30.01.2011

2010 #7 - Zola Jesus °° Stridulum II

Im Reich der Düfte sagt man, es gäbe zwei Merkmale, die ein gutes Parfum ausmachen: Melancholie und Mystik. Legt man diesen Maßstab auf "Stridulum II" an, handelt es sich entsprechend um ein gutes Parfum, Blödsinn: eine gute Musik, denn wenn dieses Debut (rechnet man einige Kollaborationen mit Aurora Borealis, Sacred Bones und Die Stasi nicht mit ein) von zwei Attributen geprägt wird, dann sind es - genau: Melancholie und Mystik. 

Zola Jesus ist in erster Linie die Stimme von Nika Roza Danilova, einer professionell ausgebildeten Opernsängerin aus Wisconsin, die unter der Leitung von Produzent Alex DeGroot neun Songs für ein dunkel schimmerndes, waviges Synthie-Pop Album aufnahm, das mich auch heute noch mit einigen Fragezeichen zurücklässt. Zum einen halte ich mich für gewöhnlich von allem, was auch nur im Entferntesten auf die Schublade "Gothic" hinweist, so fern wie ein Kaninchen vor einem Wolfsrudel - wir sind praktisch natürliche Feinde. Wenn nun der geneigte Leser angesichts meiner bekannten Dead Can Dance-Verehrung fröhlich die Hände zusammenpatscht, weil die ja schließlich die Blaupause für alles, was auch nur im Entferntesten auf die Schublade "Gothic" verweist seien, sehe ich mich durchaus in Erklärungsnot. Die einfachste Variante wäre jetzt wohl zu sagen, dass Dead Can Dance für mich nichts dergleichen symbolisieren und weil es nicht nur die einfachste, sondern auch die wahrhaftigste Antwort ist, spiele ich den Joker also nun aus. Hätten wir's dann? 

Denn auch die Musik von Zola Jesus ist auf den ersten Blick nicht frei von entsprechenden Verweisen, was mir mein direkt am Schallgesims fest installierter "Anti-Gothic"-Geigerzähler mehrfach bestätigte. Nachdem ich feststellen musste, dass das Suchtpotential von "Stridulum II" über die letzten Monate geradewegs erschreckende Ausmaße angenommen hat, war ich mir selbst gegenüber in Erklärungsnot. Eigentlich dürfte ich das per se gar nicht hören, andererseits war's mir gerade, pardon, scheißegal! 

Zum anderen habe ich aus dieser Frage resultierend echte Kategorisierungs- und Definitionsprobleme. Die allgemeine Stimmung auf "Stridulum II" ist romantisch und surreal, alle Strukturen und Melodien sind im dicken Nebel versunken. Schemenhaft wie eine Galeere, die wie von Geisterhand bewegt wird, treibt die Musik über einen unsichtbaren Untergrund, stolz und majestätisch. Es ist ein merkwürdiger Zwiespalt aus der sich vor allem in der Stimme zeigenden und wie in Beton gegossenen Stärke und einer zeitgleich unkonkreten, verschwommenen Verheißung derselben. Derselbe Gegensatz ließe sich auch auf das Wechselspiel von Licht und Schatten anwenden. Könnte zunächst der Eindruck die Oberhand gewinnen, Zola Jesus präsentieren hiermit den Soundtrack für die nächste Weltuntergangsparty, so schleppend und depressiv Songs wie "I Can't Stand" wirken, fiel für mich der Groschen, nachdem ich mich der Anziehungskraft dieser Musik nicht mehr entziehen konnte und wollte: Zola Jesus ist eine Kämpferin des Lichts. Die Kraft in ihrer messerscharf inszenierten Stimme kann unmöglich für den Untergang taugen. Sie treibt an, sie inspiriert, sie ist das hellste Licht, das diese trüben Tage erhellt. Ein Lebensspender.

Erschienen auf Souterrain Transmissions, 2010.

