Vor elf Jahren habe ich meine Leserinnen und Leser mit einem Thrash Metal-Countdown gelangweilt, und weil mir seitdem auffiel, dass ich in der damaligen Auflistung mindestens drei schwere Fehler begangen hatte, die nach einer Klarstellung und Korrektur schreien, gibt's die jetzt einfach. Als Video, damit's auch richtig cringe wird. Immer Alles geben. Meine Devise.
Bevor wir im Dezember zu der traditionellen "Neue Scheiße"-Abteilung gelangen - dieses Jahr übrigens wieder mit den "nur" zwanzig besten Alben des Jahres 2018; man muss es ja nicht zu einem noch prätentiöseren Dreck aufblasen, als es eh schon ist - flechte ich hier und heute freudestrahlend und blutkotzend noch einen Hauch "Alte Scheiße" ein. Vom Gedanken, einen neuerlichen Minusrekord hinsichtlich der in den letzten elf Monaten geschriebenen Beiträge zu verhindern, habe ich mich "innerlich" (Jan Ulrich) schon zur Jahresmitte verabschiedet, aber vielleicht fällt der Gebrauch von Psychopharmaka ja geringer aus, wenn ich versuche, das Delta zur Anzahl von Postings aus den vorangegangenen Jahren akzeptabel klein und also "in Schach" zu halten.
Dabei ist's doppelt tragisch, denn wenn ich mir seit Jahren und vor versammelter Bloggergemeinde mit den vielbesungenen "vielen, tollen Ideen" ein Horn laberte, ging es unter anderen "vielen, tollen Ideen" auch genau darum: welche Alben brauchen denn entweder ganz megaultradringend eine erstmalige LP-Veröffentlichung - digital scheißegal, uns ist mittlerweile eh alles schnurz - oder superduperdringend einen Repress, weil die ehemals veröffentlichten Versionen nicht nur ausverkauft sind, sondern darüber hinaus mittlerweile auch noch richtig Asche kosten? Zero World Problems, klar - und vor zwei Jahren, als ich in meiner Funktion als "Se Buckholder of Rogg'n'Olaf" (Die Herzallerliebste) mit der ersten Auswahlliste in Excel begann, wäre das auch noch "a thing" gewesen. Mittlerweile schreibt wohl selbst Familie Fliewatüt sowas in irgendeine gesponsorte und total unabhängige Scheißplattform in diesem Internetz, dafür dann aber auch total ausgewogen im Sinne von Universal und Warner Music. Von Experten für Experten.
Haha! Reingelegt! Heute schreibt doch keiner mehr über Musik!
"Ich streame mir die Haare glatt." (Fips Arschmuskel)
"Solange ich lebe, wird es keine Blank When Zero Songs auf Spotify geben." (Florian Fluppsi, Arzt)
"Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihr Premium-Abonnement...was? Falscher Balkon? Sorry @ All, muss wieder weg, Tschö mit Ö!" (Genschman)
Jedenfalls: Ich weiß nix. Merke ich immer wieder. Mein ganzes Getue in unterschiedlichen Genres über fucking Jahrzehnte - alles für den Piepmatz. Daher ist auch der so oft und seit locker 15 Jahren geäußerte Wunsch, das eigene Leben mit Inhalt zu füllen und also ganz vielleicht einen Plattenladen zu eröffnen, komplettes Kokettieren mit dem süßen Hauch des Untergangs, den es gratis und automatisch als Dreingabe gibt, wenn die Gedankensynapsen mal wieder von der Lohnarbeitsleine gelassen werden. Ich möchte gar nicht wissen, welche ultrarare Scheiben schon von mir im Plattenladen und auf Flohmärkten stumpf überblättert wurden. Dafür erinnere ich mich an einen Besuch bei Tommes Records in Stuttgart, in dessen Verlauf mir der Inhaber eine Platte einer deutschen Krautrock-Band aus den 1970er Jahren unter die Nase hielt und mir überlegen lächelnd mitteilte, dass er ebenjenen Titel vor wenigen Tagen aus einer 3-Euro-Kiste vom Flohmarkt herausfischte. Meinen fragenden Blick nebst vehementem Schulterzucken konterte der Mann mit der Feststellung, dass er gedenkt, dieses Exemplar für mehr als das 280-fache des Einkaufspreises zu veräußern - und dass der auserwählte Käufer noch am selben Tag vorbeikäme, um ihm, Tommes, die Ladenmiete für diesen Monat zu überbringen. Es erübrigt sich, gesondert darauf hinzuweisen, dass der feine Herr Dreikommaviernull, selbsternannter Plattensammler mit total relevantem Blog weder Band noch Album kannte, ich hatte gar noch niemals in meinem Leben auch nur den Namen gehört oder gelesen. Für mich hätte es nach dem Durchblättern besagter Schnäppchenkiste vermutlich nur zwei Optionen gegeben:
1. "Puh, nur alte Rotze. Frag' mich ja echt, wer die Scheiße überhaupt kauft."
2. "Whoah, geiiiiiil - die dritte Doro-LP als Picture Disc für nur drei Eu... - achnee, hab' ich ja schon."
Klar ist indes auch: man kann nicht alles kennen. Was ich seit einigen Jahren so nonchalant als "Mut zur Lücke" schönrede, ist in Zeiten von schnellebigem Streamingdreck nebst seiner Algorithmen und dem unheiligen "Einer Million Dummbatzen gefiel die neue Single von Gustav Glücksbärchi - come on and join the Dummbatzes!" aus der Mode gekommen. Selbst in den Genres, in denen ich mich wenigstens nach kritischer Selbsteinschätzung noch ganz gut auskenne, also dem Rock-und Metalbereich ab Mitte der 1980er Jahre bis zum Ende der 1990er Jahre, muss ich die ein oder andere Lücke in der Größe des Mariannengrabens einräumen. So verkaufte ich im vergangenen Jahr im Auftrag einer Freundin etwa 250 Schallplatten aus der Heavy Metal/Speed/Thrash/Death/Progressive-Schublade und dem grob definierten Zeitfenster von 1986 bis etwa 1995, meist Titel, die ich aus dem EffEff kannte, sowohl inhaltlich als auch hinsichtlich der unterschiedlichen Versionen. Zumindest zu Letztgenanntem bleibt mir im Rückblick nur ein mitleidiges Lächeln übrig, denn: I knew shit! Ich stakste über Wochen durch das Plattensammlerportal Discogs wie durch ein Minenfeld aus rohen Eiern und lernte, wie eine an einer einzigen Stelle abbweichende eingravierte Matrixnummer in der Auslaufrille der Schallplatte dafür verantwortlich sein konnte, ob ein Exemplar nun für hundertachtzich oder einsachtzich den Besitzer wechselt.
Was ich mit der wieder mal elendig langen Einlaufkurve sagen will: man erwartet, wie übrigens immer auf diesem Blog, bitt'schön keine Auflistung des Supernerd-Kanons, mit welcher der geneigte Perlentaucher dann lokale Plattenläden abklappert - und besser schon gar keinen alten Scheiß von den üblichen Verdächtigen: im Dickicht oller Pink Floyd, Beatles, Doors und Rolling Stones Pressungen aus drei Miliarden Jahren kompletter Geschmacksverirrung kenne ich mich nicht aus. Und ich möchte mich dort auch nicht auskennen. Das war nie ein Thema für diesen Blog, und es wird auch nie eines werden. Außerdem sei freundlich darauf hingewiesen, dass mir besonders in den letzten zwei Jahren schon so einiger Wind aus den Segeln genommen und meine bedeutendsten Wünsche erhört wurden: "Dogman" von King's X, "Nocturne" von Charlie Haden, "Transmission" von The Tea Party, der komplette Solokatalog des Iron Maiden Sängers Bruce Dickinson wären zu 10000% in den hier folgenden Listen aufgetaucht, mittlerweile haben sie sich alle im Plattenschrank manifestiert. Dolles Ding.
Was es stattdessen geben wird, ist ein banales Wunschkonzert. Ein ganz normales, total weltfremdes Wunschkonzert von einem, der nix weiß, der aber immerhin eine kleine Special Interest-Liste zusammengestöpselt hat.
Als Überbrückung bis zum Jahrescountdown also in Kürze: die zehn am ärgsten erwarteten Kandidaten in den Kategorien "Repress Now, Mofo!" und "First Time Now, Schnakenhals!", aufgeteilt in zwei je fünf Kurzreviews umfassende Beiträge pro Kategorie. Supereinfach.
Da musste ich mich erst neulich von einem, man muss es so deutlich sagen, eher übersichtlich veranlagten Zeitgenossen darauf hinweisen lassen, dass ich ja tatsächlich einen Blog betreibe - den despiktierlichen Unterton, damit im Jahr 2018 ja ungefähr so cool zu sein wie der olle Otto-Witz mit dem pinkelnden Eskimo, habe ich wohl wahrgenommen, viel schlimmer war aber die dadurch ausgelöste Erinnerung daran, wie lange hier schon wieder nichts passiert ist. Denn: mit uncool sein kenne ich mich aus, ich hatte beinahe 41 Jahre Übung darin und gebe immer noch keinen fickenden Fick; während es mit Disziplinlosigkeit und trotz aller zur Perfektion getriebenen und seit Jahrzehnten gepflegten Prokrastination etwas schwieriger wird.
