30.12.2008

Platz 20



Replife - The Unclosed Mind

"The Unclosed Mind" zeichnete sich im Jahr 2008 dafür verantwortlich, dass ich damit begann, an meiner Angst vor HipHop zu arbeiten. Das alleine reicht im Grunde aus, in dieser Liste als eine der erinnerungswürdigsten Platten des Jahres auf zu tauchen.

Replife steht für intelligenten, erwachsenen HipHop. Das kann ich sogar dann sagen, wenn das Genre als Ganzes trotz des zwanzigjährigen, exzessiven Schubladenbrowsens noch ein weißer Fleck auf meiner Landkarte ist. Keine Spur beispielsweise von der unerträglichen Macho-Attitüde, die so vielen Alben und Musiker-/Marketingköpfen innewohnt. Düstere Klischeeatmosphäre, wie sie besonders dem neuen HipHop gerne verliehen wird, um ihn als innovativ zu feiern, wird man ebensowenig finden. Replife bedient sich einerseits - auch in Sachen Coverästehtik - beim Jazz und bei den Anfängen des HipHop und andererseits auch ein Stückweit bei den avantgardistischen Soundcollagen von Jay-Dee oder Daedelus, vermischt seine geraden, manchmal leicht hypnotischen Beats mit spirituellen Lyrics und einer großen Portion Deepness und hat es zu keiner Sekunde des Albums nötig, die Muskeln spielen zu lassen.

Selbst wenn "The Unclosed Mind" keine hypernervöse Gezuppel-Schaltzentrale ist, sondern es im Gegenteil mehrheitlich smooth und zielstrebig vor sich hin souljazzrappt, hat es dennoch genug Ecken und Kanten, um nicht in dem großen Topf mit jener Musik zu landen, die selbst Familie Fliewatüt wie ayurvedisches Heilöl durch die Ohren flutscht. Tracks wie das etwas hektische "Emerald City" oder der quasi-Opener "Spirit (Dilla Shines Through)", das seinen Titel sicher nicht aus Jux erhalten hat, sind spannende Beispiele für musikalischen und vor allem wohltuend klischeefreien HipHop.

23.12.2008

Zweitausendacht in Musik

Long time no read, irgendwie. Lasst uns das mal schnell ändern...

Es wird Zeit, das vergangene Musikjahr Revue passieren zu lassen und wie schon  Zweitausendsieben werde ich es mir auch dieses Mal nicht nehmen lassen, die Kings der Kings gebührend zu feiern. Ja, zu feiern. Ausdrücklich.

Ich las kürzlich ein Interview mit dem Publizisten Roger Willemsen, der auf die Frage, warum er seine Arbeit nicht mehr als journalistisch empfände, und weshalb er seit einiger Zeit darüber hinaus sämtliche Zeitungsartikel absage antwortete, "weil Leidenschaftslosigkeit heute als Inbegriff der Professionalität gewertet wird." In so fern bin ich schrecklich unprofessionell.

Es war wohl der Alltag, der mich im beinahe abgelaufenen Jahr daran hinderte, mehr Leidenschaft als ebenjene zu entwickeln, die mir so oder so innewohnt, und ich frage mich immer wieder: ist das ausreichend? Muss da nicht mehr gehen? So wie, man traut sich ja fast nicht es aus zu sprechen, f...früher?

Wenn ich mir die zwanzig Alben so anschaue, die hier in den nächsten Wochen vorgestellt werden, sehe ich indes keinen Grund, die Stirn in Falten zu legen. Ganz im Gegenteil: Zweitausendacht war das beste Jahr seit Zweitausendsieben und es wäre ein Leichtes, hier gar dreißig oder mehr Werke auf zu listen. Sie alle hätten es verdient gehabt, erwähnt zu werden. Bei meiner gegenwärtigen Schreibfrequenz stehen wir damit dann 
aber noch im Mai Zweitausendzehn gerade mal bei Rang Sieben.

Kurz gesagt: solange es noch der Fall ist, dass die fortwährende Suche nach neuer Musik so spannend und erhellend bleibt, ist alles mehr als nur gut. 

Ich wünsche jetzt schon viel Spaß beim Lesen und Entdecken und außerdem selbstverständlich: schöne Weihnachten und erholsame Tage!

23.11.2008

Zeitenwende



Dass das fünfte Album Donald Byrds als Bandleader bis heute als eine seiner besten Arbeiten gilt, verdankt "Free Form" drei fundamentalen Aspekten. Erstens: hier arbeitete das ehemalige Mitglied von Art Blakeys The Jazz Messengers mit dem damals noch jungen Herbie Hancock zusammen, und war damit einer der ersten etablierten Musiker, der den Pianisten in sein Line-Up integrierte. Zweitens: aus dem "Free Form"-Zusammentreffen des in früheren Jahren ebenfalls den Jazz Messengers zugehörigen Saxofonisten Wayne Shorter mit ebenjenem Hancock, entwickelte sich später nicht nur eine dicke Freundschaft zwischen den beiden Musikern, sondern Mitte/Ende der sechziger Jahre die gemeinsame Mitgliedschaft in der allenthalben als beste Inkarnation der Miles Davis Band bezeichneten Truppe um den Startrompeter. Und drittens: der Titeltrack.

Dabei ist "Free Form" aus meiner Sicht musikalisch und als Album gesehen im Grunde lediglich Blue Note Standardprogramm. Byrd begann sich ganz leicht in Richtung des zu jener Zeit langsam in Schwung kommenden modalen Jazz zu entwickeln, war aber über weite Strecken noch tief im Hard Bop verwurzelt. Nach dem gospel-beeinflussten Opener "Pentecostal Feelin'", das insbesondere durch das swingende Drumming von Billy Higgins seinen Charme erhält, und wie eine Coverversion eines Lee Morgan-Hits erscheint, der guten Hancock-Ballade "Night Flower" und dem nicht besonders beeindruckenden "Nai Nai", setzt "Free Form" mit "French Spice" ein erstes ernsthaftes Ausrufezeichen. Das Stück, von Byrd ursprünglich für eine Gruppe Revuetänzerinnen aus Chigaco geschrieben, nimmt nach dem einleitenden Thema speziell durch Shorters lyrisches Solospiel an Fahrt auf und bleibt über die gesamte Länge von acht Minuten fesselnd und sehr variantenreich. "French Spice" ist somit der Anheizer für den Höhepunkt der Platte: "Free Form" ist untrügliches Zeichen für Byrds Experimentierwillen, für seinen ständig fließenenden "Train Of Thoughts"-Gedanken. Hancock wird folgendermaßen zitiert:"His (Byrds) mind is too quick and his curiosity too active for him to get caught in any single groove.". Schon der Einstieg mit einem Basslauf von Butch Warren, den eine Alternativeband wie Tool 35 Jahre später auf einem ihrer Alben hätte verwenden können, lässt die Synapsen seilspringen. "Free Form" ist indes kein Free Jazz; es klingt verschoben, aus den Angeln gehoben, windschief. Die Erklärung dafür liefert der Trompeter selbst:"The tune has no relation to the tempo. I mean that nobody played in the tempo Billy maintains, and we didn't even use it to bring in the melody. Billys (Higgins) work is just there as a percussive factor, but it's not present as a mark of the time. There is no time in the usual sense, so far as the soloists are concerned." Was eine echte Herausforderung für die Musiker darstellt, schenkt dem Hörer zehn Minuten an großartiger, intensiver und freier Jazzimprovisation.

"Free Form" von Donald Byrd ist im Jahre 1961 auf Blue Note Records erschienen.




15.11.2008

Die Mitte Bin Ich




Wenn sich das Wohnzimmerlicht von alleine dimmt, die gehäkelte Tischdecke von Mutti die Duftkerze anschwitzt, und der Hund im Steppdeckenbademantel gigolohaft am Cuba Libre nagt, dann spricht der Musiklaberer von gestern morgen vom Begriff des "Autorentechno". Nicht ganz so lieb gemeint darf man es auch "Wohnzimmertralalala" nennen, oder Couchfunk (sprich: Kautschfank). Auf einem fernen Planeten Erde läuft dann Trentemöllers Schnarchsack "The Last Resort" auf Junge Union-Arschmassagenparties im Hintergrund, und "Nina, 22" überlegt angestrengt, wie man mit "22"(Spiegel) schon derart infernalisch "vernagelt" (G.Polt) sein kann.

James Holdens Soundtrack zur Party der Vollochsen setzt sich in die Beobachterposition clever in die hinterste Reihe, denn da hat er praktisch Narrenfreiheit und muss seine Hände auch nicht auf die Bettdecke legen. Da kann er mit Melodien spielen, mit Noise, mit Ambient, mit einem gefühlten Spritzer Kautschfunk, und er bleibt gleichzeitig Freak.

Wenn hier weder der Club, noch die heimische Toilette gefragt wird, sich der Flaschenhals gleich mehrfach windet, und ich nicht mehr wirklich auseinanderhalten kann, ob ich den hier frisierten Technopops insgesamt eher so geil oder vielleicht doch eher so CDU finde, dann rotiert's im Gebälk. Ehrlich, das hat schon alles die Ästhetik von nutellaverschmierten Effektreglern, von Earl Grey-Zahnbelag und Pipi im Bademantel. Allein letzteres wäre Grund genug, die Platte in Frischkäse zu tauchen und herzhaft zu zu beißen; der hüpfende Strich ist indes: Holden will mit dem Kram niemandem gefallen, dem Nutella im Bademantel gefällt. Der macht das nicht, um den Adam Green-Spacken den Ohrensessel zu lackieren. Und das Schöne ist: man hört's auch noch! Ich kann es zugegebenermaßen nicht zu oft hören, weil die Idiotenrallye genauso herausfordernd/anstrengend wie einlullend/nussplibratzig ist, und das ewige Hin- und Hergereiße macht mich total wuschig.

Insgesamt Musik zum Headbangen und Biertrinken!


"The Idiots Are Winning" ist im Jahre 2006 auf Border Community Records erschienen.


...und hat außerdem ein total schönes Coverartwork von Gregory Dourde.


09.11.2008

Haunted By Time, My Enemy



ENCHANT - BREAK


Ich habe neulich übrigens alle meine Dream Theater-Platten verkauft. Okay, alle bis auf die ersten drei Scheiben. Nicht, dass ich auf die Idee käme, sie mir künftig nochmal an zu hören, aber irgendwie halten mich die Erinnerungen an diese Musik und an die Zeit, in der sie entstanden ist doch fester im Griff, als ich es mir selbst eingestehen möchte.

Seltsam, dass mich meine seit locker 8 Jahren eigentlich ad acta gelegte Progressive Rock-Phase jeden Herbst auf's Neue einholt, und ich mich durch diese Mittneunziger-Neo-Prog-Soße aus dem Hause Inside Out hören muss. Dieses Jahr hat es mich mich mit den US-Amerikanern von Enchant gepackt; ihr viertes Album "Break" ließ mich schon bei dessen Erstveröffentlichung 1998 durchaus geplättet zurück. In den folgenden Jahren verlor ich die Band aber völlig aus den Augen, und ich konnte mich nur noch an diesen überirdischen Song "My Enemy" erinnern, der vor zehn Jahren fester Bestandteil eines jeden Mixtapes für das Auto war.

