Es wurde über die letzten Jahre zu einer meiner meistgesuchten Schallplatten.  

Seit dem Quarantänen-Sommer 2020, einer Gelegenheit sowie einem großen Schuck aus der "I Just Don't Give A Fuck Anymore"-Pulle, liegt die Platte nun also regelmäßig auf meinem Teller, und ich freue mich sehr über diese zeitlose, klischeefreie, psychedelische und leider vergessene Perle der neunziger Jahre. 

Die perfekte musikalische Begleitung für den nächsten gemütlichen Abend im Opiumrausch. Der Quarantäne-Winter 2021 kann kommen. 


   


Erschienen auf Epic Records, 1999.


03.01.2021

Die besten Vinyl-Reissues 2020 (5): PJ Harvey - Dry

 




PJ HARVEY - DRY


1992 in der Keimzelle des Anything Goes-Vibes veröffentlicht und ein Klassiker des Alternative Rock, vielleicht gar eines der letzten wirklich großen Rockalben von der Insel der Brexit-Besinnungslosen: das Debut der britischen Sängerin und Multiinstrumentalistin ist lauter Weirdo-Blues, giftiger Feministenpunk, knarzender Noise. Das Trio, allen voran Schlagzeuger Rob Ellis mit seinem unwiderstehlichen Powerhouse-Drumming, holzt sich bis auf wenige Ausnahmen ("Happy And Bleeding" und "Plants And Rags") furios durch ein Album, von dem PJ einst dachte, es würde nicht nur ihr erstes, sondern auch gleichzeitig ihr letztes sein - was sie dazu bewog, für die Produktion alles in die Waagschale zu schmeißen, was sie hatte. 

Wie viel sie wirklich hatte, wird auf diesem fantastisch klingenden Reissue nochmal offensichtlicher. Nie war der Vergleich zwischen totkomprimierter gestreamter Billigscheiße von den Musikhassern von Shitify und einer famos gemischten, gemasterten und perfekt gepressten Schallplatte sowohl eindrucksvoller als auch schmerzhafter als hier. Ein einzigartig beißender Gitarren- und Basssound, ein die Mauern von Jericho zum Einsturz bringendes Drumset und eine Stimme, die zu gleichen Teilen selbstbewusst, sexy und fragil eine ungeheure Präsenz ausstrahlt. Die grundsätzliche Idee, "Dry" exakt auf diese Art zu inszenieren, war für den im karierten Flanellhemd steckenden "Flori" (Mama) schon 1992 eine bemerkenswerte Entscheidung - knapp dreißig Jahre später wird sie dank dieser Neuauflage zur Sensation.


 



Erschienen auf Too Pure, 1992/2020.