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04.09.2022

OVERKILL - THE ATLANTIC YEARS 1986 - 1994 (Vinyl Boxset Review)


Ich hatte es im letzten Videoreview zu Voivods "Forgotten In Space"-Boxset bereits mehrfach angedroht, hier ist es nun: der zweite Beweis dafür, dass ich es mit vollmundigen Einlassungen wie "Ich mag keine Boxsets" oder despiktierlichen Fragen wie "Wer soll denn den ganzen Scheiß kaufen?" besser sein lassen sollte. 

Ich habe mir also Overkills "The Atlantic Years 1986 - 1994"-Rückschau vorgenommen und dabei versucht, es wenigstens ein kleines bisschen weniger zäh werden zu lassen als mein Review-Debut, und was immerhin den Blick auf die Uhr betrifft, ist mir das auch ausnahmsweise gelungen. Inhaltlich gibt es immer noch konfus abschweifendes Gelalle - aber das sind meine werten Leser über die letzten 15 Jahre schließlich auch gewohnt. Und ein wenig Kontinuität erlaube ich mir durchaus in diesen so chaotischen Zeiten. Weil ihr es mir wert seid. 

Enjoy!


 


26.08.2022

Die Top 10 Der Besten Voivod-Songs



Schon wieder Voivod? 

Schon wieder Voivod!

Ende des vergangenen Jahres erhielt ich die Möglichkeit, für die 160. Ausgabe des legendären Ox-Magazins über meine Lieblingsband zu schreiben (Vielen Dank, Simon!). Genauer gesagt, ich erhielt die Möglichkeit, über die zehn besten Songs meiner Lieblingsband zu schreiben. Das war eine Ehre für mich, einerseits wegen des Ox, andererseits wegen Voivod - ich durfte das also auf keinen Fall zersägen. 

Und obwohl ich sofort Feuer und Flamme war, mich in ihre Platten einzugraben und umgehend loszulegen, wusste ich um die große Herausforderung - und wurde gleich mal für die nächsten Tage ausgebremst. Nicht nur wegen der umfangreichen und qualitativ so konstant hochklassigen Diskografie der Band, was eine Auswahl so oder so schwierig machen würde, sondern auch wegen ihres so diversen Repertoires. Wie soll ich diese enorme Bandbreite abdecken, von dem räudigen, chaotischen Thrash Metal zu Beginn ihrer Karriere über eine Heavy Metal-Version von Pink Floyd oder King Crimson bis hin zu einem verwehten Progressive-Industrial-Golem? Oder diesen Wagemut? 

Ihre einzelnen Entwicklungsphasen, und jetzt, wo ich's schreibe, weiß ich gar nicht mehr, was ich mit einer "Entwicklungsphase" eigentlich meine, oder ob sowas in ihrer Realität überhaupt existierte, haben schließlich gleich mehrere Eigenleben entwickelt. Und je weiter ich mich in ihre Welt über die letzten 25 Jahre eingegraben habe, desto mehr wucherte das Selbstverständnis dieser Band, ihr Anspruch und ihre Progressivität über die Brüche in ihrer Musik. Und all das soll ich in nur zehn Songs abdecken? 

Ich brütete über zwei, drei Wochen jeden Tag über dieser Liste. Dezent obsessiv. 

Als die Songs für die Top 10 endlich ausgeknobelt waren, ging es endlich ans Schreiben - und damit begann das eigentliche Martyrium: Zeichenlimit. 

Ein Zeichenlimit. Ich! Ein Zeichenlimit! Ha! Hahaha! 

Es war eine verdammte Pest. Aber ich liebte jede Sekunde der Auseinandersetzung mit den Songs dieser einzigartigen Band.

Enjoy!

 


(Klicken für eine vergrößerte Ansicht)


Für eine möglicherweise verbesserte Lesbarkeit gibt es hier auch noch die Textversion:



„Tribal Convictions“ 
"Tribal convictions" vom Sci-Fi-Thrash Meilenstein "Dimension Hatröss" ist einer der großen Klassiker der Bandgeschichte und bedeutete 1988 den Durchbruch für VOIVOD – auch dank des Videos, das MTV in sein Programm aufnahm und damit den Bekanntheitsgrad der Kanadier signifikant vergrößerte. Schneller waren fünf Minuten seither nie wieder vorüber. Ein durchgeknalltes Arrangement, das auf eine bizarre Weise trotzdem catchy war, gekrönt von einem umwerfenden Solo von Riffmeister Piggy. Öffnet Türen in Deinem Kopf, die vorher verschlossen waren. 

„Tornado“ 
Für das dritte Album „Killing Technology“ schluckte die Band erstmals ihre Supervitamine. Die Energie dieser Aufnahmen ist legendär und „Tornado“ macht seinem Namen alle Ehre: ein unbarmherziges und außer Kontrolle geratenes Getöse, das vor allem wegen Piggys dissonanten Gitarrenriffs und Aways geradewegs durch Panzerglas marschierenden Schlagzeugs den Vagusnerv mit Juckpulver traktiert. Dazwischen gibt’s nervöse Breaks und manisches Geschrei, die das Chaos nur noch mehr anheizen. Blutdrucksenker, olé!

„Forlorn“ 
Das zweite und letzte Album der Triobesetzung mit dem Bassisten und Sänger E-Force über einen der beiden Monde des Planeten Mars ist eine apokalyptische Tour de Force mit „Forlorn“ als glühend-intensivem Höhepunkt. Die brachiale Mixtur aus verwehtem Industrial Metal und kauzigem Progressive Rock vertont Einsamkeit und Verzweiflung im Zeichen des Untergangs und geht dabei stets über jede physische und emotionale Schmerzgrenze hinaus. „Forlorn“ ist übrigens der einzige Song dieser Ära, der auch nach der Reunion mit Sänger Snake ab und an den Weg in die Live-Setlist fand. Gewaltig. 

„Post Society“ 
Nach dem Tod ihres Riffmeisters Piggy im Jahr 2005 versackte der VOIVOD auf manch neuem Album im stilistischen Verwaltungsmodus; statt irrwitziger Reisen durch die Galaxis bog man lieber an der Autobahnraststätte Ennepetal ab. Mit „Post society“ und den neuen Crewmitgliedern Chewie (Gitarre) und Rocky (Bass) nahmen unsere Helden wieder direkten Kurs auf Centaurus A: der erfreulich angepunkte Titeltrack fächert Psycho-Breaks wie in allerbesten Zeiten auf und zeigt die Band in funkensprühender Spiellaune mit erstaunlichem Drive. Eine Wiedergeburt. 

„Clouds In My House“ 
„Angel Rat“ war nach Aussage von Schlagzeuger Away das Album, bei dem der Band der Wille zu „härter, lauter, schneller“ fehlte. Stattdessen zeigten sich VOIVOD melancholisch und introvertiert – und stießen die nach dem erfolgreichen Vorgänger „Nothingface“ angefütterte Fangemeinde vor den Kopf. Stilistisch steht „Clouds in my house“ zwischen Wave-Geflacker, sprödem Prog und dem „Anything Goes“-Vibe der frühen 1990er Jahre selbst für ihre Verhältnisse auf sehr ambivalentem Terrain. Warum der Song auf MTV’s „120 Minutes“ nicht durch die Decke ging, versteht kein Mensch.

„Into My Hypercube“ 
Völlig gleich, was uns in den letzten dreißig Jahren an neuen Trends und Extremen aufgetischt wurde, das Durchgeknallte, Knallbunte, Exzentrische, das Emotionale und Verletzliche, das Progressive und das Reaktionäre, ein zweites „Nothingface“ war nicht dabei. „Into my hypercube“ steht etwas im Schatten der Klassiker „The unknown knows“ und dem PINK FLOYD-Cover „Astronomy domine“, aber wer könnte dieses unvergleichliche Amalgam aus subtiler Punk-Aura und softer Fliegenpilz-Psychedelik je wieder vergessen, wenn es nur einmal die Blut-Hirn-Schranke passiert hat? 

„Jack Luminous“ 
Der Versuch, den VOIVOD-Sound über wildes Namedropping zu decodieren, wird spätestens nach den 17 Minuten von „Jack luminous“ zu einem traurigen Häufchen Asche zerbröselt. Jeder Vergleich wirkt trivial, jedes Bemühen, den Code dieser Wahnsinnigen zu knacken, endet zwangsweise am Boden existenzieller Unzulänglichkeit. „Jack luminous“ ist in der Bündelung aller Wahrzeichen dieser Band der Urknall ihres Universums, die Stunde Null des VOIVOD. Wer den endgültigen Beweis dafür haben möchte, dass die Oberstübchen dieser Typen einfach anders verdrahtet sind, wird ihn hier finden. 

