CHELSEA WOLFE - SHE REACHES OUT TO SHE REACHES OUT TO SHE
"I wish I could be invisible and just play music and not have to worry about anyone looking at me." (Chelsea Wolfe)
Die Platte des Jahres kommt von einer Künstlerin, deren frühere Arbeiten ich ganz offensichtlich auf eine beinahe schon groteske Art fehleinschätzte, und die deswegen in all den Jahren keinen Fuß in die Tür zur Casa Dreikommaviernull bekam. Ich habe das schon öfter betont, wie komplett irre so eine intellektuelle Generalverriegelung sein kann, wenn also irgendwas zwickt, irgendwas verzerrt ist - und sei's nur die eigene Wahrnehmung. Andererseits passiert sowas eben manchmal. Und dann hole ich das große Feigenblatt raus und sage: es gibt für alles den richtigen Moment, die richtige Zeit, den richtigen Ort. Musik findet Dich einfach, wenn es soweit ist.
Im Falle von Chelsea Wolfe war das Wirken der in Kalifornien lebenden Musikerin stets in erster Linie mit ihren Kollaborationen mit den Hardcore-Superstars von Converge verbunden. Und so gerne ich mir von Zeit zu Zeit mit Geschrei und Gebrüll das Kleinhirn auf halbacht fönen lasse, kam ich an Converge nie ran, nichtmal in die Nähe. Und wenn ich mich mal dazu entschlossen habe, Abstand zu halten, dann bin ich wenigstens in dieser Hinsicht so richtig behämmert deutsch und also konsequent. Aus Gründen, die ich mir heute nicht mehr selbst erklären kann, halluzinierte ich also eine stilistische Nähe zwischen Converge und ihrer eigenen Musik herbei, was dazu führte, Chelseas Soloscheiben schlicht zu ignorieren. Weil eine Mauer alleine ja nicht ausreicht, wird eben selbst der ganze Dunstkreis ausgesperrt. Was soll ich sagen?!
Als im Februar des vergangenen Jahres "She Reaches Out To She Reaches Out To She" angekündigt wurde, und die ersten Berichte elektronische, trip-hoppige, sogar in den Bereich von Drum'n'Bass reichende Einflüsse erwähnten, wurde ich allerdings hellhörig. Und schon beim Erstkontakt mit "House Of Self-Undoing" war ich hoffnungslos verloren. Die Folgen: die gesamte Diskografie wurde nachgekauft, wir besuchten ihr Gastspiel in der Kölner Kantine, die Herzallerliebste reiste sogar nochmal solo zum Konzert nach München, und meine allerliebsten Lieblingsleserinnen und -leser quälen sich gerade durch die Rezension zu meiner Lieblingsplatte des Jahres 2024.
Zusammen mit dem Produzenten Dave Sitek betreten Wolfe und ihre Band im Vergleich zu ihren früheren Werken auf mehreren Ebenen Neuland. Aus technischer Sicht war die Industrialästhetik zwar auch schon auf einem Album wie beispielsweise "Abyss" (2015) wahrnehmbar, durch den neu gesetzten Schwerpunkt auf elektronische Elemente wirken einerseits Songs wie der irrlichtende Opener "Whisper In The Echo Chamber" oder das experimentelle "Eyes Like Nightshade" noch abrasiver als zuvor. Das mit Breakbeat-Elementen spielende "House Of Self-Undoing", dessen hypnotische Ästhetik bisweilen sogar an Siteks Band TV On The Radio erinnert und clever die ganze Dynamikklaviatur aus Härte und bohrenden Ambientdrones bespielt, ist trotz stilistischer Öffnung auch noch recht gut zu entschlüsseln. Aber dann wird die Sache komplizierter zu erläutern, wenn man nicht in Allerweltsgefasel abrutschen will.
Für meinen Geschmack ist es vor allem die zweite Hälfte des Albums, auf der die visionäre, stilprägende Kraft dieser Produktion klar wird. Im Grunde sind Songs wie "The Liminal", "Salt", "Place In The Sun" oder ganz besonders "Dusk" dunkle Popsongs, die problemlos auch in einem akustischen, eher Folk-betonten Kontext funktionieren würden, durch die elektronische Ausrichtung aber plötzlich die Tore zu neuen Welten aufstoßen. Die verrauchten Trip Hop Beats, die gebrochenen Akzente vom Geflacker eines Pianos, die inszenierte Tiefe und Weite machen die Musik dunkler, bedrohlicher, mystischer, außerweltlicher. Paradoxerweise dehnt sie sich in dieser atmosphärischen Verdichtung weiter aus und macht Räume frei für Anschauung. Das Arrangement von Chelseas Stimme spielt dabei ebenfalls eine zentrale Rolle, sie ist das vermittelnde Element zwischen Anziehung und Abstoßung, Licht und Schatten. Sie ist stets im Vordergrund und dirigiert durch das Dickicht, tatsächlich macht sie jene Räume erst wahrnehmbar. Und gleichzeitig spürt man: dieser Raum ist Unendlichkeit. Dieser Raum ist Heilung. Dieser Raum ist kein Raum. Er ist Leben.
"Immer weiter abgeschwiffen. Alles schrumpft. Stetig." (Antitainment)
Jetzt haben sie mich endlich doch noch gekriegt.
Ihr Auftritt auf dem Rockhard-Festival 2018, der vom WDR Rockpalast mitgeschnitten wurde und HIER auf Youtube verfügbar ist, war mein Erstkontakt mit diesem Quintett aus Rotterdam. Und ich war beeindruckt, vor allem davon, wie geil die alle auf der Bühne aussahen. Outfits, Bewegungen und Attitüde schienen zwar durchaus choreografiert, wovon die Authentizität jedoch keinen Kratzer abbekam. Die Band platzt vor Selbstbewusstsein und spielt mit einer Überzeugung, als hänge ihr Leben von jedem gespielten Ton ab. Damit bekommt man mich immer an den Haken. Und mit diesem etwas vernebelt wirkenden progressiv-verschnörkelten Doomrock dann eben irgendwie auch.
Auf ihrem Debut "Here Now, There Then" konnte ich von dieser Magie leider nur noch wenig spüren. Auch Dool kämpften offensichtlich seinerzeit damit, das Durchsetzungsvermögen von der Bühne ins Studio zu rollen. Als 2021 der Nachfolger "Summerland" erschien, und ich immer noch keinerlei Verbindung zu ihren Studioalben aufbauen konnte, strich ich die Segel. Sowas gibt's eben manchmal, aber im Falle Dool war das schon ein bisschen tragisch. Ich gebe zu, dass ich ab der ersten Minute des Rockhard Mitschnitts fasziniert war von der Band. Dass es musikalisch zunächst nicht funken wollte, nagte ein bisschen an mir. Ich wollte die doch gut finden?!
Mit "The Shape Of Fluidity" änderte sich das alles.
Die Eindringlichkeit, der Drang, der "Pull" des Openers "Venus In Flames" steht exemplarisch für das ganze Album, gerät der Einstieg in den siebenminütigen Song doch zu einem der unwiderstehlichsten Momente der Rockmusik der letzten 25 Jahre. Der Drive mit seiner derart viehischen und nach vorne peitschenden Urgewalt nach dem kurzen Intro lässt Dich durch fucking Panzerglas marschieren, bevor der praktisch ansatzlos aufs Spielfeld geworfene Refrain trotz seiner melodischen Öffnung die Intensität unglaublicherweise noch weiter nach oben schraubt. Eine kleine Erlösung erlebt man erst zur Songmitte, wenn sich sowohl die Wucht als auch das Tempo etwas einbremsen und sich gemeinsam auf das große, hymnische Finale vorbereiten, das mit großer erzählerischer Raffinesse inszeniert wird: atmosphärisch stehen wir am Ende der Geschichte, am Ziel einer langen und beschwerlichen Reise. Wir sind angekommen. Wir können durchatmen. Emotional hingegen fühlen wir die Spannung, die Friktion. Es fühlt sich paradoxerweise nach Aufbruch an, nach Öffnung, vielleicht ist sogar ein wenig provozierend.