In der Zwischenzeit wird aber jede Disziplin von der Lohnarbeit aufgesaugt, was zu solch absurden Entscheidungen führt, an einem Sonntag und bei 35°C doch lieber mal sechs Stunden am Arbeitsrechner zu verbringen, anstatt unter dem auf der Terrasse aufgespannten und freilich ausschließlich für den sensiblen Ehemann erworbenen und also lästige Mücken abhaltenden Fliegennetz zu sitzen, oder die klassischerweise rund um den eigenen Geburtstag genommene Urlaubswoche, wie bestellt ausgerechnet am Ehrentage, für eine quadratbekloppte Fahrt nach Köln zu unterbrechen, weil da jemand im Anzug etwas von mir will, und sei es nur, mir den Hintern zu versohlen, verbal versteht sich. Dass der Hirnkasten angesichts dieser Monstrositäten zwischendrin lieber die Notbeleuchtung anknipst, bon - aber ich darf wenigstens feststellen, dass ich damit immer noch Schwierigkeiten habe. Habe im Dunkeln so oder so oft Angst.
Die hier seit Monaten feierlich und mit einigem Remmidemmirapimmelrapammelrapumm angekündigten Ideen müssen sich also noch etwas gedulden, und ich bin mittlerweile auch nicht mehr so bescheuert, hier noch weitere Versprechen i.S.v. "hier geht's ganz bestimmt bald wieder weiter" hinaus zu trompeten. "Es kommt, wie es kommt!" wusste schon das Stückchen Dönerfleisch im Oberlippenbart von Wolfgang Niedeken, wo wir es doch eh gerade von Köln hatten.
Bevor ich zum eigentlichen Punkt komme, eine Einlassung vorab: ich schaue/höre seit einigen Wochen sehr regelmäßig den Joe Rogan Podcast auf dessen Youtube-Kanal. Rogan ist für mich aus einem ganz speziellen Punkt inspirierend: er passt in keine meiner vorgefertigten Schubladen und fordert mich dazu heraus, mal ein paar Schritte zurückzugehen und die durch meinen nunmehr zwanzigjährigen Internetkonsum etwas verkrüppelten Empathieantennen wieder zu polieren (kein Euphemismus!). Rogan vertritt in der Hauptsache liberale Standpunkte, gehört aber trotzdem nicht zum Hollywood-Establishment: Er ist Jäger und zählt sich zu der "Eat What You Kill" Bewegung und würde mir unter normalen Umständen durch jedes vorhandene Raster in den großen "Arschloch!"-Sack plumpsen. Andererseits ist er offener Nutzer von Marihuana und setzt sich für die Legalisierung ein. Er ist Martial Arts-Experte. Spirituell, aber mit Religion nix an der Frisur. Eigentich ist Rogan eine Mischung aus einem mit den eigenen Vorurteilen vollbeladenen Ami-Redneck-Klischee und einem sehr wachen, offenen, lebensbejahenden und bewussten Geist. Wie soll das alles zusammenpassen? Ich stimme ganz sicher nicht immer mit ihm überein, aber es kann eine sehr befreiende Wirkung haben, wenn man beginnt festzustellen, dass man das nicht muss.
Wie dem auch sei, ich kann es sehr empfehlen - auch seine Interviews mit Paul Stanley von Kiss und James Hetfield von Metallica waren überragend interessant und ich habe sie vollständig angeschaut. Und ich bin nicht mal Fan von Kiss. Oder von Metallica.
Warum das alles jetzt, hier und heute genannt wird: Rogan hatte im November 2017 den Wissenschaftler Paul Stamets in seinem Podcast zu Gast. Stamets ist ein in den USA nicht unbekannter Mykologe - die über 2.2 Millionen Views seines Auftritts im Rogan-Podcast alleine auf Youtube könnten dafür gesorgt haben, dass er mittlerweile sogar noch etwas bekannter wurde.
Ich kann und will hier nicht im Detail auf das Gespräch eingehen, außer, dass ich das Interview mittlerweile schon drei Mal gehört und gesehen habe. Ich möchte am Ende eigentlich nur sagen: diese zwei Stunden werden euer Mind blowen. Und zwar die ganze fucking Zeit.
Konzertreisen mit unserer kleinen Punkband Blank When Zero haben Seltenheitswert. Zuletzt durften wir vor etwa 5 Jahren zwei Konzerte hintereinander spielen, ohne dazwischen im heimischen Bett zu schlafen. Regensburg und Passau hießen damals die Stationen, und die Voraussetzungen sahen bei dem ein oder anderen von uns im Jahr 2012 anders aus, die familiären zumal. Wir haben bis heute nur die allerbesten Erinnerungen an diese Fahrt: stundenlanges Spock's Beard hören auf der Fahrt nach Passau, das vegane Thai-Curry des dortigen Jugendzentrums, die Begeisterung der Zuschauer, die sich über den Boden kugelten und ein, äh, Trockenrudern veranstalteten, der sonnige Spätsommertag in Regensburg, die vor dem Club verbrachte Nacht mit Freunden, der vom andauernden Lachen herangezüchtete Bauchmuskelkater am nächsten Morgen - es war ein rundum perfektes Wochenende.
Die Latte lag also in luftiger Höhe, als wir an einem frühlingshaften Freitag im April 2018 in Richtung Münster aufbrachen, um es mal wieder zu tun. Zwei Konzerte standen auf dem Plan. Das erste in Münster zur Geburtstagsfeier unseres Kumpels Andreas im Rare Guitar, das zweite am darauffolgenden Samstag im nur wenige Kilometer entfernten Hamm. Um es vorwegzunehmen: wir übersprangen die oben erwähnte Latte mit einiger Leichtigkeit. Es war von Anfang bis Ende prachtvoll.
Es ist schwer für eine kleine Band, die erstens fast niemand kennt und die zweitens aus alten Säcken besteht, deren Freizeit von anstrengenden Jobs und einer mehrköpfigen Familien aufgemampft wird, live zu spielen. Während die erste Tatsache dazu führt, dass kein Veranstalter dieser Welt damit rechnen kann, wegen unseres Erscheinens auch nur ein Ticket mehr zu verkaufen, bedeutet die zweite, dass uns terminlich schon hier und da mal die Luft ausgehen kann. Und ich glaube, ich liege nicht so irre daneben, wenn ich gleichzeitig konstatieren muss, dass wir in Sachen Networking nicht die Allergeilsten sind. Ich könnte es außerdem niemandem verübeln, der uns wenigstens aus der Entfernung für komische Typen hält, die sich auch gerne mal rar machen und die man manchmal über Wochen und Monate nicht hört und nicht sieht. Dazu: Keine Tätowierungen, keine Piercings, dafür aber die Anreise mit Vehikeln aus dem Hause Volkswagen, und anstatt uns im ubiquitären Bier zu marinieren lautet unsere erste Frage nach der Ankunft im Club immerfuckingimmer: "Habt Ihr auch Kaffee?". Und ich verstehe das Stirnrunzeln, das uns manchmal gezeigt wird. Gleichzeitig hoffe ich, dass sich der Krampf im Frontallappen aufzulösen vermag, wenn die ersten Worte gewechselt sind, spätestens jedoch bei der nächsten Kaffeebestellung.
Umso dankbarer sind wir dafür, dass es trotz unserer erwähnten Unzulänglichkeiten Menschen gibt, die uns immer wieder zu sich einladen und uns für eine halbe Stunde ihre Bühnen überlassen. Ich bin mittlerweile davon überzeugt, dass es Blank When Zero heute nicht mehr geben würde, gäbe es diese Damen und Herren in unserem Bandleben nicht. Vermutlich wären wir in unserem Proberaum längst zu Blut-, Schweiß- und Rotzeklumpen geronnen.
Nachdem wir also unseren Auftritt im Rare Guitar zwar mit einigen Spielfehlern dieses komischen Typen im Nirvanashirt (inklusive eines peinlichen weil volltotalen Blackouts bei unserer quasi-Bandhymne, Halleluja!), aber grundlegend sehr erfolgreich absolvierten, stand am Samstag ein gemeinsamer Streifzug durch die Plattenläden der Studenten- und Fahrradmetropole auf dem Plan, bis wir gegen Abend in Richtung Hamm aufbrachen. Und es ergab sich zu der Zeit...
....dass wir nach einer Nacht in einem, Achtung, uffjepasst: Raucherzimmer des hiesigen B&B Hotels (es gibt nicht nur tatsächlich noch Hotels mit Raucherzimmer, es gibt offensichtlich auch immer noch Menschen, die in diesen 10 Quadratmeter kleinen und besser tapezierten Dixieklos sich wirklich 'ne Fluppe anzünden, for fuck's sake!) in die Innenstadt loszogen. Vier Läden standen auf der vorher fein säuberlich durchgeplanten Agenda und das Wetter passte sich unserer Stimmung aufs Vorzüglichste an: strahlender Sonnenschein, trocken, nicht zu warm - es war alles angerichtet.