„Cosmic Conspiracy“ 
Der Alternative-Industrial-Tanzflächenfeger „Nanoman“ vom selben Album „Negatron“ wäre die offensichtlichere Wahl gewesen, aber wir müssen über „Cosmic conspiracy“ sprechen - vor allem über die auf dem 2000er Livealbum „Lives“ veröffentlichte Version. Intensiver hat sich der VOIVOD trotz des etwas besseren Bootlegsounds nie wieder in den Orbit geschossen. Vor allem das Break zur Songmitte und das folgende so simple wie alles zersägende Mega-Riff zeigen, welche Energie diese Besetzung auf der Bühne entfesseln konnte. Die drei Typen machten Krach für zehn. Eine Naturgewalt.

„Nuclear War“ 
Wo wir gerade bei „Lives“ waren, bleiben wir für „Nuclear war“ gleich hier. Ursprünglich auf dem 1984er Debut „War And Pain“ erschienen, bekommt das holpernde Stakkato-Geprügel des Erstlings in der Liverversion mit Sänger/Bassist E-Forst seine definitive (wenn auch leicht gekürzte) Ausbaustufe. Das militärisch stampfende Monster klingt mit der gurgelnden Stimme des neuen Frontmanns bedrohlicher und beklemmender als je zuvor, während Piggy Töne aus seiner Gitarre herausholt, die er ganz offensichtlich per Standleitung von einem anderen Planeten herübergebeamt hat. 

„Fix My Heart“ 
Der Opener des 1993 erschienenen Wunderwerks „The Outer Limits“ steht stellvertretend für einen weiteren Entwicklungsschritt der Band, die selbst nach den energieraubenden Metamorphosen der vorangegangenen drei Alben immer noch nicht müde wurde, nochmal einen draufzusetzen. VOIVOD zeigten sich insgesamt rockiger, ihr Sound schien durchlässiger für einen optimistischen Swing zu sein, die Grooves saßen lockerer, ohne dabei ihren legendären Drive einzubüßen. Ein besserer Beleg als das atemberaubend perlende Hauptriff von „Fix my heart“ wird sich nicht finden lassen.  

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(Mit freundlicher Genehmigung der Ox-Redaktion)

07.08.2022

VOIVOD - FORGOTTEN IN SPACE (Vinyl Box Set Video Review)

Beinahe fünf Monate Blog-Pause sind selbst für meine Wenigkeit ein starkes Stück. Es gibt Gründe - aber um offen zu sein: ich bin zu müde, um sie zunächst in Gedanken und anschließend Schrift nochmal Revue passieren zu lassen. Kommt Zeit, kommt irgendwas. Vielleicht aber auch nicht. 

Ich habe indes nach reiflicher Überlegung, und wer mich kennt, weiß, dass "reiflich" die Untertreibung des Jahrhunderts ist, ein Video aufgenommen, in dem ich über das neue Vinyl-Boxset meiner allerliebsten Metalband VOIVOD referiere. Alles, was ich dazu benötigte, waren zwei Liter schwarzen Kaffees, drei frische Unterhosen und ein kleiner Spritzer LSD. 

Ja, es ist viel zu lang. Niemand, wirklich niemand wird diese 32 Minuten durchhalten, ohne vorher sanft und friedlich wegzudämmern. Aber im Prinzip ist das nicht mein Problem. 

Ja, es ist im Hochformat aufgenommen (was subbi dämlich ist). Das ist definitiv mein Problem.

Ja, ich bekomme Selbstschamattacken. Und es wäre furchtbar, wenn ich sie nicht bekäme. 

Und dennoch: all das hält mich trotzdem nicht davon ab, derart full of myself zu sein, es hier zu posten. 

Enjoy!

   



21.02.2021

Best of 2020 ° Platz 14 ° GOLD - Recession




GOLD - RECESSION

Your shell is hollow, so am I
The rest will follow, so will I
(Neurosis)


Das letzte Konzert vor dem Virus. Ende Januar 2020 stand ich mit etwa 50 anderen Menschen im erschütternd leeren Colos-Saal in Aschaffenburg und ließ mir von GOLD Blutdruck und Herzfrequenz auf Stufe 11 drehen. Keine Ansagen, keine Zugaben - einfach nur auf die Bühne gehen, alles, aber auch wirklich alles supertight abreißen, und wieder gehen. Ich weiß noch, dass ich nach diesen 60 Minuten völlig euphorisiert und unangenehm laut "So macht man das! Genau so macht man das! NUR SO! EXAKT! GENAU! FUCKING! SO! MACHT! MAN! DAS!" rief und beim anschließenden Merch-Irrsinn sehr eindringlich auf Gitarrist Thomas Sciarone einredete, die Band möge sich bitte von der spärlichen Kulisse und dem fehlenden Zuspruch, dem quantitativen zumal, nicht beeindrucken lassen und für immer weitermachen - und dass, obwohl ich mich mit vermeintlich unangebrachten Reaktion gegenüber Musikern in der Regel sehr zurückhalte, weil ich diesen (und allen anderen) Menschen wirklich nicht auf den Sack gehen will. 

GOLD hatten für 2020 einen gut gefüllten Tourkalender. Die Corona-Zwangspause wurde mit nicht weniger als drei Veröffentlichungen überbrückt, die zunächst digital über ihre Bandcamp-Seite, später im Herbst als Sammelband unter dem Titel "Recession" auf Dreifach-Vinyl erschienen: "The Isolation Sessions", ein Live-Mitschnitt aus dem April 2020 eröffnete den Reigen, gefolgt von den intimen, nur von Sängerin Milena Eva und Thomas Sciarone aufgeführten "The Bedroom Sessions" im Juni und einer Zusammenstellung bislang unveröffentlichter Songs und Demoversionen unter dem Titel "The Archive Sessions" einen Monat später. 

Es war bereits bei dem immer noch aktuellen Studioalbum "Why Are You Not Laughing?" erkennbar, und ich muss es auch angesichts der Sammlung auf "Recession" wiederholen: das Aufregendste beim Eintauchen in den Kosmos von GOLD ist die Offenlegung der zu ihrem Selbstverständnis gehörenden bedingungslosen Verletzbarkeit und der gleichzeitig daraus erwachsenden Kraft - beides elementare Bestandteile ihrer Musik, ihrer Texte und ihres ganzen Auftretens. Es ist jene Ambivalenz, die diese Band so besonders macht und die sie mittlerweile so selbstbewusst und intensiv wirken lässt. Ihre Ideale und Überzeugungen zeigen sich dabei so tosend wie der sich entfesselt aufbauende Orkan aus den so dürr und nervös klirrenden Gitarren und den hypnotischen Schlagzeugfiguren mit Sängerin Milena Eva als Zeremonienmeisterin im Auge des Sturms: so karg und kühl ihr Vortrag an der Oberfläche erscheint, so unerschrocken kompromisslos und unmissverständlich ist ihre Botschaft von "individual empowerment", wenn sie von toxischer Maskulinität singt, von Unterdrückung, von ritualisierten und zementierten Geschlechterrollen, von Verlust, von Depression.  

Die Durchschlagskraft dieser Idee, diesem alles zusammenhaltenden Netz aus Worten und Tönen, dieser Aura von Klarheit und Mut, zeigt sich in jeder Sekunde der drei Eingangs erwähnten Alben, und dabei ist es egal, wie intim, spröde, fiebrig oder überspannt das Flackern ihrer Musik ist. 

Vielleicht die faszinierendste Band, die Rockmusik gerade zu bieten hat.

   


Self-Released, 2020. 


 

10.01.2021

Die besten Second Hand-Funde 2020 (5): Skyclad - Irrational Anthems


SKYCLAD - IRRATIONAL ANTHEMS


Von Hippie-Eso-Rock der 90er Jahre über Broken Beat, Future Jazz, Noise-Goth zu Folk Metal - und Sie fragen mich ernsthaft, warum hier niemand mitliest?! 

"Irrational Anthems" war das letzte fehlende Vinyl-Mitglied der Skyclad-Sammlung (was nicht ganz richtig ist, weil ich die Picture Disc vor genau 20 Jahren in einem Plattenladen in Lübeck entdeckte - aber...). Ich habe den Fund der Originalausgabe Freund Jens zu verdanken, der seine Augen und Ohren in den Social Media'schen Verkaufs- und Tauschgruppen für mich immer weit geöffnet hat. 

Wie ich zu dieser ehemals so fantastischen Band aus Newcastle stehe, lässt sich für Interessierte HIER nochmal ausführlich nachlesen - wenn's ein bisschen mehr sein darf, klickt man am unteren Bildrand auf "Neuerer Post" und kommt darüber zu den Einzelreviews - und wo wir gerade hier sind, verlangt es der Anstand, auch auf meinen damaligen Text über "Irrational Anthems" hinzuweisen, in dem ich abschließend befand, das Album sei zwar im Prinzip absolut fehlerfrei, als möglicherweise einziges Skyclad-Werk indes nicht so irre gut gealtert. Und es stimmt: einige Songs dieser Platte habe ich in meiner Jugend auch schlicht bis zum Ohnmachtsanfall abgenudelt; der Eindruck also, Hits wie "Penny Dreadful", "No Deposit, No Return" oder "Inequality Street" seien in einer Zeitkapsel eines bestimmten Lebensabschnitts eingeschlossen und könnten nie wieder unabhängig von den Erfahrungen und Erlebnissen jener Zeit gehört werden, ist sicherlich nachvollziehbar. 