Kompositorisch ist Dools Musik nicht gerade unterkomplex, das war sie noch nie. Ein paar Schlenker muss man also schon mit ihnen mitlaufen, um nicht abgehängt zu werden. Aber sie können es sich aus gleich zwei Gründen leisten. Erstens spielen hier technisch herausragende Musiker, die stets in der Lage sind, die Metaphorik von Ravens Texten für die große Bühne musikalisch zu inszenieren und sie sicher durch sämtliche emotionale Aggregatzustände zu leiten. Zweitens sind die Songs auf "The Shape Of Fluidity" mit Hooklines geradewegs übersäht. Das hilft zunächst bei der Orientierung, bevor darüber hinaus erkennbar wird, wie vielschichtig diese Kompositionen tatsächlich sind; so als würden erst die hymnischen und verschwenderisch arrangierten Melodien die Türen in die unterirdischen Labyrinthe des Albums öffnen.
Der/Die über allem thronende Zeremonienmeister*in ist Raven van Dorst. Im Jahre 1984 intergeschlechtlich geboren und anschließend als Frau aufgewachsen, ist "The Shape Of Fluidity" vor allem textlich eine bis auf die Knochen ehrliche, zu gleichen Teilen niederschmetternde und kraftvolle Erzählung über die Auseinandersetzung darüber, sich über Jahrzehnte in dieser Ausnahmesituation zu befinden. Über die inneren und äußeren Konflikte, über Identität und Isolation. Aber auch über das Erwachen und über die Verantwortung.
"Would you bathe in my love / Now the time has come?" singt Raven in "Venus In Flames" und das Beben, die Sehnsucht - ja, die Erlösung springt mich förmlich an.
Wenn etwas aussieht wie eine Deppenfrage, es sich liest wie eine Deppenfrage und es außerdem nach Deppenfrage schmeckt (Überbacken, 200°C in Backofen), dann ist es eine Deppenfrage mit dem Markus Lanz-Qualitätssiegel:
Sind "wir" eigentlich "noch" in der "Lage", einen "Klassiker" zu "erkennen"?
Der Musik-Kanon im Allgemeinen und der Metal-Kanon im Besonderen sind selbst in den abseitigen Nischen vollgestopft mit Alben, auf die sich die Mehrheit der Szenegänger über die letzten fünf Jahrzehnte in Hinblick auf Parameter wie außergewöhnliche Qualität, dem Willen und Mut zur Innovation und dem wegweisenden Einfluss auf die künftige musikalische Entwicklung einigen konnten, oder weniger hoheitlich formuliert: Alben, die von der Musikjournaille so lange nach oben gejazzt wurden, bis es auch den letzten Neil Dylan-Harrison-Überlebenden, James Hetfield-Yeeeaaah-Yeaaaah-Kuttenjürgens und Eddie Vedders Surflehrern ins kollektive Gedächtnis eingehämmert wurde, was dIe_SzEnE gefälligst für die nächsten Dekaden für einen "Klassiker" halten soll. Seit dem Auftauchen des Bermuda-Dreiecks aus "Musik ist überverfügbar", "Kein Mensch unter 40 liest Musikmagazine" und "Social Media - Der Todesstoß" hat sich DiE_sZeNe allerdings längst in Luft aufgelöst, sieht man von den üblichen ein, zwei gallischen Subkultur-Dörfern ab, in denen aber auch schon länger nicht mehr jeden Abend gemeinsam ums Feuer sitzend Wildschweine gefressen werden, sondern jede*r Wurzelsepp*in mit W-LAN und Shitify-Abo alleine in der frisch geklinkerten Höhle hockt und sich via TikTok das anhört, was man mit einigem Hang zum Absurden als die letzten noch dampfenden Ruinen dessen bezeichnen könnte, was in der Eisenzeit mal unter "Musik" verstanden wurde. Die Gemeinschaft ist am Arsch, liebe Freunde! Und wo die Gemeinschaft am Arsch ist, wird sich auch auf nix mehr geeinigt. Vereinzelung olé! Als ob wir heute noch ein zweites "Reign In Blood" oder "The Number Of The Beast" entdecken könnten, oder auch nur entdecken wollten. Ich beantworte mir die eingangs gestellte Quatschfrage mal flott selbst, sonst gibt's Hirnverknotung mit Sahne: Nein, "wir" "erkennen" keine "Klassiker" mehr.
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Plot-Twit: außer diesem hier, natürlich. Auf "Absolute Elsewhere" konnten sich im letzten Jahr eigentlich alle einigen. Ein Umstand, dem ich üblicherweise mit ausgeprägter Skepsis begegne; man sieht's mir bittschön nach, nicht schon wieder das olle Hildebrandt-Zitat zu bringen. Und wenn dann auch noch die Feuilletons plötzlich aufwachen und ausgerechnet in jenem Genre große Kunst wittern, das traditionell im besten Fall allerhöchstens belächelt wird - und ich füge hinzu: Zurecht! Wenn vor allem der heutige Heavy Metal eines verdient hat, dann dass man sich 24/7 über ihn lustig macht, for fuck's sake - jedenfalls: es wird dann sehr ernst.
Wer die Entwicklung Blood Incantations besonders angesichts des 2019er Albums "Hidden History Of The Human Race" und dem reinen Ambientprojekt "Timewave Zero" begleitet hat, wird von der stilistischen Bandbreite, die "Absolute Elsewhere" abdeckt, eventuell nicht mehr ganz so vehement aus den Schuhen gesprengt werden. Die Band hatte seit jeher ein Faible für Science Fiction in ihren Texten und kosmische Nuancen in ihrer Musik, und präsentierte jene Einflüsse sehr anschaulich in der überaus empfehlenswerten "What's In My Bag"-Folge des in Los Angeles ansässigen Plattenladens Amoeba Music. "We don't play games, man!" sagte Sänger und Gitarrist Paul Riedl zur Veröffentlichung des kontrovers diskutierten "Timewave Zero" Werks - und um das Zitat im Jahr 2024 weiterzuführen, könnte man im Zuge von "Absolute Elsewhere" ein "Now it's getting serious." hinzufügen.
Die Band hat für das in der Berliner Hansa Studios aufgenommene aktuelle Album in jeder Hinsicht alles aus sich herausgeholt. In knapp 44 Minuten und zwei Songs, die in jeweils drei sogenannte Tablets unterteilt sind, sprengen Blood Incantation im Prinzip ein ganzes Genre in die Luft. Wir sitzen auf den Trümmern und fliegen mit diesen vier Irren ins Weltall - man verzeiht mir bitte die abgeschmackte Metapher, aber sorry: sie haben's ja auch irgendwie provoziert. "Absolute Elsewhere" ist ein fremder, weit entfernter Ort. Death Metal der etwas älteren Schule, von der ehemals Bands wie Morbid Angel, Gorguts und Death in den 1990er Jahren abgingen (ich habe möglicherweise relativ exklusiv die Wahrnehmung, dass insbesondere letztgenannte in jenen Momenten, deren Farbauftrag den klassischen Heavy Metal etwas deutlicher durchscheinen lässt, häufiger als Referenz auftauchen), amalgamiert sich mit den Haschkrümeln, die aus den Zottelbärten Pink Floyds, Tangerine Dreams und King Crimsons herausgepurzelt sind, also kosmischer Musik und Progressive Rock der 1970 Jahre, tippt den Hut in Richtung der wegweisenden Science Fiction Metal-Legende Voivod (The Stargate Tablet III, ab Minute 3:42) und lässt obendrein Tangerine Dreams Thorsten Quaesching auf "The Star „The Stargate [Tablet II]“ sich über ein paar Minuten an der Synthiebatterie austoben. Das Songwriting ist dabei derart raffiniert, dass der Band trotz der beiden überlangen Kompositionen zu keiner Sekunde weder der Spannungsbogen abhanden kommt, noch die eigentlich unmöglich zu meisternden Übergänge zwischen dem Death- und Grind-Gehacke und den außerweltlichen, psychedelischen Klangsphären aus der Pilzpfanne des Druiden Deines Vertrauens misslingen. Ich mag mir kaum vorstellen, wie viel Arbeit in diese 44 Minuten geflossen sein muss, um das so punktgenau in unsere Realität zu bugsieren. Ein Wahnsinn.
