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07.02.2019

Best Of 2018 ° Platz 14 ° Menagerie - The Arrow Of Time




MENAGERIE - THE ARROW OF TIME


Ich hatte "They Shall Inherit", das Vorgängeralbum dieses australischen Kollektivs, bereits vor über vier Jahren hier in diesem Blog präsentiert, damals noch mit der Anmerkung, die Platte zu spät für meine damaligen Jahrescharts entdeckt zu haben. Nochmal passiert mir das nicht! 

Dabei ist das keine Konzessionsentscheidung zugunsten des aktuellen Werks "The Arrow Of Time", denn die Platte steht mit ihrer Qualität für sich und wäre auch ohne das frühere Versäumnis bereit für die Top 20 des Jahres 2018 gewesen. Chef-Multitalent/-instrumentalist Lance Ferguson hat erneut nicht weniger als zehn weitere Musiker um sich geschart und um klassische Spiritual Jazz-Themen wie die Erforschung des Weltraums, die menschliche Entwicklung und, es darf ein großer Schluck aus der Pulle genommen werden: die Zukunft der Menschheit fünf Kompositionen gebastelt, die zwischen Space Funk, Spiritual und Modal Jazz zwar ohne den künstlerischen Größenwahn eines Kamasi Washington auskommen, aber dafür mehr in die Tiefe gehen als dessen etwas abgeschliffenen "Heaven & Earth" Brocken aus dem letzten Jahr. Herausragend vor allem der treibende Opener "Evolution" als einziger Vocal-Song mit dem predigerhaft agierenden Fallon Williams am Mikrofon, das funkig-peitschende und mit tollen Harmonien ausgestattete "Spiral", sowie der Abschluss "Nova", der dank des perlenden Pianothemas tatsächlich zunächst an moderne ECM Stars wie Nik Bärtsch erinnert, bevor ein an SunRa angelehntes Saxofon den Horizont erweitert. 

Ferguson betont, er sei in erster Linie von Labels wie Strata East, Tribe und Black Jazz inspiriert, wenn er Musik für Menagerie komponiert und beschreibt deren Sound auch über 40 Jahre nach deren Höhepunkten als noch immer zeitlos. Es gibt so oder so keine andere Musik als Jazz, dem die Zeit so gut wie nichts anhaben kann, und "The Arrow Of Time" ist in dieser Frage für die nächsten Jahrhunderte gewappnet: Frisch, deep, visionär. 


Pressung: ++++ (wahrscheinlich low-budget (1), aber ultraleise ohne Auffälligkeiten, kräftiger, voluminöser Sound, schwarzes Vinyl only)
Ausstattung: + (wahrscheinlich low budget (2): keine gefütterte Innenhülle, Cover nur schwarz/weiß, single LP, Texte auf dem Backcover)




Erschienen auf Freestyle Records, 2018.

30.03.2018

Best of 2017 ° Platz 3: Jordan Rakei - Wallflower




Platz 3: JORDAN RAKEI - WALLFLOWER


Im Oktober des letzten Jahres schrub ich an anderer Stelle über "Wallflower", das zweite Album des gebürtigen Australiers Jordan Rakei werde in der Jahresendabrechnung ganz sicher unter den ersten 5 zu finden sein. Nun ist es tatsächlich die Bronzemedaille geworden - und das ist, wie ich mir just in diesem Augenblick nochmal via Endlosschleife auf dem Plattenteller versichern lasse, nicht nur verdient, sondern sogar das untere vorstellbare Limit. Das ist eine sensationell gute Platte. 