Durch einen Zufall hörte ich vor wenigen Wochen wieder einige Songs aus der Platte und ich war umgehend wieder angefixt, als wäre die Zeit stehen geblieben. Tatsächlich: nach neuerlicher intensiver Beschäftigung mit "Break" bleibt mir nichts anderes übrig, als das große "Weltklasse!"-Schild heraus zu holen. Zumindest, wenn wir über die erste Albumhälfte sprechen, auch wenn die zweite Hälfte nur Nuancen schwächer ist. Ich weiß allerdings auch heute noch nicht genau, was es ist, was ausgerechnet diese Platte so besonders macht. Ist es die gemütliche Wärme, die wohlige Melancholie, der Spalt zwischen sehr harmonischen Momenten einerseits und härteren, manchmal gar alternative-rockigen Gitarrenriffs andererseits, die stimmungsvolle und ruhige Produktion, der strahlende und überaus angenehme Gesang von Ted Leonard, der erfreulicherweise ohne das sonst typische Prog-Quieken auskommt, oder sind es die großartigen, melodisch vielschichtigen Kompositionen, die mit großer Leichtigkeit auf den Boden gebracht wurden?

Alles und nichts von alledem. Enchant kommen schlicht ohne schmockige Mucker-Eiterpickel aus und konzentrieren sich stattdessen auf weitgehend kitsch- und klischeefreie, dafür überraschend tiefsinnige Rockmusik, die weder eine aufgeblasene Muskelschau, noch einen übertriebenen Anspruch benötigt. Eine ganz, ganz feine Platte mit überragenden Songs.





Erschienen auf Inside Out Records, 1998.


18.10.2008

Holidays In Eden

Ich sperre den Laden für die nächsten zwei Wochen mal schön zu und verabschiede mich in den wohlverdienten Urlaub. 

Damit es euch nicht ganz so fad wird, guckt ihr euch bitte in den kommenden Tagen dieses wunderbare Video an und feiert den dazugehörigen Song ebenso enthusiastisch ab wie meine Wenigkeit.  Danke im Voraus und bis bald!




10.10.2008

Fresh Cut Flowers



Eine wilde, fast vierzigminütige Improvisation eröffnet "In Order To Survive", das mittlerweile schon legendäre Album des New Yorker Bassisten William Parker. "Testimony Of No Future" ist Parkers musikalisches Heilmittel für all jene, deren Hoffnung und Glaube an sich selbst vom Elternhaus, der Kirche, der Schule und den Massenmedien geraubt wurde. Eine Erfahrung, die auch ihm in den Knochen steckt: als 1964 ein Berufsberater zu Parkers Schulklasse spricht und den Jungen ihre Perspektivlosigkeit geradewegs ins Gesicht schlägt. Von ihm lernt Parker, dass er sich schon mal auf ein Leben als Hausmeister oder Bürobote einstellen darf. At twelve I was told that I had no future. Aber durch dieses Erlebnis lernt William Parker auch, dass es einen Weg gibt, die Hoffnungslosigkeit zu einem brennendem Feuer voller Mut wieder zu beleben: durch Kunst, Liebe und Leben.

Heute ist Parker einer der umtriebigsten Musiker der New Yorker Jazzszene. Er spielte zusammen mit Stars wie Cecil Taylor, Don Cherry, Charles Gaye, Rashied Ali, Sunny Murray oder Bill Dixon und gilt als einer der lautesten Jazzbassisten der Welt. Seine Fähigkeit als unerbittlicher Antreiber, eine Band immer wieder ein Stück mehr nach vorne zu pushen, führt im Verlauf einer Session immer zu einem ähnlichen Ergebnis: Parker ist der Fixpunkt seiner Ensembles, er ist der niemals ruhende Wirbelsturm, der - paradox genug - das Set stützt und dirigiert. Sein Zusammenspiel auf "In Order To Survive" mit Drummer Denis Charles und ganz besonders mit dem Pianisten Cooper-Moore ist ebenso liebevoll und detailreich wie ungestüm und leidenschaftlich. Wie dieses Trio immer wieder die Themen weiterentwickelt und auf ein nächstes Level springen lässt, wie sie miteinander kommunizieren und diese pulsierende Session zu einem Universalübersetzer für ihren Glauben und ihren Geist formen, ist schlicht sensationell. Hier ist soviel verborgen und doch glasklar sichtbar.

Parkers weitere Mitstreiter auf dieser Aufnahme ist der Saxofonist Rob Brown, ein ungestümer Bursche des Free Jazz, über den die New Yorker Szenezeitschrift Village Voice einmal schrieb "...he not only deciphers puzzles, he creates them.". Er ist gemeinsam mit dem Trompeter Lewis Barnes der vordergründig auffälligste Spieler der Brasssection. Aber es gibt da noch einen weiteren Mann, den man auf das erste Ohr möglicherweise gar nicht richtig wahrnimmt; einen, der bereits in diesem Blog Erwähnung fand: Grachan Moncur III. Er unterstreicht auf dieser Aufnahme sowohl seine Ausnahmestellung innerhalb der Jazzszene, als auch seine völlig kompromisslose Eigenständigkeit. Während der Improvisationen taucht er hier und da mit kurzen Einsätzen auf, folgt den Melodiebögen, wiederholt und variiert sie und steht plötzlich mit einem Solo im Raum, das einem die Kinnlade auf den Asphalt krachen lässt (für Interessierte: "Testimony Of No Future", ca. ab Minute 23). What a beautiful freak.

"In Order To Survive" entfaltet vor allem unter dem Kopfhörer seine volle Magie; wenn man diesem Sextett in aller Ruhe folgen kann. Dennoch passiert innerhalb der über siebzigminütigen Aufnahme vor allem auf sämtlichen verfügbaren Metaebenen soviel, dass man die Informationsflut kaum verarbeiten kann. Davon ab: von Ruhe kann im Zusammenhang mit dieser aufgewühlten und aufwühlenden Musik sowieso keine Rede sein; erstrecht nicht, wenn einen diese im Booklet abgedruckten Worte überfallen:


In Order to Survive



When was it said that roses tire
From being beautiful
And sink into the desert sun
In order to survive they call for
A revolution of resonance
A promise of a new day
conjuring building
A dance step is created
In order to survive I rub two raindrops
I rub two raindrops together
to make fire
As I sit near the laughing pond
listening to the testimony of a tear



"Was wir machen, ist heilige heilende Musik, und die Menschen, die sie brauchen, finden sie auch."(William Parker)

Lasst euch finden.



"In Order To Survive" von William Parker ist im Jahre 1995 auf Black Saint erschienen.

Für weitere Informationen zu William Parker und dessen Umfeld ist dieser Forumsbeitrag von Freund eigenheim sicher nicht uninteressant.

03.10.2008

Der Jungbrunnen



Es gibt Platten, deren Spielfreude und Drive schon nach den ersten Sekunden derart mitreißen, dass das Funkeln in den Augen über die gesamte Spieldauer nicht erlischt. Kenny Dorhams "Afro-Cuban" aus dem Jahr 1955 ist eine solche Platte. Schon nach den ersten Takten des Openers "Afrodisia" ist klar: hier bleibt niemand ruhig auf seinem Stuhl sitzen. Mir ist bisher kein weiteres Jazzalbum untergekommen, dessen Groove und Swing so erbarmungslos jeden Muskel des Körpers förmlich attackiert.

In erster Linie liegt das an dem Percussionisten Carlos "Patato" Valdes, der seine Congas mit einer glühenden Wucht und Intensität bearbeitet, die alle anderen Musiker dieser Session mit in Brand setzt: Hank Mobley am Tenorsaxofon, der mit seinem bluesig-souligen Spiel ebenso begeistert wie Cecila Payne am Bariton, J.J.Johnson an der Posaune oder Art Blakey am schlagzeug. Dorhams hochmelodisches, dezent im Conga-Beat mitfließendes Spiel setzt zusammen mit der ausgezeichneten Brass-Section nicht nur harmonische Farbtupfer, sondern nimmt ebenso eine musikalische Entwicklung vorweg, die sich erst in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren mit dem Salsa-Movement und dem Durchbruch lateinamerikanischer Musik in New York oder Miami manifestierte. Das muntere Spiel von Horace Silver am Piano und eine sich in schwindelnde Höhen groovende Rhythm-Section (mit Oscar Pettiford am Bass) machen diese Aufnahme zu einem der ersten Alben, die den positiven, lebhaften und unbeschwerten "Afro-Cuban"-Vibe mit Mainstream-Jazz aus dieser Epoche verbindet und auch 53 Jahre nach seiner Veröffentlichung noch taufrisch und völlig zeitlos klingt.

Selbst die Titel "K.D.'s Motion", "La Villa" und "Venita's Dance", die mit abgespecktem und leicht verändertem Line-Up (ohne Valdes und Pettiford; ihn ersetzt Percy Heath am Bass) eingespielt wurden swingen nicht zuletzt durch die Arbeit Art Blakeys immer noch wunderbar und erfrischend, sodass "Afro-Cuban" ohne Längen bleibt, dafür aber durchgängig die Glückshormone sprießen lässt.


"Afro-Cuban" von Kenny Dorham ist im Jahre 1955 auf BlueNote Records erschienen.

27.09.2008

What Are You Made For?



Zugegeben, "Sufferboy" hatte es nicht leicht. Was als Rockprojekt der Berliner Fullbliss-Belegschaft um David Judson Clemmons begann und sogar mit einigen Gigs in Berlin bedacht wurde, entwickelte sich mit der Zeit zu einem Comeback, an das so mancher nicht mehr glauben wollte: JUD wollten es also tatsächlich nochmal wissen und kündigten Ende des letzten Jahres eine neue Platte an. Aufgenommen in der Besetzung, die bereits an den Arbeiten am Fullbliss-Oevre beteiligt war. Das überraschte wenig, da Clemmons' Headquarter in Berlin einerseits eine Spur zu weit entfernt war, um mit den ehemaligen Mitgliedern Steve Cordrey (Bass) und Hoss Wright (Drums) nochmal gemeinsame Sache zu machen, und andererseits bewiesen Jan Hampicke und James Schmidt (der sowieso schon das fantastische 98er Jud-Album "Chasing Califonia" eintrommelte) in mehreren Livegigs, dass sie die legendäre Intensität und die unbändige Kraft des Trios bestens fortführen können.

Zugegeben, "Sufferboy" hatte es nicht leicht. Weil die Alben "The Perfect Life" (2001) und das bereits erwähnte "Chasing California" über die Jahre hinweg zu mehr als nur zwei guten Freunden wurden und es mittlerweile geradezu undenkbar ist, ohne diese beiden Meisterwerke des verschrammelten Indierocks zu existieren, war neben all der Freude über die Wiederkehr auch Skepsis ein ständiger Begleiter. Hält "Sufferboy" wirklich das Niveau der Vorgänger? Die Frage war ja auch: mag ich das eigentlich wirklich noch hören? Und vor dieser Antwort hatte ich ehrlich gesagt weitaus mehr Angst. Als die Band das neue Stück "Drained" als Vorgschmack auf ihrer Homepage präsentierte, wurde ich indes wieder etwas ruhiger. Alles in Butter.

Zugegeben, "Sufferboy" macht es einem nicht leicht. Was Clemmons in einem Interview als "Fucking Mental Torture" beschreibt, sind wahrlich die wütendsten und härtesten Songs, die es wohl jemals von Jud zu hören gab. Alleine das Eröffnungsduo "Bright White Light" und "Drained" prasselt wie eine LKW-Ladung Bleikugeln auf einen nieder und auch "Asylum" (mit tonnenschwerem Doomriff) oder "Satisfy" sind Kaliber, mit denen man nicht unbedingt rechnen konnte. Auch Clemmons' Stimme passt sich dieser Ausrichtung an; er klingt in manchen Momenten derart zerstörerisch und aggressiv, dass ich mich durchaus frage, aus welchem Körperteil GENAU er sich diese Töne herauskratzt. Auf der anderen Seite stehen mit "Universal" oder "The Maggots" Songs auf dem Programm, die - entsprechend arrangiert - auch auf einem Fullbliss-Album stehen könnten. Apropos: das auf dem letzten Album "Yes Sir" befindliche "The Cowboy Song" gibt es auf "Sufferboy" in der breitbeinig rumstehen & lässig aussehen-Version und ist für mich das klare Highlight dieser Platte.