27.01.2011

2010 #8 - Demdike Stare °° Liberation Through Hearing

Hier ist pechschwarze Nacht. Gischt spritzt dir ins Gesicht, ganz fein und auf der Haut kaum spürbar. Aber du fühlst sie selbst wenn du schon lange nichts mehr fühlst, und was du damit in deinem Kopf verbindest, ist nichts Gutes. Irgendwo weit draußen rauscht ein Fluss, vielleicht ist er aber auch nur ein paar wenige Zentimeter entfernt, ein stetig an- und abschwellender Beweis der zerstörerischen Kraft des Wassers, das Leben spendet und Leben nimmt, einfach so. Wasser ist sehr viel machtvoller, als wir es wohl jemals begreifen werden: es hält sich in den Zwischenwelten auf, und wer kann schon deuten, wer oder was die Entscheidung über Leben und Tod in diesem abgeschlossenen System trifft, und sei es nur der schnöde Zufall (den es bekanntlich gar nicht gibt). Dazu ist ein konzentrierter Strudel wahrnehmbar, der in das vermeintliche Nichts führt, das zwischen fester Materie und gelöster Energie keinen Unterschied mehr macht - warum auch? Ich spüre plötzlich einen schmerzenden, pumpenden Druck auf der Brust. Wie arrogant Schmerz sein kann und wie zermürbend die Kommunikation mit ihm ist. Es ist immer eine Einbahnstraße, die dumme Sau lässt einen links liegen, immer. Und aus dem Reich der Götter höre ich nichts als höhnisches Lachen über meinen Versuch auf den Beinen zu bleiben, während die Mauern des Lichts auf der einen und jene des Schattens auf der anderen Seite immer näher heranrücken, und der Boden unter dem, was eben noch meine Füße waren, zu einem wachsweichen, zersetzenden Sumpf wird.

Ich bin schon lange nicht mehr ich, ich war und bin an allen Orten und in allen Zeiten und in allen Dimensionen gestorben und geboren. Und wo die Toten tanzen, sich das Echo im endlosen Raum vereint und die Geisterfaust regiert, da liegt die Freiheit im wärmenden Schein des süßen Nichts.

Erschienen auf Modern Love, 2010

24.01.2011

2010 #9 - Nik Bärtsch's Ronin - Llyria

Der Schweizer Pianist Nik Bärtsch schießt nun mit der dritten Platte in Folge in meine Jahresbestenliste, und ich hatte wenigstens in diesem Jahr ehrlicherweise nicht wirklich damit gerechnet. Während das ECM-Debut "Stoa" aus dem Jahr 2006 für mich zu den großen musikalischen Erweckungserlebnissen der jüngeren Vergangenheit zählt, war der Nachfolger "Holon" aus dem Jahr 2008 zwar qualitativ immer noch sehr gut, im Nachgang aber an der ein oder anderen Stelle einen Tacken zu straight, vielleicht zu klar. Außerdem langweile ich mich dummerweise sehr schnell, und das Grund-Korsett von Ronin ist nun nicht derart komplex geschnürt, als dass ich hiervon wirklich jede einzelne Veröffentlichung benötigen würde. Was tatsächlich und ausschließlich mein Problem ist und nicht das von Nik Bärtsch. Aber das nur am Rande. 

Auf der anderen Seite fällt mir partout niemand ein, der auch nur im Ansatz ähnlich klingt wie dieses sensible Quintett, was in der Folge selbst die Wiederholung der Wiederholung noch spannend machen kann. Trotzdem: ich wollte "Llyria" zunächst nicht hören, wer weiß, vielleicht versaut es mir durch irgendeine blöde Geschichte sogar noch "Stoa". Aber es kam anders (was spätestens jetzt logisch ist, sonst wäre wir ja nicht hier im Sinne von hier, Blog, Huiui, verstehste? Und die Platte auch nicht und - Guten Tag, Auf Wiederbums!). Das Münchener ECM-Label hatte ein Einsehen und veröffentlichte mit einiger Verspätung zum CD-Release "Llyria" als Langspielplatte und da konnte ich dann - aller Vorbehalte zum Trotz - nicht mehr widerstehen. Ist schon doof, seine Kaufentscheidung vom Medium abhängig zu machen, ist es nicht? Ja, ist es wohl.