Aufmerksam geworden bin ich auf den mittlerweile in London lebenden Multiinstrumentalisten bereits 2016. Das Coverartwork seines "Cloak" Debuts (erschienen auf Soul Has No Tempo), ein kunterbuntes und geheimnisvolles Gemälde von der kuwaitischen Künstlerin Zaina Al Hizami versprach wenigstens Interessantes - und ich sollte nicht enttäuscht werden. "Cloak" ist ein beeindruckendes Debut und zeigt bereits Rakeis Fähigkeit, aus rhytmisch raffinierten Kompositionen eingängige Refrains zu entwickeln. Fatalerweise war und ist die Vinylpressung von "Cloak" eine der furchtbarsten aller Zeiten, und so gab ich nach drei Versuchen (jeweils bei unterschiedlichen Mailorders bestellt) entnervt auf: die erste Lieferung hatte zwei Mal die A/B-Seite in der Hülle stecken, aber keine C/D-Seite - trotz Laminierung! Was zum Fick? Der zweite und dritte Anlauf sollte die negativen Kommentare auf Discogs bestätigen: ein einziges Kratzen, Schleifen und Springen. Ich habe wirklich noch niemals eine derartig miese Pressung gehört, aber das hält natürlich niemanden davon ab, "Cloak" immer noch zum Verkauf anzubieten. Ganz im Gegenteil, denn mittlerweile ist das Vinyl ziemlich rar geworden und kostet eine ordentliche Stange Geld. Augen auf beim Plattenkauf: so toll die Musik auf der Platte auch ist, ist hier ganz sicher ein anderes Format vorzuziehen. 



Die Vinylpressung von "Wallflower" hingegen ist fehlerlos und damit ganz so, wie man es von Ninja Tune erwarten konnte. Rakei ist mittlerweile zum britischen Spezialistenlabel für modernen Eklektizismus gewechselt und das macht Sinn: seine Musik zeigt Einflüsse aus Jazz, Rhythm & Blues, Hip Hop, Electronica, Soul und Reggae, die er hier noch mehr als auf "Cloak" zu einer homogenen, äußerst stimmungsvoll in Szene gesetzten Melange zusammenfügt. "Wallflower" ist nicht nur ernster und dunkler als der Vorgänger, es zeigt auch einen lyrisch deutlich intimere Seite des Musikers, der unglaublicherweise erst 25 Jahre alt ist: Rakei reflektiert in seinen Texten sein Leben als "Outsider" in sozialen, zwischenmenschlichen Situationen, zeigt sich auf "Wallflower" sehr persönlich und und wollte das auch im Coverartwork widerspiegeln: das Bild des kleinen Jungen mit dem überspannten Regenschirm ist der junge Jordan im australischen Brisbane:

"It's an image that's very personal to my family and me. It's a picture of me that used to sit in our house when we were growing up. Visitors would always comment on it. Because the album is so personal, I wanted to make sure I didn't overcomplicate the artwork. I was focused on portraying as much vulnerability as possible, and this photo definitely represents that."

Das fällt bei der Wohngemeinschaft Dreikommaviernull mit seinen ehemaligen Kindern des Grunge natürlich auf offene Herzen und geradewegs in sanft pulsierende Hosen: wir waren beide derart angetan von dem über Wochen auf heavy rotation laufenden "Wallflower", dass wir uns an einem kalten Novemberabend und nach einem wie gemalt maximal abgefuckten Arbeitstag ins 80 Kilometer entfernte Mannheim bewegten, um gemeinsam mit einer überraschend hohen Anzahl Besucher Rakei nebst seiner Liveband auf der Bühne zu bewundern. Wir würden es jederzeit wieder tun. In a heartbeat. 

Ich habe weiter oben von Rakei's "rhythmisch raffinierten Kompositionen" geschrieben und als Paradebeispiel kann, wenn nicht gar: muss "Sorceress" genannt werden; hier in einer leider nicht optimal aufgenommenen Liveversion aus New York. Es ist jedes Mal aufs Neue verwunderlich, wie prima das alles ineinanderfließt - und wie die Band es schafft, dabei nicht komplett auseinanderzufallen:




Und weil die Performance von "Talk To Me" beim letztjährigen North Sea Jazz Festival so umwerfend ist, gibt es das Video noch als extra Zugabe - auch wenn der Song vom Vorgängeralbum "Cloak" stammt. Was für ein Monsterdrummer das ist.



Erschienen auf Ninja Tune, 2017.