Ich darf abschließend anmerken:
Erstens: das Break und dessen Aufbau in "The Stargate [Tablet II]" bei Minute 4:11 gehören zum besten, was ich in 40 Jahren Rockmusik gehört habe.
Zweitens: das Abschlussriff von "The Stargate [Tablet III]" ab Minute 4:59 dampfwalzt mich jedes fucking Mal in Richtung Erdkern. Möchte ich auf Lautsprechern hören, die so groß sind wie die Cheops-Pyramide.
Drittens: was für ein Sound! Was für eine Produktion! Achtung, sprechen Sie mir jetzt laut nach: "WAS FÜR EIN SOUND! WAS FÜR EINE PRODUKTION!"
Viertens: Der Übergang von "The Message [Tablet II]" in das einleitende klassische Speed Metal Riff von "The Message [Tablet III] verursacht schwere Schweißausbrüche. Darf man eigentlich nur unter Aufsicht und nach der Starkstromtherapie hören.
Fünftens: das wird womöglich niemand so recht nachvollziehen können, aber das Ende von "The Stargate" klingt für mich, als wäre eine eben noch heißlaufende und kurz vor der Explosion stehende Höllenmaschine (schlimmer Verdacht: das Stargate?) im allerletzten Moment vor der Vernichtung des Universums mittels Plastik-Kippschalter (Hornbach, 99 cent) ausgeschaltet worden und wäre nun allmählich dabei, zunächst herunterzufahren und anschließend abzukühlen. Die Videosequenzen (siehe unten) verstärken den Eindruck noch und ich kann mich daran weder satthören noch sattdenken. Es gibt keinen Zweifel: ich bin wieder 13 Jahre alt.
Sechstens: Die (Death) Metal-Passagen sind bei weitem nicht so abgedreht, technisch und verkopft, wie in so mancher Besprechung zu lesen ist, und wer mit den früh- bis mittneunziger Alben von Death und Morbid Angel sozialisiert wurde, wird hier sehr sanft gebettet. Fans von beispielsweise Nile oder Beneath The Massacre könnten hingegen wegschnarchen.
Siebtens: Der Eros des Überlegenen, umgehend alles in Schubladen einzusortieren und Vergleiche zu finden, ist erstens laaaaangweilig und zweitens vor allem im vorliegenden Fall auch obsolet - mit was willst Du so eine Platte bitte vergleichen? Ich habe aus meiner Hirnverletzung indes nie einen Hehl gemacht, weshalb ich zum großen ABER ansetze: in einem Musikforum stolperte ich letzthin über einen Ansatz, der für mich bis heute so viel Sinn ergibt, dass ich mir nicht zu schade bin, ihn hier zu erwähnen. Obliveons "From This Day Forward" (1990, Active Recrds) klingt in Sachen Vision und Vibe wie ein Prototyp dessen, was 35 Jahre später als das große Universums-Upgrade von Blood Incantation eingespielt wurde. Sowohl Band als auch Album sollten die Zielgruppe so oder so kennen, ganz besonders im Kontext mit "Absolute Elsewhere" könnten vielleicht ein paar Lampen angehen. Hopp-Hopp!
Ich hab's nun schon ein paar Mal ins Internet reingeschrieben und fuck it, ich mach's nochmal: Mutige und visionäre Bands wie Blood Incantation sind Weltkulturerbe. Es scheint, als hätten wir endlich die geistigen Nachfolger Voivods gefunden.
"Keiner kommt hier lebend raus." (Black Spider Clan)
Rückblende in den Oktober 1995. Herr Dreikommaviernull sitzt in einem Flugzeug nach London. Klassenfahrt. Neben mir im Flieger sitzt Tessa. Wir kennen uns nicht besonders gut, aber sie trägt immer schwarze Doc Martens Stiefel, dazu einen übergroßen Parka, und in ihre lange braunen Haare sind kleine Schmucksteine eingefädelt. Tessa wirkt damit zwar sehr cool und alternativ, ist aber stets sehr ruhig und zurückhaltend, introvertiert. Sie spricht leise. Und sie ist unantastbar der größte Fan von The Cure des ganzen Schuljahrgangs. Wäre "besessen" nicht so negativ konnotiert, ich tät's hier hinschreiben.
Ich bin nervös. Zu einen sitze ich zum ersten Mal in einem Flugzeug, zum anderen, naja, sitzt Tessa neben mir, und ich weiß immer noch nicht so recht, ob ich mit 18 jetzt schon in der Pubertät war oder ob das alles noch kommen wird. Unsicher, unbeholfen, unerlöst - Ich habe das volle Paket an Bord. Wir sprechen über Musik und Tessa fragt mich, ob ich denn auch auf The Cure stehe. Tu' ich nicht. Ich kenne zu diesem Zeitpunkt allerdings bewusst nur zwei Songs, und zwar jene, die auf MTV rauf und runter liefen: "Lullaby" und "Friday I'm In Love". In meiner Jugend erscheint das alles zu aufgesetzt und zu theatralisch, die Haare, die Schminke, der ganze Duktus erreicht mich nicht. Es ist vor allem die Stimme des Sängers, die mich provoziert. Ich habe über die Jahre eine wirklich unglaublich schlechte Robert Smith-Parodie entwickelt und welcher Hafer mich auch immer im Landeanflug auf Heathrow gestochen haben mag, sage ich zunächst unangenehm laut "NEIN! OH GOTT, DIE SIND SO SCHLIMM!" und gebe anschließend Töne von mir, die für mich perfekt nach Robert Smith, für Tessa wohl eher wie Isegrim auf LSD klingen, sofern ich ihren Gesichtsausdruck richtig einordne. Wir erkennen erstens: ich war schon damals granatenbescheuert, und zweitens: die Tatsache, dass mir die Szenerie noch so lebhaft in Erinnerung ist, liegt nicht zuletzt daran, dass es mich seit 30 Jahren als Mahnmal begleitet und mich stets daran erinnert, doch bitte nicht mehr so arg doof zu sein.
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Rückblende in den September 2013. Herr Dreikommaviernull ist von Hessens Landeshauptstadt Wiesbaden nach Last Exit Sossenheim gezogen. Es ist ein früher Sonntagmorgen, vielleicht 1 Uhr in der Nacht. Ich zappe durchs bundesdeutsche Qualitätsfernsehen und bleibe auf 3Sat hängen. Da steht Robert Smith auf der Bühne. The Cure geben ein Konzert. Mir entfährt ein "Fuck, The Cure!" und werde augenblicklich übellaunig. Vielleicht ist meine Antipathie seit den neunziger Jahren etwas erkaltet, aber die Pflege meiner Feindbilder nehme ich nach wie vor ziemlich ernst. Ich finde heraus, dass es sich hier um einen Auftritt in Berlin handelt, an dem die Band drei ihrer Alben hintereinander gespielt hat. Also, komplett. An einem Abend. Veröffentlicht unter dem überraschenden Titel "Trilogy".
"Wer schaut sich denn bitte stundenlang dieses Zeug an? Drei ganze Platten? Alter! Da schnarchst Du doch weg!"