Zugegeben, "Sufferboy" macht es einem nicht leicht. Auf den ersten Blick (wohl auch aufgrund der Härte) ungewohnt sperrig und zerfahren, entwickelt sich das Album erst nach einigen Durchläufen zu einem wahren Koloss. Und wenn man erstmal durch die in typischer Clemmons-Manier angeschrägten und vor allem zeitgemäßen Riffmonster gegraben hat, die sich die drei Herren hier aus dem Ärmel schütteln, dann merkt man zum wiederholten Male, wie kriminell eigenständig diese Band eigentlich ist. Und hat damit wohl auch die Antwort auf die Frage gefunden, warum die Buben nicht schon längst drei, vier Stufen auf der Karriereleiter genommen haben. Ich für meinen Teil hätte gar nichts dagegen, wenn demnächst größere Hallen gebucht werden müssten...und "Sufferboy" könnte es ihnen eigentlich ganz leicht machen.



"Sufferboy" von JUD ist im August 2008 auf Noisolution erschienen.

21.09.2008

[zensiert]



Wenn du völlig übernächtigt, mit einer überdimensonalen Unlust gesegnet, geradewegs elf Stunden auf einer staubig-verdreckten Fläche Welt stehst; wenn dieser September so kalt und ungemütlich ist, dass die November-Depression schon zwei Monate zu früh unter die Bettdecke kriecht; wenn deine Knochen und deine Muskeln, ach was: jede verdammte Faser, jede Zelle deines Körpers dir von innen in dein Gesicht brüllt, dass alles, was du jetzt noch willst ein Bad in heißem, mit "wertvoller Mandelmilch veredeltem" Wasser ist, damit du nach einer gefühlten Ewigkeit mal wieder eine Hauch von dem spürst, was dir jedes Medienarschloch als "Entspannung" vor die Füße rotzt; wenn du dich in einer solchen Stunde nicht von einem sozial und physisch verwahrlosten Singer/Songwriter-Trauermops vollspeien lassen willst und darüber hinaus sowieso der Meinung bist, dass die furchtbar revolutionäre künstlerische Innovation in Form von Ergänzung klassischer Komponenten in moderne Rock-/Pop-/Tanz-Musik der allerallerallergrößte Irrwegscheiß ist, der deinem Sinn für Ästhetik seit Äonen zugemutet wurde, dann ist "Genesis" von Hiroshi Watanabe eine Platte, die dir in bestimmten Lebensmomenten so gut tut wie "fingerdick Nutella auf frischem Kastenweißbrot" (J.Schliemann).

Watanabes ausufernder, warmer und pompöser Ambient Techno-Sound ist durch und durch so harmonisch, dass er dir für Stunden die Seele massieren könnte, ohne dabei zu glatt, zu kitschig oder selbstverliebt zu sein: "Genesis" pusht und treibt, es hält dich auf eine wunderbar angenehme Art und Weise am Atmen, auch wenn um dich herum der dicke Staub des Wahnsinns schwebt und dir die Kehle und das Herz zudrückt. "Genesis" ist das Antidot.


"Genesis" von Hiroshi Watanabe ist im Jahr 2007 auf Klikrecords erschienen.




P.S.: ich hoffe auf eine wenig überraschende, dafür aber durchaus angemessene und entsprechend aussagekräftige Google-Zugriffstatistik in den kommenden Tagen.

Update 30.12.2008: Titel gelöscht. Mir gehen die Schmierfinken mittlerweile etwas auf den Zeiger. Aber keep goin'!

15.09.2008

Abends, am See....



Es gibt soviel unentdeckte Musik. Soviel spannende, höchst inspirierte, stimulierende und doch unentdeckte Musik. Auch "Drift" des Kölner Improvisationsduos sonargemeinschaft wäre mir wohl verborgen geblieben, hätte es das Schicksal nicht so gut mit mir gemeint. Gemeinsam mit dem britischen Gitarristen und Multiinstrumentalisten Fred Frith als Gast präsentieren sich Dirk Raulf am Saxofon und Frank Schulte (Electronics) auf einem Niveau, das mir tatsächlich nicht alle Tage vor die Ohren kommt.

Frei improvisierte Musik gleicht immer einem Drahtseilakt und für gewöhnlich entscheiden die ersten Augenblicke über Erfolg und Misserfolg eines gemeinsamen Weges. Damit ist nicht gemeint, dass sich ein Stück nicht entwickeln dürfe; das wäre aber erst der zweite Schritt. Der erste Schritt ist ein Hauch einer Ahnung, ein minmaler Impuls oder eine grotesk-winzige Information, die darüber entscheiden, ob das, was gerade die Synapsen umweht, Substanz und Leidenschaft hat. Das Bauchgefühl täuscht sich selten, sofern man gelernt hat, es erstens überhaupt wahr zu nehmen, und zweitens es auch zu begreifen.

Wenn drei Musiker (und hier ganz besonders Raulf und Schulte) in der Lage sind derart intensiv und geschlossen mit einer Stimme sprechen zu können, dass dieses knapp siebzigminütige, aus zwei Titeln bestehende und im Kölner Loft live aufgenommene Werk sich zu einer funkelnden, blitzenden und nachgerade - Achtung, das verbotene Wort: perfekten Momentaufnahme entwickelt, zeigt sich, dass es durchaus von Vorteil sein kann, wenn sich die Musiker nicht erst vier Minuten vor Konzertbeginn am Biertresen über die Füße gefallen sind: Dirk Raulf und Frank Schulte arbeiten seit 1995 unter dem gemeinsamen sonargemeinschaft-Banner, kennen ihre Wege, Ihre Gedanken, Ihre Stärken und Schwächen. All das wird auf "Drift" gebündelt auf die Bühne gebracht. Raulfs Saxofon, das mal barsch und geradewegs animalisch anmutet, nur um im nächsten Moment so pur und rein wie ein norwegischer Fjord zu klingen (hat hier eben gerade jemand Jan Garbarek geflüstert?), und Schultes elektronische Eskapaden, die es sogar hier und da fertig bringen, wie ein Ausschnitt einer Raster-Noton-Party zu klingen, nackt und skelettiert einen feinen, minimalen Groove entwickeln und sich darüber hinaus nicht nur in den Sound einbetten, sondern ihm ein eigenes Gesicht schenken, sind die Grundpfeiler einer Musik, die im zweiten Stück "All Aboard" mit der Gitarre von Fred Frith eine weitere Komponente, einen weiteren Bauteil erhält. Auch Frith scheint ein gutes Gespür dafür zu haben, was dieser 13.Dezember wirklich benötigte, und es ist sehr wohltuend zu hören, dass er, wie seine beiden Mitmusiker auch, es unterlässt diese Bühne zu seiner alleinigen Bühne zu machen.

Und wenn selbst das angesichts der kalten Jahreszeit im Hintergrund dezent vor sich hin hustende Publikum mit dazu beiträgt, dass "Drift" ein beeindruckendes Zeugnis eines Abends ist, an dem sich drei Musiker zu einem Klang verbunden hatten, ist wirklich alles gesagt.


"Drift" von sonargemeinschaft & Fred Frith ist am 30.5.2008 auf Poise erschienen.

08.09.2008

Lauschglück



Am kommenden Freitag, 12.9.2008 findet in der Bessunger Knabenschule zu Darmstadt ein ausgesprochen interessantes Konzert statt:

Michael Wertmüller
(Drums, u.a. Brötzmann, ), Rainer Lind (Gitarre, Künstler aus Darmstadt, u.a. Brötzmann) und Joe Sachse (Gitarre, u.a. John Tchicai, Brötzmann) stehen gemeinsam auf einer Bühne.

Beginn ist um 20:30 Uhr. 

Weitere Informationen gibt es HIER.


26.08.2008

Zebra Streifen



Ein wildes Gezappel, da rund um den Springbrunnen. Die Rosen wachsen auf den braunen Betonplatten. Nicht so, wie andere Rosen wachsen, aber das sind auch keine normalen Betonplatten. Eigentlich bestehen sie aus ganz vielen, kleinen Steinen. Die passen gar nicht zusammen, aber man hat sie passend gemacht. Ob die wissen, dass Rosen auf ihnen wachsen? Naja, wahrscheinlich nicht.

"Das ist wie...wie ein Vogelschwarm, irgendwie. Einer fliegt nach...na, da raus halt, und die anderen fliegen sofort mit."

"'Die anderen' ist ja Quatsch; 's sind ja nur zwei."

"Aber immerhin klingen die zwei wie ein ganzes Rudel."

"Rudel? Eben warst Du noch beim Schwarm."

"Ja, Verzeihung. Wie's halt gerade passt."

"Rudel klingt nach Raubtieren."


Freies, attackierendes Chicago. Ist es noch hell oder schon wieder Frühstück? Eine große Tasse Kaffee, dazu Kornetthörnchen und Getrommel. Geht ja auch, wenn es erst wieder hell werden soll. Also irgendwann, wenn es noch dunkel ist.


"Und wie schön das klingelt. Wie Wasserperlen an den Badezimmerfliesen, nach dem Duschen."

"Wasserperlen, die klingeln?"

"Du weißt schon, wie ich das meine."

"Dann sag's halt."


phase out....another level of consciousness...push Away...posT...close your eyes...play, just play...aBility...FREe...another level of consciousneSs...agree....rock...disagree...


"Hat die nicht der Tortoise-Typ produziert?"

"Kann schon sein. Aber sowas interessiert doch nur Giganerds, weil sie das Wichtigste nicht kapieren wollen."

"Hast Du mich gerade Giganerd genannt?"

"Interessiert's dich wirklich?"

"Nö."

"Ich geh' ein bisschen schwimmen."


"In Praise Of Shadows" des Chicago Underground Trios ist im Jahre 2006 auf ThrillJockey erschienen. 



21.08.2008

"Even he can't play what he plays..."

Ein launiger Ausschnitt aus einem Noel Gallagher-Interview. Der Gitarrist von Oasis spricht gut fünf Minuten über The Smiths, Johnny Marr und Morrissey. Großartig!

19.08.2008

Halb zog es ihn, halb sank er dahin...



Auch das ansonsten so geschmackssichere Blue Note-Label erlaubt sich hier und da einen Ausrutscher. Auch wenn jener, der sich auf Lee Morgans "The Procrastinator" bezieht, nicht in erster Linie ein musikalischer, sondern zunächst mal ein geschäftlicher Lapsus ist. Das Label konnte auf dieser, im Juli 1967 aufgenommenen Scheibe unverschämterweise keinen Hit entdecken und verstaute die Aufnahmen im Giftschrank, ehe das Werk 1978 zum ersten Mal den Weg in die Läden fand. Ganze 17 Jahre später wurde es als limitierte Edition wiederveröffentlicht, auf der dann aber unsinnigerweise die Hälfte der Originalausgabe fehlte, nämlich eine Session aus dem Jahre 1969, unter anderem mit Julien Priester (Posaune) und George Coleman am Saxofon. Zumindest kann man damit den Gegenbeweis für die These antreten, früher sei in Sachen Musikbusiness alles besser gewesen. War es nicht.