17.09.2017

November



SOLO ANDATA - IN THE LENS


Einer der härtesten Kämpfe, die ich Ende des vergangenen Jahres mit mir ausfechten musste, war die Entscheidung, "In The Lens" der australischen Band Solo Andata aus der Bestenliste 2016 herausplumpsen zu lassen, und wie so häufig schmerzt die über Tage und Wochen hin-, her- und aufgeschobene und also schlussendlich getroffene Wahl schon zweieinhalb Sekunden später. Wenn ich im Rahmen der Texte zu Purls "Form Is Emptiness" oder Warmths "Essay" davon schrieb, ganze Wochenenden mit diesen Platten verbracht zu haben und die Stopptaste nur zum Schlafen drückte, dann gilt ähnliches auch für dieses Album.

"In The Lens", erschienen auf dem beliebten 12k Label des Ambientmusikers Taylor Deupree, ist indes nicht so offensiv ohrenschmeichelnd wie die beiden genannten Werke aus dem Archives-Labelstall. Das Duo Kane Ikin und Paul Fiocco achtet stets darauf, sich nicht ausschließlich in der auralen Komfortzone aufzuhalten. Das beginnt schon bei der ungewöhnlichen Auswahl der Instrumente, die vor allem dann gerne zum Einsatz kommen, wenn sie bereits kurz vor dem Auseinanderfallen sind und endet (nicht) bei der bewussten Entscheidung für den Einsatz billiger Mikrofone. Zusammen mit vergessenen und verloren geglaubten Archivaufnahmen und krisseligen Field Recordings ist "In The Lens" charmant angeranzt und gibt sein Statement mit viel Natürlichkeit ab, mit einer Besinnung auf Ursprüngliches und Echtes. 

Es hat seine Zeit benötigt, um mich auf diesen Lo-Fi Ansatz einzulassen und die kristalline Schönheit zu erkennen, die in ihm steckt - eine Schönheit, die sich in Kombination zwischen den nur kurz aufflackernden, sich aus zunächst beliebig erscheinenden getupften Clicks'n'Glitches herauswürmelnden Melodien und einer romantischen Stimmung von frisch gefallenen Herbstlaub auf von Nebel bedeckten Feldwegen zeigt. 

"In The Lens" ist eines jener durchaus seltenen Ambientwerke, die es zulassen, erkundet werden zu wollen - manchmal auch im Tausch mit dem Risiko, über die Klippe zu springen, bevor das ganze Puzzle zusammengesetzt wurde. Wer sich allerdings auf die Suche begibt und kein Gedanke ans Aufgeben verschwendet, wird mit einer reichen, kunstvollen Musik belohnt, die die Lebensfarben wie ein Prisma zunächst zu bündeln und anschließend aufzufächern vermag. 

Und die aus meinem Leben nicht mehr wegzudenken ist. 




Erschienen auf 12k, 2016.


30.01.2016

2015 ° Platz 9




THE NECKS - VERTIGO



Vertigo. Schwindel. 

Mysteriös. Furchteinflößend. 

Das Spiel mit dem Unbekannten. 

Stilistischer Krampf mit zu kurzen Sätzen. 


Das australische Minimal Jazz-Trio hat die Leichtigkeit eingebüßt. Was nicht als qualitative Wertung verstanden werden soll, eher als Beschreibung dessen, was sich auf dem mittlerweile 18. Album als kleine musikalische Polverschiebung äußert. Es wird schwerer, dunkler, dröhnender, und das ist gleichfalls neu: praktisch ab der ersten Sekunde. Wolkenbrüche, Donnergrollen aus der Ferne - und direkt in deine vier Wände. Verwirrung und Orientierungslosigkeit, vielleicht gar ein bisschen Verzweiflung, jedoch immer unüberhörbar autark und erlöst. Das ist ihr Spiel mit der unbedingten Freiheit, nicht nur in der Instrumentierung dieser knapp 44 Minuten, sondern im wesentlichen Mindset, und der Klaustrophobie, der Ohnmacht. Der eigenen Irrelevanz.