Station Nummer 1 war die Poptanke, die zum Zeitpunkt unseres Erscheinens noch nicht geöffnet hatte und die wir daher eigentlich mit einem Blick ins Schaufenster zunächst nur flugs passieren wollten. Der Besitzer saß allerdings schon hinter seinem Computer, sah unsere plattgedrückten Nasen - und öffnete uns seine Türen eine gute Stunde vor dem eigentlichen Geschäftsbeginn. Juchuuu! Die Poptanke führt neben einer umfangreichen Auswahl von Second Hand Schallplatten auch Bücher, CDs und DVDs und wurde uns von Eingeweihten als geheimer Geheimtipp für das ein oder andere Schätzchen und Schnäppchen wärmstens empfohlen. Der Großteil des Vinylrepertoires besteht aus den üblichen Verdächtigen in den Bereichen Rock/Pop, Jazz, Indie, Punk und Metal. Irrsinnig viele Raritäten kamen mir hier allerdings nicht unter. Muss aber auch nicht: Marek deckt sich mit LPs von Peter Gabriel, Marillion und Genesis ein, ich finde eine überraschend gut erhaltene Version von REMs "Out Of Time" aus der Alternative-Ursuppe zum fairen Preis. Apropos Preise: ich kann nicht wirklich meckern, und die Momente, in denen ich mit in mich hineingebrüllten Verbalinjurien aus der Kategorie "Unter der Gürtellinie" an der Zurechnungsfähigkeit des Verkäufers zweifle, fallen hier komplett aus. Erwähnenswert sind die zwei "Neu Eingetroffen" Boxen im Eingangsbereich, in denen sich tatsächlich bisweilen interessanter Stoff tummelt, der sicherlich schnell den Besitzer wechselt und es daher nicht in die regulären Genreabteilungen schafft, u.a. mit Alben von Bonobo und Serge Gainsbourg zum Zeitpunkt unseres Besuchs, die man nicht an jeder Straßenecke findet. Insgesamt durchaus sympathisch und sicher einen Besuch wert.
Auf dem Weg zum legendären Green Hell Store versuchen wir erstens uns nicht zu verlaufen und zweitens nicht von dem geradewegs tollwütigen Mob der allgegenwärtigen Fahrradfahrer umnieten zu lassen. In beiden Disziplinen sind wir erfolgreich, aber im Clinch mit den Zweirädern hilft es manchmal nur noch, die Augen fest zu schließen und auf den Aufprall zu warten.
Der Green Hell Laden gilt als einer der bedeutendsten und am besten sortiertesten Plattenläden der Republik. Zusammen mit den Freiburgern von Flight 13 stellen sie die Speerspitze dessen, was im unabhängigen Punk- und Indieumfeld heute noch möglich ist, was sowohl den Onlinehandel, als auch die noch existierenden "Brick & Mortar"-Shops betrifft. Über 15.000 Platten warten auf unsere suchenden Finger - und die haben in den folgenden zwei Stunden auch allerhand zu tun: Der Schwerpunkt liegt logischerweise auf Punk, Hardcore, Indie und Metal, darüber hinaus gibt es kleinere Soul, Jazz und Elektro-Abteilungen und das unvermeidbare Rock/Pop Segment. Zwar gibt es für alle Genres auch Second Hand-Angebote, die mich aber aus qualitativer Sicht nicht immer aus den Latschen kloppen. Die Faszination Green Hell besteht für mich aus dem Erlebnis, eine sehr große Auswahl neuer Veröffentlichungen, seien es aktuelle Platten oder Reissues, in einem echten Plattenladen zu finden. Das, was man heute in erster Linie nur noch online kennt, wenn man sich durch hunderte von Seiten klickt und Bilder anschaut, wird hier erfahrbare Realität: ich kann die Platten in die Hand nehmen, sie anschauen, die Gatefoldcover aufklappen, die colorierten Vinyls sehen. Sowas ist selten geworden. In meiner Heimatstadt Frankfurt gibt es beispielsweise keinen Plattenladen mehr, der eine auch nur ähnliche Strategie für Neuware verfolgt. Die meisten verzichten entweder komplett darauf und scheuen die notwendige, aber signifikante Investition, einige wenige spezialisieren sich für ihren Kundenstamm auf bestimmte Genres, manchmal nur auf ein einziges. Alles sicherlich legitim - man muss schließlich froh darüber sein, dass es sie überhaupt noch gibt - aber ein Genre-Allrounder ist in Frankfurt nicht mehr zu finden.
Green Hell ist ein solcher Allrounder. Ich kann hier sowohl die letzten Releases des US-amerikanischen Soullabels Daptone aus dem Regal ziehen, als mir auch die auf Vinyl (wieder)veröffentlichten Kreator-Alben aus den neunziger Jahren ansehen und mich wie ein Schneekönig über das grüne und damit farblich zum Cover passende "Renewal"-Vinyl freuen. Natürlich ist auch hier die Zeit für Schnäppchen längst abgelaufen, und angesichts prominenter Plattformen wie Discogs und Popsike ist das nur wenig verwunderlich. Für den preisbewussten Plattensammler (gibt's sowas überhaupt?) stehen im vorderen Bereich des Ladens einige Kisten mit Angeboten herum, wenngleich man wirklich stattliche Reduzierungen nicht erwarten sollte. Immerhin lässt sich aber wirklich der ein oder andere Euro einsparen. An Sparen ist bei uns nicht zu denken: Marek läuft Amok und steht am Ende mit 30 Platten und mit Tränen in den Augen an der Kasse, Simon findet ein paar Schätzchen aus der 2-Tone-Ära der Labels 2 Tone, Link und Skank und meinereiner schlägt mit dem Albumdebut des Schottentrios Hair Of The Dog zu (nebenbei ein Geheimtipp für Fans doomigen Stonerrocks und stonigem Doomrocks - und wann bitte empfehle ich mal eine aktuelle Rockband? Na? Naaa? Eben!), findet den Klassiker von Kate Bush "Hounds Of Love" in einem gar nicht mal so guten Zustand im "Alte Scheiße"-Fach, denkt an die Herzallerliebste und packt ihr endlich "Doolittle" von den Pixies ein und schließt das Menu mit dem "Yellow House"-Debut der Psychfolkster Grizzly Bear. Nach diesem Irrsinn sind wir eigentlich reif für eine Regentonne voller Kaffee und stehen zwar glücklich aber auch halb erschossen vor dem Laden. Ganz schön schwer, der ganze Scheiß. Ob das die Tüten wohl aushalten?
Mit Handy in der Hand (ohne Google Maps wären wir völlig am Arsch - mit sind wir's aber auch - was tun?) nageln wir uns brav gegenseitig Durchhalteparolen ins Stammhirn und wackeln schon etwas angeschlagen und bepackt wie ein Außerirdischer beim ägyptischen Pyramidenbau zum dritten Ziel: Jörg's CD Forum. "Die haben aber auch LPs!" hallt uns noch der Ratschlag vom Vorabend in den Ohren. Das wollen wir hoffen. Was zunächst überrascht ist die überaus zentrale Lage des Ladens, der nur wenige Meter von der großen Fußgängerzone entfernt zu finden ist. Was hier wohl die Pacht kosten mag? Und wie viel CDs der gute Jörg wohl dafür verkaufen muss?