Lee Morgan, der in den Jahren zuvor unter anderem bei Art Blakeys Jazz Messengers, der Band von Dizzy Gillespie und auf letztlich wegweisenden Klassikern wie Grachan Moncurs "Evolution" mitwirkte, hat für diese Platte die crème de la crème des Mid-60s Jazz und nicht weniger als drei Musiker der damaligen Miles Davis Band um sich versammelt. Gemeinsam mit Herbie Hancock (Piano), Wayne Shorter (Tenor Sax), Bobby Hutcherson (Vibraphon), Ron Carter am Bass und Billy Higgins am Schlagzeug präsentiert er sich im Vergleich zu seinen erfolgreichsten Jahren mit Werken wie "The Sidewinder" oder "The Rumproller" deutlich gereift, ja geradewegs zurückhaltend und bietet einen Hard Bop an, der in seinen besten Momenten die Schwelle zur Avantgarde streift und ansonsten mit erstaunlicher Tiefe und gehörigem Swing ausgestattet ist. Die vier Morgan- und zwei Shorter-Kompositionen (die wunderbare Ballade "Dear Sir" und der Bossa Nova "Rio") sind in ihrer Geschlossenheit und ihrer Souveränität ungeschlagene Perlen des modalen Jazz, zu gleichen Teilen beschwingt und hypnotisierend. Besonders letztgenannte Komponente dürfte sich in den meisten Morgan-Alben der sechziger Jahre wiederfinden.

Dass "The Procrastinator" moderner klingt als Morgans frühere Arbeiten liegt für meinen Geschmack explizit an der Beteiligung Bobby Hutchersons. Besonders sein Spiel führt die bluesigen Ansätze des Trompeters in einen tiefroten Rau(s)ch, wärmt sie und verleiht ihr einiges an mystischem Flair, das sich durch die komplette Aufnahme zieht. Dazu passt Shorters ebenfalls sehr überlegtes, zurückgenommenes Spiel und das kluge, begleitende Drumming von Billy Higgins, der sich nie in den Vordergrund drängt, sondern sich perfekt den Songs anpasst und sie abrundet.

Möglicherweise wäre Lee Morgan, der Zeit seines Lebens wie viele seiner Musikerkollegen dem Heroin nicht immer abschwören konnte, heute eine der bekanntesten und schillerndsten Figuren des Jazz, wäre er nicht 1972 während eines Streit mit seiner damaligen Freundin vor dem New Yorker Jazzclub Slug's von ebenjener erschossen worden. Aber spekulieren wir nicht weiter wild herum, lassen wir lieber den trivialen Quatsch beiseite und freuen uns, dass es von diesem Mann noch eine ganze Reihe fantastischer Platten zu entdecken gibt. "The Procrastinator" ist einfach viel zu gut, um es dem großen Nichts, dem großen Vergessen anzuvertrauen.


"The Procrastinator" ist im Jahre 1978 auf Blue Note Records veröffentlicht worden. Der hier präsentierte Re-Release erschien im Jahre 1995 ebenfalls auf Blue Note Records.

13.08.2008

Playlist 12.8.2008

Wie immer an dieser Stelle: das haben Sie gestern Abend verpasst. Oder gehört. 

01 Mice Parade - In The Land There Are Lakes
02 The Life And Times - Muscle Cars
03 I'm Not A Gun - Blue Garden
04 Do Make Say Think - Chinatown
05 Thomas Dybdahl - Love's Lost
05 Vetiver - You May Be Blue
06 Sofa Surfers - White Noise
07 Joyce Hotel - Falling/Laughing
08 Triosk - Headlights
09 IMPS - Bubble And Squeak
10 Jackie McLean - Love And Hate
11 Joe Henry - Love You Madly
12 Ostinato - Convolution
13 Jud - The Hands
14 Human Bell - Outposts Of Oblivion
15 Joanna Newsom - Cosmia
16 David Murray Octet - India
17 Mad Season - Long Gone Day
18 The Heavy - Doing Fine
19 Black Rebel Motorcycle Club - Rifles
20 Boards Of Canada - Sixtyniner
21 Rafael Anton Irrisari - Fractal
22 Anders Ilar - Color Of Rain
23 EFDEMIN - Further Back
24 Shuttle 358 - Lyndon Song
25 Yume Bitsu - Surface I

Vielen Dank fürs Zuhören!

09.08.2008

In eigener Sache: Nachtgedanken




Der lange herbeigesehnte Urlaub ist endlich da, also kann ich ihn auch gleich mit einer kleinen Radiosendung freudig begrüßen:

Am Dienstag, 12.8.2008 ab 20:30 Uhr gibt es unter folgendem Link ein bisschen Musik zur Nacht zu umarmen:

Hans-Joachim Kulenkampff freut sich über deine pinkfarbenen Waschlappen

Und das ist ja auch ganz schön so.


P.S.: Man findet schon einen geradewegs käferblöden Mist, wenn man (relativ) harmlos die Google-Bildersuche für "Nachtgedanken" anschmeißt, oder? 

25.07.2008

I Feel New Beats, I Hear New Sounds



Eine ganz und gar bemerkenswerte Platte, und das gleich in mehrfacher Hinsicht, ist "Home For An Island", das zweite Album der New Yorker Band The Exit, und es stimmt mich von Zeit zu Zeit etwas nachdenklich, dass ich dieses Juwel ohne mein ehemaliges Dasein als Hobby-Musikjournalist wohl niemals entdeckt hätte.

Das sind wohl die guten Seiten eines Jobs, bei dem ich mir manchmal nicht sicher bin, ob ihm überhaupt auch nur eine gute Faser einer nicht ganz so schlechten Seite innewohnt, und dabei beziehe ich mich ausdrücklich sowohl auf die Rolle des Lesers, als auch auf die des Schreibers selbst. Aber das ist wieder so ein ganz anderes Thema, darüber können wir uns gerne auf der nächsten Popkomm unterhalten, wenn die halbnackten Bitches, sorry: Hostessen, uns am Visions-Stand die Caipi-Schirmchen ins Haar flechten. Jedenfalls: meine grundlegende Skepsis gegenüber aktueller Rockmusik hat mich seit einiger Zeit so fest im Griff, dass sie mich heutzutage, ganz salopp geschrieben, eigentlich einen Scheiß interessiert. Ich suche auch nicht mehr danach. Wenn mir jedoch mehr oder weniger zufällig etwas vor die Füße rutscht, das mich totz meiner "Iiiih, Du bist immer so anti"-Haltung zunächst verwirrt und dann umso stärker mitreißt, so dass ich selbst zwei Jahre nach der Veröffentlichung dieses kleinen Wunders noch ein helles Funkeln in die Augen bekomme und in himmelhochjauchzende Lobhudeleien verfalle, die sogar mit jedem weiteren Durchlauf noch himmelhochjauchzender Lobhudeln, dann bin ich ein sehr glücklicher Mensch.

The Exit spielen auf "Home For An Island"...Rockmusik. Rockmusik, zu der mir interessanterweise jeder Vergleich fehlt, obwohl die Assoziationen zu der Musik des Trios nur so aus den Poren sprühen. Rockmusik, die sich zwischen The Police, The Clash und den Wurzeln des Punkrock bewegt. Rockmusik, die so sackperfekt produziert wurde, dass ich seit Jahren keinen besseren Sound mehr auf einer Rockplatte gehört habe. Rockmusik, die angesichts ihrer durchaus mainstreamigen Ausrichtung das Zeug dazu gehabt hätte, zu einem legendären Klassiker zu werden, selbst in einer Zeit, in der die Menschen selbige gar nicht mehr fänden, um einen Meilenstein überhaupt noch als solchen zu erkennen/entdecken/feiern. Hausfrauen hätten "Let's Go To Haiti" oder den Titeltrack nach monatelanger Heavy Rotation in Funk und Fernsehen mitpfeifen, ach was: mitsingen können, Schulkinder würden ihre Eltern nicht eher in Ruhe lassen, bis sie Gitarren-, Bass- und Schlagzeugunterricht gleichzeitig bezahlt bekämen, und der große alte Mann des Fickel-Hardrocks, Jon Bon Jovi, der immer noch so jung aussieht und so wunderbare Schmuseballaden schreibt, die ans Herz und in die Hose gehen, würde seinen Fotografen zuraunen:"Make me look like The Exit."

Und dann wache ich auf und sehe, dass alles ganz anders kam. The Exit haben eine vergleichsweise niedrige Anzahl von MySpace-Profilaufrufen, ihre Major-Homepage ist vom Netz genommen, sie wurden trotz des ulkigen Label-Stickers, der sie groß als "Must Hear Artist" deklarierte, zu einem "Must Be Dropped Artist", und diese Platte hier, die ist fast vergessen. Ich möchte an dieser Stelle nicht wie einer der furchtbaren Zeitgenossen klingen, die jeden zurecht unbekannten Schmonz mit einem "In einer besseren Welt wären diese Jungs hier Superstars" kommentieren; dass eine mit solchem Potential gesegnete Scheibe jedoch nahezu keine Sau juckt...das darf mich einfach nur ein bisschen Erstaunen. Darf es nicht?

"Home For An Island" von The Exit ist im Jahre 2005 bei Wind-Up Records erschienen.

15.07.2008

It's In The Mix, Stupid!



Für gewöhnlich bin ich den Arbeiten von Kieran Hebden ja durchaus wohlgesonnen: seine Postrock-Spielwiese Fridge, seine vielseitigen Four Tet-Tüfteleien, die mitunter sehr respektvoll die Einflüsse des 29-jährigen Musikers in den Vordergrund rücken, oder eben sein seit einigen Jahren laufendes Projekt mit dem Jazzdrummer Steve Reid, all das konnte mich im Grunde immer überzeugen. Vor allem das Hebden/Reid-Debut "The Exchange Sessions Vol.1" hat mich seinerzeit kräftig mitgerissen. Hebden hatte schon zu schwebenden Fridge-Zeiten großen Wert auf vertrackte Rhythmuskonstruktionen gelegt, und "Everything Ecstatic", seine großartige Four Tet-Platte aus dem Jahr 2005 baute diesen Groove-Fokus gar noch weiter aus, umgarnte ihn mit seinen typischen Wuschi-Deluxe-Sounds, frisch gemopst aus der großen Rappelkiste eines Musikverrückten. Die Kollaboration mit Steve Reid, einem freien Geist des Jazz, der in den sechziger und siebziger Jahren mit Sun Ra genauso arbeitete wie mit Miles Davis, lag als nächster logischer Schritt auf der Hand.

Während die ersten beiden Ergebnisse dieser Partnerschaft "The Exchange Sessions 1+2" sich ausbreitenden, diffusen Electro-Freejazz boten, wählte man für das dritte Werk "Tongues" offensichtlich einen luftigeren Ansatz. Durchschnittlich viereinhalb Minuten benötigen die beiden Musiker, um zu demonstrieren, dass improvisierte Musik eben auch mal bedeuten kann, dass es - Pardong! - in die Hose geht. Was grundlegend völlig in Ordnung ist. Aber mein Gefühl sagt mir auch nach dem achten Durchlauf, dass Hebden und Reid sich hier leicht verhoben haben. Reids afrikanisch beeinflusstes Schlagzeugspiel rückt auffallend weit in den Hintergrund, die Schnittstellen mit Hebdens Gezischel und Gerappel wurden so unkenntlich gemacht, dass sich bei Licht betrachtet hier nur einer austobt, und das ist Kieran Hebden. Trotzdem pendelt er lediglich zwischen zwei Extremen umher: einerseits wummert er viel Potential überraschend uninspiriert in Grund und Boden, andererseits lässt er hier und da süßliche Melodien durchblitzen, die viel zu undefiniert sind, als dass sie eine Stimmung erzeugen können, die die Songs tragen kann. Und wer jetzt irritiert die Augenbrauen anhebt und sich fragt "Moment mal, Songs??", der fragt sich das mit Recht: mir erschließt sich schon der grundlegende Gedanke hinter "Tongues" nicht, vierminütige Momentaufnahmen in einen ursprünglich uferlosen Kontext zu pressen. "Tongues" wirkt dadurch unangenehm unfertig, beeindruckend trivial und zerstäubt schneller aus dem Gedächtnis als eine Bundestagsrede von Dirk "Wirsing" Niebel.

"Tongues" von Kieran Hebden und Steve Reid ist im März 2007 auf Domino Records erschienen.

06.07.2008

(R)evolution



"When ever I have a conversation about what's wrong with the jazz business, I always start out by saying, 'Where is Grachan Moncur?'"