Es ist mittlerweile drei Uhr, und ich bin nicht weggeschnarcht. Im Gegenteil, ich bin hellwach und schaue seit zwei Stunden gebannt dieser Band zu. Smith ist gerade zum letzten Mal von der Bühne gegangen. Ich surfe umgehend zu Discogs und kaufe mir völlig entgrenzt "Kiss Me, Kiss Me, Kiss Me", "The Head On The Door" und "Pornography" auf Vinyl. Ich habe in dieser Nacht das Licht gesehen. Seitdem bin ich Fan. Vielleicht nicht so besessen wie Tessa, aber der Weg ist ja auch das Ziel.
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Rückblende in den November 2024. The Cure haben vor einigen Monaten ihr erstes Studioalbum seit 16 Jahren angekündigt. Herr Dreikommaviernull ist alleine ob der Aussicht unterwältigt. Mir geht diese ganze Nostalgie-Kaffeeklatsch böse gegen den Strich. Diese ganzen alten Dinosaurier, die sie alle mittlerweile zu nichts als einer Marke, einem "Brand" verkommen sind und sich durch die - freilich ausverkauften - Arenen schleppen, um nochmal so richtig den Rahm abschöpfen zu können. Und sie alle klingen lahmarschig, alt, staubrocken, gelangweilt, satt. "Alles nur Show, alles Fassade" (Blank When Zero), und jetzt reihen sich also auch noch The Cure da ein?
Der Teaser "Alone", knapp fünf Wochen vor dem Albumrelease veröffentlicht, ließ mich zunächst indifferent zurück. Das konnte ich jedoch noch auf meine traditionell ausgeprägten Unzulänglichkeiten schieben, mit einzelnen Songs außerhalb eines Albumkontexts irgendeine Verbindung aufzubauen. Aber dann kam der 1.November. Ein kalter, ungemütlicher, grauer Tag im Frankfurter Westen. Die Lohnarbeit ist heute besonders unerträglich und selbst die Aussicht auf das freitägliche Pizza-Ritual am Abend kann meine Stimmung nicht bessern. Ich könnte jetzt etwas fürs gute Gefühl brauchen, for the German Gemütlichkeit, und sei's nur die auf dem Plattenteller. Auf Instagram tauchen die ersten Beiträge mit Bildern des Vinyl von "Songs Of A Lost World" auf, und die ganze Welt scheint vor Begeisterung zu platzen. Das will in dem Rahmen nichts heißen, zum einen gehören die meisten Schallplattenfreaks genau zu jener oben beschriebenen Gruppe, der Musik mittlerweile kilometerweit am Arsch vorbei geht, solange man sich in dem süßen Kleister der Wehmut suhlen kann, zum anderen gehören Fans von The Cure zu den loyalsten Fans der Welt - die fallen auch auf die Knie, wenn Robert Smith den Beipackzettel eines Durchfallmedikaments auf Hindi vorliest. Und dennoch: ich werde jetzt auch ein bisschen wuschig. Ein bisschen sehr wuschig.
So wuschig, dass ich mich in meiner Mittagspause (zur Einordnung: ich stehe seit über 25 Jahren im Arbeitsleben und habe seitdem maximal 13 Mittagspausen gemacht!) ins Auto setze und zu einem verfickten Mediamarkt (!) fahre, um "Songs Of A Lost World" zu kaufen. Party like it's 1995, Party People! In jenen Zeiten bin ich nämlich auch am Veröffentlichungstag in den Frankfurter Musikladen gefahren, um direkt nachdem Inhaber Thomas Glück die Türen aufschloss, die so heißersehnte und just erschienene Platte mit nach Hause zu nehmen. Manchmal bin ich sogar von der S-Bahn Station Konstablerwache zu der ehemaligen Nummer 1 aller Frankfurter Plattenläden in der Stiftstraße GERANNT, weil ich es kaum mehr erwarten konnte, endlich mein zweites Wohnzimmer zu betreten. Heute renne ich nicht mehr, das Alter, Sie wissen schon. Dreißig Jahre später ist das Gefühl allerdings erschütternd ähnlich.
Als sich am Abend dann die Nadel zum ersten Mal auf die Schallplatte absenkt, hat sich die Indifferenz schon nach wenigen Sekunden in Luft aufgelöst. Ich bin entwaffnet. Wehrlos. Und alles, was ich in den nächsten Tagen und Wochen tun möchte, ist diese Platte zu hören. Zu versinken. In all dem Weltschmerz, all der Melancholie. Die Band hat sich mit dem Release viel Zeit gelassen, und sie lässt sich auch auf "Songs Of A Lost World" viel Zeit, ihre Musik atmen zu lassen. "Alone", "And Nothing Is Forever", "Warsong" und "Endsong" bauen sich Minute für Minute auf, bevor Smith schließlich mit seinem Gesang einsetzt. Das geht praktisch gegen alles, was heute en vogue ist und was sich die von der Überverfügbarkeit von Musik und von der ADHS-Überreizung geschlagenen Menschen heute so unter Musik vorstellen: Intros werden ersatzlos gestrichen, am besten geht's sofort mit dem Chorus los, die Strophen werden unauffällig in das Dauerfeuer aus hyperaktivem Melodiegeflacker gequetscht. Denn wenn's nach sieben Sekunden, irgendein moralisch verwahrloster Marketingmanager wird's wohl mit einer Excelkalkulation herausgefunden haben, nicht gefunkt hat, dann wird zum nächsten musikalischen Nichts geskippt, das einem hoffentlich druckvoller ins Gesicht kotzt.
The Cure müssen sich um sowas keine Gedanken mehr machen, denn die Zielgruppe will's natürlich genau so: alles ist Vibe, alles ist Tiefe, alles ist Vergegenwärtigung. Und so wurde "Songs Of A Lost World" so innig umarmt, wie ich es in den letzten 20 Jahren nur ganz selten erlebt habe. Nimmt man die Statistiken auf Discogs zum Maßstab, hat sich die Schicksalsgemeinschaft der verlorenen Welt innerhalb kürzester Zeit um diese Platte versammelt. Mittlerweile haben dort über 40000 Menschen angegeben, das Album entweder als LP, CD oder Tape gekauft zu haben - und das in nur drei Monaten nach Veröffentlichung. Man verzeiht mir bitte den Pathos, aber die Welt hat ganz offensichtlich auf "Songs Of A Lost World" gewartet. Es hat zum genau richtigen Zeitpunkt die Schmerz-und Reflektionspunkte von gleich mehreren Generationen getroffen.
Das ist auch deshalb außergewöhnlich, weil musikalisch hier so gar nichts nach Nostalgie klingen mag. Es gibt keinen Blick zurück, ich fühle keine Verklärung, ich höre kein wiederaufgekochtes Süppchen aus den Achtzigern. "Songs Of A Lost World" klingt zu jeder Sekunde nach The Cure und absolut zeitgemäß. Textlich ist es bemerkenswert, weil Smith sich in fast jedem Song mit dem Älterwerden befasst, mit dem Zerfall, dem Loslassen, der Einsamkeit, der Isolation, den immer und immer wieder so quälenden Fragen über das Leben und ganz besonders den Tod. Die immer erdrückendere Gewissheit über die Endlichkeit der eigenen Existenz, aus der so viele Fragen und so wenige Antworten im Raum stehen. Mir geht das sehr nahe. Und ich habe noch nicht entschieden, ob es eine gesunde oder ungesunde Nähe ist.
It's all gone, it's all gone
Nothing left of all I loved
It all feels wrong
It's all gone, it's all gone, it's all gone
No hopes, no dreams, no world
No, I, I don't belong
No, I don't belong here
Am Ende des zehnminütigen und hochdramatischen "Endsong" wirft uns Smith ein drei Mal nachhallendes "Nothing" vor die Füße.