Das nimmt allerdings nichts von Glanz und Wichtigkeit von "Irrational Anthems", was mir bei der neuerlichen Auseinandersetzung, ganz besonders mit den Songs der vermeintlich zweiten Reihe, bewusst wurde: "Snake Charming", "The Sinful Ensemble"(!), "My Mother In Darkness"(!!), "I Dubious"(!!!) und "Science Never Sleeps" sind einfach unsterbliche Klassiker. 

Und ich erneuere hiermit meine frühere Einschätzung: Diese Band hat in den 1990er Jahren keinen auch nur mittelmäßigen Ton aufgenommen. Alles aus Gold.


   



Erschienen auf Massacre Records, 1996. 

11.10.2020

Rehab (6): Holy Terror - Guardians Of The Netherworld: A Tribute To Keith Deen

 




HOLY TERROR - GUARDIANS OF THE NETHERWORLD: A TRIBUTE TO KEITH DEEN


Wir kommen zum Abschluss der frisch aus dem Blogboden gestampften Rehab-Serie über die legendären Holy Terror und werfen den letzten Blick auf eine zum wiederholten Male obskur anmutende posthume Veröffentlichung der Band. 

Im Jahr 2015 erschien dieser Tribut an den 2012 verstorbenen Sänger Keith Deen und was für die LPs von "El Revengo" und "Live Terror" galt, muss auch für "Guardians Of The Netherworld" gesagt werden. Für Die-Hard-Fans, Alles-Sammler und Vinylnerds gibt es vermutlich nur wenige aufkommende Zweifel hinsichtlich der Frage, ob dafür das Portemonnaie tatsächlich geöffnet werden sollte. Das größte Plus ist auch hier das Design, die Verpackung und die spürbare Liebe zu dieser Band: das Album erschien in einer auf 500 Stück limitierten Vinylausgabe mit drei Versionen/Farben (200 Stück in Rot, 200 Stück in Schwarz und 100 grüne Exemplare über den Shop von Dark Descent Records), ummantelt von einem 350g schweren, hochwertigen Klappcover mit exklusivem Artwork von Rick Araluce, der bereits die Designs für "Terror & Submission", "Mind Wars" und "El Revengo" kreierte. Hinzu kommen eine Fotocollage sowie ausführliche Liner Notes mit Erinnerungen und Erzählungen von ehemaligen Weggefährten Deens sowie Band-Intimus Scott Lambert und A.A.Mentheanga von Primoridal. 

Musikalisch ist die Zusammenstellung vor allem wegen des erstmals auf Schallplatte/CD erhältlichen Demos mit vier Songs von 1986 interessant. Das gefühlt mehrere Wochen dauernde Intro "Blessed Sacrament" wurde für das Debut gestrichen, dafür fanden aber die Speedpeitsche "Black Plague", das an frühen US Metal angelehnte, mit tollen Gitarrenharmonien ausgestattete  "Distant Calling" und der deutlich von der New Wave Of British Heavy Metal beeinflusste Klassiker "Guardians Of The Netherworld" den Weg auf "Terror And Submission". Klanglich ist das Demo im Vergleich mit dem später erschienenen Album zwar vor allem im Schlagzeug- und Gitarrenbereich etwas verwaschener und dumpfer, aber bei Weitem keine Katastrophe. Bemerkenswert sind allerdings die vor allem bei "Black Plague" zu hörenden Gesangsarrangements, die auf dem Demo dank einiger hinzugefügten Überblendungen und Harmonien sowohl ausgefeilter als auch melodischer sind. Leider wurden sie für die spätere Albumproduktion über Bord geworfen. 

Über das Demo hinaus dürfen sich Fans auf weitere Liveaufnahmen freuen, dieses Mal von zwei 1988 mitgeschnittenen Konzerten in Washington DC und New Orleans. Ich freute mich besonders auf das in New Orleans gespielte "Mortal Fear", das es offenbar nur selten in die Setlist schaffte und auf "Live Terror" erst gar nicht vertreten war. Während die Soundqualität der Show in Washington für eine Soundboardaufnahme im Jahr 1988 unter Bootleg-Maßstäben (und etwas anderes sollte hier wirklich nicht angelegt werden) durchaus in Ordnung geht, ist der eingefangene Klang des Gigs in New Orleans selbst für hartgesottene Allesgutfinder wie meinereiner wenigstens diskussionswürdig - was in Hinblick auf "Mortal Fear" doppelt schade ist, weil damit die sich vor allem im Refrain zeigende Wucht der Riffs komplett in Luft auflöst. Gegen Ende des Sets habe ich den Eindruck, es würde etwas besser werden, aber vielleicht ist das nur die einsetzende Gewöhnung. 

Ich erwähnte bereits in den vorangegangenen Beiträgen, dass die Aufteilung der in den letzten zehn Jahren erschienenen Alben und Zusammenstellungen Holy Terrors mit all ihren unterschiedlichen Versionen wirklich keine Ruhmestat, sondern ehrlich gesagt ziemlich ärgerlich ist. Da ist zwar einerseits der legitime Anspruch erkennbar, dem Vermächtnis dieser Band gerecht zu werden und ihre Musik gebührend zu feiern oder sie auch nur endlich verfügbar zu machen, andererseits wird ein selbst auf diesem kommerziell sicher alles andere als funkensprühenden Niveau ungewöhnlicher Geruch der ehrlosen Gewinnmaximierung deutlich. Die CD-Version von "Guardians Of The Netherworld: A Tribute To Keith Deen" hat eine im Vergleich zur Vinylfassug nochmals veränderte Tracklist und präsentiert anstatt des Gigs in New Orleans einen Mitschnitt von der 1987er Europatournee mit D.R.I. in Kopenhagen - immerhin in befriedigender Soundqualität. Und die 2017 auf Dissonance Productions erschienene Werkschau "Total Terror" (unter dem folgenden eingebetteten Bandcamp Player übrigens für schlappe 8 Euro zum Download zu bekommen!) bietet zwar beide Studioalben plus "El Revengo" nebst den auf "Live Terror" enthaltenen Livetracks, verzichtet aber komplett auf den "Guardians Of The Netherworld"-Tribut und ist damit ebenfalls unvollständig. Es ist zum aus der Haut fahren. Immerhin hat man dafür den passenden Soundtrack:


 

Ich kann hier nur spekulieren, aber es scheint, als hätte jemand im Umfeld der Band unterschiedliche Verträge mit unterschiedlichen Labels abgeschlossen und damit jeder Partei unterschiedliche Veröffentlichungslizenzen zugeteilt. Die Rechte für die Wiederveröffentlichung der beiden Studioalben als Paket im Doppel-CD Format wurden über den Zeitraum von 1998 bis 2009 an gleich drei Labels vergeben, die CD-Versionen von "El Revengo und "Live Terror" gingen an Blackend, die Vinylfassung hingegen an Back In Black, einem Tochterlabel von Let Them Eat Vinyl, das seine Schallplatten übrigens bei der traditionell mit der Qualitätskontrolle kämpfenden GZ Media pressen lässt. Das Vinyl von "Guardians Of The Netherworld" dürfen The Crypt herausbringen (die "Ugly" von Wargasm mit einem katastrophalen Masteringfehler zersägten), die CD ging an Dark Descent. Und schlussendlich wurde die nun gar nicht mehr so totale "Total Terror"-Box Dissonance Productions zugeteilt. Ich fasse also zusammen: zig Labels, zig Formate, zig Versionen, zig unterschiedliche Songlisten. Wer das alles kauft muss ja ganz schön bescheu...OH HALLO!

Am Ende fällt's dann aber doch, Selbstreflektion und -erkenntnis sei Dank, wieder mal schwer, mit dem Finger auf diesen Saustall zu zeigen und sich zu echauffieren, wenn der ganze Scheiß sich nun eben auf dem heimischen Plattenteller dreht und also gekauft wurde. Denn wenn's keiner kauft, wird's nicht produziert, das regelt eben der Markt und der Markt bin ich. Und Du. Und wir alle. Bis wir uns diesen systemisch so komplex wie banal zusammengedrechselten Schuh nicht endlich anziehen wollen, lauschen wir lieber dem Schweinesystem, das uns unentwegt "Schnauze!" zuruft und damit alles so leicht, einfach, hell und bunt macht. Und halten, genau: die Schnauze. 

Wenn's perfekt läuft, freuen wir uns bis zum finalen Untergang wenigstens über die Musik. 







Erschienen auf The Crypt/Dark Descent, 2015.


