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08.09.2023

Sonst noch was, 2022?! (3): Jonathan Jeremiah - Horsepower For The Streets

 




JONATHAN JEREMIAH - HORSEPOWER FOR THE STREETS


Als meine Wenigkeit vor fast exakt vier Jahren einen halbsteifen Beschwerdebrief in die eigenen vier Wände sandte, weil es beinahe unerklärlich sei, dass "Good Day" des britischen Songwriters nicht in der Liste der damaligen besten Platten des Jahres 2018 auftauchte - wo doch vor allem die Herzallerliebste einen regelrechten Narren an den so markanten wie zwanglosen Songs Jeremiahs gefressen hatte und wir "Good Day" also überdurchschnittlich oft (und gerne) hörten - ließ sich gleichfalls eine gewisse Ratlosigkeit in meinen Ausführungen nieder. Immer diese Stilfragen. Was ist das denn hier eigentlich? Und wo kommt es her? 

Überzogen mit einer Patina aus den sechziger und siebziger Jahren, mit Orchester-Grandezza und manchmal gar einem Galabühnen-Vibe, aber andererseits unmittelbar, glänzend, frisch und modern. Irgendwie, und ich nehme jetzt allen Mut zusammen: hip! Wer nun obenrum möglicherwiese mit einer opulenteren Ausstattung protzen darf, wird derlei stilistische Lästigkeiten aus den tödlichen Fängen des Egos nicht weiter beachten und stattdessen einfach die Musik genießen. Aus welchen Gründen schreibt der Musikexpress denn auch sonst seine Rezensionen? Frage ich Sie!

Aber wir sind glücklicherweise nicht im mentalen Springer-Hochhaus und damit im Keller jeglicher Moral, sondern in fucking Sossenheim, bitches! Hier darf sich nach Herzenslust der gelbe Schmackes mit rostigen Nägeln aus der Hinrinde gekratzt und im Warum, Wieso, Weshalb regelrecht gebadet werden. 

Im Vergleich mit "Good Day" erscheint mir "Horsepower For The Streets" tatsächlich stärker amerikanisch geprägt zu sein. Die "europäische Eleganz", die ich auf dem Vorgänger  ausmachen (im Sinne von "identifizieren") konnte und die man auch als vornehme Zurückhaltung interpretieren darf, ist in meiner Wahrnehmung etwas in den Hintergrund getreten und hat jenem kalifornischen Weichzeichner mehr Raum überlassen, den ich gleichfalls bereits vor vier Jahren auf "Good Day" zu entdecken glaubte. Ein bisschen mehr Form über Funktion, ein bisschen mehr Pathos denn Ironie, ein bisschen mehr Vogelperspektive als Detailtiefe. Das zeigt sich auch im Sound, vor allem das Schlagzeug und die Arrangements der Chöre sind mittlerweile full blown Petula Clarke im Jahr 1965, wenn auch sicher mit deutlicher Moll-Färbung und mit all der neuen Komplexität, mit der sich ein Mittvierziger in heutigen Zeiten beschäftigen muss. "Horsepower For The Streets" ist insgesamt melancholischer und introvertierter als "Good Day", steht deutlicher im Sixties/Seventies-Soul, und wäre immer noch der passende Soundtrack für eine Autofahrt im Ami-Schlitten-Cabrio am Strand von San Diego. Ein bisschen Klischee muss sein. 



Vinyl: Schönes, sehr ansprechend gestaltetes Gatefold-Cover mit tollem Foto auf der Innenseite. Die Pressung auf schwarzem Vinyl ist abgesehen von einigen No-Fills zu Beginn von "Sirens In The Silence", dem letzten Stück auf der B-Seite, fehlerfrei. (++++)






Erschienen auf Pias, 2022.

25.07.2021

Sonst noch was, 2020?! (15) - halftribe - Archipelago



HALFTRIBE - ARCHIPELAGO

"Archipelago" hat aus mehreren Gründen eine Erwähnung verdient. Erstens: Das sechte Album des britischen Produzenten Ryan Bisset erschien im März 2020 und damit zur Hochzeit der allgemeinen Verunsicherung rund um das Coronavirus und war für die nächsten Wochen ein tröstender und umarmender Soundtrack. Sowas bleibt. Selbst beinahe eineinhalb Jahre später spüre ich eine besondere Verbindung zu dieser Musik. 