Die Auflösungen solcher Ambivalenz sind selten, aber sie sind natürlich ungemein effektiv. Und es sind genau diese Momente auf "Vertigo", die, obwohl grundsätzlich nur mühsam zu dechiffrieren und klanglich mindestens so diffizil und dunkel wie die über- und durcheinander gelegten perkussiven Gewitter, mir fast die Tränen in die Augen treiben, weil sie unvermittelt die Türen zu einer Idee, einem Gefühl der vermeintlich universellen Klarheit und Wahrhaftigkeit öffnen. 

Es hat sehr lange gedauert, das zu erkennen, aber ich empfinde die Artikulation ihrer Ansprache bislang noch auf keiner ihrer Platten so deutlich wie auf "Vertigo".




Erschienen auf Northern Spy Records, 2015.


10.01.2016

2015 ° Platz 17




AU.RA - JANE'S LAMENT


Ich muss eine mir bislang weitgehend verborgene Vorliebe für australische Bands haben, zumindest für jene, die tief im Untergrund, im Halbschatten, unter dem Radar fliegen und zu warmgestrulltem Foster's einen schwülen, verhallten Shoegazerock mit geschlagener Magic Mushroom-Sahne spielen. Vor zwei Jahren hatte ich mich in die Absolute Boys verknallt, einem Trio, das mittlerweile und wie bereits befürchtet die Segel gestrichen hat, im Jahr 2015 war es "Jane's Lament" des Duos Au.Ra aus Sydney, das mich immer wieder magisch in Richtung Plattenteller zog.

Ihr schwelender und zugleich funkelnder Sound, wie ein nur noch vor sich hinglimmendes Lagerfeuer aus Klang, bewegt sich nicht nur musikalisch in den Zwischenwelten: zwischen perlenden Gitarren der Londoner Indiestars der achtziger Jahre wie in "You're On My Mind" mit halbwegs aufgeräumtem Laissez Faire-Gestus und verwuschelter Hipsterfrisur, und melodisch-monotonen Noisegroovern eines "Spare The Thought", das den Sex, die Drogen und das Rotlicht (pun intended!) vom frühen Black Rebel Motorcycle Club abbekommen hat, haben Tim Jenkins und Tom Crandles mit "Jane's Lament" aber auch ein Album für die Dämmerung geschrieben. Für die Momente zwischen Wachen und Schlafen, für das Zwielicht. Für einen diesigen Wintermorgen in verkrumpelten, noch schlafwarmen Bettdecken, mit Nichts zu tun - außer den Seelenpartner und eine heiße Tasse Kaffee zu umarmen.

“As the sun sets earlier, this is an album to savor with the dying light.”





Erschienen auf Felte, 2015


27.04.2015

Tour De Vinyl - Köln - 8.4.2015 (II)



TOUR DE VINYL - KÖLN
8.4.2015 (Teil II)


Nächster Hotspot also: das Parallel in der Brabanter Straße 2-4. Haben die bösen Stimmen im bösen Internet recht? Geht hier wirklich die Schallplattenwelt und die Musikkultur unter? 

Nach einer guten halben Stunde wissen wir: fast alles Kappes. Zwar könnten wir auf dem Fußboden locker eine Lebertransplantation durchführen und bei dem Raumkonzept von Transparenz und Fläche kommt nicht wirklich Stimmung auf, und wer auf der Suche nach Schnäppchen ist, sollte auch besser einen Bogen ums Parallel machen, legt man für Neuware doch fast immer zwischen 20 und 30 Steine auf den Tisch des Hauses - inklusive einiger absurder Ausreißer nach oben. Dafür ist der Laden aber in nahezu jedem Genre prima sortiert. Vor allem im Raritätenfach dürfte das ein oder andere Herz höher schlagen. Manchmal auch ganz besonders das Herz von Deinem Bankberater. Auf meine drei nervigen Fragen reagierte der Mann hinter dem Tresen total freundlich und konnte mir sofort Auskunft geben. Buchstäblich auf den letzten Drücker finde ich das seit langer Zeit gesuchte Debut von Gil Scott-Heron, die Gedichtsammlung "Small Talk at 125th And Lenox" als Reissue für günstige sagenhafte 15 Euro - sowas geht hier also auch. Guck' an.