Jackie McLean

Manche Wahrheiten benötigen Zeit. Manche Musik benötigt Zeit. Und wenn Wahrheit und Musik aufeinandertreffen, dann können schon mal ein paar Dekaden vergehen, bevor sie aus nebligem Dickicht gezerrt und entdeckt werden. Eine sehr scheue Kombination, scheinbar. Bei Grachan Moncur III stießen die beiden Faktoren mehr als nur einmal aufeinander, und es macht den Eindruck, als habe sich in nahezu gleicher Frequenz sein Image als merkwürdiger Kauz immer weiter in die Jazzwelt hineingebohrt. Sowas kann zu einem prächtigen Boomerang werden.

Als einer der wenigen Posaunisten, die sich in der Free Jazz/Avantgarde-Welt bewegen, erscheint er mir besonders in den letzten Monaten als einer der inspiriertesten Jazzmusiker aller Zeiten. Auch wenn sich Moncur nach eigener Aussage gar nicht in der Avantgarde-Ecke zuhausefühlt ("To me, it wasn't avant-garde per say for what the avant-garde was really standing for at that time to me. The avant-garde at that time was dealing with the idea of being revolutionary music. I had no thoughts in my mind of this being revolutionary."), so gelten besonders sein Blue Note-Debut als Leader "Evolution",  und das mit Jackie McLean als Leader aufgenommene "Destination...Out!"(beide 1963 erschienen) als sehr außergewöhnlich und innovativ. Für mich begann das Phänomen Moncur mit einer Aufnahme aus dem Jahr 1969, "New Africa", aufgenommen im Rahmen einer Session für das legendäre französische BYG Actuel-Label. Die hier enthaltenen vier Songs zählen für mich mittlerweile zu den großen Sternstunden des Jazz: der ausufernde, aber zu jeder Sekunde mit glasklarer Struktur versehene Titeltrack, der sich in den ersten Minuten so traumhaft durch eine simple Klaviermelodie schleppt, das nervös-sirrende, dunkle und unheilverkündende "Space Spy", oder "Exploration", das seinem Name mit sehr freien Solos alle Ehre macht, und zu guter Letzt "When", einem mit dunklen Swing ausgestatteten Wohlfühlmonster; Moncurs Songwriting ist zu jeder Sekunde eine glatte Offenbarung, sein Stil völlig einzigartig. Zugegeben, ich bin immer noch nicht vollständig hinter sein Geheimnis gekommen. Dafür ist der Mann viel zu wendig, seine Brüche und Sprünge so fix, sein Motive so strange & beautiful, das ich sie - ganz ehrlich gesagt - auch einfach nur genießen möchte. In einem Interview mit Allaboutjazz.com sagte er über seine Art Songs zu schreiben:"I was trying to look at writing at that point the way a painter would paint. You put your thing on the easel and you sketch something and you come back to it the next day or a couple of days. That's how I was trying to think musically. I wasn't trying to finish anything. I still don't do that. I don't try to write anything that I consider a complete piece, especially now. It is always a work in progress. I don't change anything, but I add." Moncur balanciert für meine Begriffe genau an der Schnittstelle eines eher traditionellen Jazzmodells wie dem Hardbop und den Anfängen des Free Jazz in den frühen sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Hier hat er seinen Platz gefunden, fokussiert sich aber in Sachen Songwriting besonders auf Stimmungen und Kontraste. 
Möglicherweise ist speziell dieses Merkmal der springende Punkt seiner 
Musik.

Trotz seiner Zusammenarbeit mit Blue Note zählt Grachan Moncur III bis heute zu den eher unbekannteren Jazzmusikern, obwohl er bis heute Platten veröffentlicht, wenn auch in sehr unregelmäßigen Zeitabständen. In dem weiter oben erwähnten, sehr spannenden, Interview nimmt Moncur zu diesen und anderen Themen Stellung, oftmals auf eine Art und Weise, die mir alleine beim Lesen seiner Sätze den Herzschlag beschleunigt. Es ist, als könne ich seine Worte hören. Sie klingeln regelrecht in den Ohren.

"New Africa" von Grachan Moncur III ist 1969 auf BYG Actuel erschienen.

21.06.2008

"But this time, I wanna hear you scream. In pain." -"Play some Jazzrock."



Es gibt Momente, in denen ich die musikalischen siebziger Jahre gerne zusammengeknüllt in einer Biotonne liegen lassen würde, obgleich vieles aus dieser Dekade noch nicht mal kompostierbar, sondern geradewegs hochgiftig klingt. Das erste Album des hochgelobten Keith Jarrett Quartetts mit Chalie Haden (Bass), Dewey Redman (Tenor Sax) und Paul Motian (Drums) stammt aus dem Jahre 1971, und auch wenn man sich da gerade mal am Anfang des Jahrzehnts befand: "Birth" atmet bereits erstaunlich oft den Muff einer Dekade, in der so mancher Musiker auf Teufel komm raus in einer Art und Weise experimentierte, die man mit viel Wohlwollen gerade noch als naiv bezeichnen könnte, zumindest aus heutiger Sicht. "Birth" ist jedoch aus zwei Gründen nicht uninteressant, zeigt es doch erstens (nicht nur) mit Jarrett einen Musiker, der hörbar auf der Suche nach Herausforderungen war und mit vielen - ihm eigentlich fremden - Instrumenten nach einem neuen Sound forschte und zweitens einen überraschend sauberen Schnitt zwischen Tradition, Avantgarde und Jarretts künftigem ECM-Sound, der sich in erster Linie beim Opener und beruhigend-fließenden Titelstück zu erkennen gibt. Ein durchaus ungewöhnlicher Einstieg in eine ebenso ungewöhnliche, heterogene Platte, deren Ausrichtung im Folgenden wesentlich freier in Erscheinung tritt. Hier fallen besonders das rockige, fusionlastige "Mortgage On My Soul (Wah-Wah)", sowie das sehr freie, experimentelle "Spirit" auf. Während die Band bei letzterem mit allerlei Percussioninstrumenten hörbar entrückt knapp unter der Studiodecke herumfliegt, wenn nicht -albert, präsentiert sich "Mortgage On My Soul" als dick geknüpfter Rockteppich, der leider viel Charme in sich aufsaugt und ihn partout nicht mehr freigeben will, sodass ein verzerrter Charlie Haden-Bass unwidersprochen auf ihm herumtollen und noch einen Nachschlag in Sachen "Geschmacklosigkeit" bieten kann.

Damit hätten wir den Tiefpunkt dieser Platte auch schon hinter uns gelassen; danach geht es spürbar bergauf. Vor allem der Schlusspunkt "Remorse" (Jarrett an den Steel Drums und am Banjo) zeigt in seinen elf Minuten ein beeindruckendes Wechselspiel der Musiker und birgt insbesondere in Jarretts blitzschnell an- und abschwellenden Crescendos einen feinen Ausblick auf seine Arbeiten in den kommenden Jahren.

Eine seltsame Platte, auf der weißgott nicht alles Gold ist, was glänzt, die es jedoch problemlos auf drei Prachtstücke bringt. Reicht völlig aus.

"Birth" von Keith Jarrett ist im Jahre 1971 auf Atlantic Records erschienen.

13.06.2008

Lasst Es Baumeln



Auf einmal war es da, das dritte Soloalbum des Broken Social Scene-Gitarristen Jason Collett. Keine großen Ankündigungen, kein großes Trara. Damit steht die Veröffentlichungspolitik in einer Reihe mit der Musik des Kanadiers. Wie schon auf dem fantastischen Vorgänger "Idols Of Exile" steht die ungeheure Lässigkeit der Songs im Vordergrund: eine Band, die über die kompletten 47 Minuten klingt, als läge sie kollektiv in einer übergroßen Hängematte, findet man wahrlich nicht an jeder Straßenecke. Ich weiß auch beim besten Willen nicht, wie sie das immer wieder hinbekommen, zu jedem Zeitpunkt derart laid back zu agieren.

Collett und seine Buben bieten stilistisch nichts Neues zu den beiden Vorgängern und pendeln immer noch zwischen den Beatles (deren Einfluss einen fast schon körperlich anspringt), den Stones und kanadischem Folk- und Indierock hin und her und haben immer noch eine feine Nase für echte Highlights. Auch wenn für den Moment "Idols Of Exile" noch die Nase vorn hat, sind feine, mit sicherem Händchen geklöppelte Songs wie "Out Of Time", "No Redemption Song", "Papercut Hearts", "Not Over You" oder "Charlyn, Angel Of Kensington" überragende Beispiele für das Songwritingtalent Colletts. Dass er mit der Begleitband Paso Mino Musiker gefunden hat, die seine Songs mit soviel Hingabe und Selbstverständlichkeit spielen, ist jedoch sein größter Coup. Letztendlich ist diese Qualität für mich der springende Punkt an seinen Arbeiten. Die Songs rücken in die zweite Reihe, auf die sonnenüberflutete Veranda an einem Sonntagnachmittag. Es gibt Erdbeerkuchen und Kaffee. Und Strohhüte...Strohhüte gibt es auch.

"Here's To Being Here" von Jason Collett ist im Februar 2008 auf Arts & Crafts Productions erschienen.



01.06.2008

"Bei Christiansen musst du aufpassen....die wehrt sich!"



"Ein Autor, der nur ein einziges Theaterstück geschrieben hat, das nur ein einziges Mal auf dem seiner Meinung nach besten Theater der Welt, und genauso seiner Meinung nach nur von dem besten Inszenator auf der Welt, und genauso seiner Meinung nach nur von den besten Schauspielern auf der Welt aufgeführt werden durfte, hatte sich, schon bevor der Vorhang zur Premiere aufgegangen war, auf dem dafür am besten geeigneten, aber vom Publikum überhaupt nicht einsehbaren Platz auf der Galerie postiert und sein eigens für diesen Zweck von der Schweizer Firma Vetterli konstruiertes Maschinengewehr in Anschlag gebracht, und nachdem der Vorhang aufgegangen war, immer jenem Zuschauer einen tödlichen Schuss in den Kopf gejagt, welcher seiner Meinung nach an der falschen Stelle gelacht hat. Am Ende der Vorstellung waren nur noch von ihm erschossene, und also tote Zuschauer im Theater gesessen. Die Schauspieler und der Direktor des Theaters hatten sich während der ganzen Vorstellung von dem eigenwilligen Autor und von dem von ihm verursachten Geschehen nicht einen Augenblick stören lassen."(*)


Georg Schramms Wut, seine Radikalität, sein Mut, seine Verzweiflung, seine Brillianz, seine Moral und nicht zuletzt sein Humor haben mich erst innerhalb der letzten zwei Monate erreicht und begeistert. Seither verging kaum ein Tag, ohne seine Beiträge zu politischen oder gesellschaftlichen Schweinereien gehört oder gelesen zu haben. Das ist manchmal anstrengend, aber ich weiß auch um die reinigende Wirkung seiner Worte. Und ich weiß, dass ich nicht alleine bin.

"Thomas Bernhard Hätte Geschossen" von Georg Schramm ist im Jahre 2006 erschienen.



(*): "Ein eigenwilliger Autor" aus: "Der Stimmenimitator", Thomas Bernhard, 1978


16.05.2008

Nein, Diese Marimba...!



Ich wollte schon lange ein paar Sätze über dieses Album schreiben. Das SF Jazz Collective ist nämlich über Umwege für meine nunmehr seit drei Jahren anhaltende Jazz-Leidenschaft verantwortlich, und das war ursprünglich gar nicht so gedacht. Es war mal wieder ein Blindkauf, und ich hatte im Grunde keine Ahnung, wofür ich hier Geld ausgegeben hatte. Die Scheibe stand im "Electronica"-Regal des örtlichen Blödmannladens, hatte ein buntes, psychedelisches Cover, auf dem (unter anderem) das Wort "Jazz" stand. Ich zählte eins und eins zusammen und erwartete wohl einen den offensichtlichen Gegebenheiten entsprechenden Stilmischmasch, vielleicht etwas in der Jazzanova-Liga, zumal ich wenige Tage zuvor deren "In Between" kaufte und recht angetan war.