Zweitens: auch ohne die Dramatik aus Zeiten der Pandemie wird vor allem die erzählerische Natur von "Archipelago" offensichtlich, sicherlich subjektiv gespeist aus den Gedanken, die sich um Fernweh und Sehnsucht den Weg in die eigene Realität bahnen. Halftribes Stil hat mich schon ab dem ersten Kontakt mit seiner Musik fasziniert, ich schrieb damals zu "Luxia", seinem Debut für das spanische Label Archives:

"(...) dieser Hauch von intellektueller Kühle und Klarheit in einer ansonsten sehr intimen und weichgezeichneten Umgebung. "Luxia" benötigt keine Rettung aus dem Kitsch, aber es ist gut, ein wenig angedeutete Schärfe zu spüren. Macht klar im Kopf. Befreit den Geist." 

- und "Archipelago" führt diese Linie fort. Bissets Kompositionen und Sounds wirken immer etwas "crisp", sie bilden Kratzer ab, Ermüdung, Verschleiß. Das ist nicht nur charmant, das verschafft seiner Musik auch eine naturalistische Ebene; eine, die nicht nur abbildet, sondern auch kommentiert. 

Und Drittens: die handnummerierte und auf 200 Stück limitierte CD ist ganz in der Tradition des Labels Sound In Silence so wunderbar gestaltet, dass ich mich frage: ist die CD in dieser Form und für diese Musik vielleicht nicht doch das bessere, schönere Format? 

Frage ich Sie! Kann man ja mal drüber nachdenken.

   



Erschienen auf Sound In Silence, 2020.


24.07.2021

Sonst noch was, 2020?! (14) - Tomas Jirku - Touching The Sublime




TOMAS JIRKU - TOUCHING THE SUBLIME

Ich hatte "Touching The Sublime" schon mal flüchtig in meinem Text zu "Still" von Night Sea erwähnt, immerhin meiner Nummer 1 des Jahres 2020, nur nochmal zur Erinnerung; und dieses flüchtige "auch ein sehr gutes Album" als Kommentar zu Tomas Jirkus erstem Album seit zehn Jahren war eindeutig ZU flüchtig. Es lohnt sich, etwas ausführlicher über dieses Album zu sprechen - und sei es nur deswegen, weil mir manchmal die Worte zu fehlen scheinen. Zum einen ist "Touching The Sublime" zumindest musikalisch kein typisches Silent Season-Album, und es hat den Anschein, als würde sich das Label grundsätzlich in eine etwas unberechenbarere Richtung entwickeln: weg vom naturalistischen Dubtechno, hin zu abstrakterem, herausforderndem Ambient. Auch die beiden in diesem Jahr auf Silent Season erschienenen Alben "Infinite Horizon" von Owl und Daars "Entire" verstärken diesen Eindruck. 

Zum anderen ist es nicht einfach, sich in "Touching The Sublime" reinzufuchsen. Es wirkt kalt, schroff, dürr, distanziert, fast abweisend - und das bei einem Opener, der "A Warm Place" heißt. Die Sounds so klobig und gewaltig wie ein jahrtausendealtes Felsmassiv, ein bisweilen unbehaglich tiefes Dröhnen, das klingt, als würden sich zwei Lithosphärenplatten unsittlich aneinander reiben. Zudem ist Jirkus Musik in kontinuierlicher Bewegung. Sie ist rastlos, gräbt sich immer tiefer in seine einzelnen Schichten ein, selbst in die, die unter dem eigentlichen Ton liegen. Das ist der Grund warum fast jeder, der "Touching The Sublime" gehört hat, darauf besteht, es unter Kopfhörern zu erfahren, zu fühlen, zu entdecken. Ein sehr eindringliches, immersives Erlebnis. 

Food for your mind, heart and soul.

   


Erschienen auf Silent Season, 2020.


15.07.2021

Sonst noch was, 2020?! (12) - Sraunus - Dance Alone



SRAUNUS - DANCE ALONE

Die meisten Schmerzen bei den vorgenommenen Streichungen für die 2020er Bestenliste hatte ich möglicherweise bei "Dance Alone" von Sraunus. Das elfte Album des Produzenten aus Litauen steht in meinen (digitalen) Hörstatistiken bei last.fm tatsächlich in den Top 100 der meistgehörten Alben aller Zeiten (!) - und das ist bemerkenswert für eine Platte, die erst im Frühjahr 2020 erschienen ist.