"I knew I wasn't making music to release it, it was more of a way to provide myself a safe space and I didn't expect anything to happen, but it looks like it did. My safe space is now out for others to join." (Eftihis aka Theef)
Ich hatte es an anderer Stelle schonmal erwähnt, dass 2024 aus musikalischer Sicht eigentlich ein sehr rockiges Jahr für mich war, und auch wenn die bisherige Bestenliste bislang nur wenige Beweise für jene These ausspuckte, hörte ich im vergangenen Jahr soviel - im weitesten Sinne - Rock wie schon lange nicht mehr. Irgendein altes und verrostetes Scharnier hatte sich wohl wieder ein bisschen gelockert. Ich hatte wieder mehr Lust auf etwas Lautes und Dreckiges, auf Ausgelassenheit und Extrovertiertheit. Ich will nicht über Gebühr mit den vermeintlichen Gründen für diese Entwicklung langweilen, aber ich hielt mich seit Juni 2024 sehr regelmäßig in unserer modrigen Gartenlaube zum Training auf und die Deadlifts gehen mir mit Krach deutlich einfacher von der Hand als mit introspektiven Ambientsounds. Dabei war ja auch nicht alles Rock, was rockte: geradliniger four to the floor Techno mit viel Drive eignet sich zum Heimtrainer-Irrsinn mindestens genauso gut. Und genau hier tanzt "Sun & Smoke" aufs Radar.
"Sun & Smoke" ist eines jener Alben, die schon beim allerersten Kontakt einen Anker setzten, irgendwas war hier schon ab den ersten Sekunden des noch recht ätherischen Openers "Sky Textures" besonders - und um die weitere Entwicklung gleich vorwegzunehmen: es sollte noch besser, noch eindrücklicher werden. Denn "Sun And Smoke" ist nicht zuletzt für A Strangely Isolated Place-Verhältnisse außergewöhnlich lebhaft; in Sachen hypnotisierender Intensität und Dancefloor-Kompatibilität lassen sich, um im Labelkontext zu bleiben, höchstens Vergleiche mit Yagya's "Stormur" ziehen. Banger folgt auf fuckin' Banger. Mich traf das sofort ins Herz. Es macht ungeheuren Spaß, diese Platte zu hören. Bei allem Drive, bei aller Ausdauer, bei aller Tanzbarkeit liegen hier doch viel mehr Komplexität und ein profundes Verständnis von visionärem Sounddesign unter der Oberfläche.
Dabei erschien "Sun & Smoke" schon 2019 als zweistündiges Mixtape auf Soundcloud und Youtube, wo es in Szenekreisen einigen Staub aufwirbeln konnte. Theef, ein bis dato relativ unbekannter Produzent aus Griechenland, stellte seine unveröffentlichten Tracks für das Set zusammen - und Ryan von A Strangely Isolated Place bekam Wind von der Sache. In den späten Abendstunden wurde "Sun & Smoke" zu seinem regelmäßigen musikalischen Begleiter, sodass er Theef schließlich kontaktierte und die beiden über eine Zusammenarbeit sprachen. Ryan pickte anschließend die favorisierten Tracks für eine Vinylveröffentlichung aus. Auf Bandcamp ist auch der vollständige, zwei Stunden laufende Mix verfügbar, der übrigens nicht nur beim Training, sondern auch ganz hervorragend beim Arbeiten funktioniert. Man darf mir vertrauen, ich hab's in unzähligen Excelsessions für euch getestet. Die Platte war gar so erfolgreich, dass das Label ausnahmsweise einen Repress nachschob, um die Nachfrage zu bedienen.
File under: Wenn Jean Michel Jarre im Jahr 2024 ein Technoalbum produzieren würde.
MARY LATTIMORE & WALT McCLEMENTS - RAIN ON THE ROAD
"There's a thing called accountability and you need to open up an account." (Sam Loudermilk)
Und da saß ich eines Morgens auf unserer durchgesessenen, alten Couch mit der ersten Tasse Kaffee des Tages. Es ist 8:30 Uhr. Juni. Der Frühling schwingt noch ganz leise nach, die Luft vibriert noch ein bisschen vom Wiedererwachen des Lebens nach dem Winter. Das Licht ist frühlingshell, selbst wenn es heute eigentlich kein Durchkommen gibt. Der Regen hat nachgelassen, es riecht nach Petrichor und nach nassem Holz. Die letzten vom Dach perlenden Wassertropfen fallen auf den Efeu auf der Terrasse und nach jedem leisen *ping* mischt sich der Duft von in den Händen zerriebenen Blättern in die Atmosphäre.
Ich habe gerade "Rain On The Road" aufgelegt und es läuft der zweite, fast 13-minütige Song "The Poppies, The Wild Mustard, The Blue-Eyed Grass". Ich lese den politischen Essay von Stefan Gärtner in der aktuellen Ausgabe der Titanic, "Some Of Us: Strangers", und in die ohnehin trübe Stimmung wegen des bevorstehenden Arbeitstages vermengt sich noch die Ohnmacht über die Zustände von praktisch allem, Welt, Leben, Menschen, das ganze Scheißuniversum ist einfach fucked.
Und da saß ich also eines Morgens auf unserer durchgesessenen Couch und baller' mir die erste Tasse heißes Agonie-Gulasch in den gierigen Schlund - und plötzlich kippt hier etwas, irgendwas im Raum scheint sich zu verändern. Mein Blick ist jetzt nicht mehr auf Gärtners Text gerichtet, sondern auf den Plattenspieler. Mein Oberkörper fällt nach hinten ins weiche Kissen. Ich höre zu. Habe das Gefühl, ich höre dabei zu, wie sich Leben anhört. Wie sich Erleben anhört.
Mary Lattimore an der Harfe und Walt McClements am Akkordeon haben "Rain On The Road" in einem verregneten Dezember in Los Angeles aufgenommen. Geschrieben wurden die fünf Exkursionen ins Licht auf gemeinsamen Tourneen. Ihre Kompositionen entwickeln sich aus leisen, dürr verästelten Field Recordings und Tontupfern aus Lattimores Harfe und McClements Akkordeon zu magischen, hypnotischen Wellen und Mustern, die in ihren intensivsten Momenten eine bemerkenswerte erzählerische Kraft entwickeln. Viel Demut, viel Faszination - ja, viel Bewusstsein für die Wunder dieser Welt.
"You called me a vagina? How dare you?" (Kurt Cobain)
Eigentlich bekommt man über die komplette halbe Stunde des neuen Albums von Thomas Dybdahl eine Gänsehaut auf den Körper tapeziert. Der norwegische Songwriter jammert, jauchzt, haucht, flüstert seine Kindheitserinnerungen direkt aus seinem Herzen heraus und ist dabei vielleicht so nah bei uns wie nie zuvor.
Die Songs sind dabei in ihrer Anlage auf das absolute Minimum reduziert; psychedelische Experimente, wie sie beispielsweise auf "The Great Plains" zu hören waren, gehören also der Vergangenheit an. Aber was hier drum herum passiert, ist schlicht eine Meisterleistung in Sachen Arrangement und Inszenierung. Zusammen mit dem Stavanger Symphony Orchestra, das sehr subtil, aber stets wahrnehmbar die Dynamiken erkennt und sie in den richtigen Momenten verstärkt oder reduziert (beispielhaft sei auf das unten verlinkte "Graffiti Boy" verwiesen), wirft Dybdahl seine Erlebnisse auf die musikalische Leinwand und lässt keinerlei Zweifel daran aufkommen, dass hier jede Millisekunde durchgetaktet ist. Was für ein Selbstverständnis, was für ein Vertrauen in die eigene Vision und die eigenen Fähigkeiten.
Und diese Produktion schon wieder - möglicherweise erinnert sich noch jemand an meine Worte zum fantastischen "All These Things" Album aus dem Jahr 2018, das seinerzeit mit der Begleitband von Sheryl Crow aufgenommen wurde und schon außerweltlich gut klang. "Teenage Astronauts" ist ähnlich unmittelbar, so präsent, so intim.