Als Teenager schaute ich nachts, nach dem Kneipenbesuch und vor dem Tiefschlaf, gerne noch ein wenig Fernsehen und immer wenn auf 3Sat vornehmlich alte, schwarze Männer Jazz spielten, blieb ich am Ball und war umgehend wieder hellwach (und nüchtern). Ich hielt nie nach solcher Musik ernsthaft Ausschau, in erster Linie, weil ich keinen blassen Dunst hatte, wo und wie ich danach suchen sollte. Aber ich war schon damals Feuer und Flamme.

Als die CD des von Joshua Redman angeführten Kollektivs in den Player schnurrte und ich gespannt darauf wartete, was ich mir da zusammenkaufte, und die ersten Marimba-Klänge von Bobby Hutcherson erklangen, die "Lingala" einleiten, hatte ich einerseits die Platte schon nach wenigen Takten ins Herz geschlossen und andererseits endlich einen Ansatzpunkt gefunden, wie ich an solche Musik komme. Ich hatte Namen, Songtitel und erstmals einen kleinen Schimmer von dem, was es da draußen noch geben könnte. Ich kannte zu dieser Zeit noch keinen Ornette Coleman, dessen Kompositionen "Peace", "When Will The Blues Leave" und "Una Muy Bonita" auf dieser Platte interpretiert werden, ich kannte keinen Joshua Redman und seinen Vater schon gleich gar nicht und keinen Bobby Hutcherson, der mit "March Madness" vertreten ist. Dennoch: ich war so glücklich.

Von hier aus entstand eigentlich alles. Heute kenne ich Bobby Hutcherson, Dewey Redman, Ornette Coleman und viele, viele mehr. Heute ist das Entdecken von alten Jazzplatten ein großes Abenteuer, das Hören derselben manchmal ein genüssliches Abtauchen, manchmal ein irrer Ritt. Immer ist es inspirierend.

So gesehen habe ich dieser Platte einiges zu verdanken, aber auch davon abgesehen ist dieses Debut eine launige Angelegenheit. Das erwähnte "Lingala" (Miguel Zenón) ist mittlerweile sicherlich eines meiner liebsten Jazzstücke, der Beitrag von Pianistin Renee Rosnes "Of This Day's Journey" ein gefühlvolles, sich prächtig entwickelndes Stück Modern Jazz, in dem die Kanadierin sich als wieselflinke und beseelte Musikerin zeigt, während vor allem die Coleman-Interpretationen, allen voran "Peace", nahezu perfekt den spröden Charme der Kompositionen einfangen und die trotzdem mit einiger Leichtigkeit in diese, ja, man darf es ruhig aussprechen, Big Band-Formation eingefügt werden. Ich empfinde es als durchaus respekteinflößend, wenn man Coleman-Songs erkennt, ohne zuvor das Original gehört zu haben. Man weiß einfach, dass diese kauzige Art, dieses wie-auf-stelzen-laufen nur von ihm kommen kann.

So gab also das San Francisco Jazz Collective den Startschuss in meine Jazzkarriere. Noch heute kehre ich gerne an diesen "Ursprung" zurück...für mich ist es eine ganz besondere Platte.


Das Debut des SF Jazz Collective ist im Jahre 2005 auf Nonesuch erschienen.

09.05.2008

"Verzeihung, ich wollte nicht stören...?!"


Ich bin untröstlich ob meiner mehrwöchigen, virtuellen Abwesenheit (ehrlich!), , habe aber gute Neuigkeiten: der Blog lebt noch, sein Autor erstrecht und hier geht es bald weiter.

Zugeschaut und mitgebaut!

05.04.2008

Neues Aus Den Anderen Räumen

Weil es möglicherweise den ein oder anderen Leser interessiert, möchte ich auf ein neues Radioprojekt von Frank Schindelbeck, dem Motor hinter den Seiten Jazzpages und Jazzblogger, hinweisen.

Das Musikportal Laut.de bietet neuerdings die Möglichkeit an, sich eine eigene kleine Radiostation zusammen zu basteln. Frank hat daraufhin das Jazzradio installiert, und vielleicht hat der ein oder andere ja Lust, mal ein Ohr zu riskieren.

Jazzradio


Und wo wir gerade bei Entdeckungen sind: Freund Phirnis schrieb einen schönen Nachruf auf Klaus Dinger, dem am 20.März verstorbenen Gründungsmitglied von NEU! und La Düsseldorf.

Nachruf auf Klaus Dinger


Der Ethik-Schniedel

Mir fiel kürzlich wieder die Polemik "Ein Mann Wird Kälter - Wenn Schniedel auspacken: Über den Erfolgsethiker Hans-Olaf Henkel" von Titanic-Redakteur Stefan Gärtner in die Hände, und ich nehme diesen freudigen Fund zum Anlass, mein "ich-schreibe-nur-und-ausschließlich-über-musik"-Konzept mal schön über den Haufen zu werfen, jedenfalls für den heutigen Tag.

Der Text ist einer meiner liebsten Sternstunden der Titanic und immer, wenn sich die Gelegenheit bietet, lese ich ihn grundsätzlich von Anfang bis Ende durch und stehe dabei laut applaudierend auf dem Schreibtisch. Aus diesem Grund mache ich ihn an dieser Stelle für Euch verfügbar, vielleicht reicht es ja für einen amüsanten Lesespaß in den kommenden Minuten.

"Ich halte die Globalisierung neben Aufklärung und Menschenrechtserklärung für die größte Errungenschaft der Menschheitsgeschichte."




02.04.2008

Ridicule Is Nothing To Be Scared Of

Wenn es nicht so furchtbar egal wäre, dass sich die tattrigen 90er Jahre "Trip-Hop" (Musikexpress)-Rochen von Portishead "wiedervereinigt" (H.Kohl) haben, man müsste fast ein bisschen verärgert darüber sein, dass dieses "erbärmliche Gestümper" (Portishead, "Machine Gun") das Tageslicht erblickt hat. Spätestens bei der Terminator-Melodie zum Schluss hatte ich den schönsten "Lachflash" (Markus Maria Profitlich) seit dem Anblick eines Running Wild Bandfotos von 1998.

(Okay, ist gelogen. Lag schon nach 30 Sekunden unter dem Tisch.)


01.04.2008

Auf Einem Fuß



Als neulich mein Auge über den begehbaren CD-Schrank wanderte, fiel mir eine Platte auf, die ich schon seit längerem nicht mehr hörte. Das trifft sicherlich auf mehrere der dort herumstehenden Exemplare zu, und meine Ignoranz hatte auch ganz bestimmt und irgendwann mal einen Grund, aber mich ließ der Gedanke nicht mehr los: die musst du nochmal hören.

Charles Lloyd ist ein weiterer Musiker, dem ich eigentlich mehr Aufmerksamkeit schenken müsste, aber wie so oft benötigte ich einige Zeit, um mich in neuen, seltsamen Klanguniversen zurecht zu finden. Das heißt übersetzt: ich war anfangs nicht wirklich berauscht von "Sangam", übrigens Lloyds erstes Livealbum für das Münchener ECM-Label. Ich kann aus heutiger Sicht nur noch partiell nachvollziehen, was mich zu diesem Standpunkt brachte, vermute allerdings, dass ich mit den falschen Erwartungen an diese Platte herantrat, und auch das ist ja bekanntermaßen nichts Neues im Hause Florian. Aus heutiger Sicht ist vieles an "Sangam" ganz außergewöhnlich und spannend. Dazu zählt zum einen die Besetzung: Lloyd spielt mit dem zum Zeitpunkt der Aufnahme gerade mal 28-jährigen Drummer Eric Harland und dem Tablaspieler Zakir Hussain mit zwei Perkussionisten zusammen, was sich auf dem Papier möglicherweise recht spröde liest, auf Plastik jedoch mit irrsinnigen Farben, Funken und Fischbrät überzeugt. Vielleicht flattert vor allem Hussains Solospiel dem ein oder anderen zu weit in die Schnittstelle World Music (für Diskussionen über den Genrebegriff bitte die 110 wählen) hinein, die Erwähnung seines Engagements in John McLaughlins Band Shakti reicht für die Zielgruppe vermutlich aus, um wundervolle Migräneattacken begrüßen zu dürfen. Davon abgesehen möchte man ein ums andere Mal kräftig mit der Zunge schnalzen (oder wenigstens die Hose öffnen): es gibt Momente, in denen sich das Trio förmlich ins Nirwana groovt, vor allem Harland weiß ganz genau, was er hier zu leisten hat. Das Webzine All About Jazz formulierte es in einem ungewohnten Ausbruch wie folgt:"This album captures the three grooviest motherfuckers in the world." und ich möchte ihnen nur ungern widersprechen. Lloyds Spiel hat eine unglaubliche Übersicht, ist hochspirituell und immer auf dem Sprung, immer auf der Suche nach neuen Pfaden. Der 1938 geborene Saxofonist trieb sich zunächst in der Bluesszene um B.B.King herum, bevor er in den 50er Jahren mit Avantgardisten wie Eric Dolphy, Ornette Coleman oder Bobby Hutcherson zusammenarbeitete. Ähnlich wie Sonny Rollins zog sich auch Lloyd zum Teil jahrelang komplett aus der Musikszene zurück und triumphierte in der Folge mit beeindruckenden Comebacks.

"Sangam" ist meines Wissens die erste und bis heute einzige Veröffentlichung des Trios. Aufgenommen bereits im Jahre 2004, ließen die drei Musiker direkt beim ersten Gig einfach mal das Band mitlaufen. Das Ergebnis ist nicht nur bedingt durch diesen Umstand eine mystische, nebulöse Musik. Klar von einer reißenden Spontanität geprägt, aber gleichzeitig auch geerdet und wohlüberlegt. Indes teilt sie ein Schicksal mit vielen anderen "neuen" Jazzplatten: "Sangam" ist mit über 70 Minuten Spielzeit einfach viel zu lang geraten. Vielleicht der einzige Makel an einer berauschenden Platte.

"Value For Money" ist ein Irrtum!


"Sangam" von Charles Lloyd ist im April 2006 auf ECM erschienen.

27.03.2008

Mac Benedikt mampft Whopper Knut



Weißes Grundrauschen und flimmern in der Kiste. Nix passiert, aber bloß nix verpassen.

Das Berliner Trio Rechenzentrum um Marc Weiser, Christian Conrad und den Videokünstler Lillevan hat mit dieser DVD eine ganz schön harte Nuss veröffentlicht, die sich nicht damit knacken lässt, dass man sie hier und da mal durch die Lauscher kullern lässt und auf den lieben Gott wartet, der einem dann mal schön den Weg zum Licht weist. Wobei, Gott ist gar nicht so verkehrt: "Silence" ist inspiriert von den Heiligendarstellungen des russischen Ikonenmalers Andrej Rjublev und versteht sich mit Lillevans meist schwarz-weiß gehaltenen Visuals als nach innen blickendes, meditatives Energieknäuel, das sich langsam seinen Weg durch den Raum kugelt. Der Sound ist elektronisch, mal noisig-verpixelt, perkussiv-jazzig, mal reichlich, opulent und (fast ein bisschen zu sehr) füllend. Erinnerungen an Dead Can Dance werden besonders in den ersten Tracks geweckt, wenn sich die Band sehr sakral und majestätisch einen Überblick über das weite Feld verschafft. Indes, nicht immer gelingt die Fortführung der Stille. Es gibt Momente, in denen mir Rechenzentrum völlig ohne Not zu schroff werden, etwa, wenn in "Rublevs Refugium" nach eineinhalb Minuten des Schwebens plötzlich ein deplatzierter Clubbeat Konservendosen zusammennagelt.