Das CD-Forum liegt unterirdisch und darf sich über eine riesige Verkaufsfläche freuen. In der Hauptsache sehen wir auf den ersten Blick tatsächlich, Überraschung: CD-Regale, im hinteren Teil des Ladens sehen wir außerdem Bücher und in der Nähe der Kasse lassen sich etwa 4 bis 5 Meter Schallplatten finden, allesamt Neuware. Nach wenigen Minuten wird uns klar: hier wird es schwer, neue Mitbewohner zu finden. Das Sortiment bewegt sich wenn auch nicht hauptsächlich im totalen Mainstreambereich (immer wieder die verdammten Foo Fighters. Immer fucking wieder! Ich muss dem Reflex widerstehen, einfach eine zu kaufen, nur um sie danach kaputt zu machen!), für uns reicht's jedoch, und preislich fliegt mir die Gurke jetzt auch nicht gerade automatisch in den Nicer Dicer. Immerhin: als erklärter Fan der entrückten Hobbitflüsterin Loreena McKennit bin ich ob der fast komplett verfügbaren Vinyldiskografie geradewegs begeistert. Erfreut nehmen wir außerdem ein Pappschild zur Kenntnis: "Mehr 2nd Hand LPs im hinteren Teil des Ladens!" steht da geschrieben, und nachdem unsere Jubelschreie in der allgemeinen Ödnis verhallt sind, machten wir uns auf die dreitägige Reise in eben jenen hinteren Teil des Ladens, leider immer noch ohne Kaffee. Der wäre uns angesichts des 2nd Hand-Trauerspiels aber auch standepede wieder hochgekommen: alles, was vor mindestens fünfunddreißig Jahren in rauen Mengen mal eingekauft wurde und bis heute noch nicht die Flucht ergriffen hat, gammelt - man muss es so deutlich sagen - hier noch herum. Es ist eine schreckliche Vinyl-Zombie Apokalypse mit Michael Bolton, Gianna Nannini, Tina Turner, Münchner Freiheit und Modern Talking - manchmal mit drei oder vier Exemplaren eines einzelnen Titels, fein in Reih' und Glied direkt hintereinander einsortiert. Ein Wahnsinn. Ich plane, die vor meines angetretenen Langstreckenflugs in Richtung des hinteren Teils des Ladens noch nicht durchgeblätterten Neuheiten nochmal genauer unter die Lupe zu nehmen und mein feines Näschen hat mich nicht im Stich gelassen: als Herr und Frau Dreikommaviernull im April 2016 beim Gastspiel des mittlerweile verstorbenen Chris Cornell in Hamburg weilten, hörten wir im Vorprogramm einem Solokünstler namens Fantastic Negrito und seiner Akustikgitarre zu und sahen uns anschließend anerkennend nickend in die Augen. "The Last Days Of Oakland" heißt sein 2016 erschienenes Album, das es zunächst lediglich auf CD und als Download zu Erwerben gab - und plötzlich steht es hier in Jörgs CD Forum auf Schallplatte herum. Der Preis stimmt auch - und ich stoße ein kurzes, aber umso intensiveres "Whoa!" aus. Auch für dieses Werk darf ich eine kleine Empfehlung aussprechen. Was ist das? Alternative Blues vielleicht? Egal, es ist jedenfalls toll.
Nun ist es aber soweit: bevor wir uns final zu Andrä - Musik Filme Games schleppen, müssen wir auftanken - und das tun wir im Restaurant "Prütt" in der Bremer Straße - es heißt, es sei eine der besten Adressen der Stadt, wenn es um vegetarisches und veganes Essen geht. Die Sonne scheint immer noch, wir sitzen im kleinen aber feinen Biergarten, mampfen Fenchelpizza und Falafel und werfen einen ersten Blick auf unsere neuen Schätze. Es ist so schön, wenn der Schmerz nachlässt. So kann es ruhig bleiben.
Bleibt es aber nicht, wir müssen ja noch weiter. Ein zehnminütiger Fußmarsch und wir stehen bei Musik Andrä vor der Tür, ein 2nd Hand Laden mit relativ umfangreicher Vinylabteilung.
Das Standardprogramm reißt uns alle nicht über Gebühr vom Hocker, und ich halte mich mit meiner Auswahl von Gary Moores "Wild Frontier" (große Platte, übrigens!), und einem alten Schinken vom Alan Parsons Project ("The Turn Of A Friendly Card") für die Herzallerliebste relativ schadlos - allerdings nur solange, bis ich die beiden etwas seltsam abseits platzierten Raritätenkisten entdecke, denn hier kommt der große Gongschlag zum Wochenende, die Platte zum Sonntag, die mother of all (evil) vinyls. Jedenfalls eine davon und immerhin eine für mich. Was ich beim Fund der Fantastic Negrito-LP mit einem kurzen "Whoa!" kommentierte, wird hier zu einem laut durch den Laden gerufenen "Ach du Scheiße!": hier steht wirklich "Strength In Numbers" von The Music herum. Wenigstens aus meiner Sicht die unterbewerteste britische Band der letzten 20 Jahre. Und ich habe gerade nicht mal damit begonnen, zu übertreiben. "Strength In Numbers" ist bis auf den immer noch unsagbar schwachen Titelsong eine der besten Platten der 00er Jahre. Und darüber hinaus eine, die ich seit nunmehr zehn Jahren auf Vinyl suche und bislang noch niemals live und in Farbe gesehen habe. Auf einschlägigen Portalen wird es in gutem Zustand gerne mal dreistellig und mir war hier und heute, in fucking Münster, sofort klar: die nehme ich mit. Geld spielt keine Rolle. Mir war es in diesem Moment wirklich völlig egal, was sie kostet - soll doch die Kreditkarte mal zeigen, was in ihr steckt. Pah! Am Ende war ich mit 70 Euro wirklich gut bedient. Das heißt nun aber auch: ich habe bislang noch für keine Schallplatte soviel bezahlt wie für "Strength In Numbers". Reue? Nicht mit mir, Geld muss schließlich weg. Und für Sachen, die wirklich bis ins Mark Spaß machen gleich drei Mal. Also: Weg, weg, weg. Außerdem habe ich keine Kinder, werde auch niemals welche haben, ergo: mit mir kann man's ja machen. Andrä ist darüber hinaus, und da waren wir uns alle einig, preislich völlig im Rahmen, manchmal sogar überraschend günstig. Des weiteren bemerkenswert: Andrä druckt auf seine Preisschilder auch das Datum des Tages, an dem die Platte ins Regal gestellt wurde, und wir waren baff erstaunt über den offensichtlichen Durchsatz des Ladens. Kaum eine Platte, die wir uns mitnahmen, stand länger als 2 Wochen zum Verkauf, manche wurden sogar erst einen Tag zuvor gelistet. Läuft für den Andrä, wie es scheint.
Für die drei Punkrocker von der Plattentankstelle lief es auch gut - die Füße sind platt, die Konten sind leer, aber wir sind glücklich. Und das ist schließlich das Wichtigste. Am Abend spielen wir in Hamm ein erneut sehr gutes Konzert, dieses Mal auch tatsächlich ohne spielerische Blackouts, dafür bekommen die 60 Besucher aber die schnellste Version von "Fall From Grace" um die Ohren gehauen, die die Welt jemals gehört hat. "Der Raum wurde dreidimensional" (Helge Schneider), "Nummer 1, WARP 9, Energie!" (Jean-Luc), "Wahnsinnige Geschwindigkeit!" (Lord Helmchen). Wir schafften es trotz unseres debilen Kicherns während des Spielens sogar, dabei nicht komplett auseinanderzufallen. Da kann mal sehen, was 9 Jahre des gemeinsamen Zusammenspiels doch bewirken können. Schuld an dieser Geschwindigkeitsexplosion hat übrigens unser ehemaliger Aushilfsbassist und immernoch Bandfreund Andreas, der sich tatsächlich am Vorabend auf den 100km weiten Weg nach Münster aufmachte, um mal wieder nach dem Rechten zu sehen - und der nach dem Konzert der Meinung war, wir seien im Vergleich zum letzten Mal "ja doch ein Spürchen langsamer" geworden. Schlagzeuger Simon, von jener Blasphemie zerebral ordentlich durchgeschüttelt, konnte das unmöglich auf sich sitzen lassen, braute sich den so legendären wie berüchtigten Zaubertrank aus Cola/Energydrink und ließ ihn offenbar, von Marek und meiner Wenigkeit unbemerkt, mit Hilfe eines intravenösen Zugangs langsam aber stetig in die Adern tröpfeln. Der gleichzeitig in Hamm kredenzte Kaffee auf dem Stärkelevel "Ins Klo schütten würd' ich ihn nicht, der könnte das Porzellan angreifen" tat sein Übriges. Interessante Erfahrung, aber nicht interessant genug, um es zu wiederholen.
Die Reaktionen der Zuschauer - zumindest von jenen, die wir nicht aus dem Raum gepustet genervt haben, aber es soll nicht verschwiegen werden: auch das gab und gibt es immer wieder - nach unserer Zeit auf der Bühne sind famos und unglaublich motivierend. Wir verkauften über beide Abende sage und schreibe 10 Platten, so viele wie noch nie, und bekamen auch so viel Lob wie noch nie: die beiden jungen Typen, die mit strahlendem Gesicht vor mir standen und darüber berichten, dass sie uns schon mal in der Baracke in Münster gesehen haben und ihnen dort schon die Kinnlade auf den Boden gekracht wäre. Und die sich (und uns!) fragen, warum wir nicht viel bekannter sind. Die Antwort dauert eine Stange Schokozigaretten, oder man liest sich nochmal den Anfang dieses Textes weiter oben durch. Wildfremde Typen, die mir "Beste Band des Abends!" ins Gesicht schreien. Oder mein Favorit aus Hamm, der außer einem Kopfschütteln und einem gestammelten "Unglaublich! Sowas habe ich...also....unfassbar....sowas habe ich noch nicht gesehen!" nichts heraus bekommt. Der Mischer, der mir nach dem Auftritt sagt, es sei ja sehr beeindruckend, was ich "soundmäßig aus diesen Fender Combos heraus hole!" - noch beeindruckender ist in diesem Zusammenhang, dass ich seit Anbeginn der Zeit auf Effektgeräte verzichte und zwischen Gitarre und Verstärker einfach nur ein 10 Euro Kabel hängt. Wir alle freuen uns praktisch den Arsch ab, dass es so vielen Menschen gefallen hat - und wir freuen uns auch darüber, dass es Blank When Zero immer noch gibt, und dass wir die Möglichkeit haben, live zu spielen. Solche Erlebnisse entschädigen für fast alles: die Saure-Gurken-Zeit im Proberaum bei Temperaturen um den Gefrierpunkt, wenn über Monate niemand anklopft und wir nicht live spielen können. Wenn die Kreativität in der Sackgasse ist und man nicht weiß, ob das, was man sich gerade ausschnapst auch wirklich gut genug ist. Wenn der Alltag übermächtig wird und man sich für einen ganzen Monat nicht zu einer Probe sieht. Als wir nachts um 4 Uhr aus Hamm an unserem Proberaum ankommen und das Auto von Verstärkern, Lautsprechern und Schlagzeugteilen befreien, vor Müdigkeit torkelnd, aber immer noch euphorisiert von dem Wochenende, weiß man auch als bald Ü-40er, warum man das noch alles macht - und warum es so wichtig ist, auch damit weiter zu machen. It's food for your soul - und wo das gesagt ist: Jagged Edge - Fuel For The Soul: großartige AOR Platte aus England, sollte man kennen!