Ich bereue es zu keiner Sekunde, denn Ronin hat mich wieder versöhnt, vorausgesetzt, es bestand überhaupt jemals Bedarf an einer Versöhnung. Die fünf Musiker haben wieder den großen Zeichenstift und den Superkleber herausgeholt. Mit letzterem fixieren sie die Zeit. Wer sich auf "Llyria" einlässt wird ineinen mehrdimensionalen Lichtkreisel hineingezogen, in dem alles im Fluss ist und gleichzeitig alles stillsteht. Diese Musik besteht aus mehreren Ebenen, alle sind miteinander verbunden und doch völlig autark. Jede Ebene hat ihre eigene Realität, ihre eigene Farbe, ihre eigene Struktur, sogar ihren eigenen Duft. Es erscheint wie ein blühendes, pulsierendes Vakuum, in dem die Regeln aufgehoben sind, in dem das Streben nach Entwicklung und Kontinuität sich selbst bekämpft. Den Zeichenstift benutzt die Band, um wie geistesabwesend und versunken ihre Vorstellung von klanglicher Architektur zum Leben zu erwecken. Der Beginn von "Modul 53" illustriert möglicherweise am besten, was ich meine: als stünden sie vor einer großen Leinwand, versunken in Winkeln, Ecken, Kammern, einfühlsam und dialogfreudig auf der einen, dabei aber so souverän und triumphierend selbstbewusst auf der anderen Seite. Und alle prüfen unentwegt das gezeichnete Bild, die Struktur, die Beweglichkeit und die Standfestigkeit, jeden einzelnen Milimeter dieses Entwurfs. Damit überprüfen sie logischerweise und in erster Linie sich selbst und die eigene Beweglichkeit. Und wie sie sich bewegen. Ronin würden selbst in Schuhen aus Blei den Rudolf Nurejew mit nie dagewesener Anmut und Leichtigkeit tanzen.

Erschienen auf ECM, 2010.

17.01.2011

2010 #10 - Electric Wire Hustle °° Electric Wire Hustle

Wir starten mit einer Platte in die Top Ten, die seit ihrer Veröffentlichung im Sommer 2010 in einigen (Underground-)Kreisen mächtig Staub aufwirbeln konnte. Dieses 2007 gegründete Trio aus Neuseeland machte erstmals durch die Beteiligung an Gilles Petersons "Brownswood Bubblers"-Reihe (Vol.5) auf sich aufmerksam. Der beigesteuerte Track "They Don't Want", der später auch als eigenständige 7-Inch Single in den Handel gelangte, machte mich ehrlich gesagt ziemlich wuschig - gar so wuschig, dass ich für die kleine 2-Track-Single mehr Geld ausgab, als vormals für so manche LP. Als das vollständige Album dann im Player rotierte (hier muss ich notgedrungen auf die schnöde CD zurückgreifen), war klar: "They Don't Want" ist keine Eintagsfliege.

Die Kiwis haben es sich zwischen Hip Hop, Downbeat, NuSoul, Jazz, Broken Beats und Marihuanaplantagen gemütlich gemacht und ästeln sich durch ein größtenteils tief pumpendes Beatgestrüpp, dessen Ansatz in manchen Momenten an den großen JDilla erinnert, bevor sich Marvin Gaye im Fernsehsessel die neuesten Errungenschaften auf dem Feld der Erwachsenenerotik anschaut. Das Trio präsentiert einen aufreizend lässigen Sound, der durch die butterweiche Stimme von Mara TK noch smoother und dickflüssiger wird. Was gerade er auf diesem Album abliefert ist sensationell und stellt den ein oder anderen gehypten Schmalzbatzen humorlos in die Ecke. Das endet mal in wahren NuSoul Perlen wie dem bereits erwähnten "They Don't Want" oder dem leicht melancholischen "Tom Boy", mal in einem nokturnen Ambientstampfer mit übergeleimter Drum'n'Bass Raufasertapete wie "Chaser" oder gar in einer Soulrockhymne ("Burn" - inklusive sympatischem Statement gegen Nuklearwaffen). Und die ebenfalls auf diesem Blog mal gastierende Stacie Epps darf den ätherischen Spiritual-Groover "Walk On" verzieren.

Die Atmosphäre ist dunkel, schwül, glühend. Es pulsiert, es ist sexy. Es lebt. Ein fantastisches Debut. Warum ist die Scheibe eigentlich in keiner (weiteren) Bestenliste aufgetaucht? Vergisst dieses Scheißinternet am Ende wirklich so schnell?