Anfangs war ich davon überzeugt, dass die Musik untrennbar mit den Bildern verbunden ist. Zu beeindruckend war das Zusammenspiel der Klänge mit Lillevans Visionen und Strukturen, zu dicht war die Naht, die dieses ganze Projekt am Laufen zu halten schien. Mit der Zeit jedoch wich meine Fixierung auf das tête-à-tête von Bild und Klang und verschob sich tatsächlich eher in Richtung der Musik, die plötzlich auch ohne die Krücken der Visualisierung laufen konnte. Und dennoch halte ich das Gesamtkonzept für überaus lobenswert: "Silence" ist in dieser Form und mit dieser Voraussetzung ein angemessener Gegenspieler in einer kulturellen Landschaft, die den Kunst- und Künstlerbegriff am liebsten in ein vor sich hin fettendes Cheeseburger-Tütchen einwickeln würde. Alles für einen Euro, und die Tüte ist der Star. Rülpsihasi.


"Silence" ist im Oktober 2007 bei Weiser Musik erschienen.

17.03.2008

Wir haben einen Gewinner!

Wenn nicht sogar drei davon!

Meine Glücksfee zog heute Abend drei Glückspilze, die von mir umgehend über ihren Gewinn benachrichtigt werden.

Ich danke allen für's Mitmachen!

Bis zum nächsten Mal... :o)

11.03.2008

Verlosung!


 
Als The Fullbliss im Januar 2008 im Frankfurter Bett Station machten, kam ich auf die Idee, der Band ein paar CDs mehr als üblich abzukaufen, um meinen Blog mit einer schönen Verlosung zu schmücken...

Wenn Ihr die folgende Frage richtig beantwortet, habt Ihr die Möglichkeit, eins von zwei Exemplaren des immer noch aktuellen Albums "Yes Sir!", oder eine von David Clemmons erstellte DVD mit allen Videos der Band zu gewinnen.

Die Frage lautet:

In welchem Jahr erschien das erste Jud-Album "Something Better"?



Schreibt Eure Antwort an dreikommaviernull[at]yahoo.de

Einsendeschluss ist der kommende Sonntag, 16.3.2008, der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Die Gewinner werden nach der Auslosung von mir benachrichtigt.

Viel Erfolg!!!

03.03.2008

I Hope We Both Die



I hope that our few remaining friends
Give up on trying to save us
I hope we come up with a failsafe plot
To piss off the dumb few that forgave us
I hope the fences we mended
Fall down beneath their own weight
And I hope we hang on past the last exit
I hope it's already too late
And I hope the junkyard a few blocks from here
Someday burns down
And I hope the rising black smoke carries me far away
And I never come back to this town
Again in my life
I hope I lie
And tell everyone you were a good wife
And I hope you die
I hope we both die

I hope I cut myself shaving tomorrow
I hope it bleeds all day long
Our friends say it's darkest before the sun rises
We're pretty sure they're all wrong
I hope it stays dark forever
I hope the worst isn't over
And I hope you blink before I do
Yeah I hope I never get sober
And I hope when you think of me years down the line
You can't find one good thing to say
And I'd hope that if I found the strength to walk out
You'd stay the hell out of my way
I am drowning
There is no sign of land
You are coming down with me
Hand in unlovable hand
And I hope you die
I hope we both die


P.S.: The Mountain Goats - No Children (aus dem Album "Tallahassee", 2003). Es geht kaum größer. Das wollte ich 
nur mal gesagt haben.

24.02.2008

"Haste Schon Gehört?"


Auflistungen mit dem Titel "Beste Songs des Jahres" sind schon so immer einer Sache: meist lassen sich dort ja doch nur die vermeintlich besten Tracks aus den jeweils besten Alben des Jahres blicken, und das wirft schon ein wenig die Sinnfrage auf. Dennoch gab es zumindest in meiner Wahrnehmung dieses Jahr den ein oder anderen Tune, der auf diesem Blog bisher noch keine Erwähnung erfuhr, mir aber dennoch sehr oft durch den Gehörgang rauschte. So oft sogar, dass ich nicht umhinkomme, eine kleine Auswahl in meiner Bestenliste zu präsentieren.

Danach ist aber wirklich Schluss mit dem Listenkram, versprochen.



01 Apparat (feat. Raz Ohara) - Hold On (Chris De Luca Vs. Phon.O-Remix)
"Get Off"-Prince trifft "Sexy Back"-Timberlake. Muss man laut hören, am besten nachts um vier, mit klatschnassen Klamotten, auf der Tanzfläche. Hätte sowas wie der ultimative Sommerhit 07 werden können, und das nicht nur für meine geschätzten Leser.


02 Yoko Ono  - Every Man Every Woman
Jeder meiner selbst zusammengestellten Sampler des Jahres 2007 begann mit diesem Song: Yoko Ono hat für ihre aktuelle Platte "Yes, I'm A Witch" ihre teils bis zu 25 Jahre alten Songs von aktuellen Künstlern remixen lassen. Das einzige Element, das bleiben durfte, ist ihr Gesang. "Every Man Every Woman" verwandelte sich unter der Bearbeitung von Blow Up zu einem hippen, taufrischen Dancefloorstomper, der den Innovationswillen der Künstlerin eindrucksvoll untermauert. Ein beeindruckendes Statement.


03 Battles - Atlas
Das Lied der Schlümpfe in einer atemberaubenden Neufassung. Battles schaffen es seltsamerweise nie, mich mit ihren Alben zu überzeugen, aber "Atlas" ist ein großartiger, verwirrter, selbstbewusster Ohrwurm Deluxe.


04 Brazzaville - 1983
Wenn man die Definition von "Tolle, aber völlig untergegangene Platte" benötigt, sollte man "East L.A. Breeze" der Exil-Spanier Brazzaville etwas näher betrachten. Traumhafter, souveräner Indiepop, dazu mit "1983" einen Song im Köcher, der an endlos lange, weiße Sandstrände und mächtige, schattenspendende Palmen erinnert. Perfekt.


05 Gudrun Gut - Rock Bottom Riser
Auch über "Rock Bottom Riser" wurde meinserseits schon so einiges gesagt. Für mich ist die flirrende, leicht angeschrägte Coverversion des Smog-Songs das Highlight auf Gudruns Debut-LP "I Put A Record On". Landete ebenso auf praktisch jeder meiner Song-Zusammenstellungen des Jahres.


06 Black Rebel Motorcycle Club - Weapon Of Choice
Das Album "Baby 81" schlitterte haarscharf an meiner Top 20 vorbei, nichtsdestotrotz lassen sich auf dem nunmehr vierten Album einige saucoole, schnoddrige Songperlen finden. "Weapon Of Choice" ist nur ein Beispiel dafür.


07 Redshape - Alone On Mars
Mir ist Redshape bishweilen etwas zu direkt und straight, aber "Alone On Mars" entwickelt sich über knapp neun Minuten zu einem trippigen und treibenden Vorzeigetrack, der sich zwischen futuristischen Sci-Fi-Sounds und einer mystischen Schwebeästhetik entlang schlängelt. Genau dieser Gegensatz macht "Alone On Mars" so besonders und wertvoll.


08 David Judson Clemmons & The Fullbliss - Our Houses
Auch hier würde ich so langsam Eulen nach Athen tragen, würde ich nochmals auf die Größe von Clemmons aktueller scheibe "Yes Sir" hinweisen. Also machen wir's es kurz:"Our Houses" ist Melancholie in Vollendung, gespielt von einem, der ganz genau weiß, was er tut.


09 Claude VonStroke - Who's Afraid Of Detroit (Deepchord Remix)
Ein zusammengebrutzelter, knietiefer Technotrack, der sich herrlich reduziert durch ein im Nebel liegendes, 150 Quadratkilometer großes Maisfeld (in Downtown Detroit, natürlich) kämpft. Irgendwie verschwommen, urban und dunkel. Für zwölf Minuten und eine Handvoll Pillen.


10 Gui Boratto - Beautiful Life
Ich wiederhole mich, aber alles egal jetzt: "Beautiful Life" ist vertontes Zitroneneis mit Sahne. Ein strahlender, positiver, lebensbejahender Song, eine der absoluten Sternstunden des Jahres.


Und jetzt, auf zu neuen Ufern!


21.02.2008

Platz 1



Vladislav Delay - Whistleblower

Noch nie zuvor fiel mir die Wahl zum Album des Jahres so schwer wie in 2007. Ich schreibe das nur schonmal vorab, um ein Gefühl dafür zu vermitteln, wie rastlos ich in den letzten Tagen mit dieser Frage umging. Theoretisch hätte 2007 zwei erste Plätze verdient gehabt, aber praktisch ist das ja ein ziemliches Herumgeeiere, ein fauler Kompromiss. Also, Augen zu und durch.

Seit sage und schreibe März steht "Whistleblower" nun im CD-Wechsler, und die Frage, dieses bewundernswerte Album ins Regal zu stellen, stellte sich seitdem nicht ein einziges Mal. "I Saw A Polysexual" war vorab der Auslöser für meine Neugier auf diese Musik: seltsam gebrochene Beats, die eigentlich keine Beats waren, vielleicht ein Puls, aber eben doch eine Art Groove ergeben, wie ich ihn noch niemals zuvor hörte. Der endlos tiefdröhnende Bass, der seinen Platz wie ein König einnahm und die Vasallen in unterirdischen Minen dirigierte, drangsalierte, ja möglicherweise gar folterte. Und nach sieben Minuten verschmilzt dieser schemenhafte Geist aus Feuer, Glut und ätzendem Qualm in eine Figur aus Fleisch und Blut, plötzlich ist alles klar. Und wir wissen trotzdem nicht, wie der König das jetzt hingezaubert hat.

Man weiß sowieso so wenig.

Woher die teils gar nicht mal so unterschwellige Aggressivität in Delays Musik herkommt, beispielsweise. Der sich durch die überlangen Tracks (Delay benötigt für sieben Songs knappe 70 Minuten) ziehende Soundteppich, das Grundrauschen beruhigt die Musik eher, als dass er die Säbel rasseln lässt. Und dennoch kommen mir bisweilen Bilder in den Kopf, die nichts von Blümchensex bei Schwebemusik erzählen, sondern recht martialisch und kämpferisch erscheinen, die von harter Arbeit berichten. Ein sehr persönliches Erlebnis geschah im Frühjahr des letzten Jahres, als ich zu der Musik von "Whistleblower" in der warmen Badewanne hinwegdöste und in meinem Halbschlaf Bilder von kleinen Gestalten in einem menschlichen Körper entdeckte, die mit kleinen Spitzhacken und elektrischen Bohrern und anderen Gerätschaften Krebszellen abbauten und bekämpften. Hier manifestierte sich das weiter oben beschriebene Bild von Minenarbeitern in diesem Traum und auch wenn es sich für den ein oder anderen reichlich far-out anhören mag: das war eines der schönsten und wichtigsten Erlebnisse mit Musik der letzten 10 Jahre. Nicht nur aus diesem Grund ist Vladislav Delays "Whistleblower" für mich das strahlendste, großartigste Album des letzten Jahres, und eines der bemerkenswertesten Scheiben des bisherigen Jahrzehnts.