Was mir und uns zu sagen bleibt:
Danke an alle, die uns dabei unterstützt haben, in Münster und Hamm spielen zu können. Danke an die Veranstalter und danke für die Einladungen. Danke für Eure Großzügigkeit. Danke an die Soundmischer an beiden Abenden. Danke an die Menschen hinter der Bar, die uns immer einen Kaffee eingeschenkt haben. Danke für die Köchinnen und Köche, die uns zu Essen gegeben haben. Danke an alle, die die Gigs besuchten und für so eine tolle, positive Stimmung sorgten. Danke an alle Bands, mit denen wir spielten, ganz besonders an Clubber Lang und Short (die beide mit ihren Gigs in Hamm einen einzigen Triumphzug hinlegten - es hat solchen Spaß gemacht, Euch zuzuschauen!). Danke an die Plattenläden in Münster: prima, dass es euch noch gibt und noch primarererer, dass ihr uns all die wunderbaren Schallplatten verkauft habt.
Schwupps - schon ist's wieder vorbei. Das verstörendste Merkmal des Älterwerdens ist, nahezu jegliches Zeitgefühl zu verlieren, dass also das Hirn seine eigene eh schon diffuse Suppe aus Erlebnissen und Momenten in einen großen Topf wirft und die ganze Brühe mit einer Flugzeugturbine mal schön durchrührt, bis am Ende ein sämiger Kladderadatsch vor einem liegt, der bis in die kleinsten und verzweifelt freigehaltenen Fugen des Lebens eindringt und sie ausfüllt, bis auch wirklich jede noch so kleine Erhebung ge- und verschluckt ist. Das beste Gegenmittel gegen den Schwund an Aufmerksamkeit und das Getöse um einen herum, ist das aktive Erleben, um Momente zu kreieren, die bleiben. Und selbst das erscheint mir bisweilen eine große Anstrengung zu sein, weil das ständig in Rekordgeschwindigkeit wachsende und das eigene Sein umringende Gekröse am besten mit einer Kettensäge im Zaun gehalten werden muss: im Hier und Jetzt sein. Den Moment genießen, ihn feiern.
Die Herzallerliebste und ich haben zur Jahresmitte, vermutlich an dem Punkt, an dem wir unisono ein "Fuck, schon wieder Juni - eben war doch noch Silvester?!" ausplärrten, sehr aktiv beschlossen, diese Momente zu erschaffen. Als vorläufiges Ergebnis besuchten wir im abgelaufenen Jahr so viele Konzerte wie vermutlich seit Jahren nicht mehr - und es waren großartige Erlebnisse dabei: wir sahen zum allerersten Mal die Afghan Whigs live auf der Bühne, der kleine Metal-Florian feierte die Konzertreise seiner alten Helden von Psychotic Waltz knieend in der ersten Reihe, der kleine Punk-Florian warf nach 25 Jahren den alten Herren von Bad Religion ein kurzes "Hallo!" zu, Propagandhis einzige Show in Deutschland wurde sogar mal wieder im Mosh-Pit verbracht, bis meine Hawaii-Stofflatschen in der getrockneten und dann ziemlich klebrigen Biersiffe vor der Bühne einfach am Boden festklebten und ich also in Socken wie eine Flipperkugel vom tanzenden Volk willenlos durch die Gegend geschoben wurde, die kalifornische Soulsensation Monophonics spielte erneut vor einer traurig geringen Anzahl von Menschen einen berauschenden Gig (in einer besseren Welt verkaufen sie achtzehn Mal hintereinander ein Fußballstadion aus), die künstlerisch wie kommerziell wiederbelebten Prog-Opas von Marillion rissen im Vorbeigehen in einer ausverkauften Batschkapp das beste, strahlendste, intensivste Konzert der letzten 10 Jahre ab und rührten uns mit dem überraschend auf die Setlist genagelten "Neverland" gar zu Tränen, die bekifften Slomo-Doomer von Windhand bratzen und fuzzten mich zurück in die Neunziger, der olle Nick Cave legte eine ergreifende Welt-Performance aufs Parkett der altehrwürdigen Jahrhunderthalle, wir sahen zum ersten Mal die bunten Groovemonster der Thievery Corporation live und Fates Warning waren so großartig, dass selbst ich ein Kind von Ray Alder bekommen möchte. Meinethalben kann das im Jahr 2018 gerne so weitergehen.
Außerdem beschlossen wir, Grönemeyers Credo aus den 80er Jahren wiederzubeleben und mögen Musik also nur, wenn sie laut ist : in einer Disko. Da standen wir also mit unserem Plan, die Frankfurter Clubszene zum ersten Mal seit 18 Jahren zu erkunden und erlebten eigentlich bei jedem Besuch Denkwürdiges, abgesehen davon, dass wir uns mit 40, respektive 45 Jahren in einer Horde zwanzigjähriger Studenten nicht immer so richtig wohl fühlten: der "Hip Hop Classics" Abend im Zoom bot alles, aber keine Hip Hop Classics - es sei denn, Hip Hop hat sich in den letzten 20 Jahren zu einer Kirmesmusik mit Ruckelbeats und schlecht programmierten Autotunes entwickelt. Dazu krakeelte ein offensichtlich unter einer Überdosis Butterkeks stehende DJ-Eumel legendäre Einzeiler wie "I WANNA SEE YOUR HANDS FRANKFURT!" in die Songs hinein, als wären wir gerade am Kettenkarusell vom Oktoberfest und spielte außerdem die Songs nicht mehr vollständig aus - zugegeben: in dem ein oder anderen Fall waren wir deswegen nicht undankbar, aber srsly: what the fuck? Die Kiddos erschreckte all das zwischen zu knappen Oberteilen, zu engen Feinripps, Hüten und Handy-Scheißdreckgetippe auf der Tanzfläche natürlich zu keiner Sekunde. Strange times, man. Strange times. Persönliches Lowlight war hingegen der Besuch in der Frankfurter Batschkapp zur 80er, 90er und 00er Party: auch hier gab es einen Kirmes-Einheizer, der nicht nur ebenfalls die gespielten Songs mit allerhand überflüssigem Aufputschdünnpfiff kaputtbrüllte, sondern dann auch noch mit Sätzen wie "FRAAANKFUUUURT, WIR HABEN KNICKLICHTER FÜR EUCH!" und "FRAAAAANKFUUUURT, WIR HABEN LUFTGITARREN FÜR EUCH, HABT IHR SPASS?" zumindest bei uns feierlich in den Fremdschämtempel der Doofheit einzog - während der Rest der überwiegend blutjungen Bande zwischen zwei getippten Snapchats und einem Schluck Marshmallowbier den Irrsinn mit einem gequiekten "Whooaaaah, coooool" goutierte und um 3 Uhr nachts unironisch Wolle Petrys Minderbemittelten-Gassenhauer "HölleHölleHölle" abfeierte. Spätestens hier war klar: es ist Zeit zu gehen.
Aber auch positive Erlebnisse sollen nicht verschwiegen werden: die Ü-30 Party im Orange Peel im Frankfurt Bahnhofsviertel hatte einen charmant ausgelassenen und unprofessionellen Charakter: war der Durchgang zum Clubraum bei unserer Ankunft gegen 0 Uhr wie leergefegt und in seiner Kargheit besorgniserregend verstörend - "Ohgott, hier ist kein Arsch!" - flogen uns nach Öffnen der schweren und soundschluckenden Stahltür tanzende Gliedmaßen aus dem überraschend kleinen Raum entgegen. Dass ich mich von der "Eyeyey, guuuuden Lauuuuneeee" (Sven Väth) anstecken ließ und zwei Stunden später in einem Anfall mentaler Komplettverstrahlung und unter dem Einfluss von lediglich zwei Cola-Light gar zu Bohlens musikalischer Vertonung eines offenen Penisbruchs "You're My Heart, You're My Soul" tanzte, spricht Bände. Ihr seht uns wieder, Orange Peel.