04.10.2020

Rehab (5): Holy Terror - Live Terror




HOLY TERROR - LIVE TERROR

Zum Abschluss des vorangegangenen Beitrags zur sehr bizarr kuratierten Zusammenstellung "El Revengo" kündigte ich einerseits bereits an, dass es noch etwas zu zwei bis drei Handvoll Liveaufnahmen Holy Terrors zu sagen gäbe, andererseits ließ ich mir auch sehr reflektiert ins Oberstübchen schauen und also durchblicken, nur totale Quatschköppe würden wirklich diese Schallplatten kaufen - und zu beiden Einlassungen darf ich nun mit dem mir eigenen schlichten Gemüt in Herz und Seele sagen: hier sind wir also. Und Olli "Golfball" Kahn ist auch da. Versprochen ist schließlich versprochen. 

Parallel zur Veröffentlichung der Vinylversion von "El Revengo" im Jahr 2017 entschloss man sich bei Back In Black offensichtlich dazu, die zehn Jahre zuvor auf der CD/DVD-Ausgabe erschienenen Livesongs nochmal separat unter dem Titel "Live Terror" unter die Leute zu bringen. Für die Schnittmenge aus Holy Terror-Fans, Alles-Sammlern und Vinyl-Nerds ist das natürlich schön - zumal wie im Falle der "El Revengo"-Platte sowohl der Preis als auch die Qualität stimmt: "Live Terror" erschien als Doppel-LP auf Clear/Splatter-Vinyl im dicken Papp-Gatefold mit großen und schicken schwarz-weiß Bildern im Innencover und bedruckten (wenngleich ungefütterten) Inlays und kostet bei deutschen Versandhändlern gerade mal um die 18 Euro.

Die Aufnahmen stammen von Konzerten in Dendermonde (Belgien), Fort Lauderdale (Florida) und Mailand (Italien). Leider gibt es auch nach ausgiebiger Recherche keine verlässlichen Datumsangaben der jeweiligen Shows - ein auf Youtube hochgeladener und am Ende dieses Beitrags eingebetteter Audiomitschnitt eines Gigs in Dendermonde mit fast identischer Setlist und nur minimal abweichender Songreihenfolge ist auf September 1987 datiert und fand damit vor dem Release des zweiten Albums "Mind Wars" statt - eine Ansage Keith Deens vor "This Immoral Wasteland", dass es sich hierbei um einen neuen Song handele, den die Band noch nie zuvor live gespielt hätte, lässt Rückschlüsse zu, dass dieser Gig tatsächlich für "Live Terror" verwendet wurde. Dies wäre folglich zur Zeit der ersten Europatournee der Band gewesen, die sie im Vorprogramm von D.R.I. bestritt. Zu den restlichen Songs von den Shows in Florida und Italien gibt es leider gar keine weiterführenden Informationen.   

Für echte Fans von Holy Terror sind die 14 Songs von "Live Terror" sicherlich ein Fest - nicht zuletzt, weil die Aufnahmen zeigen, wie tight die Band auf der Bühne spielte und welch ein guter Sänger Keith Deen selbst mit grob veranschlagten 18 Promille noch war. Vor allem die wahnsinnig intensiven Tracks des zweiten Studioalbums "Mind Wars", allen voran "Debt Of Pain" und das unwiderstehliche "Christian Resistance", klingen angesichts der unter den bestenfalls als prekär zu bezeichnenden Umständen der Aufnahmen und für das Jahr 1987 wirklich überraschend gut. Vor allem aber klingen sie live, unbearbeitet, roh - inklusive einiger Lautstärkeschwankungen, die sich auf das Album geschlichen haben. Wer ein Ohr auf die seit mindestens 20 Jahren im Metal-Mainstream veröffentlichten sogenannten Live-Alben wirft und sich angesichts ihrer klanglichen Generalüberholung inklusive der nachträglich hinzugefügten, peinlichen und stets überaus künstlich klingenden Zuschauerreaktionen nicht bereits bei Erstkontakt zunächst verascht fühlt und sich anschließend reflexartig vollkotzt, wird "Live Terror" also sicher verschmähen. Und das ist auch richtig so, whimps and posers, leave the fucking hall! Was allerdings ebenso richtig ist: es ist überhaupt nicht notwendig, die Unzulänglichkeiten einer besinnungslos ranschmeißerischen und in potemkinschen Dörfern Megaparties feiernden Metalszene heranzuziehen, um "Live Terror" in besserem Licht erscheinen zu lassen. 

"Live Terror" ist das Zeugnis einer wahrhaft außergewöhnlichen und sehr zu Unrecht übersehenen Band. 




Erschienen auf Back In Black, 2017.


26.09.2020

Rehab (4): Holy Terror - El Revengo

 


HOLY TERROR - EL REVENGO


Warum ich einen ganzen Beitrag auf diesem Blog für diese Zusammenstellung verbrate, muss mir auch erstmal noch jemand bei einer guten Tasse Kaffee erklären, aber am Ende verlangt's wieder mal der analfixierte Kollektivist und darüber hinaus: Komplettist in mir, "El Revengo" nicht nur zu kaufen, sondern auch noch darüber zu schreiben. Beides kann man schon mal machen, wenn die akuten Schmetterlinge im Bauch gerade einen liebestollen Tornado entfachen. 

Zumal die Sache komplizierter ist, als es zunächst aussieht, weil die unterschiedlichen Formate von "El Revengo" mit unterschiedlichen Songs und Features bestückt wurden. Wer wie meinereiner mit einem besonders großen Dachschaden durch diese von anderen Besitzern von Dachschäden nicht gerade spärlich besiedelten Welt spaziert und also sein ganzes schönes Geld in den Kauf von noch schöneren Schallplatten steckt, dabei von Labels und Bands gleichermaßen mit limitierten, farbigen und einfach schön gestalteten Exemplaren verarscht geködert wird, wird nach dem Kauf von "El Revengo" zwar eine schöne Doppel-LP mit Klappcover und schick-colorierten Platten in den Händen halten, sich aber beim Blick auf die Tracklist am rammdösigen Rübenfurunkel kratzen: nur die ersten vier der insgesamt 13 Tracks stammen vom Meilenstein "Mind Wars", die übrigen neun wurden vom Debut "Terror & Submission" in einem Block (!) einfach dahinter platziert - und das auch noch in einer im Vergleich zur Originalversion veränderten Songreihenfolge. Auch nach einer sehr ausgiebigen Recherche werden meine Fragezeichen nicht kleiner. Was soll das? Und wer macht denn sowas? Und wer kauft sowas? (<<-- Ich weiß es! Ich weiß es!)

Ein Blick auf die Tracklist der bereits im Jahr 2007 erschienenen CD/DVD-Version von "El Revengo" liefert zwar keine Antworten auf die bestenfalls unglückliche Songauswahl (die ist nämlich für den ersten Teil der CD-Compilation identisch zur Vinylversion), weist aber darüberhinaus noch 14 weitere Tracks aus, die auf einer Audio-CD und in bewegten Bilder gar auf einer DVD verewigt wurden: hier finden sich Live-Mitschnitte von Shows aus Belgien, Italien und den USA aus dem Jahr 1988. Über diese Aufnahmen und Songs wird im nächsten Beitrag noch zu sprechen sein.

Im Webshop des niederländischen Labels Hammerheart Records ist die Vinylfassung von "El Revengo" für schlappe 15.90 Euro zu bekommen und da lasse ich mich nicht zwei Mal bitten - aber wer noch ganz bei Trost ist, fragt sich auch trotz der wirklich schön und hochwertig gestalteten Vinylfassung mit dicker Pappe, Gatefold, Liner Notes und Texten natürlich schon, warum man "El Revengo" im Plattenschrank stehen haben sollte. Für die Musik kommt man als Thrash Metal Aficionado ohnehin nicht um den Kauf der beiden Alben herum. Für eine Best of-Zusammenstellung darf die Songauswahl irgendwo zwischen einem Schlaganfall und Fips Asmussen (abzüglich des "Humors") verortet werden und ist damit völlig indiskutabel. Und für die Livetracks besorgt man sich tatsächlich besser die CD/DVD-Variante - oder wartet noch ein paar Tage ab und bekommt mit meinem nächsten Artikel einen weiteren Grund dafür geliefert, warum sowohl die Musikbranche, als auch -konsumenten sich schnellstmöglich ein paar zärtliche Kopfnüsse von Olli "Abitur" Kahn abholen sollten.
 
Spoiler Alert: weil sie es alle verdient haben. 

Du. Ich. Wir alle. 



Erschienen auf Back In Black, 2007/2017.

19.09.2020

Rehab (3): Holy Terror - Mind Wars

 




HOLY TERROR - MIND WARS


"Mind Wars" ist ein Grund zum Feiern und zum Trauern. Einerseits ist es der kreative Höhepunkt Holy Terrors und vielleicht sogar ebenjener eines ganzen Genres, andererseits ist es auch das letzte Lebenszeichen dieser Band. Ich hätte nur zu gerne gewusst, wie es nach einem solchen Album weitergegangen wäre. Stattdessen beerdigte man die hoffnungsvolle Karriere ein Jahr nach dem Release auch noch ausgerechnet (AUSGERECHNET!!111elfseinsss) in Süddeutschland, bis zum Hals im Sumpf aus Drogen, Suff und Chaos stehend.