After rape, abortion, lover's betrayal, child's birth, child's death,
husband's abuse
Tricking to buy baby shoes
She must
Be called a muse
Which is just a synonym for use
Put upon pedestals
Dainty and protected
And because of that disrespected
Victorianized
Made a paradox of famous anonymity
Left to go insane with too much femininity
Staring at yellow wallpaper
(Ursula Rucker, "What A Woman Must Do", 2003)
"Socha" ist eine Messe. Ich meine das nicht im religiösen Sinne. Wobei, vielleicht...doch?! Es hat einen ganz besonderen Pull, einen Drang zur Ernsthaftigkeit, auch etwas Asketisches. Vor allem letzteres mag auf den ersten Blick eine irritierende Einschätzung sein, denn eigentlich gibt das die Musik nicht so recht her. Die ist zwar minimalistisch, aber nicht selten dennoch theatralisch, brodelnd, gewaltig und verbindlich. Ganz bestimmt ist sie in der Schattenwelt zu Hause, in alten, dunklen Gemäuern, deren Inneres von an der Wand hängenden Fackeln erhellt werden.
Das Bild kommt nicht von ungefähr, weil es sich manchmal so anfühlt, als würde ich nachts durch ein Kloster laufen, und zwar im 17.Jahrhundert. Ich werde garantiert daran scheitern, hier präzise herauszuarbeiten, wie sich Fülle und Minimalismus, Askese und Sinnlichkeit auf "Socha" miteinander verbinden, also nähern wir uns lieber mit einem Zitat an. Johan Edlund von der Heavy Metal Band Tiamat sagte mal über Dead Can Dance, deren Musik würde ihn an die unterschiedlichsten Orte versetzen, mal stehe er in einer riesigen Kathedrale, mal in einem tiefen Wald. Meine Theorie dazu ist, dass Musik in solchen Ausnahmefällen irgendeine Verbindung ins Innere findet und dort an gelebte Leben andockt, an Erinnerungen, Ängste, vielleicht auch ans Unterbewusstsein oder einfach nur an die Dose mit veganem Heringssalat, der das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten hatte, whoopsy - und dort eine Art Feedbackloop erzeugt, der dann mit Bildern antwortet.
"Socha" gelingt ein ähnlicher Verbindungsaufbau. Vielleicht sind es die zahlreichen Spoken Word Passagen, die mystischen Gesänge aus unterirdischen Höhlensystemen, die Atemgeräusche, die aus der Ferne über offene Felder rituell-donnernden Trommeln, die "Socha" auf mich so...sakral wirken lassen.
Ein ganz bemerkenswertes, hintergründiges und inspirierendes Album.
"Zu Deutschland noch eins: Wenn man Kriege verhindern will, darf man nicht der drittgrößte Waffenexporteur sein wie Deutschland und an jedem Krieg verdienen." (Gregor Gysi)
Erst in allerletzter Sekunde ist mir diese Neuinterpretation von Warmths Album "Parallel" in die Jahresendabrechnung geschlittert. Das Original erschien im Jahr 2018 und gilt für Genrefreunde mittlerweile als kleiner Klassiker des minimalistischen Ambient. Wie bereits auf seinem Album "Essay" gelang dem aus Valencia stammenden Produzenten Agus Mena auf "Parallel" die Inszenierung seiner Musik mit majestätischer Eleganz, ohne jeden Anflug von Dramatik. Die Weichheit seines Sounds und die außerordentlich subtilen und geschmackvollen Verschiebungen in den unterliegenden Schichten sind legendär, weshalb "Parallel" sich auch bestens für Schlafmusik eignet. Um Missverständnisse zu vermeiden: das ist alles andere als despektierlich gemeint. In diesen Zeiten sollten wir glücklich über alles sein, was uns diesen ganzen Schwachsinn da draußen für wenigstens ein paar Stunden entfliehen lässt, ohne alle zehn Minuten schweißgebadet aufzuwachen.
Für diesen im September 2024 erschienenen zweiten Blick auf das Album hat Warmth im Vergleich zum Originalwerk mehr Lichtschattierungen, mehr Reflektionen (pun intended) eingehäkelt, die die Stimmung für mein Empfinden etwas mehr in die nicht mehr ganz so frühen Morgenstunden schweben lassen. Mehr Hoffnung, mehr Bewusstheit, mehr Vertrauen. Alles für einen neuen Tag.
Der medizinische Einsatz von "Parallel (Reflection)" zur Behandlung von Angstzuständen sollte in Betracht gezogen werden.
"Experiences are the most precious thing you have." (Mark Burgess)
Ein Koloss. Über fast 90 Minuten hat der US-Amerikaner Drew Sullivan glitzernden Sterbenstaub über diese Platte rieseln lassen, der sich in den höchsten Sphären mit den eigenen Lebensreminiszenzen verbindet und sich dort vernetzt, eins wird mit den internen Schaltkreisen, mit Hoffnungen, Ängsten, Glücksgefühlen, Trauer, Liebe.
Drew nennt seinen Sound "Glambiant" und als ich ihm kürzlich via Instagram mitteilte, wie einzigartig und originell dieser Ansatz ist, antwortete er: "Yes indeed as I’ve always loved the glam esthetic that can be applied to ambient in ways that make everything just bigger!" - und auf "Do We Become Sky?" wirkt tatsächlich alles ein bisschen größer. Nicht notwendigerweise im Sinne eines Brock van Wey/bvdub, der schon im Leerlauf auf der Hochebene operiert und von dort wahre Orkane über das Land zu schicken vermag. Drews Musik existiert im Kern in einem Kokon, sie ist introspektiv, zurückhaltend und fürsorglich. Ihm gelingt auf "Do We Become Sky?" die behutsame Expansion aus diesem Geflecht. Er öffnet damit den kleinen Raum der Einkehr, macht ihn durchlässiger für Austausch, für Wachstum, für Licht.
Im dreizehnminütigen Herzstück des Albums "Devastation Is The Path To Recreation" trifft dieses Licht mit fast ungebrochener Wucht auf den sich ausdehnenden Raum und macht ihn damit begehbar. Spürbar. Eigentlich schaut man seinem eigenen Universum beim Urknall zu.
"I like the idea that something’s rare and ‘unobtainable’, and that’s all fine and good and all that shit. But I’m not making this music for the records to sit on the shelf; they’re meant to be heard and shared with other people, they’re meant to be danced to, to be played so much they get worn out and you gotta buy another copy; that’s why I re-press!" (Theo Parrish)
Schon der erste Ton des Openers "OPEN, OPEN" ist ikonisch. Und er ist laut. Er schafft Aufmerksamkeit, Bewusstsein für das, was kommt. Über die nächsten vier Minuten des Tracks bleibt das Thema im Raum und schafft Weite und Tiefe, bevor sich weitere Türen öffnen und sich mittels bedrohlich nähernden Bassdrones erstmals die Farben drastisch ändern. Dunkelheit zieht ein.
Das Spiel mit Licht und Schatten, Perspektiven und Brennweiten dominiert den weiteren Verlauf von Ø. Von Autechre-inspiriertem IDM, dem das Konzept immanent ist, mit minimalen Verschiebungen den maximalen Effekt der Expansion zu erreichen, über heavy duty Bass-Glitches mit dystopischer Soundtrack-Atmosphäre, trüb und kalt wirkenden Ambientexkursionen, über denen ein seltsam nostalgischer Grauschleier liegt, so als würde man in eine bereits gelebte Parallelwelt hineinschauen bis hin zu Unterwasser-Techno in "Coil", hat Salvatore das Konzept von Ø praktisch am lebenden Objekt durchgespielt: "How do you start from a place of nothingness, again and again?"