Darüber hinaus mag meinen verbliebenen Lesern (es dürften nicht zuletzt wegen der in diesem Jahr einsetzenden Schreibblockade mittlerweile deutlich weniger als die üblichen dreikommavier sein) aufgefallen sein, dass a) der letztjährige Jahrescountdown der besten Alben des Jahres 2016 sich bis in den fucking Mai (!) zog, b) in diesem Jahr in Sachen Anzahl der Blogposts der absolute Tiefpunkt aller Zeiten erreicht wurde und c) der offensichtlichste Bruch ab Mitte Mai zu erkennen war und damit in Zusammenhang stehend, ich d) auch nunmehr 7 Monate nach dem Freitod von Chris Cornell am 18.Mai 2017 noch immer nicht in der Lage war, darüber zu schreiben. Wer diesem Blog nicht erst seit gestern folgt weiß, welchen Stellenwert Cornell für mich und Alina hat und hatte - er war nicht nur eine Gallionsfigur unserer damaligen musikalischen Grunge-Heimat in unserer Jugend und Adoleszenz, er lieferte auch unseren Soundtrack in der konfusen, beängstigenden und unsicheren Zeit, als wir uns gerade aufmachten, die Entscheidung für ein gemeinsames Leben zu treffen. Ich mag mich heute kaum mehr an diese Zeit erinnern, weil sie immer noch so intensiv und schmerzhaft erscheint - selbst wenn das Ergebnis, eine sich in diesem Jahr zum 15. Mal jährende und restlos wunderbare Ehe, ja durchaus ein Grund zum täglichen, gar minütlichen Feiern wäre. Die zweite Jahreshälfte von 1999 war hingegen die Hölle auf Erden und Cornell sang uns die Songs seines ersten Soloalbums in unsere Wohnungen in Nürnberg und Frankfurt und verband alleine damit unsere Leben und unsere Seelen. Die Nachricht von seinem Tod traf uns beide wie ein Schlag, und ich kann, will und darf hier nur von mir sprechen, aber ich kann nicht behaupten, dass ich ihn verarbeitet habe. Für ein halbes Jahr konnte ich keine einzige Platte hören, an der er beteiligt war. Erst vor kurzer Zeit traute ich mich zaghaft an das letzte Soundgarden-Album "King Animal" heran, das ich übrigens aufgrund meiner Reunionallergie bei Erscheinen bewusst ignorierte und erst wenige Tage vor seinem Tod dann doch aus dem Second Hand Shop entführte. Die Erinnerung an das gemeinsam besuchte Konzert im April 2016 in Hamburg und an einen scheinbar komplett aufgeräumten, humorvollen, unendlich talentierten, in sich ruhenden Cornell, der Gedanke, dass er, den ich an diesem Abend zum ersten Mal überhaupt live sah und der plötzlich so mir nichts, Dir nichts wenige Meter von mir entfernt stand und der mir alleine mit seiner Anwesenheit mein ganzes Leben aus den neunziger Jahren, meiner Kindheit, meiner Jugend, im Zeitraffer in Richtung Memory Lane schickte, durch solche Qualen gegangen sein muss, dass er sich in einem fucking einsamen Hotelzimmer das Leben nahm, zerreißt mich bis heute. Ich war bislang völlig unfähig darüber zu schreiben und auch hier mag es mir nur schwerlich gelingen. Aber wenn es einen Grund dafür gibt, warum auf diesem Blog seit Mitte Mai noch weniger zu lesen war als zuvor, dann ist es folgerichtig dieses Ereignis. Ich plumpste einfach in ein Loch. Und wo ich für den Alltag, sprich: die Lohnarbeit noch funktionierte, ging bei den Hobbys das Licht aus.
Ich bin nicht glücklich darüber. Ich hatte tatsächlich einige ganz neckische Ideen für den Blog, und war leider nicht in der Lage, sie umzusetzen. Ich arbeite weiter daran - eigentlich fangen wir jetzt schon mit einer an, auch wenn sie nicht wirklich neu ist: der neue Jahrescountdown ist da. Nach Durchsicht aller in Frage kommender Alben für die Top 20 war klar, dass ich erstmals die Tradition durchbrechen und also auf eine Top 30 aufstocken muss. Es wird bald hier zu lesen sein, dass einige große Namen im Hause Dreikommaviernull es dieses Mal nicht in die 20er Bestenliste geschafft hätten - und nicht etwa deshalb, weil ihre Alben so mittelmäßig gewesen wären. Ich habe schließlich nie damit ein Problem damit gehabt, enttäuschenden Kram auszusortieren, selbst wenn ich dank meiner Metal-Vergangenheit schon mit einer übergroßen Portion Loyalität ausgestattet bin und alten Helden einen Ausrutscher gönnerhaft verzeihen mag. Nein, das Gedränge war im Jahr 2017 so groß, dass es mir wirklich unfair erschien, mich nur auf 20 Alben zu beschränken. So gibt es also demnächst ganze 30 Scheiben zu besprechen, und weil der ein oder andere möglicherwiese nun das große Stöhnen beginnen mag, dass ich, bliebe ich bei meiner aktuellen Veröffentlichungsfrequenz, damit ja erst im September 2019 fertig sein würde, darf ich feierlich notieren: es wird alles ganz anders. Stay tuned.
Ich möchte mich zum Abschluss des Jahres sehr ernsthaft, aufrichtig und äußerst ranschmeißerisch bei Euch fürs Lesen bedanken. Ich weiß es zu schätzen.
Das vermutlich als "Superscheißjahr" (Herr Dreikommaviernull) in die Menschheitsgeschichte eingehende Jahr 2016 war tatsächlich in vielen Bereichen jener Bewertung durchaus gewachsen; die vielen verstorbenen Prominenten haben andere schon trillionenfach aufgezählt und mir damit die Arbeit und Euch die Langeweile abgenommen - wobei: Roger war echt hart -, die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten, der Ausstieg des Vereinten Königreichs aus der Europäischen Union, die vielen sackgesichtigen deutschen Kartoffeln, die sowohl physisch als auch psychisch Jagd auf Flüchtlinge machen, der europäische Rechtsruck, Mineralöl im Veggieschnitzel, die SPD ist immer noch nicht aufgelöst und Bill Hicks ist immer noch tot - ich könnte locker bis in den Frühling weitermachen.
Aus persönlicher Sicht ist sicherlich der plötzliche Tod unserer Katze "Kleini" im August als DER Tiefpunkt des Jahres zu erwähnen. Mit den Auswirkungen haben die Herzallerliebste und ich immer noch zu tun, und sei es nur, nahezu jeden Tag von unserem Kater daran erinnert zu werden, dass er sie ganz schrecklich vermisst und sein Leben nun ein anderes ist. Kleinis Tochter Tiffy, seit dem Jahr 2000 in der Obhut meiner Mutter, ging einen Tag vor Silvester und beschloss damit 2016 und wenigstens in dieser Hinsicht würdig i.S.v. "Fuck You!".
Kleini (links, 1999 - 2016) und Schnuffel
Abgesehen von all dem oben ausgebreiteten Quatsch, der einem den Kopf verklebt, war 2016 vor allem vollgestopft mit wunderbaren Momenten und tollen Erlebnissen. Und erstaunlicherweise mit der Erkenntnis, vielleicht endlich in der Arbeitswelt angekommen zu sein. Das kann im Normalfall nach 18 Jahren auch fast erwartet werden, aber ich fürchte, ich bin kein Normalfall: noch immer schaue ich mit dreiviertel Skepsis und vierviertel Überraschung auf das, was andere Karriere nennen und was mir diesbezüglich vor allem in den letzten 13 Jahren passiert ist. Seit meinem im Jahr 2015 vollzogenen Wechsel fühle ich mich im nun nicht mehr ganz so neuen Job indes so wohl wie vermutlich an noch keiner Stelle zuvor. Das ist wirklich ein ganz merkwürdiges Gefühl - ein gutes zwar, aber auch in Teilen ein überwältigendes.
Überwältigend waren auch die im Jahr 2016 besuchten Konzerte. Es waren nicht viele, zugegeben, und ich bin mittlerweile auch alles andere als ein Freund von Liveshows, aber Chris Cornell in Hamburg, Sacred Reich in Aschaffenburg, Monophonics in Wiesbaden, Gogo Penguin in Offenbach und New Model Army in Stuttgart sorgten allesamt für eine körperlich spürbare Überdosis Endorphine im Blutkreislauf. In diesen Momenten war wirklich und ausnahmsweise mal einfach alles gut und meine Lebenslust-Skala war nicht zuletzt wegen dieser Erlebnisse auch außerhalb des Konzertsaals immer öfter im sattgrünen Bereich. Music heals eben doch.