Erschienen auf BBE Records, 2010

14.01.2011

2010 #11 - Thee Silver Mt. Zion Memorial Orchestra °° Kollaps Tradixionales

Aufmerksamen Lesern meines Blogs (im hinteren Teil des Satzes ist ein Oxymoron versteckt!) wird es wie Schuppen vom Pimmel, Quatsch: von den Augen fallen: Postrock als Genre hat mit dem Godspeed You! Black Emperor-Schwanengesang "Yanqui U.X.O." aus dem Jahr 2002 seinen Höhe- als auch Schlusspunkt gefunden. Danach hätte die komplette Schublade wegen mir und meiner Muddi den Laden schön dichtmachen können, denn seien wir ehrlich, danach war ja plötzlich alles egal. Ich sage das jedes Jahr mindestens acht Mal und "jedes Mal wird dieser Satz richtiger" (Schmidt), nur dieses Jahr ist er ausnahmsweise - genau - verkehrt. Eigentlich war er schon vor 5 Jahren verkehrt, als "Horses In The Sky", das vierte Album des ehemaligen (und heute emanzipierten) Godspeed-Nebenprojekts Thee Silver Mt. Zion Memorial Orchestra erschien, aber das schreibe ich besser nicht, das würde mich ja total unglaubwürdig machen, 'zefix!

Jedenfalls: "Horses In The Sky" war genau der richtige Schritt in eine künstlerisch rosa ausflockende Zukunft. Erstmals wurde auf jedem Stück eines Silver Mt.Zions Albums gesungen, was der Band viel mehr Eigenständigkeit und in Bezug auf die zu transportierende Message durchaus noch mehr Relevanz verleihen konnte, außerdem entzauberten sie das Dogma, dass Postrock unbedingt Instrumentalmusik sein müsste, indem sie sich davon entfernten. Die Entscheidung half wenigstens in meiner Wahrnehmung auch dabei, die Abgrenzung zur vermeintlichen Hauptband zu verstärken. Also ließ ich mich nochmal breitschlagen und musste zugeben, dass Postrock, was immer er mal war, ist oder genau sein wird, eben doch noch einen spürbaren Herzschlag hatte. Der jedoch drei Jahre später offenbar für mich nicht mehr zu fühlen war, da ich das 2008er Album "13 Blues for Thirteen Moons" absichtlich mit Ignoranz strafte. Gibt es eigentlich auch unabsichtliche Ignoranz? 

Wie soll ich's bloß sagen...? Auch "Kollaps Tradixionales" stand zunächst nicht auf der Einkaufsliste, und es mag sich ganz schön gemein anhören, aber ich bin schon zuweilen der Überzeugung, dass es irgendwann dann auch mal reicht mit so einer Band, dass ich also nicht jedes Album brauche, eine Tour gleich gar nicht. Vielleicht geht das Hand in Hand mit meiner Verachtung für Zugabenrufer und -spieler: warum sollte sich der Schnabel nochmal öffnen, wenn alles, also so wirklich ALLES schon sehr lange, ausführlich und meinetwegen auch noch in einer angemessenen Lautstärke gesagt ist? Der Zufall spielte mir einige Monate nach Veröffentlichung dann doch noch die Vinylausgabe von "Kollaps Tradixionales" in die Hände, und an die Adresse derer, die jetzt wieder beide Hände über dem Kopf zusammenschlagen, weil's auf Vinyl/CD/MP3 doch nun weiß Gott nicht ankäme: Doch, da kommt's drauf an, wir sprechen da gleich noch drüber.

Die Kanadier hatten mich nach weniger als fünf Minuten wieder im Sack. "There Is a Light" ist als Opener so betörend schön und gleichfalls tragisch, so kraftvoll und ebenso resignierend, so triumphierend wie tödlich verzweifelnd, dass mir nichts anderes übrig bleibt, als den alten Postrock (Da! Schon wieder!)-Altar umgehend aus dem vor sich hin schimmelnden Keller zu holen. In den nächsten Minuten gibt sich das Orchester, wie bereits von "Horses In The Sky" gewohnt, rockiger als auf den Frühwerken, die einem ja auch heute noch wie Blei im Magen liegen können. Schwerverdaulich wäre hierfür eine glatte Untertreibung, aber die Zeiten sind vorbei. Silver Mt. Zion sind heute viel zugänglicher, ohne dabei ihre Aufrichtigkeit und Ernsthaftigkeit aufgegeben zu haben. Noch immer hört man in jeder angeschlagenen, geblasenen oder gezupften Note den Drang nach Kommunikation, nach Liebe und Verständigung auf der einen Seite und ebenso ist die Wut zu spüren, die Trauer und die Fassungslosigkeit gegenüber dieser Welt, die manchmal einfach nicht die unsere sein kann. Das verbindet und das spendet Trost. "Kollaps Tradixionales" erstrahlt in seiner kompositorischen Souveränität und mit seiner ausufernd romantischen und umarmenden Aura in schierer Größe und ich hätte wirklich nicht gedacht, dass ich solche Worte nochmal über ein Postrock-Album schreiben werde.