Holy Terror haben im Vergleich zum Debut "Terror And Submission" die Regler auf "Mind Wars" noch ein Stückchen mehr in Richtung Wahnsinn gedreht. Die Geschwindigkeit wurde mit Ausnahme des an die NWOBHM erinnernden "This Immoral Wasteland"-Galoppels nochmals angezogen, Sänger Keith Deen lässt nunmehr fast alle Konventionen in Sachen Timing und Satz hinter sich in Flammen aufgehen, die Gitarrenarbeit ist noch präziser, die Melodien sind noch deutlicher herausgearbeitet, die Songs technischer und progressiver. Hinzu kommt eine für meinen Geschmack verbesserte Produktion, die das Album im Vergleich zum Debut insgesamt heavier wirken lässt - vermutlich wird diese Einschätzung nicht von allen Freunden der Band geteilt, aber wenigstens meine klanglichen Vorlieben, (friendly reminder: Dumpf ist Trumpf) werden damit bestens bedient.  

Wer sich von der wilden, ungezähmten Zügellosigkeit dieser Platte ein Bild machen will, hört neben dem fassungslos machenden "Debt Of Pain", für das Gitarrist Kurt Kilfelt seine Komposition "Back To Reign" vom Agent Steel-Debut für die um den geschätzten Faktor 17 erhöhte Geschwindigkeit umarrangierte, sowie gleich die komplette B-Seite. Das verspulte "Damned By Judges", der Panzerknacker "Do Unto Others" und das manische "No Resurrection" geben dem Affen schon ordentlich Zucker, aber sie sind schlussendlich alle doch nur das sich dezent erwärmende Vorspiel zum finalen Abriss: "Christian Resistance" ist eine vier Minuten und 40 Sekunden währende Chaosparty, ein mentales Thrash Metal-Fuckfest, die totale Enthemmung. Was hier besonders ab dem Zeitstempel 1:58 passiert, stellt im Prinzip das komplette 80er Jahre Thrash-Universum in den Schatten - und das liegt nicht nur am sich beinahe in die Ohnmacht kreischenden Keith Deen. Die komplette Band spielt sich derart fulminant in Rage, als hätten sie bei den Aufnahmen für "Christian Resistance" auf glühenden Kohlen und gefrorenen Glasscherben gestanden und dabei den Schmerz als wahnhafte Übersprungshandlung in ihre Instrumente gleiten lassen. Einer der größten und unwiderstehlichsten Momente des Thrash Metal.

1989 befand sich die Band mit Exodus und Nuclear Assault auf Tour in Europa. Eines Tages diktierte ein betrunkener Keith Deen einem anwesenden Journalisten in dessen Aufnahmegerät, dass Holy Terror bereits Songs für das dritte Album geschrieben hätten - und außerdem einen neuen Vertrag mit Roadrunner Records unterzeichneten. Um die soeben erhaltene Information zu bestätigen, rief der Journalist bei Holy Terrors Label Music For Nations an, wo man natürlich aus allen Wolken fiel. Das Ergebnis: Music For Nations schmissen die Band sofort von der Tour und frierten jede finanzielle Unterstützung umgehend ein. Anschließend lieferte sich Gitarrist Kilfelt eine Schlägerei mit dem Tourmanager, woraufhin die Band von einer Schlägerbande verfolgt wurde und sich in eine Pizzeria rettete. So strandete man ohne Geld und ohne Unterkunft für zwei Wochen im winterlichen Deutschland und lebte in einem Kleinbus in Deutschlands Watschengesichermetropole Nummer 1 München, bis mit dem gepumpten Geld von Kurt Kilfelts Freundin die Rückflüge in die USA bezahlt werden konnten. 

Zu Hause angekommen, zerfiel die Band praktisch umgehend in ihre Einzelteile. Kilfelt, Bassist Floyd Flanary und Schlagzeuger Joe Mitchell zogen von North Hills in Kalifornien nach Seattle, wo sie im Jahr 1997 mit der Punkband Shark Chum das Album "Tres' Homeboy's" veröffentlichten. Sänger Keith Deen zug nach Las Vegas und verstarb dort im Dezember 2012 an Krebs. Gitarrist Mike Alvord blieb in Los Angeles und spielte dort mit ein paar lokalen Bands, die es aber nie in ein Aufnahmestudio schafften. Er gründete im Jahr 2013 mit zwei Freunden aus Italien die Band Mindwars, die es seitdem auf drei Alben gebracht hat, die allerdings weitgehend unbeachtet blieben. Kilfelt ist außerdem mittlerweile Bassist bei der Punklegende Zeke. Er hatte auch Mitte der nuller Jahre versucht, Holy Terror wieder zu reformieren, scheiterte aber zunächst daran, Deen zu überzeugen und später glücklicherweise an der Suche nach einem neuen Sänger. 

Ab diesem Zeitpunkt folgten einige eher obskur zu bezeichnende Veröffentlichungen in den kommenden Jahren, und weil ich nicht der verbretterte Flohihaan wäre, der ich tatsächlich bin, müssen wir darüber in den kommenden Tagen eben auch noch sprechen. 

Da komme ich einfach nicht drum herum. The full monty.





Erschienen auf Music For Nations, 1988.

12.09.2020

Rehab (2): Holy Terror - Terror And Submission

 




HOLY TERROR - TERROR AND SUBMISSION


Die im vorangegangenen Beitrag gemachte Einlassung, Holy Terror seien etwas "für Kenner" ist aus mehreren Gründen so missverständlich wie natürlich trotz allem richtig. Einerseits ist die Band bei aller Bewunderung weder für besonders abseitige noch stilistisch vielschichtige, und damit den Betonkopf herausfordernde Musik bekannt, andererseits könnte mir ein ganz besonders elitärer Strick gedreht werden, weil Flippse Floppse aus 87946 Bimmel an der Schleife sich in seiner Intelligenz oder was gekränkt fühlt. Und das "Gefühl" (Jockel) ist ja so wichtig heutzutage, wer wolle seinen Mitmenschen sowas zumuten? Im Speed und Thrash Metal-Kontext indes, wo viele Metalfans hinter den großen vier Cash-Cows Metallica, Slayer, Megadeth und Anthrax die mentalen Selbstschussanlagen installieren, um bloß nicht aus der kuschlig eingerichteten Gemütlichkeit herausgezerrt und mit wildem, ungeschliffenem, unproduziertem Undergroundstoff konfrontiert zu werden, kann eine Band wie Holy Terror schon als (zu) extrem wahrgenommen werden.  

Das 1987 erschienene Debut "Terror & Submission" deutet diesen, sich erst auf dem zweiten Album "Mind Wars" in voller Pracht zeigenden Hang zum Extremen zwar erst an, weist allerdings bereits freundlich darauf hin, dass Familie Einheitsbrei sich bitteschön schnell wegficken möge. Dabei lassen sich vor allem in den Riffs ein paar Verweise zu der Vorgängerband des Gründers Kurt Kilfelt finden, der auf dem vielleicht besten Speed Metal Album aller Zeiten, "Skeptics Apocalypse" von Agent Steel, die Gitarre bediente. Vor diesem Hintergrund ist das stilistische Überhangmandat zum Speed Metal nun keine große Überraschung, aber die etwa zu gleichen Teilen addierten Einflüsse aus rudimentärem Thrash und klassischem Heavy Metal, vornehmlich aus der NWOBHM-Schule sorgen für eine ziemlich einzigartige Mischung. Mir fällt keine andere Band ein, die im Jahr 1987 so klang.

Der finale Tropfen, der für viele Metalfans das Fass sowohl im schlechteren als auch im besseren Sinne überlaufen ließ, war Sänger Keith Deen. Nicht nur war seine Bandbreite von tiefem, aus dem untersten Kohlenkeller herausgerotztem Grummeln über kraftvollen Klargesang bis hin zum extrem hohen und sägenden Kreischen ein wahres Fest für Freunde der fortgeschrittenen Stimmbandakrobatik, aber sein Timing, seine Melodien und das Setzen seiner Gesangslinien prägten den Sound Holy Terrors in unvergleichlicher Weise - bis zu dem Punkt, an dem man dachte, die Band würde trotz ihrer außergewöhnlichen musikalischen Präzision jeden Moment auseinanderfallen. Auf dem Debut muss man in dieser Hinsicht das verrückte "Blood Of The Saints" erwähnen - und natürlich den absoluten Höhepunkt "Mortal Fear". Hier war bereits zu hören, zu was Holy Terror noch in der Lage sein sollten. "Mortal Fear" ist einer dieser Momente, deren glühende Intensität für aufgestellte Nackenhaare und Schweißausbrüche sorgen. Wer in diesem Weltklasserefrain vor schierer Raserei nicht die Wände hochgeht, sollte sich das mit der angeblichen Affinität zum Thrash Metal nochmal genauer überlegen. Oder zur Musik insgesamt. 

Holy Terror sollten auf dem Nachfolger "Mind Wars" gleich mehrere solcher Momente verewigen. "Terror & Submission" war nur das Sprungbrett für die nächste Ebene. 