Wenn sie dann auch noch selbst erdacht und gespielt wird, gibt's manchmal sogar noch einen Nachschlag: unsere immer noch ziemlich kleine und nur sehr langsam wachsende Lieblingspunkband Blank When Zero hat eine neue Platte gemacht, dafür fast ein ganzes Jahr benötigt und ist nach sieben Jahren gemeinsamen Musikzierens doch tatsächlich im Keep It A Secret Labelhafen eingelaufen. Was es über "Taped!" zu sagen gab, könnt ihr hier nochmal nachlesen.
Kommen wir abschließend zu dem, was hier in den nächsten Monaten (sic!) zu lesen sein wird: die zwanzig besten Platten des Jahres 2016. Um sicher zu gehen, dass ich auch in diesem Jahr die bewährte Jammerei über zu viele tolle Musik unterbringe, habe ich extra nochmal in dem entsprechenden Intro zur Listenwahn-Sause des vergangenen Jahres reingeschaut:
2015 war darüber hinaus an musikalischer Front erneut ein großer Spaß - was die Auswahl der nachkommenden besten 20 Alben des Jahres zu einem bösen Drama werden ließ. Was auch immer wieder die alte Leier ist, je sais, mais non: DIESES MAL war's WIRKLICH UNERTRÄGLICH und die SCHMERZEN, die ein oder andere Platte draußen VOR DER TÜR, IM KALTEN Großstadtdschungel Sossenheims (SOSSENHEIM!) stehen zu lassen, waren größer ALS "sonst". Immerhin war die Top5 schon ab Juni in Stein gemeißelt. Muss man auch erstmal schaffen.
Was man auch schaffen muss: es für's Jahr 2016 exakt genau so nochmal in den Blog wuchten:
2016 war darüber hinaus an musikalischer Front erneut ein großer Spaß - was die Auswahl der nachkommenden besten 20 Alben des Jahres zu einem bösen Drama werden ließ. Was auch immer wieder die alte Leier ist, je sais, mais non: DIESES MAL war's WIRKLICH UNERTRÄGLICH und die SCHMERZEN, die ein oder andere Platte draußen VOR DER TÜR, IM KALTEN Großstadtdschungel Sossenheims (SOSSENHEIM!) stehen zu lassen, waren größer ALS "sonst". Immerhin war die Top5 schon ab Juni in Stein gemeißelt. Muss man auch erstmal schaffen.
Um es mit Mutti zu sagen: Wir schaffen das jetzt gemeinsam.
Ich danke allen fürs Lesen und die Aufmerksamkeit.
Bis vor wenigen Monaten konnte ich noch mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die Durchgeknallten in Baden-Württemberg und deren Protest gegen den Bildungsplan der grün-roten Landesregierung deuten, die grünversifften Gutmenschenneger planten die "Frühsexualisierung" ihrer Kinder, die "Zerstörung der Ehe zwischen Mann und Frau als tragende Stütze unserer Gesellschaft" und außerdem die Einführung der Homo-Ehe für alle, so dass also auch demnächst das brave Christenwürschtel mit am Herd festgeketteten Eheweib einem seiner Geschlechtsgenossen vor dem Traualtar einen blasen muss, weil es das Gesetz eben so will; anders ist diese Komplettvernagelung des Dachgeschosses ja auch wirklich kaum zu erklären: "Wir planen die Einführung einer rechtsverbindlichen Spermainjektion und einer daraus resultierenden Oberschenkelschwangerschaft für alle männlichen Christen bis zum 45.Lebensjahr und wer nicht mitmacht, wird erschossen!" (Winfried "Kretsche" Kretschmann, Zitat ähnlich).
Mittlerweile ist der Lobotomierten-Virus aber auch auf Hessen übergesprungen, und das fühlt sich auch an einem eigentlich sonnigen und friedlichen Sonntag wirklich richtig ekelhaft an: Das Aktionsbündnis "Demo Für Alle" mit dem "Edler Vollquatsch in Nuss"-Motto
"Ehe und Familie vor! Stoppt Gender-Ideologie und Sexualisierung unserer Kinder"
und geführt von der lückenlos formidabel benamten Hedwig Freifrau von Beverfoerde, einer konservativ-katholischen und in der CDU beheimateten Kaltmamsell, die sich nicht zu schade war, sich diesen frechdummen Quadratscheiß gemeinsam mit der pathologisch verrückten Mausausrutscherin Beatrix von Storch von der AFD auszuschnapsen; wohlgemerkt also mit einer Frau, die via Twitter, Facebook und Wolfsschanzen-Kutscher Andeutungen dergestalt machte, die Grenzen des großdeutschen Reichs notfalls auch mit dem ausgesprochenen Scheiß, pardon: Schießbefehl für und auf Frauen und Kinder zu sichern - denn wenn man nur die Männer abknallt, ist's nur halb so tragisch, wie es an der Empörungsskala der deutschen Qualitätspresse abzulesen und mehr oder minder frei interpretierbar ist:
In der Selbstbeschreibung von "Demo Für Alle" heißt es:
Veranstalter der DEMO FÜR ALLE ist ein Aktionsbündnis verschiedener Familienorganisationen, politischer Vereine, engagierter Einzelpersonen und Initiativen aus ganz Deutschland. Wir treten ein für Ehe und Familie, auf die unsere Gesellschaft seit Jahrtausenden gründet, und wenden uns gegen die alles durchdringenden Umerziehungsversuche gut organisierter Lobbygruppen und Ideologen.
Nun ist es gute Tradition konservativer Parteien, Vereine und Thinktanks, die Einnahme von Tabletten zur Behandlung von Halluzinationen früher abzusetzen als vom Onkel Doktor empfohlen, und die Ergebnisse sind immer die gleichen, wenn nicht selben: der Weltuntergang steht kurz bevor, weil Frauen sich gegenseitig die Mumu und Männer sich gegenseitig den Pumu lecken, der Pfarrer nur noch strukturellen Kindesmissbrauch betreiben aber immer seltener Mann und Frau trauen kann und weil ein politischer Bildungsplan eines Bundeslandes vorsieht, das Recht auf sexuelle Freiheit und das Ausleben derselben zu "akzeptieren" und nicht etwa zu "tolerieren". Ein progressiver Sexualkundeunterricht an deutschen Schulen ist "Indoktrination im Sinne des Gender-Mainstreaming", und die "Homo-Lobby" plant die "Aufhebung aller sexuellen Normen" im Rahmen ihrer "kulturrevolutionären Strategie". Die drei letzten Zitate stammen allesamt von Gabriele Kuby, einer Fundamentalisten-Furie aus Rechtsauslegerhausen, die sich die als Faltensack getarnte Denkvorrichtung noch nicht glattbügeln konnte, denn für Madame Kabelbrand ist Homosexualität nicht nur Sünde, sondern auch heilbar:
In Wiesbaden hat "Demo Für Alle" zum heutigen Sonntag zur großen "Anti-Indoktrinations-Demo" geladen, unterstützt vom Who-Is-Who christlich-konservativer Organisationen und Initiativen:
Während sich die hessische CDU offiziell vornehm zurückhält und der Demo weder beiwohnt noch sie unterstützt - schließlich hat sie das zur Diskussion stehende Papier ja in erster Linie zu verantworten - sehen das Arbeitskreise der Union und die ihr nahe stehenden politischen Gruppierungen ganz offensichtlich anders - und als ob wir wirklich noch einen zusätzlichen Grund benötigen würden, um sämtliche Gedanken, Ideen, Visionen in Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens aus dem Umfeld dieser Partei und ihrer Wähler immer und immer wieder zu 100% abzulehnen: hier hätten wir ihn dann. Sicherer Begleiter solcher Argumentation ist das klägliche und überaus bedauernswerte Zurückziehen in die Opferrolle, samt Negierung sämtlicher Realitäten. So wird etwa von eingeschränkter und unterdrückter Meinungsfreiheit schwadroniert, von struktureller Diskreditierung, von politischen Verschwörungen. Die arme kleine unterdrückte, an den Rand gedrängte, zum Schweigen gebrachte Minderheit - die sich zum freien Demonstrieren jeden Sonntag auf irgendeinem Rathausplatz treffen darf - und sei die geist'ge Armut im Brägen noch so groß, die Gedanken noch so wirr und das Mikrofon noch so laut: das absurde Gefühl, man befinde sich in der Minderheit, werden diese Menschen nicht mehr los. Dabei wird andersrum ein Schuh draus, denn die Minderheit IST tatsächlich Opfer von Diskriminierung:
Eine Online-Umfrage der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte ermittelte 2013 für Deutschland unter anderem folgende Zahlen: 46 % der Befragten LGBT (von engl. lesbian, gay, bisexual, and transgender) fühlten sich in Deutschland im letzten Jahr diskriminiert, 68 % haben ihre sexuelle Identität oft oder immer während der Schulzeit versteckt. 6 % der LGBT wurden im letzten Jahr Opfer von physischer oder sexueller Gewalt. Nur 4 % der gleichgeschlechtlichen Paare wagen, sich Händchen haltend in der deutschen Öffentlichkeit zu bewegen, während dies 68 % der heterosexuellen Paare tun. (Wikipedia, Homosexualität in Deutschland)
Was wir hier beobachten sind letzten Endes verzweifelte Versuche, den eh schon bröckelnden Status Quo eines veralteten gesellschaftlichen Dogmas um jeden Preis am Leben zu erhalten, während der Rest von uns sich längst von einem reaktionären, altmodischen, Realitäten nicht anerkennenden Format des Zusammenlebens verabschiedet hat. Ich habe in den letzten Monaten so manch gelupfte Augenbraue präsentiert bekommen, als ich meine Hoffnung zum besten gab, die Welt und die Menschen befänden sich auf einem guten Weg: wie könne ich denn im Zeitalter des Untergangs und vor dem Hintergrund solch großer, existentieller Probleme der Menschheit davon reden, dass schon alles gut gehen würde; ich sei ja ein naiv-verblendeter "Hippiearsch" (Rodgau Monotones) und hätte wohl die Seiten gewechselt - weil wenn die Gegenseite schon aus bloßer Faulheit nicht differenziert, dann muss man es selbst schließlich auch nicht machen.