Erschienen auf Constellation, 2010

P.S.: Ich wollte es nur schnell gesagt haben, nicht, dass es hinterher wieder heißt, ich hätte es nicht gesagt: die Vinylausgabe von "Kollaps Tradixionales" erschien auf wunderbar schwerem Vinyl und auf dem noch wunderbarerern 10-Inch-Format und hat neben unendlich vielen Gimmicks, Bildern, Collagen, Texten, Grafiken, Poster und "weiß ich was" (Martha Lelek) auch noch eine kostenlose CD-Version des Albums ins Täschchen getackert (im übertragenen Sinn). Mir kommen angesichts von soviel der wunderbarsten Kunst fast ein bisschen die Tränen.

10.01.2011

2010 #12 - Oneohtrix Point Never °° Returnal

Diese Musik treibt entweder unter Wasser, oder sie schwebt durch das Weltall - auf der Erde ist sie jedoch nie. Ein klassischer Eingangssatz einer Musikexpress-Rezension, ich werde mich zu gegebener Zeit dafür noch ausreichend selbst züchtigen. 

Aber im Grunde stimmt's ja: "Returnal" ist tatsächlich viel zu ätherisch für feste Materie. Die, das sei gesagt, vom Albumopener sowieso und umgehend zu Klump geschlagen werden würde. "Nil Admirari" ist ein Orkan aus Lärm und Kratzern, aus Splittern und Explosionen, und er überrollt mich jedes Mal mit selten zuvor dagewesener Kraft und Macht. Die Zerstörung, die dieser Sturm anrichtet manifestiert sich in jedem Augenblick direkt vor den eigenen Augen, bevor die beiden folgenden Songs die wortwörtliche Ruhe nach dem Sturm darstellen. Sie versorgen die gerissenen Wunden, sie fügen die Scherben wieder zusammen. Ich sehne mich nach den ersten fünf Minuten des Chaos nach dieser heilenden Stille, und weder der Irrsinn noch die anschließende Ruhe verfehlen ihr Ziel. 

Die nachfolgenden Minuten gehören der Schwerelosigkeit, aneinanderklackernden Treibhölzern, wachsendem Moos aus dem Zauberwald und sich anrempelnden Sternen aus dem silbersten Silber, das jemals gehört wurde. Und ganz zum Schluss, wenn ein kleiner Hutzelzwerg im Fledderkostüm auf den Spuren von Fever Rays Karin Dreijer Andersson entlangwürmelt und eine von überrumpelnder Mystik gefärbte Stimme preisgibt und also aus einem schwarzen Spinnenkokon heraus die Worte schamanenhaft tanzen lässt, ist alles zu spät. 


Erschienen auf Editions Mego, 2010.

07.01.2011

2010 #13 - Leatherface °° The Stormy Petrel

Ich war wohl nicht der einzige, der Leatherface ein solches Album nicht mehr zugetraut hätte, aber ich war in der Folge auch nicht der einzige, der schnell einsehen musste, sich geirrt zu haben. Das Quartett um Frankie Stubbs hatte seit dem Album "Dog Disco" aus dem Jahr 2004 ihre Funkstille eingehalten, was sicherlich dabei half, die Band bereits in den ewigen Jagdgründen zu verorten. Aber Stubbs ist wie Herpes: er kommt immer wieder. 

Leatherface leiden immer etwas unter der Existenz der Klassiker in ihrer Diskografie: "Cherry Knowle" und vor allem "Mush" gelten auch 21, beziehungsweise 18 Jahre nach ihrer Veröffentlichung als endgültige Sternstunde der Briten - sowas ist für die weitere Karriere selten förderlich, weil jeder neue Ton an den Meilensteinen gemessen wird. Mein persönlicher Favorit war bisher "Minx" von 1993, wohl weil es damals meine erste Berührung mit Leatherface darstellte (Danke, Dirk!). 