Erschienen auf Under One Flag, 1987.

05.09.2020

Rehab (1): Holy Fucking Terror

 




HOLY TERROR


Wirklich unüberwindbare Momente der Reue habe ich mit den veröffentlichten Beiträgen auf diesem Blog eigentlich nicht. Einerseits gibt's weiß Gott Wichtigeres, mit dem es die Auseinandersetzung lohnt, die innere zumal, zum anderen kann ich inhaltliche, stilistische und sprachliche Defizite auch halbwegs richtig einsortieren und mit einer Wagenladung Feigenblätter auf jugendliche Verbretterung hinweisen - ich war beim Start von 3,40qm immerhin schon 30 Jahre alt und damit praktisch noch mitten in der Pubertät. Wer ohne Blödheit ist, werfe das erste Jamba-Klingelton-Abo, jedenfalls: "It is what it is." (Trump). Und irgendwie stimmt das ja auch. Und ganz nebenbei bin ich wirklich froh über die Editierfunktion.

Ich habe in den vergangenen 13 Jahren oft über Thrash Metal geschrieben, zwei Mal gab es sogar Serien über das in meinen Ohren faszinierendste Subgenre des Heavy Metal: die "Verstaubt & Liegengelassen"-Rubrik etwa beschäftigte sich im Jahr 2009 mit den obskuren und selbst in den Heydays des Thrash unter dem Radar gebliebenen Alben, während "Thrash'n'Spekulatius" meine 20 Lieblingsplatten des Genres auflistete. Beides machte großen Spaß - und wo das gesagt ist, wäre es wirklich mal an der Zeit, die zweite Staffel von "Verstaubt & Liegengelassen" zu planen. Nun ist es jedoch zunächst mal an der Zeit, den ersten Absatz dieses Texts mit dem zweiten zu verknüpfen. Da gibt es nämlich Rede- und Schreibbedarf. 

Die Schlüsselworte des ersten Satzes von weiter oben heißen nämlich "veröffentlichten" und "eigentlich". Denn sehr und übers gesunde Maß hinaus uneigentlich habe ich in beiden Beiträgen/Serien Holy Terror unter den berühmten Tisch fallen lassen. Unter den Teppich gekehrt. Über die Klinge springen lassen. Und das ist auch deswegen ein bisschen blöd, weil ich beide Platten schon sehr lange im Regal stehen habe - damit entfällt dann auch die Ausrede, man könne ja schließlich nicht alles kennen. Das Debut "Terror & Submission" kaufte ich 1997 auf einer Plattenbörse im Kasino der Frankfurter Jahrhunderthalle, nachdem ich an einem Stand mal wieder die Frage aller Fragen stellen musste: 

"Hast Du die "Time Does Not Heal" von Dark Angel auf CD?" 

und umgehend die Standardantwort erhielt: 

"HAHAHAHAHA!" 

Es war zu jener Zeit einfach völlig aussichtslos, den Schwanengesang der besten Thrash Metal Band aller Zeiten im Kleinformat zu bekommen (und wer mehr darüber wissen möchte, wird hier versorgt). Weil der Verkäufer offenbar die mir ins Gesicht gestanzte Enttäuschung so mitleiderregend fand und außerdem noch 20 Mark oder wieviel für den Standgebühr-Break Even fällig waren, hielt er mir schnell "Terror & Submission" von Holy Terror unter die Nase, weil es eben genau so laufen muss: die Verzweiflung über den ausgefallenen Konsum muss sofort mit einer neuen Konsummöglichkeit geheilt werden, fight fire with fire, alle fühlen sich gut, Kapitalismus 1, Leben 0, "schöne" Scheiße. 

"Wenn du Dark Angel magst, dann musst Du die Platte hier haben. Holy Terror. Die klingen genau so. Kannste blind kaufen. Glaub' mir!"  

Und was aus heutiger Sicht völlig absurd erscheint: ich glaubte ihm. Und nahm die Platte mit. Und fand zu Hause heraus, dass Holy Terror so gar nicht nach Dark Angel klangen. Und bis heute nicht klingen. 

Und vielleicht war's dieser herbeihalluzinierte Makel, der mich Holy Terror auch in den folgenden Jahren übergehen, wo nicht ignorieren ließ. Denn auch beim wenig später der Sammlung hinzugefügten zweiten Album "Mind Wars" regte sich über das anerkennende Nicken hinaus nur wenig im Frontallappen, der vermutlich noch immer von Dark Angel träumte. Heute weiß ich: Holy Terror sind etwas für Kenner, und ich war "young, dumb and full of cum" (Maher). Es gibt einfach Bands, die begreift man nicht. Sie sind zu seltsam, kratzbürstig, ungewohnt, einzigartig, und selbst, wenn man kulturell Seltsames, Kratzbürstiges, Ungewohntes und Einzigartiges einigermaßen zu schätzen weiß, ist da eine scheinbar undurchdringliche Mauer zwischen Plattenspieler und dem eigenen Kopf, Herz und Bauch - eine Mauer, die durch die ubiquitäre Mittelmäßigkeit und zum Himmel stinkende Normalität der Genrekonkurrenz nicht kleiner, sondern mit jedem redundanten und bis zur Verwahrlosung ausgewalzten Gitarrenriff, mit jeder aus dem Pleistozän gemopsten Gesangslinie, jedem auf rebellisch getrimmten Spießertext aus dem Darkroom der Jungen Liberalen und jedem lustlos hingewichsten Kitschcover und jeder pappigen Kleberesteproduktion aus Donzdorf immer mächtiger und beengender und luftraubender wird. 

Ich hielt vor ein paar Jahren zum ersten Mal den "Mottek" (Werner Chibulsky) in der Hand, als ich "Mind Wars" mal wieder auf den Plattenteller legte und ich mich plötzlich Luftgitarre spielend und alle fists raisend auf dem Wohnzimmertisch wiederfand. 

Darüber wird nun also zu sprechen sein. Und zu schreiben. Es ist Zeit für eine Rehabilitierung. 

"Bleiben sie dran, ich zähl auf sie."



21.03.2020

Werbeunterbrechung



Bevor wir mit den besten Platten des letzten Jahrzehnts weitermachen, gibt's noch eine kurze Pinkelpause Werbepause. Meine kleine Punkband hat ihr Zeltlager auf Bandcamp etwas umgemodelt und bietet nun die komplette Diskografie für sagenhafte 4 Euro an - das sind immerhin dreieinhalb Alben mit...naja: ein paar Minuten Spielzeit. Mit einem Klick ist all das Dein.





Damit wir uns von der Kohle keinen vierten Geldspeicher in ein unberührtes Waldgebiet in Südamerika bauen lassen müssen, haben wir uns dazu entschlossen, die Wiesbadener Kulturkneipe Sabot zu unterstützen. Das Sabot erhielt im vergangenen Jahr bereits die Kündigung der Räumlichkeiten zugestellt und hätte die Pforten zum 31.März schließen müssen - der Coronadreck und die anschließenden Auflagen für die Konzerte und Parties haben dann leider eine vorgezogene Schließung ab Mitte März notwendig gemacht.

Aktuell suchen die Betreiber eine neue Bleibe - und ein Lager:

"Aktuell suchen wir noch nach einer Lagermöglichkeit, trocken sollte sie sein und 10-15qm Fläche haben. Gerne ebenerdig und jederzeit zugänglich. Falls ihr Ideen oder Tipps habt, gebt uns gerne Bescheid. Für den Herbst suchen wir nach einer neuen Location, auch hier sind wir auf eure Augen und Ohren angewiesen. Egal ob ein runtergerockter Keller oder eine alte Werkstatt im Hinterhof, alles ist möglich!"

http://kulturkneipe-sabot.de/?p=210

Blank When Zero haben über die Jahre vier Mal im Sabot gespielt, zum ersten Mal im Winter 2012 als Support für die Stage Bottles. Hier sind ein paar Bilder dieses Abends:









Wir haben uns im Sabot mit seinen tollen Mitarbeitern und Gästen immer wohlgefühlt. Und es war bislang der einzige Club, den wir tatsächlich mal leerspielten - Nach 15 Minuten unseres Gebretters war nur noch die Dame am Mischpult und der Herr hinter dem Tresen im Raum.

Das Sabot war für die Untergrundszene eine Oase im piefigen Wiesbaden (um Missverständnisse zu vermeiden: ich liebe Wiesbaden mit jeder Faser meines Körpers, aber ich bin auch superpiefig!). Es wäre ausgesprochen wünschenswert, wenn der Laden an anderer Stelle weiter existieren kann.

Um dabei ein bisschen zu helfen, haben wir uns dazu entschlossen, alle Einnahmen, die in der kommenden Zeit über die Downloads oder den Verkauf der limitierten Schallplatte unseres Albums "Einerseits" auf unserer Bandcampseite reinkommen, dem Sabot zu spenden.


Wenn ihr also ein paar Kröten übrig habt, dann freuen wir uns über Eure Unterstützung.

Vielen Dank!