Einmal um die Ecke laufen und schwupps! stehen wir auch schon im Groove Attack (Maastrichter Straße 49) - allerdings stehe ich erst mal schön wie der Storch im Salat, weil außer T-Shirts, Jacken, Hosen und Schuhen nicht viel zu sehen ist. Vor allem keine Schallplatten. Der nette Tresenmensch weist mir den Weg in den Keller, dort steht das schwarze Gold. Und wie es da steht. 



Auch hier überrascht mich das Repertoire sehr positiv, denn im Grunde ist das mein physischer Wunschzettel meines bevorzugten Dealers Mailorders. Ich bin baff. Das Groove Attack führt in erster Linie sehr viel Hip Hop, und davon sehr viel Neuware. Alle wichtigen Labels, alle wichtigen Neuheiten, alle wichtigen Wiederveröffentlichungen - es ist alles da. Neben dem zweiten Schwerpunkt, der auf elektronischer Musik, Techno und Drum'n'Bass liegt, gibt es Spurenelemente von Brazil, World, Kraut, Indie, und Punk. Es fällt mir wirklich schwer, den "Shut up and take my money!"-Reflex zu unterdrücken, verantwortlich dafür, dass ich es letztlich doch kann, ist mal wieder die Preisgestaltung. Hier geht es im Vergleich zu den anderen besuchten Läden schon nochmal zwei bis drei Euro nach oben, wohlwissend, dass das nicht immer am Inhaber liegen muss. Die neue (Einzel-)LP von L'Orange beispielsweise, erschienen auf der Mello Music Group, kostet absurderweise auch via Versandhandel 25 Euro, und exakt zu jenem Preis steht sie auch im Groove Attack. Bei anderen Titeln muss man bei den aufgerufenen 27 oder 28 Euro schon mal kurz durchschnaufen. Und dennoch, will ich eine Platte unbedingt und habe sogar das Glück, sie im Laden zu finden - ohne Versandschrott, ohne Bezahlung via Hitler-Paypal und ohne eine arme Socke von DHL durch halb Deutschland zu hetzen, damit ich mir eine überteuerte Schallplatte anhören kann - dann bezahle ich gerne den Sondergroschen des Einzelhandels. In vollem Bewusstsein, das Problem des heißlaufenden Markts und der schwindelerregend schnell aufsteigenden Preisspirale damit gerade nochmal anzufeuern. Wie man es macht, ist es verkehrt in diesem Schweinesystem. Was genau der Grund dafür sein könnte, dass uns der Dreck noch nicht vollends um die Ohren geflogen ist. Unkraut vergeht halt nicht.

Wir verlassen das Groove Attack ohne neue Lieblinge. Nicht fair für einen echt prima sortierten und durchdachten Laden, aber wir haben keinen Geldschisser zu Hause auf der Terrasse stehen. Man mag mir die Unsachlichkeit verzeihen, hier trifft's im Grunde die falschen Jungs. Guter Laden, alle hingehen, Daumen hoch.


Der Abschluss wird nochmal ein Schmankerl. Wir holen die Herzallerliebste aus der Kölner Konsumhöllenmeile heraus, sprechen noch schnell ein Treffen mit dem Oberlehrer ab und fahren Richtung Ehrenfeld. Hier haben Blank When Zero immerhin schon drei Mal gespielt und ich habe in völlig vernebeltem Kopf Tool live gesehen. 1997. Trotz Feuchtigkeits- und Nachtcreme fällt nicht nur an dieser Stelle auf: ich bin alt. 