"Horsebox" aus dem Jahr 2000 war nach einer fünfjährigen Pause eine positive Überraschung, während die erwähnte "Dog Disco" Langspielplatte bei den alten Fans nicht unumstritten war. "The Stormy Petrel" (mit einem traditionell beschämenden Coverartwork) ist somit die dritte Scheibe innerhalb von zehn Jahren und sie haben sich wirklich nochmal zusammengerissen. Gitarrist Dickie Hammond hatte laut einer vertrauenswürdiger Quelle schon im Herbst 2009 während der Angelic Upstarts-Tour von dem Album geschwärmt und konnte es selbst kaum glauben, dass sie nochmal eine solch hochklassige Sammlung von Songs schreiben konnten: im Grunde befinden sich auf "The Stormy Petrel" ausschließlich Hits. Hits, Hits, Hits. Man muss freilich schon eine Affinität zu ihrem Sound haben, meine Herzallerliebste bekommt nach eigener Aussage Halsschmerzen, wenn sie die Stimme von Frankie hören muss und verlässt grundlegend und unter Protest den Raum, in dem Leatherface läuft. Aber wenn man die krächzende Reibeisenstimme in sein Herz geschlossen hat, kommt sie da auch nicht mehr so einfach raus. 

Natürlich sind sie heute nicht mehr so laut oder schnell wie noch vor 20 Jahren, natürlich hört man der Stimme noch mehr als früher an, dass sie eigentlich total kaputt ist, natürlich lässt man es grundlegend ruhiger angehen. Aber ihre Melodien sind immer noch schlicht überragend. "God Is Dead" gerät mit leicht progressivem Einschlag als Einstieg überraschnd poppig, aber dann, ABER DANN! "My World's End", "Never Say Goodbye", "Another Dance", "Diego Garcia", "Disgrace", "Belly Dancing Stoat", "Isn't Life Just Sweet", "Hope" - allesamt sensationelle, hochmelodische Punkrocksongs mit enormen Tiefgang und grandiosen Hooklines, die dich künftig auf Schritt und Tritt verfolgen. Einzig das doch arg weichgespülte "Broken" will mir nicht so recht den Einlass in die Hall Of Fame finden, aber das ist bei der Qualität aller (!) übrigen Tracks durchaus zu vernachlässigen.

Es war ein toller Sommer mit dieser Platte.

Erschienen auf Big Ugly Fish, 2010

06.01.2011

2010 #14 - Andreya Triana °° Lost Where I Belong

Musik wie warmer, flüssiger Honig. Ein entspannter Ohrenschmeichler, der zu keiner Sekunde Höchstleistungen benötigt, um ein Maximum an Gefühl und Wärme zu schenken. Hier muss nicht zu gefälligen Beats abgefeiert und getanzt werden, das Publikum, das Winehouse und Duffy anhimmelt (und sich eigentlich immer noch nach Aretha Franklin sehnt), kann also zu Hause auf der Couch bleiben. 

Andreya Triana hat nach früheren Arbeiten mit Flying Lotus, Bonobo, Mr.Scruff oder Theo Parrish im Spätsommer 2010 endlich ihr Langspieldebut auf Ninja Tune veröffentlichen können. Als Produzent fungierte niemand geringerer als Simon "Bonobo" Green, nachdem Triana bereits auf dessen Alben ihre laszive, unprätentiöse Soulstimme zum Einsatz bringen durfte. Und was für eine Produktion das ist! Größtenteils mit echten Instrumenten live eingespielt und nur partiell mit einigen Samples aufgepeppt, begeistert "Lost Where I Belong" mit einem wunderbar warmen Klang, einer schwül-entspannten Stimmung und vor allem mit großen Souljazz-Songs. Melancholisch beispielsweise der Opener "Draw The Stars", der lyrisch die spirituelle Richtung für die komplette Platte vorgibt und musikalisch den größten Melodiebogen westlich der Wolga spannt. "X" setzt zum Schluss noch einen drauf und lässt selbst die schlimmste (sic!) Frohnatur zum wehmütigen Zitterklumpen werden, der sich auf den Boden eines gefüllten Whiskyglases wünscht: ein, zwei gnadenlos gut arrangierte Akustikgitarren, ein leise gestrichenes Cello und Andreyas Stimme, die mich tief in einen akustisch-virtuellen Wattebausch drückt - Wo habe ich eigentlich meine Johanniskrautpillen? Dazwischen darf es auch mal dezent lebhafter werden, aber sowohl Green als auch Triana selbst legen offensichtlich Wert darauf, dass aus Nanorissen keine Megabrüche werden. Der träge Latin-Groover "Up In Fire" beispielsweise, der so ein bisschen klingt als seinen die Bläser auf einer intravenösen Bachblüten-Hochdosistherapie hängengeblieben, ist ein Paradebeispiel, wie man das Feuer im Zaun hält, sodass die Hitze im Innern noch unerträglicher wird. 