Bemerkenswert (ein echter Delling!) sind auch die Ideen für die Ausgestaltung seiner Musik: Sraunus vermischt die dunkel schimmernden, manchmal klaustrophobisch wirkenden, ambrierten Merkmale des Dubtechno mit weitläufigen Ambientflächen und legt einen Schleier aus raffiniertem IDM-Elektrogefummel über die oberste Sphäre seiner Songs. "Dance Alone" ist introvertiert und selbstreflexiv, es zeigt sich in einem immer weiter ausbreitenden Geäst von Erfahrungen und den daraus entstandenen Brüchen, diesen Verschleißerscheinungen, die das Leben kälter werden lassen. Manchmal scheinen sich in erster Linie die Gefühle von Einsamkeit zu spiegeln, die nach innen gerichtete Version der Einsamkeit; die, die keinen Platz für Überwärmtes und andere Sentimentalitäten hat. Vielleicht war es insbesondere ebenjene Wahrnehmung in Zeiten der Corona-Isolation, die "Dance Alone" zu einem solch treuen Begleiter werden ließ. Hätte definitiv in meine Top 20 gehört. Aaaand I fucked this up. Again. 

P.S.: Sraunus stellte vor einigen Jahren einen isolatedmix für das Ambientlabel A Strange Isolated Place zusammen. Mehr Informationen und den Mix zum Download gibt es hier:



 


Self-Released, 2020.

10.07.2021

Sonst noch was, 2020?! (10) - Lucy Gooch - Rushing



LUCY GOOCH - RUSHING

Das US-amerikanische Spezialistenlabel Past Inside The Present hatte 2020, und damit im vierten Jahr seines Bestehens, einen ganz außergewöhnlichen Lauf. Es liegt nahe, das vor allem an einer Platte festzumachen, die aus nicht ganz offensichtlichen Gründen die Ambient-Nische verließ und sich plötzlich selbst auf dem Radar derer aufhielt, die bislang keine Ahnung davon hatten, diese Musik in ihrem Leben zu benötigen: zaké & 36s "Stasis Sounds For Long​-​Distance Space Travel" übersprang im Juni dieses Jahres tatsächlich die Grenze von 2000 Käufern alleine auf Bandcamp, sicherlich auch von den mittlerweile zig Vinylversionen und -farben angeschoben, aber es ist klar, dass dieses Werk eine ganz besondere Saite bei den Menschen angeschlagen hat - und weiter anschlägt. 

Von diesem so schönen wie überraschenden Erfolg bestärkt, folgte eine wahre, ich bin bin versucht das Wörtchen "unüberschaubare" in diesem Kontext einzuflechten, Flut von neuen Releases - und es ist vielleicht nicht allzu utopisch anzunehmen, dass damit auch größere Aufmerksamkeit auf Künstlerinnen wie Lucy Gooch gelenkt wurde, die mit der EP "Rushing" ihr Labeldebut gab. Ihre so hymnischen wie ätherischen Kompositionen tupfen das eigene Bewusstsein in einen transzendentalen und luziden Traum hinein: seidige Transparenz und surreal zerklüftete Landschaften lassen zwischenweltliche Räume entstehen, Orientierungslosigkeit und Kontrollverlust auf der einen, Geborgenheit und Vertrautheit auf der anderen Seite. Ihre wasserklare Stimme dient dabei gleichermaßen als Fixpunkt des Außerweltlichen und als Rückzugsort für eine Idee von Popmusik, die eher Laune an künstlerischer Dehnung, denn an kompatibler Komprimierung hat. Im Höhepunkt "Sun" klingt es, als hätten sich die drei Seelen von Lucy Gooch, Zola Jesus und Lisa Gerrard in einem unterirdischen Höhlenlabyrinth miteinander verschmolzen und ein hell blitzendes Energienetz über die Erde ausgerollt und es ist herzerwärmend, diesen Song zu erfahren. 

Zerrissen zwischen Pop, vergeistigter Klassik und spiritualisiertem Folk, zwischen Einsamkeit und Empathie; im Prinzip der Sound einer ganzen verdammten Generation. Wir müssen einfach lernen, besser zuzuhören.

 


Erschienen auf Past Inside The Present, 2020.