Ein alter Hase ist auch Jochen Sperber, der Inhaber von Normal Records (Heliosstraße 6). Über Jahrzehnte war der Laden in der Kölner Innenstadt eine Institution, bevor Jochen 2010 frustriert und schwer gezeichnet vom ewigen Kampf gegen Saturn und Media Markt, gegen das Internet und gegen die Pfeifen, die bei ihm stundenlang Platten anhörten und sie dann um die Ecke beim Elektro-Allrounder kauften ("Ich möchte nie wieder in einem Plattenladen arbeiten.") das Handtuch schmiss. Dass der Mann trotzdem nicht ohne Schallplatten und ohne den Kundenkontakt leben kann, entdeckte er Ende 2014 und erweckte Normal Records wieder zum Leben. Die Location alleine ist schon der Hit: in einem Hinterhof in Ehrenfeld wird eine kleine Laderampe hochgekraxelt und man steht in dem niedlich eingerichteten "La Boite Gourmande", der ersten Kölner Konserverie mit Café. In der Durchgangstür entdeckt man sie dann schon: die Schallplatten. Es ist mittlerweile ein toller, sonniger Frühlingstag. Die Stimmung ist so heiter wie das Wetter. Gute Menschen. Plötzlich ist irgendwie alles gut. 



Jochen ist ein sehr sympathischer und offener Typ, dem man problemlos für ein paar Stunden zuhören könnte. Sein Leben hat er in der Plattenladenpause in ein Buch hinein geschrieben, das nur noch redigiert und mit einem Cover versehen werden muss. So philosophieren wir uns alle für eine gute Stunde durch die Gesellschaft, durch Schallplatten, durch Konsum, durch Musik und wir entdecken, dass alles miteinander zusammenhängt. Jochen sagt, er will sich wieder auf das konzentrieren, was für ihn zählt: echte Musik. Und echte Beratung.

"Das was einen guten Händler auszeichnet, ist seine fachliche Kompetenz und sein ahnen von dem was ich mögen könnte. Beratung eben.
Genau das möchte ich wieder tun. Beraten. Das was in den letzten Jahren in meinen vorherigen Läden immer seltener wurde." (Facebook, 11.Januar 2015)

Die Plattenauswahl ist übersichtlich, aber das macht nichts. Dafür ist man gar nicht in erster Linie da. Ich habe die Zeit in dem Laden sehr genossen - man lachte und scherzte, philosophierte, schaute sich nebenher ein paar Platten an, war erstaunt, legte ein paar zum Anhören auf den Plattenteller, blättert in den ebenfalls ausliegenden Büchern, schwätzt weiter...die Zeit verging wie im Fluge. Und fündig wurde ich auch nochmal: die The Sea And Cake-Sammlung ist nach dem Erwerb von "Two Gentlemen" nun tatsächlich komplett und endlich steht nun "Cavale" von ihrer Quasi-Vorgängerband Shrimp Boat auf dem Bandaltar in meinen 3,40qm Luft, Liebe und Musik. 

Toll. Danke Simon! "Des wär' aber net nöödisch geweese!" (Henni Nachtsheim)


Um ein Haar noch toller: ich entdecke "Moment Returns", das 2004er Album von der australischen experimentellen Jazzband Triosk auf Vinyl. Die 2007 leider aufgelöste Truppe ist nicht nur geographisch mit den irren The Necks vergleichbar, auch musikalisch haben die beiden Truppen durchaus Parallelen, wenngleich die Nacken etwas verspielter und tatsächlicher jazziger sind, wo Triosk noch ausgeprägter der Elektronik und dem Ambient verfielen. Eine beeindruckende Platte, jedenfalls. 

Wir nehmen gemeinsam in der Sonne sitzend noch Ingwer-Bier und Kaffee zu uns und lassen uns die Sonne auf den Pelz scheinen. 

Auch wenn es in der angenehmen, unbeschwerten Atmosphäre schwer fällt, müssen wir los. Es ist Feierabendverkehr und wir haben noch gut zwei Stunden Fahrt vor uns. Wir eisen uns gaaaanz langsam los und verlassen Köln in Richtung Heimat.

Ein toller Tag mit tollen Platten und tollen Menschen. 

"Der Plattenladen ist nicht tot - er riecht nur etwas komisch." (Flo Zapfhahn)




27.07.2014

Sending Transmission - The Tea Party (4) - The Edges Of Twilight



THE TEA PARTY - THE EDGES OF TWILIGHT


"Jeff Martin lived in a spooky old house in Montreal, grew too fond of mind-altering drugs and claimed that supernatural forces were at work on his mind. He even experienced “yogic flying.”