Die Antwort lässt sich am oben beschriebenen Phänomen bestens illustrieren: weil wir als Gesellschaft solche bösartigen, reaktionären Sackgesichter hinter uns lassen und schon gelassen haben.
Sie spielen keine Rolle mehr.
Sie sind egal.
Sie sind vergessen.
Die progressive Bewegung ist nicht mehr aufzuhalten. Wir sind viele. Und bald sind wir alle. Und der Rest soll sich solange wegficken.
Warum ist der Mann so dermaßen unter offenbar jedem Radar? Warum verkauft sich diese Platte wenigstens bei den üblichen Verdächtigen nicht wie geschnittenes Klopapier? Und warum ist jeder Schrott nach dreikommaviernull Sekunden ausverkauft und nur noch für Fantastrilliarden Euro bei den Discogs-Blutsaugern zu erhalten, wenn dieses Album immer noch zu haben ist?
Ich kann mich davon gleichfalls nicht hundertprozentig davon freisprechen, ab und an die Augen und Ohren etwas zu arg geschlossen zu halten, denn obwohl ich den französischen Produzenten seit seinem Tribut an Gil Scott Heron aus dem Jahr 2013 in meinem schlauen, wenngleich nur virtuellen Buch in der Rubrik "Artists 2 Watch" stehen habe, verschlief ich die Veröffentlichung von "A Thousand Months" im Herbst/Winter des vergangenen Jahres um ein paar Wochen. Allerdings, soviel Rechtfertigung muss erlaubt sein: ich nutze auch nicht die üblichen Kanäle, um immer und überall auf dem Laufenden zu sein.
"A Thousand Months" ist ein wunderbar stilvolles Album in der Schnittmenge zwischen smoothem, unaufgeregtem Hip Hop, urbanem Soul - Paradebeispiel für ebenjene Kombination ist der Hit "Words & Language" - und vereinzelten Downbeatblitzen wie beispielsweise in "Tunis Blues Song / Ariana’s Memories". Modern und geschmackvoll inszeniert und niemals ärgerlich maskulin - viel eher klingt Kayos Musik sensibel und überlegt - ist "A Thousand Months" ein Dauerbrenner im Hause Dreikommaviernull. Seitdem ich die Platte im Januar 2016 kaufte, hat sie praktisch nie den Weg ins Plattenregal und damit zum Verstauben gefunden, sondern steht immer griffbereit in der Nähe des Plattenspielers. Wochenendbrunch mit der Herzallerliebsten? Check! Zweiter oder zwölfter Kaffee auf der Couch? Check! Winterabend bei Kerzenschein? Check! Frühlingsabend auf der Terrasse? Doppelcheck!
Dazu ist die Vinylversion mit Gatefoldcover, auf der Innenseite abgedruckten Texten und dem schicken Clear Vinyl ein echter Hingucker, zudem für schlappe 14 Euro auf seiner Bandcamp Page zu haben. Und nochmal: Warum ist das kein fucking Bestseller?
Erschienen auf Albatros Music, 2015.
P.S.: In den Liner Notes steht geschrieben, dass man, wolle man die digitale Version von "A Thousand Months" sein Eigen nennen, Kayo ein Bild von sich zusammen mit der LP zuschicken soll. Womit nun auch geklärt ist, was dieser bärtige Mann da oben so lustig in die Kamera schielt.
Wo wir gerade im letzten Artikel zu Blair Frenchs "Through The Blinds"-Album - rein virtuell, versteht sich - so "schön" über Detroit, beziehungsweise das, was von der Stadt übrig geblieben ist, "sprachen", macht es "vielleicht" "Sinn", einen der größten Skandale der jüngeren US-Geschichte zu beleuchten, der zwar nur am Rande mit Detroit in Verbindung steht, dafür aber das nahegelegene Städtchen Flint, beziehungsweise seine Politiker und Einwohner, in den Mittelpunkt rückt.
"Beleuchten" ist hier ganz vielleicht nicht wirklich das Wort der Wahl, das möchte ich nämlich der Fernsehmoderatorin Rachel Maddow überlassen, die das Thema in einer knapp 25-minütigen Reportage für die Zuschauer sehr eindrücklich aufbereitete. Ich schätze Maddow und die Art ihres Vortrags sehr, nicht nur in diesem Fall, sondern auch darüber hinaus: ihre Sendung auf MSNBC, dem zart linksliberalen medialen Gegenspieler der rechtskonservativen Furzknoten von Fox News, bietet viele Hintergrundinformationen, die mit Witz und Charme und meistens mit eindeutigem Tenor in der Decouvrierung homophober, rassistischer, korrupter, religiöser Sackgesichter geliefert werden. Sowas geht mir natürlich runter wie Öl (10W-40). Maddow ist wie einige ihrer Kollegen (beispielsweise der fanatische und fantastische Keith Olberman) bereits seit vielen Jahren im Fadenkreuz rechter Journalisten, Politiker und Bürger der USA, was sie gerne von Zeit zu Zeit aufgreift und mit einer guten Portion Selbstironie kommentiert.
Im angesprochenen Fall geht es um die im Jahr 2015 öffentlich gewordene Wasserkrise der 100.000 Einwohner-Stadt Flint in Michigan, einer fassungslos machenden Geschichte aus Korruption und Lügen, die außerdem den Zustand der US-amerikanischen Politik und einer sich im Auflösungsprozess befindlichen Gesellschaft auf schockierende Weise illustriert. Über einen Zeitraum von etwa zwei Jahren wurde das Trinkwasser für die überwiegend (57%) Afro-Amerikanische Bevölkerung mit Blei kontaminiert, was zu einem imposanten Anstieg der Bleikonzentration im Blut der Bevölkerung, insbesondere im Blut von Kindern führte.
After Flint changed its water source from treated Detroit Water and Sewerage Department water (which was sourced from Lake Huron as well as the Detroit River) to the Flint River (to which officials had failed to apply corrosion inhibitors), its drinking water had a series of problems that culminated with lead contamination, creating a serious public health danger. The corrosive Flint River water caused lead from aging pipes to leach into the water supply, causing extremely elevated levels of the heavy metal. In Flint, between 6,000 and 12,000 children have been exposed to drinking water with high levels of lead and they may experience a range of serious health problems. Due to the change in water source, the percentage of Flint children with elevated blood-lead levels may have risen from about 2.5% in 2013 to as much as 5% in 2015.
On January 5, 2016, the city was declared to be in a state of emergency by the Governor of Michigan, Rick Snyder, before President Barack Obama declared it as a federal state of emergency.
"And I think that's a crime; they did it because it's a black city, it's a poor city, they wouldn't do this to Bloomfield Hills or Ann Arbor or Grosse Pointe."
Es gibt derzeit keine lustvollere und mehr Spaß verbreitende Hip Hop-Combo als die Jazz Spastiks. Schon ihr 2014er Album "The Product" zauberte mir ein extrabreites Grinsen ins Gesicht, und auch "Unkut Fresh" bekam ich über Wochen nicht vom Player heruntergezerrt. Das englische Produzentenduo hat sich mit der Truppe Rebels To The Grain aus Los Angeles verstärkt und wenn schon keine ultrahippen Club-Banger, dafür aber edelste jazzy-dusty-moody-deepy-good-oldschool-Vibes zusammengestrickt - alle sind hoffentlich schön druff, druff, druff und doofgekifft, Saxofone, Geklimper, Boom Bap, party like it's the golden age. Mir würde echt was fehlen, wenn ich nicht über "The Product" und "Unkut Fresh" gestolpert wäre. Und während ich mich in meinem Text über "The Product" noch derart darüber ärgerte, die Vinylausgabe schlicht verpennt zu haben, dass ich mich gar an einem geschimmelten Duschvorhang...naja. Wie dem auch sei:
Zusätzlich und in diesem Zusammenhang veröffentlicht: "Unkut Fresh - Instrumentals", ebenfalls auf Vinyl zu haben. Bitte auch hier ganz sorgenfrei zuschlagen.