Bleibt so schön!
Simon, Marek, Flo

07.03.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Minus The Bear - Omni




MINUS THE BEAR - OMNI


Der erste ernsthafte Versuch dieser, und es darf mittlerweile so gesagt werden: Indierock-Ikone aus Seattle, jeden in ihren Augen überflüssigen Ballast aus ihren Songs zu entfernen, führte zu einem Album, über das ich bereits vor acht Jahren dachte, man sei nur noch einen Katzensprung von einem unveröffentlichten Genesis-Album aus den 1980er Jahren entfernt - und bevor die Frage aufkommt, wie das jetzt schon wieder zu verstehen sei: natürlich nur im allerbesten Sinne. 

Ganz vielleicht wollten sowohl Band als auch Label mit "Omni" auch den Weg in Richtung Mainstream und damit Weltherrschaft gehen, bis ein paar Jahre später klar war, dass dafür schon so einiges zusammenkommen und -passen muss. Dabei hätte es meinethalben gerne klappen können - und ihr fünftes Album wäre geradezu dafür prädestiniert gewesen. Sänger Jake Snider sang auch auf "Omni" immer noch von allerlei Anzüglichem, während er sich bekifft in den Bettlaken räkelte, hatte aber nun die Mathrock-Hühnerbrust mit einem Holzfällerhemd verdeckt und ließ sich außerdem einen stattlichen Vollbart stehen, in dem sich die Sünden der vergangenen Nacht sammelten. 

Für unbeschwerte Sommertage mit Hanfplantage in Hanglage und einem handgepressten Pferdeapfelburger aus der Hipster-Manufaktur gibt es fast nichts Besseres. 



Erschienen auf Dangerbird Records, 2010.



01.03.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Atheist - Jupiter




Schon seit einigen Wochen sitze ich noch mehr als üblich im mentalen Sandkasten und halluziniere in den buntesten Farben eine Art Auftrag herbei, über die besten Platten der letzten zehn Jahre zu schreiben - denn was 2010 galt, kann für 2020 meinethalben auch gelten, es geht hier ja schließlich immer noch um "Content!" (Antitainment).

25 Alben sollten es am Ende des real existierenden Excel-Massakers werden und ich kann freudig weißen Rauch aufsteigen lassen: es ist vollbracht! Zwischen Discogs-Sammlung, Jahresbestenlisten, Plattenregal und Alzheimer werde ich diesem Blog wenigstens für eine kurze Zeit wieder ein bisschen Leben (und außerdem viele der so innig geliebten Tippfehler) einhauchen - und ich nahm darüber hinaus die Übung gleich zum Anlass, ein wenig über die letzten zehn Jahre zu reflektieren. Das war nicht immer einfach. Manches aus jener Zeit erscheint emotional heute weiter von mir entfernt zu sein, verblasster und undurchdringlicher als die gefühlsmäßige Standleitung in die romantisch verklärte Adoleszenz in den 1990er Jahren, und das wirft bei entsprechender Chraktereigenschaft unangenehme Fragen aufs Tableau. Die Zäsur des Jahrzehnts war sicherlich mein Jobwechsel im Jahr 2015, der im Prinzip mein bisheriges Leben auf den Kopf stellte. Wer belastbares Beweismaterial sucht, findet es in den seitdem deutlich zurückgegangenen Beitragszahlen auf diesem Blog; ein Umstand der mich nicht gerade mit Stolz erfüllt. Offensichtlich konnte ich mich 2016 noch irgendwie durchbeißen, aber bereits ein Jahr später musste ich immer öfter die weiße Flagge in das Alltagsgetöse halten, und ich sehe leider nicht, wie sich das ohne stattlichen Lottogewinn künftig ändern ließe. Was indes Hoffnung macht: auch wenn die Frequenz der geschriebenen und hochgeladenen Texte sank, ist überhaupt und immerhin noch eine Frequenz vorhanden! Das klingt im mehr oder minder gut verschleierten Subtext fatal nach "Es war ja auch nicht alles schlecht!", dabei ist's ja nicht anderes als ein bereits ordentlich ausgefranster Strohhalm, an den ich mich immer noch klammere. Es ist schon alles ziemlich verrückt.

Dabei macht mir das Schreiben immer noch sehr viel Spaß, vor allem, weil es die Auseinandersetzung mit der Musik "fördert und fordert" (Schröder). Das Problem dabei: auch wenn es die Qualität öfter als mir lieb ist nicht unbedingt vermuten lässt, so ist für meine Texte ein ziemlich großer Aufwand notwendig. Die Recherche, das Sammeln der Gedanken, die unzähligen Textentwürfe, die andauernden Überarbeitungen - und all das im Zeichen des allgegenwärtigen Kleinkriegs mit der Prokrastination und der sowieso immanenten geistigen Limitierung - machen praktisch jeden Beitrag zur Mut- und Kraftprobe. Und wenn dann noch die Zeit fehlt, und die fehlt wirklich fucking immer, schmeiße ich schon beim bloßen Gedanken an den zu erwartenden Krampf beim Ringen nach Worten, nach Stil und Eleganz das Handtuch. Ein Rückblick auf die letzten zehn Jahre machte mir deutlich, dass ich höchstens 10% der in dieser Zeit geschriebenen Texte für einigermaßen erträglich halte, im Sinne von "ohne gröbere Fremdscham bis zum Ende des Artikels lesbar". Der Rest ist oft halbgar recherchiert und hölzern formuliert, vielleicht immer gut gemeint, aber selten wirklich gut gemacht. Einiges überarbeite ich im Stillen teils noch Jahre später, wenn ich mal wieder über ganz besonders furchtbare Peinlichkeiten stolpere; ich habe schon Beiträge nochmal komplett neu geschrieben, die vermutlich wirklich niemand mehr jemals lesen wird, aber ernsthaft: ich kann das doch so nicht stehen lassen!

Es ist im Prinzip wie bei meiner selbstgemachten Musik. Ich nehme seit 1998 Platten auf und schreibe seitdem sowohl eigene Texte als auch eigene Musik und es gibt praktisch keine veröffentlichte Song- und Textsammlung, für die ich nicht ohne Zögern einen Atomkrieg anzetteln würde, auf dass dieser selbst ausgedachte Schmonz endlich vaporisiert und also vom Antlitz der Erde getilgt wird. Da arbeitet man Jahre an sowas, nimmt es unter gröbsten Anstrengungen auf, ist exakt für zwei Minuten glücklich - und ist sprichwörtlich beim ersten Schritt aus dem Aufnahmestudio soweit, sich auf der Heimfahrt den finalen Baumstamm auf der Landstraße auszusuchen - wie konnte ich diese eine Melodie denn bitteschön so scheiße singen?! Warum habe ich denn da zwei Mal die gleiche Strophe gesungen? Fucking hell, die Gitarre ist verstimmt! Aber mein Über-Ich in einem Paralleluniversum war beim initialen Gedanken offenbar der Meinung, dass es sich doch auch prima mit halber Kraft fahren ließe - und ließ bei der Erkenntniss glatt einen fahren. Die stetig voranschreitende Mediokrität der eigenen Umwelt hat ja auch sein Gutes, das Feigenblatt zur Abdeckung der eigenen Mittelmäßigkeit kann mithin nicht groß genug sein.

Genug mit der Selbstkasteiung, sprechen wir lieber über Musik. Denn musikalisch betrachtet war es das beste Jahrzehnt aller Zeiten, stilistisch ein möglicherweise gar zu gleichen Teilen konsistenteres und eklektischeres als das vorangegangene. Ich denke, die folgende Auswahl er 25 besten, tollsten und geliebtesten Platten kann diese These bestätigen. Ich fühle mich mittlerweile in dem Spannungsfeld der nachwievor manischen und so unabhängig wie nur möglich durchgeführten Suche nach neuer Musik und dem immer wieder vollkommen erfüllenden Abtauchen in bekannte und längst auf dem Olymp stehende Alben ganz wohl - es gehört zum fast täglichen Ritual, sowohl das eine, als auch das andere in meinem Leben zu begrüßen. Auch wenn der Drang, sich wegen latenter Überforderung immer mehr aus dem Tagesgeschäft zurückzuziehen, durchaus vehementer spürbar ist als noch vor fünf Jahren. Im Moment halte ich den Gegenwind noch aus.

Und dieser letzte Satz ist vielleicht eine etwas krude Einleitung für eine Textreihe, die sich explizit mit der Vergangenheit auseinandersetzen soll. Da haben wir's wieder: einmal nicht nachgedacht, schon kommt nur "Mumpitz" (Matthias Breusch) raus.

Auf die nächsten zehn Jahre Mumpitz.