18.02.2008

Platz 2



The Sea And Cake - Everybody

Ich könnte The Sea And Cake gar nicht genug in den Himmel loben. Seitdem ich vor fünf Jahren zum ersten Mal Bekanntschaft mit der Musik des Quartetts machte, sind sie mir mehr als nur ans Herz gewachsen. Meine Einstiegsplatte hieß "Oui" und hatte mit "All The Photos" einen Song an Bord, der künftig stellvertretend für meine Verehrung stand. Nach vier langen Jahren Pause kehrte die Band aus Chicago im Mai dieses Jahres mit einem neuen Album zurück ins Rampenlicht. "Everybody" entpuppte sich nach der üblichen, kurzen Eingewöhnungszeit nicht nur als ungewöhnlich rockige Platte, sie stellt auch nahezu alles in den Schatten, was die Musiker in ihrer an Höhepunken sicher nicht armen Karriere veröffentlichten. Ihr Anspruch, in dem zugegebenermaßen begrenzten stilistischen Rahmen um die Fixpunkte Jazz, Indie und Pop, immer wieder die besten Songs aufzunehmen, die sie zur Zeit in der Lage sind zu schreiben, findet hier seine Vollendung. "Everybody" ist atmosphärisch geradezu beängstigend stimmig und bekam tatsächlich die schönsten, wärmsten, straightesten und zeitgleich vielschichtigsten Songs geschenkt, die je auf einer Sea And Cake Platte zu finden waren. Sänger Sam Prekop, der erneut mit seiner halb-lasziven, halb-schüchternen, gehauchten Stimme zu jeder Sekunde die passenden Worte und Melodien findet, betonte in Interviews zu "Everybody";"It's a rock album.". Was man eben in Sachen Rock von dieser Band erwarten kann.

Als ich kürzlich im Rahmen dieses Countdowns die Scheibe nochmal in den Player schob, um sicher zu gehen, dass ich hier auch bloß keinen Blödmist erzähle, waren Songs wie "Exact to Me" mit seinen perkussiven, afrikanisch-angehauchten Gitarrenfiguren, die laue Sommerabend-Hymne "Middlenight" und der unbeschwerte, lebensfrohe Opener "Up On Crutches" um ein Haar dafür verantwortlich, dass "Everybody" mit meiner eigentlich gesetzten Nummer eins die Plätze tauschte. Mir geht immer das Herz auf, wenn ich diese durch und durch fantastische Platte höre.

Hört mehr The Sea And Cake!

14.02.2008

Platz 3



Seaworthy - Map In Hand

Eine der großen Entdeckungen des Jahres 2007. Ein musikalischer Balsam, der sich über jede Nervenbahn deines Körpers legt, streichelnd und zärtlich. Und das mit minimalstem Aufwand, möchte man meinen: das australische Trio hat im Grunde lediglich rings um hin- und herwogende Fieldrecordings, sowie Natur- und Windgeräusche spartanische Bambushütten aus dürren Gitarrenimprovisationen und surrenden Feedbacks erbaut, das war's. Das Ergebnis hingegen ist so erfüllend, so reich an Stimmungen und Gefühlen und geradezu überschwenglich bildhaft, wie man es von der beschriebenen Methodik gar nicht recht erwarten möchte. "Map In Hand" fließt unaufhaltsam, geradezu sirupartig zur Körpermitte und entfaltet hier seine heilende Kraft, seine schützende Wärme. 'Natürliche Schönheit kommt von innen', lautete vor Jahren ein Werbeclaim eines Kosmetikherstellers, den man ohne Weiteres auch auf dieses wunderbare, leise Stückchen Musik anwenden könnte.

Es ist für mich immer wieder verblüffend, wie präsent diese eigentlich ätherische Musik ist, wie sie zu jeder Sekunde strahlt, wie intim sie werden kann, wie sie ohne ein Wort zu sagen Geschichten voller Liebe erzählt. Pure Poesie.

10.02.2008

Platz 4



Fennesz/Sakamoto - Cendre

Schon im Mai 2007 war klar, dass "Cendre" einen der vorderen Plätze meiner Jahrescharts einnehmen wird. Die zweite Kollaboration des japanischen Pianisten Ryuichi Sakamoto mit dem Elektronik-Minimalisten Christian Fennesz nach der gemeinsamen "Sala Santa Cecilia"-EP aus dem Jahre 2005 hat mich praktisch ab der ersten Sekunde an den Kopfhörer gefesselt. Es überrascht, wie sehr sich die Pianoarbeit Sakamotos und der hier zerrupft-noisige, da sanft fließende Fennesz'sche Klangteppich auf Augenhöhe begegenen, ohne jemals in einen eitlen Konkurrenzkampf um die Vorherrschaft ein zu treten. Mal tupft der Pianist seine Töne nur vage in das funkelnde Hintergrundsurren des Österreichers ("Kokoro", "Glow"), mal lässt er mit seiner linken Hand kleine Melodieminiaturen erkennen ("Haru"), die von Fennesz empfangen und in den Gesamtsound weitergeleitet werden. Das Ergebnis bleibt indes gleich: die beiden Künstler sprechen durchgängig eine Sprache, sie teilen eine Vision einer zutiefst melancholischen Musik, die meilenweit von Kitsch einerseits und Hoffnungslosigkeit andererseits entfernt ist. "Cendre" ist introspektiv, hört hinein, erkennt Schatten und will sie ausdrücklich nicht auflösen. "Cendre" will erstmal, dass Du sie überhaupt annimmst. Das ist der erste Schritt.


P.S. Und ist dieses Artwork von Jon Wozencroft nicht zum Schreien schön?


05.02.2008

Platz 5



Gudrun Gut - I Put A Record On

Jedesmal, wenn ich das Solodebut der Berlinerin Gudrun Gut auflege, fällt mir auf, was für ein elend starkes Album "I Put A Record On" ist. Vor allem atmosphärisch ist der Longplayer der blanke Wahnsinn. Die erste Single "Move Me" gibt mit Tango-Flair den Startschuss in eine schwüle, verschwitzt-flirrende Musik, die schwerelos durch wabbelndes Soundgesumme hindurchschwebt, über Clubbeats stolpert und mit Boogie-Woogie einen One Night Stand in einem Berliner Abrisshaus hat. Bei aller Vielseitigkeit der insgesamt elf Songs (darunter eine atemberaubende Coverversion des Smog-Songs "Rock Bottom Riser") behält Gudrun stets einen vibrierenden, flimmernden Großstadtvibe bei, ohne dabei penetrant den mittlerweile ärgerlichen Berlin-Hype zu bedienen. "I Put A Record On" ist stylish, dabei aber sympatisch und sehr natürlich. Ganz selbstverständlich geil.

02.02.2008

Platz 6



!!! - Myth Takes

Meine Sommerplatte 2007 kam von dem Musikerkollektiv !!! und selbst jetzt, im kalten und grauen Januar kommt einem beim Anhören von "Myth Takes" nur ein Bild in den Sinn: ein angesagter, stylischer und voller Club in einer heißen Julinacht, zuckende Leiber und das gute Gefühl, dass nichts, aber auch so rein gar nichts unsere Euphorie bremsen kann. Wir sind jung und wir leben. Und scheißrein: es geht uns gut.

Dass das legendäre WARP-Label seit einigen Jahren nicht nur einen weiterhin guten Riecher für elektronische und experimentelle Musik hat, sondern auch in Sachen Indierock expandiert, dürfte spätestens seit Maximo Park bekannt sein. !!! platzieren sich stilistisch zwischen Funk, Elektronica und ebenjenem Indierock, mit so manchem Querverweis zum Soul und zur Post-Punk Szene der frühen achtziger Jahre und deren "Anführern" The Talking Heads. Die drei Singles "Must Be The Moon", "Heart Of Hearts" und "Bend Over Beethoven" stechen zweifellos heraus, aber nicht nur jene Highlights sind frisch und sexy wie Sau: schon das Eröffnungsduo mit dem schrägen Opener und Titeltrack und dem hektisch-flirrenden "All My Heroes Are Weirdos" lässt mich in der formschönen Feinripp-Unterhose über sämtliche Tische wackeln und das prickelnde Bad im Schampus nehmen. Selbst Sven "Feierei" Väth wackelt und badet mit; er bezeichnete den Vorgänger "Louden Up Now" als eine seiner Lieblingsplatten. Das läuft zugegebenermaßen unter der Rubrik "Vermischtes & Triviales", zeigt aber auch, dass !!! nicht nur für Rockfans interessant sind, die den letzten Trentemöller-Schnarchsack "The Last Resort" hören und sich dabei sehr open-minded fühlen.

01.02.2008

Platz 7



Gui Boratto - Chromophobia

Der Mitschnitt vom Gui Boratto-Set auf der Kölner Kompakt-Labelparty war der Anfang vom Ende meines Widerstands gegen ein Genre, für das ich früheren Zeiten keinerlei Verständnis aufbringen konnte. Im Wortsinn. Aber das...eine extatische, mitreißende Musik, die mich ab der ersten Sekunde mit positiv geladenen Teilchen beschoss und so hell und lebensbejahend wie drei Kugeln Zitroneneis bei 38°C schmeckte. Beim darauffolgenden Album "Chromophobia" war es dann ganz um mich geschehen, ich musste dem Techno "Guten Tag!" sagen.
Verblüffend, wie der Brasilianer eine Musik, die wahrlich nicht für den Tonträger gemacht wird, so lebhaft und spannend auf sage und schreibe 70 Minuten präsentiert, ohne dass einem, wie bei manch anderer Scheibe des Genres, die Füße einschlafen. Wo andere aufhören, fängt Boratto erst richtig an. Nicht nur die offensichtlichen Tanzflächenfeger "Terminal" "Mr.Decay" oder das absolute Highlight "Beautiful Life" treffen ins Schwarze, für mich sind insbesondere die ungewöhnlicheren Tracks wie das durch die Tiefsee tauchende "Acróstico", das aufgrund seiner geradezu opulenten Melodie haarscharf am Kitsch entlangschrammende, trotzdem subtil groovende "Xilo" oder der starke Titeltrack (Hypnose, verdammt!) die für dieses Album unverzichtbaren Helden, die letztendlich dafür verantwortlich sind, dass "Chromophobia" auch heute noch regelmäßig seine Runden im Player dreht. Ganz Außergewöhnlich.


29.01.2008

Platz 8



Xiu Xiu Larsen - ¿Spicchiology?

Ein klitzekleines bisschen geschwächelt hat sie im Jahresverlauf ja schon, die zweite Kollaboration der US-amerikanischen Avantgarde/Post-Pop-Band Xiu Xiu mit den Italienern von Larsen. Was zugegebenermaßen weniger an " ¿Spicchiology?", als an einer sehr starken zweiten Jahreshälfte lag. War das Album zur Jahresmitte sogar mal Anwärter auf den begehrten Thron, hat es sich nun immerhin noch souverän in den Top Ten platziert .

Das dunkel-schimmernde Werk ist sicherlich die zugänglichste Arbeit, die Xiu Xiu-Sänger und -Tausendsassa Jamie Stewart mit seinen Freunden bisher präsentierte. Auf Songbasis ist das wunderbare "Little Mouse Of The Favelas" das bestes Beispiel für diese Feststellung: ein verträumtes, flackerndes, engumschlungenes Duett Stewarts mit Xiu Xiu-Sidekick Caralee McElroy, das durchaus für mehr Aufsehen hätte sorgen dürfen, als lediglich unter einer Handvoll Connaisseuren heiß und innig geliebt zu werden. Die zweite Hälfte von "¿Spicchiology?" verlässt den Pfad der Versöhnung indes etwas und bietet besonders mit dem Ambient-Track "What About Dwarves?" und dem überlangen "The Tale Of Brother Cakes And Sugar Dust" (mit Klangschalen, Gongs und Akkordeon verfeinert) jene Art der Bewusstseinserweiterung, die man - wenn auch in weitaus schrofferer Form - von den frühen Xiu Xiu-Alben gewohnt ist. Vor allem letztgenannter Song ist der alles überstrahlende, sich unentwegt nach oben schraubende Schlusspunkt einer durch und durch sympatischen und famosen Platte.