Die erste Frage lautet möglicherweise, ob es denn diesen Ort des Nichts tatsächlich gibt, denn was hier aus jedem Beat, aus jedem Klick, aus jeder angedeuteten Melodie, aus jeder Spannung heraustropft sind Überzeugung und Klarheit. Sie sind das Substrat, aus dem Mercatante seine Tracks baut, sie verästelt - und sie immer weiter unnachgiebig verfeinert. Externe Einflüsse sind genau das: extern. Das Innere lässt sich hingegen weder aufhalten noch ausschalten.
"Integration? Ich bin so frei, von dieser Scheißkultur nichts wissen zu wollen. Deutschlands Werte gehen mir allesamt am Arsch vorbei, ich singe keine Hymne, folge keiner Flagge, werde einen Teufel tun, auf das Grundgesetz, diesen Waffenstillstandspakt im Klassenkampf (Rosa Luxemburg), einen Eid abzulegen, und wünschte mir, jeder Mensch, der hierher geflohen ist, seine Haut vor unseren Exportwaffen zu retten, wäre so frei, es zu halten wie ich." (Hermann L. Gremliza)
Wenn mich jemand nach den zwei besten Metalplatten der letzten 20 Jahre fragen täteräte, müsste ich ohne Zögern "Winter Ethereal" und "Theories Of Flight" nennen, verbunden mit der Einlassung, dass danach für eine VERDAMMT lange Zeit erstmal nichts mehr kommt, weil Heavy Metal und - scheißrein, machen wir es gleich ein bisschen universeller - Rockmusik mittlerweile ein traurig vor sich hindampfender Misthaufen ist; und wer jetzt mit den Augen rollt, weil Florian wieder was "Schlimmes" (Heidi Kabel) gesagt hat, hört sich einfach eine beliebige 2024er Metal-Playlist an und dann sprechen wir uns nochmal. Wie viele Offenbarungseide kann ein Genre aushalten, das den Erfolg von Ghost und Babymetal ermöglicht? Na?! Antworten bitte an die bekannte Adresse, irgendwas mit ZDF und Mainz oder was weiß ich.
Was die beiden eingangs erwähnten Alben indes eint: sie wurden federführend von Jim Matheos ausgedacht, dem Kopf und Herz von Fates Warning. Für "Really Good Terrible Things" haben die zwei hauptsächlichen Protagonisten der Progressive Metal-Legende, also Gitarrist Matheos und Sänger Ray Alder ein neues Projekt gestartet, das ein klein wenig so klingt, als sei es ihr Ziel gewesen, die introvertiertesten Momente ihrer Hauptband seit deren 1994er Album "Inside Out" auszuwählen und sie in zehn neuen Songs miteinander zu verschmelzen. Es ist nicht schwierig, dieses äußerst ruhige und melancholische Album darüber hinaus mit eher unerfreulichen Attributen zu bedenken; "anachronistischer Kitsch" ist vielleicht noch die aufgeräumteste Beleidigung, die mir einfiele. Denn so visionär Matheos für Fates Warning bisweilen agierte, so prähistorisch fällt sein Umgang mit Sounds und Arrangements in anderen Projekten aus, wie beispielsweise auch bei seinen Alben unter dem Namen Tuesday The Sky.
Ich kann all diese vermeintlichen Defizite anerkennen und gleichzeitig sind sie mir völlig egal. "Really Good Terrible Things" hat mir ab der ersten Begegenung den Schlüpper weggedroschen, und selbst wenn es da noch einen Hauch von Gegenwehr gab, war spätestens beim zweiten Song "Flowers In Decay" alles vorbei. Und nur, damit ich es gesagt habe: was das für mich, meinen Hang zum anachronistischen Kitsch und für meine obigen Einlassungen zum aktuellen Zustand des Metals bedeutet, ist mir auch wurscht. "Really Good Terrible Things" ist dunkel und warm, zurückgezogen und introspektiv, melodisch herausragend und außerdem, stating the obvious, sensationell gesungen. Wenn mir Kälte und Dunkelheit unter die Haut kriechen, wenn die zermürbenden Zweifel wie ein wütender Mob vor der Tür stehen, wenn die Angst naht, sind Alder und Matheos die Retter in der Not. Ein Album wie ein heißes Bad in veganer Eselsmilch. Ich will hier nie wieder raus.
"Nice guys, but absolutely clueless." (Vic Fontaine)
Ein kompletter Blindflug war zunächst das Debutalbum von Xenia Reaper - und ich weiß bis heute nicht, wer sich hinter dieser Produktion verbirgt. Außer einer Handvoll Singles/EPs seit dem Jahr 2022 (u.a. auf XENOPLEX) gibt es praktisch keine Informationen. Ähnlich rätselhaft ist die Musik. In die mal schwerelosen und eisgekühlten, mal mysteriös und tiefschwarzen Ambientflächen reißen heftige Bass-Exzesse und Drum 'n' Bass-Laser tiefe Schluchten, hinzu wirft Reaper unheilvolles Geknister, tiefes Brodeln und flüchtiges Stimmengewirr in diesen wilden, herausfordernden Mix. Unvergessen jener eindrückliche Moment, als mir der erste Bass von "Sued" in die Glieder fuhr und es sich anfühlte, als würden die umgebenden vier Wände zunächst vibrieren und dann kollabieren.
Vom wilden Gefuchtel mit brechenden Soundartefakten in "Lust05", Stop-And-Go-Jungle-Reminiszenzen mit eingeschalteten Nebelleuchten in "MxB" bis hin zum intensiven Sci-Fi Geballer im Höhepunkt "Lllaao3", für das ich gerne den Kopf in die größte Bassbox des Universums stecken möchte, während der Alien-Barkeeper mir einen Ketamin-Rucola-Smoothie mixt, wirkt "Luvaphy" einerseits wie eine Dehnungsübung für wilden Zeitgeist-Shit, andererseits baut es irgendwie neue Nervenbahnen ins Dachgeschoss.
Man fühlt sich hinterher ein ganz kleines bisschen schlauer.
Der alljährliche Rückblick auf das abgelaufene Musikjahr fällt für 2024 ein bisschen aus dem gewohnten Rahmen. Das liegt vor allem an den Planungen für den Blog für 2025, und dafür lasse ich jetzt die Katze aus dem Sack, andernfalls sitze ich auf der Idee für die nächsten 340 Jahre. Und vermutlich noch länger.
Wenn wir also das Jahr 2024 betriebsbedingt abgehakt haben, beginnt die große Party mit dem ultimativen Listenoverkill.
Die 200 besten Alben der 1990er Jahre.
Ich wünschte, die folgende Einlassung wäre eine Übertreibung, aber leider ist's die Wahrheit: ich arbeite an dieser Aufstellung seit nicht weniger als zwei Jahren und es war ein absoluter pain in the ass. Eigentlich ist es das noch immer. Für jemanden, der sich praktisch nie entscheiden kann und wirklich jedes noch so irrelevante Detail achthhundert Mal überdenkt, reflektiert, wieder hin-, her- und umschmeißt, für den der so oft zitierte "Mut zur Lücke" dann eben doch nur ein billiges Lippenbekenntnis ist, weil die Panik einsetzt, irgendeine Platte am Ende doch vergessen oder, schlimmer noch, nicht ausreichend gewürdigt zu haben, für den ungekrönten König der Prokrastination, ist diese Übung ein komplettes Himmelfahrtskommando. Und ich rede hier wohlgemerkt nur vom Auswahlprozess für die in Frage kommenden Platten - alleine für den Gedanken, schlussendlich noch all das für die jeweiligen Reviews in Worte zu fassen, brauche ich sehr wahrscheinlich die Unterstützung von einer starken Fliegenpilz-Stechapfelterrine (mit viel Maggi).