"The Edges Of Twilight" gilt bis heute unter Fans wie Kritikern gleichermaßen als unumstrittenes Highlight der Band - und das aus durchaus nachvollziehbaren Gründen. Zum einen löste man sich, trotz eindeutiger Bluestracks wie "Drawing Down The Moon", im Allgemeinen etwas von den allzu gegenwärtigen Einflüssen des Blues, was automatisch in eine grundlegende Verjüngung des kompletten Sounds mündete. Zum anderen weitete Songschreiber Jeff Martin die orientalischen und indischen Elemente seiner Musik aus, was dem Trio eine noch mystischere, fast schon esoterische Aura verlieh. Die Hinzunahme exotischer, vornehmlich in Indien verwendeter Instrumente wie Sarod, Santoor, Sitar und Tambura sowie afrikanischer Percussions, insgesamt kamen auf "The Edges Of Twilight" 31 Instrumente zum Einsatz, ergab eine spirituelle, tiefgehende, komplexe und einzigartige Mixtur aus dunklem, riffbasiertem Rock'n'Roll mit weiterhin existenter Led Zeppelin-Klangfarbe und perfekt arrangierter und inszenierter fernöstlicher und afrikanischer Musik, die niemals aufgesetzt wirkte, und die Kritiker außerdem dazu motivierte, die neue Schublade "Moroccan Roll" aufzumachen. Auf dieser Basis zeigten die drei Musiker auch völlig unprätentiös ihre exzellenten musikalischen Fähigkeiten - weniger in der Demonstration filigraner Spieltechnik, sondern im Zusammenspiel, in den feinen Nuancen: Drummer Jeff Burrows und sein monströser Groove und sein kraftstrotzendes, dabei gleichzeitig sehr subtiles Spiel, Bassist und Elektronikfachmann Stuart Chatwood mit Bassläufen, die Mammutbäume zum Zittern bringen würden, Jeff Martin mit den virtuosesten und auf mehreren Ebenen, sorgsam aufgefächerten Soli und Riffkaskaden - "The Edges Of Twilight" darf sich mit Recht den "Klassiker"-Button an die Les Paul pappen lassen.

Martin experimentierte während der Sessions zu diesem, nach einem Kapital in Tom Cowans Roman "Fire in the Head" betitelten Album mit LSD, um zu sehen, wie weit ihn sein Verstand bringen würde und bezeichnet heute das zweite Album als seinen persönlichen Favoriten:“You think about how old we were then, we were 25 years old, and we came up with that record." Und selbst Ed Stasium, der die Platte mit Jeff Martin gemeinsam produzierte - übrigens bis zum späteren "Seven Circles" auch ein Ausnahmefall für die Band, da Martin ansonsten die Zügel immer alleine in der Hand hielt -, malte einen Heiligenschein um das Album:"Ich glaube, daß ich das Album aufgenommen habe, auf das ich gewartet habe, seitdem mir klar wurde, daß man Sounds und Visionen mittels Aufnahmetechnik auf Tonträgern umsetzen kann. Mit THE TEA PARTY zu arbeiten, hat mir neue Einblicke und Hoffnungen gegeben."

"The Edges Of Twilight" erreichte in Australien und im Heimatland Kanada Platinstatus - der Rest der Welt hörte mal wieder nicht so richtig hin.

Erschienen auf Chrysalis, 1995.