Und ich brenne schon. Scheißrein, seit September stehe ich in Flammen. Ein Wahnsinn.

Erschienen auf Ninja Tune, 2010.

04.01.2011

2010 #15 - Antitainment °° Ich kannte die da waren die noch real

Gerade mal knappe (und extra kurzweilige) 24 Minuten benötigen die Bekloppten auf ihrem dritten Studioalbum, um den anderen Bekloppten da draußen das Hirn zu Apfelmus mit Kartoffelpuffer zu kloppen. 24 Minuten vollgepackt mit den tollsten deutschen Texten seit möglicherweise Trio (und was sie mich dafür hassen werden. Beide.), die dich und vor allem auch mich ganz schön doof da stehen lassen. Und immer wenn ich denke "Scheiße, jetzt haben sie mich erwischt!" und ich mich deswegen so richtig und vollständig rotzblöd fühle, weil jemand meinen eigenen Schwachsinn im Obergeschoss mit einem Flutlichtstrahler und einem simplen Handstreich öffentlich gemacht hat, dann kommt ein verkacktes Break über den Zaun geflogen, das all den Scheißdreck, mit dem ich mich die ganze Zeit beschäftige, vollends in der Bedeutungslosigkeit (oder in einem Osterfeuer, vgl. Kalifornien) verschwinden lässt. Und dann muss ich lachen. Am Ende wohl nicht in erster Linie über den Text an sich, sondern über meine Quadratdoofheit. Dabei kennen diese vier Wahnsinnigen mich gar nicht. 

Über die Musik muss man wohl keine weiteren Worte verlieren: "Übelster 90er Jahre Euro Dance im Stile der Kokainvernichtungsmaschinen Jam & Spoon oder auch Motörhead." (Intro, ...vielleicht)

"DAS IST KEIN PUNK, DAS RAFFST DU NIE!" - Also gut, Ihr seid der Messias!

Erschienen auf Zeitstrafe, 2010.

02.01.2011

2010 #16 - Scott Tuma °° Dandelion

Die ersten Minuten klingen wie ein Schnelldurchlauf durch die Jahreszeiten. Von am Fenster im Zeitraffer wachsenden Eiskristallen zum plötzlich in hellem Licht erwachenden und freundlichen Frühling, der in einen mit Vogelgezwitscher unterlegten Sommer übergeht. Und am Ende des Tages sitzt ein alter Mann mit Banjo auf der Veranda und spielt in den Frühherbst hinein. Je länger das Spiel dauert, desto mehr wird alles Eins. 

Der wahrgenommene Verweis auf die Launen der Natur ist kein Zufall: "Dandelion" ist eine Verbeugung vor der Größe und Macht des Lebens. Die splitternden Funken, die sich zwischen tiefen Drones und sich verflüssigenden Klangzungen abarbeiten, umschwärmen wie von einer unterirdischen Kraftquelle genährt den inneren Blutstrom. Gespeist aus Demut und Ehrfurcht, aus Liebe und Respekt. Tumas Musik lässt die Blicke ziellos werden, Gedanken ergeben sich der schieren Erhabenheit. Du stehst am Gipfel und schaust über die Welt, atmest ein, atmest aus. 

"Dandelion" ist rauh und ursprünglich. Wäre es Luft, sie hätte heilende Kräfte.

"Dandelion" ist Universum.

Erschienen auf Digitalis, 2010