Jedenfalls, das ist die Planung für das Jahr 2025. Und um all das nicht völlig aus dem Ruder laufen zu lassen (und wir alle wissen jetzt schon, wie arg das aus dem Ruder laufen wird, hurra!), kann ich nicht wie in den vorangegangenen Jahren im Mai 2025 mit meiner Lieblingsplatte des Jahres 2024 um die Ecke kommen. Also, ich kann natürlich schon, denn wen bitte interessiert der ganze Scheiß hier denn wirklich - I mean, come on?! Aber, um der Wahrheit die Ehre zu geben: ich will nicht. Daher werden sowohl die Kommentare als auch die Postingzyklen zu den 2024er Platten kürzer als gewohnt ausfallen, damit wir damit spätestens im Januar des nächsten Jahres damit durch sind und gemeinsam tief Luft für das holen können, was danach folgen wird: die 200 besten Platten der 1990er Jahre.
Jetzt hab' ich es hier (unter Schmerzen!) reingeschrieben, jetzt muss es auch so (unter Schmerzen!) passieren.
Ich schwör': ein allerletztes Mal gibt's den Blick zurück ins Jahr 2023.
Danach...ohjehmine und spoiler alert: geht er sogar noch ein paar Jahre weiter zurück.
Machen wir also jetzt final den Deckel auf 2023, is' ja auch schon bald August. Grundgütiger.
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EARTH HOUSE HOLD - HOW DEEP IS YOUR DEVOTION
Eigentlich war diese Werkschau von Brock van Wey's Earth House Hold-Projekt für lange Zeit meine Nummer 1 des Jahres 2023, bis ich mich schlussendlich dagegen entschied, eine Compilation in die Bestenliste zu wuchten, noch dazu auf die Spitzenposition. Dann ist es allerdings heute umso wichtiger, über "How Deep Is Your Devotion" zu sprechen. Während ich diese Zeilen schreibe, ist es 10 Uhr an einem Sonntag im Juli 2024. Es ist sonnig, aber glücklicherweise nicht zu warm. Das Fenster ist sperrangelweit offen und in Sossenheim herrscht eine Ruhe, wie ich sie als Kind von den sommerlichen Besuchen bei meinen Großeltern im pfälzischen Nirgendwo kenne. Man spürt das Nichts mehr, als dass man es hört. Es duftet nach schwarzem Kaffee mit einem Hauch Bergamotte. "How Deep Is Your Devotion" läuft, und ich wünsche mir, dass die Zeit stehenbleibt. Die Entwicklung zu verfolgen, die Brock über die vier EHH-Alben auf die muskalische Leinwand gezaubert hat, das Abdriften eines so oder so schon sehr speziellen Deep House-Ansatzes in eine immer weiter gedehnte, dekonstruierte, eigentlich sich in Auflösung befindliche Version mit solch skurriler Schönheit und mehr versteckten, vergrabenen, vernebelten Zwischentönen, als ich jemals hören könnte, ist das Eine. Das andere ist, dass man sich wünscht, diese Musik würde nie enden. Dieser Moment würde nie enden.
Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2023.
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FILM SCHOOL - FIELD
Shoegazing in LA. Das kalifornische Sextett um Bandgründer und Chef im Ring Greg Bertens fiel mir erstmals mit ihrem zweiten Album "Film School" im Jahr 2006 positiv auf, und ich bin hocherfreut, dass die Truppe über die ganzen Jahre durchgehalten hat - das gilt umso mehr, wenn noch so starke Platten wie "Field" in ihren Herzen und Köpfen schlummern. Wer vom aktuellen Slowdive-Album auch so enttäuscht wurde, darf schon mal entspannt das nächste Tütchen drehen: "Field" ist ultrakompakt komponiert, hat einen guten Drive und trotzdem soviel Tiefe, dass einem Songs wie "Up Spacecraft" oder "Don't You Ever" (mit einem 1995er Monster Magnet-Gedächtnisriff) sofort unter die Haut kriechen.
Erschienen auf Felte, 2023.
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RAY ALDER - II
Soloalben sind immer so eine Sache. Eigentlich stehen sie schon ab dem Moment der Ankündigung ein paar Stufen unter dem Output der Hauptband. Das Solodebut von Fates Warning-Wundersänger Ray Alder "What The Water Wants" aus dem Jahr 2019 war im Rückblick und abgesehen von Alders gewohnt brillantem Gesang eine Enttäuschung. Zu zahm, zu oberflächlich, und irgendwie auch zu egal. Folglich waren meine an "II" geknüpften Erwartungen von leichter Unterkühlung geprägt, aber siehe da - "II" ist um Welten besser als das Debut, ist zu gleichen Teilen emotionaler als auch heavier. Insgesamt inszeniert Alder seine Musik natürlich gradliniger als im Kontext von Fates Warning, und sein immer noch vollkommen intaktes Gespür für einnehmende Gesangsmelodien im Zusammenspiel mit bisweilen satt tiefergelegtem Unterwasser-Riffing, erzeugen ein ums andere Mal echte Überraschungsmomente. Das gilt mittlerweile nicht mehr für Alders Gesangsleistung: man erwartet Übermenschliches - und das bekommt man dann auch. Weiß Gott keine Selbstverständlichkeit, aber das hat er nun davon, so fucking gut zu sein. SO FUCKING GUT!
Erschienen auf Inside Out, 2023.
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DANNY PAUL GRODY - ARC OF DAY
Und nochmal Kalifornien, dieses Mal San Francisco. Sein Album "In Search Of Light" aus dem Jahr 2011 hatte ich seinerzeit als "Sorgenbrecher" bezeichnet, und seine Musik ist auch 13 Jahre später noch immer genau das. Ich hatte es leider versäumt, über sein 2021er Werk "Furniture Music II" zu berichten, das mir in der Pandemie Hoffnung und Licht ins Sossenheimer Outback brachte, aber das passiert mir nicht nochmal. Die Ruhe und die Kontemplation, die vom inneren Kern von "Arc Of Day" ausstrahlt, macht mein Leben besser. Ich schmecke die Luft an der US-amerikanischen Nordwestküste, spüre den Sand zwischen den Zehen, die Sonne auf der Haut. Eigentlich ist das Psychotherapie, nur ohne Reden. Zuhören sollte man aber.
Erschienen auf Three Lobed Recordings, 2023.
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AYAAVAAKI & PURL - ANCIENT SKIES
Purl sagte kürzlich über "Ancient Skies", es sei eine der einzigartigsten Platten, die er je aufgenommen hat - und wer sich darüber im Klaren ist, wie viele Alben dieser Kosmopolit schon veröffentlichte und wie bescheiden er für gewöhnlich auftritt, mag erahnen, wie wichtig ihm ausgerechnet dieses Werk ist. Gleichzeitig kann der Eindruck entstehen, "Ancient Skies" sei ein wenig vom Radar der Ambientfans gerutscht und damit also unterschätzt und/oder übersehen - und das muss ich für meine Wenigkeit leider bestätigen. Es gibt einfach viel zu viel Musik und das Leben raubt mir viel zu viel Zeit - und dann legt Purl eben noch immer ein atemberaubendes Veröffentlichungstempo vor. Hinzu kommt: "Ancient Skies" ist in der (digitalen) Orginalfassung fast zweieinhalb Stunden lang, und einfach zu hören ist das nicht unbedingt. "Ancient Skies" ist einerseits dramatisch und opulent, andererseits spielt sich so viel unter den hörbaren Schwingungen dieser Musik ab, ist subtil, manchmal mystisch. Wenn der halbe westliche Planet damit beschäftigt zu sein scheint, das durchs Social Media-Dauerfeuer schön herangezüchtete ADHS zu füttern, erscheint es lohnenswerter denn je, sich einfach mal für zwei Stunden auszuklinken.
Hinweis: die Doppel-LP hat lediglich acht (statt vierzehn) Songs in zum Vergleich zur digitalen Version editierten Fassungen.