P.S.: Wie begehrt die 1995 in Mini-Auflage erschienene Vinylversion dieser Platte auch bei Sammlern ist, ließ sich vor etwa einem halben Jahr gut erkennen, als wie aus dem Nichts Vinyl-Bootlegs von "The Edges Of Twilight" auf Ebay auftauchten und, zumindest in den ersten Auktionen, zu absoluten Mondpreisen über den virtuellen Kassentisch wanderten. Genauer gesagt zu exakt den Preisen, zu denen die Originalversion käuflich zu erwerben ist: ab stolzen 180 bis 200 Euro geht's los, nach oben sind dabei nur wenige Grenzen gesetzt. Dabei ist der Bootleg rein visuell überraschend sauber gearbeitet, wenngleich das (sogar auf Hochglanzpapier gedruckte) Inlay mit Texten und Fotos nur als Einleger fungiert, was gleichzeitig das Erkennungsmerkmal der Fälschung ist. Hinsichtlich des Sounds wird die Luft hingegen sehr schnell sehr dünn, und "dünn" ist hier das Wort der Wahl. Das ist vermutlich das leiseste und fisseligste Mastering aller Zeiten. Wenn man sich an dem wunderbaren Artwork nicht sattsehen will oder kann und darüber hinaus 20 Euro zuviel in der Tasche hat, ist der Kauf durchaus eine Option, wenn man mich fragt. Aber wer fragt mich schon?!

29.03.2014

Let's make Jazz



MENAGERIE - THEY SHALL INHERIT


Über diese Platte hätten wir schon eine Ecke früher lesen können, wäre sie mir nicht erst im Dezember 2013 in die Hände gefallen. Zu diesem Zeitpunkt war meine Aufstellung über die Top 20 schon in veganen Schokokuchen eingeritzt, und es hätte sich auch nicht richtig angefühlt, nach fünfmaligem Hören von "They Shall Inherit" die ganze schöne Auswahl mit dem Hintern einzureißen, die mich zuvor schließlich mindestens zwei, wenn nicht gar drei Wochen schneller altern ließ. Den Legionen von Erbsenzählern erzähle ich natürlich auch nicht, dass das äußerst sympathische Label Tru Thoughts die Platte schon im Dezember 2012 auf den Markt warf, was sie de facto für das Jahr 2013 disqualifiziert. Aber ich bin ja der Chef hier. 

"They Shall Inherit" ist das erste Jazz-Album des Australiers Lance Ferguson, der außerdem mit der Deep Funk-Kapelle The Bamboos nicht wenig erfolgreich ist und unter dem Banner Lanu elektronische Musik produziert. Es ist ein Jazz-Album, das den Spiritual Jazz Entwürfen einer Alice Coltrane oder eines Pharaoh Sanders bedeutend näher steht als Ausflüge in den Swing, Bebop oder gar den Free Jazz, wenngleich die Nähe eher aus einem Gefühl als aus der Musik entsteht: allzu wilde Saxofonabfahrten und minutenlange Krishna-Mantren werden sich selbst bei genauem Studium nicht auf dieser Platte finden lassen. Der in Neuseeland geborene Gitarrist und Sänger verweist im Interview darauf, dass ihm die gegenwärtige Jazzszene mit ihren Hochleistungssoli nicht über Gebühr herausfordert, und er lieber ein Album im Kollektiv machen wollte, das niemanden in das Scheinwerferlicht stellt, sondern den Fokus auf eine feste Bandkonstellation und das gemeinschaftliche Zusammenspiel richtet. Tatsächlich hat Ferguson nicht weniger als zehn Musiker um sich geschart, um sein Jazzdebut zu einem opulenten und reichen Werk entwickeln zu lassen.

Freilich mögen und werden auch hier die ollen Jazzknochen die Nase rümpfen, denn so haben sie, selbst wenn ihr Held Roy Ayers mitmischt, nicht gewettet: "They Shall Inherit" ist groovy, tatsächlich song- und nicht solobasiert, und insgesamt eine sehr entspannte, souveräne Angelegenheit. Doch auch wenn die Herztropfen also im Apothekerschränkchen bleiben können, heißt das nicht, dass die Schlafpillen gleichfalls nicht benötigt werden: Dem Tentett ist ein positives, cooles Spiritual Jazz Album gelungen, das seit drei Monaten in meinem berüchtigten Rotationsstapel vor der Anlage liegt und immer wieder den Weg auf den Plattenteller findet, vorzugsweise am Wochenende zum gleichfalls berüchtigten und ausgiebigen Frühstück. Manchmal gibt's ja keinen besseren Soundtrack zum Essen als Jazz.



Erschienen auf Tru Thoughts, 2012.