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ATHEIST - JUPITER 

Atheist haben mit "Jupiter" ein Album eingespielt, das qualitativ nahtlos an ihre ersten drei Klassiker "Piece Of Time" (1989), "Unquestionable Presence" (1991) und "Elements" (1993) anschließt. Mir fällt sonst keine andere reformierte Metalband mit entsprechender Fallhöhe ein, die das erreichen konnte - was vermutlich auch der Grund dafür war, im Oktober 2010 und damit also kurz nach dem Release des mich, Zitat: "wuschig" machenden Vorabstracks "Second To Sun" darüber zu phantasieren, dass mich das kurz darauf zu veröffentlichende Album ganz sicher nicht so mitnehmen werde wie ihre Frühwerke. Gebranntes Kind, und so. Und zack, zehn Jahre später hat's mich geradezu mit- und weggerissen. Technisch so anspruchsvoll wie eh und je, kraftvoll und kompromisslos, dazu mit der so typischen (für Atheist) wie ungewöhnlichen (für das Genre) Eingängigkeit ausgestattet, ist "Jupiter" der nächste Meilenstein im Schaffen dieser einzigartigen Band - auch wenn die Experimentierfreudigkeit meines Lieblingsalbums "Elements" beim Comeback in der Grastüte vergraben blieb. Gerüchte über ein neues Album halten sich seit Jahren hartnäckig, tatsächlich hat man im Jahr 2018 sogar einen neuen, weltweiten Plattenvertrag unterzeichnet, aber abseits einiger Tourneen auf der anderen Seite des großen Teichs, hat sich bislang leider nichts getan. Wenn "Jupiter" ihr Schwanengesang bleiben sollte: ich kann damit bestens leben.




Erschienen auf Seasons Of Mist, 2010.



02.02.2020

Best Of 2019 ° Platz 3 ° GOLD - Why Aren't You Laughing?




GOLD - WHY AREN'T YOU LAUGHING?


Es hat etwas Zeit benötigt, bis ich den Zugang zu GOLD fand. Vermutlich waren angesichts personeller Parallelen zur mittlerweile aufgelösten Quatschcombo The Devil's Blood (GOLD-Gitarrist und -Gründer Thomas Sciarone) meine anfänglichen Vorbehalte zu prominent im Stammhirn platziert, was eine frühere Annäherung nahezu unmöglich machte - manchmal bin ich so, ich kann's nicht wirklich ändern. Mittlerweile sieht die Welt anders aus. GOLD sind die vielleicht bemerkenswerteste Rockband dieser Tage und haben seit dem eher unspektakulären Schalala-Rock ihres Debuts "Interbellum" aus dem Jahr 2012 eine atemberaubende Entwicklung durchgemacht. "Why Aren't You Laughing?" ist zweifellos der bisherige Höhepunkt dieser Transformation: die mystische, dunkel schimmernde Mixtur mit Elementen des Gothic-, Post- und Indierocks mit der gleichermaßen entrückt wie glasklar durch die Songs schwebenden, endlich auch selbstbewussten Stimme Milena Evas und die aus dem Black Metal aufgefächerten Gitarrenfiguren ergeben einen Sound, wie ihn die Welt bislang noch nicht gehört hat. 

Und das ist vielleicht das Problem für das Erreichen der Weltherrschaft. Die Band spielte vor wenigen Tagen im Aschaffenburger Colos-Saal vor gerade mal 50 Zuschauern eines ihrer seltenen Solokonzerte (ansonsten werden sie auch 2020 in erster Linie auf Festivals zu sehen sein) und mir wurde plötzlich klar: die sind mit dieser musikalischen Mischung nebst der konzeptionellen Choreografie und den starken, feministischen, für Gleichberechtigung und eine offene, freie Gesellschaft einstehenden Texten vielleicht ein paar Jahre zu früh dran. Und überhaupt: fragt mal eine feministische Band wie beispielsweise War On Women, was sich an frauenfeindlicher Scheiße in den Kommentarspalten ihrer Youtube Videos abspielt. Man kommt nicht drum herum: was der rockende Bauer nicht kennt, frisst er eben nicht, und so mancher ist darüber hinaus auch einfach, pardon, klotzehohl. Ich kann das sagen, weil ich schließlich auch hin und wieder die Heugabel im Kopf stecken habe; wer einen Beweis braucht: er findet sich im einleitenden Satz dieses Beitrags. 

Ich kann nur hoffen, dass die Band weitermacht - eigentlich sollten sowohl von dieser Band im Allgemeinen, als auch von dieser ganz hervorragenden und tief bewegenden Platte wahrlich ein paar mehr Menschen Notiz nehmen. Denn wer weiß, wie eiskalt mich aktuelle Rockmusik für gewöhnlich lässt und für wie austauschbar, stumpf, oberflächlich und mutlos ich den beinahe ganzen übrigen Sauhaufen halte, darf sich nun die wildesten Träume über die Qualität von GOLD ausmalen. 

Sie sind alle wahr. 



Erschienen auf Artoffact Records, 2019.

25.01.2020

Best Of 2019 ° Platz 7 ° New Model Army - From Here




NEW MODEL ARMY - FROM HERE


Ich fühle mich seltsamerweise immer noch nicht wirklich dazu berufen, umfassend über New Model Army zu schreiben. Meine erste echte Auseinandersetzung mit der Band begann schließlich erst mit dem letzten Studioalbum "Winter" aus dem Jahr 2016, davor nahm ich sie entweder über Coverversionen von Anacrusis und Sepultura wahr, oder sortierte sie angesichts der ersten fünf als Klassiker geltenden und von mir erst lange Zeit nach Veröffentlichung gehörten Alben in das Fach für jene Legenden ein, an die ich emotional nie so richtig herankommen sollte und mit denen daher die Bindung nie so bedeutsam eng wurde. "Winter" sollte das allerdings recht schnell ändern.

Angesichts meines Musikkonsums, der nicht immer zwingend vorsieht, mich in 30 Jahre alte Platten zu verlieben, liegt die Vermutung nahe, dass sowohl die direkte Beschäftigung mit "Winter", als auch das fleißige Baggern von Freund und Die Hard-Fan Jens dabei kräftig mithalfen. Auch Tobis Thekenumschau-Blog und sein NMA-Listensofa führten mich weiter in ihre Diskografie ein. So kamen der Vorgänger "Between Wolf And Man", sowie die eingeschobene Studio/Live-Mischmasch-LP "Between Wine And Blood" als nächstes ins Ohr und in die Sammlung. Es funkte also so allmählich zwischen New Model Army und mir. 

"From Here" hat nun sogar Brandbeschleuniger im Gepäck und ich verzichte demonstrativ auf einen Feuerlöscher. Und ganz möglicherweise kommt folgendes Statement bei dem ein oder anderen NMA-Jünger nicht so gut an wie Genschmans Balkonrede bei den Menschen in der deutschen Botschaft in Prag, aber sei's drum: das ist die beste New Model Army Platte, die ich kenne. Und damit wir uns richtig verstehen: ich kenne immerhin ein paar. Zugegeben, zwischen 1998 und 2013 klafft noch eine große Lücke, aber ICH KANN JA AUCH NICHT ALLES HÖREN! 

Jedenfalls: "From Here" ist hinsichtlich der Atmosphäre, der Instrumentierung, der Eindringlichkeit, der Songs, des Covers, der Stimme, der Texte, der Ernsthaftigkeit...Achtung, uffjepasst, jetzt kommt's nochmal: ihre beste Platte. 

Case closed. Get over it. 



Erschienen auf Attack Attack Records/Ear Music, 2019.



11.01.2020

Best Of 2019 ° Platz 12 ° Acid Reign - The Age Of Entitlement




ACID REIGN - THE AGE OF ENTITLEMENT


Ich adelte das Comeback dieser britischen Thrasher erst kürzlich und trotz einiger Konkurrenz mit großen Namen zum besten Thrash Metal Album des Jahres 2019 und viel mehr als das habe ich ein paar Wochen später auch nicht wirklich hinzuzufügen. "The Age Of Entitlement" platziert sich sehr hübsch zwischen Moderne und alter Haudegen-Herrlichkeit, legt zu gleichen Teilen Wert auf Groove und Gehacke, vermischt den gegossenen Stahlbeton mit einigen feinen und glücklicherweise nicht zu aufdringlichen Melodien und hat nicht zuletzt wegen der Stimme von Howard H Smith noch ein Quantum Punk-Vibe aus den späten 1980er Jahren retten können, der für den nötigen Elan sorgt. 

Vielleicht sind die Maßstäbe, die eigenen zumal, angesichts der eher unerfreulichen Entwicklungen im Heavy Metal ja mittlerweile auch so dermaßen auf den Hund gekommen, dass mir jeder Kompass abhanden gekommen ist, aber ich bleibe bei meiner früheren Einschätzung: im Grunde gibt es keinen einzigen faden Moment auf dieser Platte. Macht immer noch tierischen Spaß. 

Und es erscheint geradezu bizarr, dass es nicht ein paar mehr Menschen mitbekommen. Aber gut, wenn der eigene Kopf kilometerweit im Arsch des Spotify-Algorithmus steckt, ist's vielleicht auch kein Wunder. Ist wohl diese "Freedom!", von der Blaze Bailey, Joe Kaeser und  das Krümelmonster mal gesungen haben. 



Erschienen auf Dissonance Productions, 2019.