12.04.2021

Sonst noch was, 2020?! (4) - The Slow Dancing Society - The Disappearing Collective Vol. I


THE SLOW DANCING SOCIETY - THE DISAPPEARING COLLECTIVE VOL.I


Manchmal zeigt sich der Charakter eines Albums erst spät. Oder präziser formuliert: manchmal erkenne ich den Charakter eines Albums erst recht spät. Das ist logischerweise ein Unterschied. Es ist natürlich viel romantischer anzunehmen, die Musik selbst stelle sich mir nix, dir nix auf diese eine bestimmte Lebensrealität von Flohihaan Blödkommadoofienull ein und verändert sich, transformiert eigenständig die Frequenzen und Schwingungen und trifft genau den richtigen, haha: Ton zur genau richtigen Zeit am genau richtigen Ort. Dann schreibt man sowas ins Internet wie "Die Musik hat mich gefunden.", weil man ihr eine Intelligenz zugesteht, ein Eigenleben, ein Bewusstsein - und weil es natürlich wie nix feststeht, dass die Musik damit AUSGERECHNET!^111einself zu einem selbst kommt, dem Mittelpunkt von allem, der Mutter aller Wahrheiten und Weisheiten. Ob's auch 'ne Nummer weniger theatralisch geht, hab' ich gefragt? 

"The Disappearing Collective Vol.I" des US-Amerikaners Drew Sullivan zog im Frühjahr 2020 über einige Wochen hinweg seine eleganten Kreise durch den Westflügel meines Anwesens, und obwohl sie mich nicht umgehend mit prachtvoller Erektion aus dem Sessel feuerte, blieb die Platte verdächtig lange im "Neu Eingetroffen"-Fach des guten schwedischen Pressspanregals einsortiert. Besondere Platten verbleiben aus unterschiedlichen Gründen bisweilen sehr lange in diesem Fach; es ist vielleicht das untrüglichste Zeichen einer durch was und wie auch immer bewegenden Musik, sie immer wieder hören zu wollen. Immer wieder von ihr angezogen zu werden, weil sie das Leben bereichert, es schöner, bunter, intensiver macht. Oder weil man möglicherweise etwas von ihr lernt. 

Es mag sich nicht sofort erschließen, aber ich lerne vor allem mit und wegen solcher Musik viel über mich selbst, über Menschen, über Liebe, Ängste, Demut. Über Schönheit. Und darüber, Schönheit zu erkennen, sie nicht als selbstverständlich hinzunehmen, sondern sie zu verstärken und zu wertschätzen. Das geht fast immer ohne Worte, fast immer ohne darunter liegender Message, fast immer ohne Erklärung. Man fühlt diese Musik. Sie wird zu einem Baustein für das eigene Verständnis, einem Puzzleteil für die eigene Idee von Leben. 

Well, die Idee von Leben...manchmal ist da Chaos, manchmal ist da Einsamkeit, manchmal ist da Angst. Sind wir ehrlich: fast immer ist da Angst. Und plötzlich ist da inmitten dieses tosenden Sturms jene berühmte nächste Ebene in dieser Musik spürbar, denn das Gesetz der Anziehung gilt ja nicht nur für Licht und Liebe allein: ich habe sie gefunden. Das sind erhebende, aber leider sehr flüchtige Momente, in denen man vielleicht für wenige Sekunden mehr von diesem irren Ritt versteht, mehr von sich selbst, mehr von der Welt, mehr vom Universum, mehr von der eigenen Bedeutungslosigkeit - und stattdessen plötzlich alles über Einheit. 

Alles ist vergänglich. Nichts bleibt. 

“The things we love will one day disappear - first slow and then so quick.”
(Matthew Ryan) 

 



Erschienen auf Past Inside The Present, 2020 


04.04.2021

Best of 2020 ° Platz 1 ° Night Sea - Still



NIGHT SEA - STILL

I'm looking California
And feeling Minnesota
(Soundgarden)

Das Album des Jahres kommt aus den tiefen Urwäldern British Columbias, von meinem neben A Strangely Isolated Place anderen, meinem also zweiten Lieblingslabel Silent Season. Labelchef Jamie sagt selbst, Silent Season hätte 2020 mit lediglich zwei physischen und drei digitalen Veröffentlichungen ein ziemliches "low-key"-Jahr gehabt (neben "Still" kam nur noch Tomas Jirkus "Touching The Sublime" auf Schallplatte heraus, ebenfalls ein sehr gutes Album), aber wenn solch ein Meisterwerk wie "Still" auf dem Radar ist, kann ich mit einem heruntergefahrenen Ausstoß an neuer Musik bestens leben. 

Nach spätestens 2 Minuten und 53 Sekunden mit "Still" ist klar: das ist eine besondere Platte und das wird in den folgenden 48 Minuten ein besonderer Trip. Wenn sich durch den langsam aufziehenden diesigen Ambientschleier plötzlich ein Energieblitz aus den Schallplattenrillen über den Tonabnehmer, Tonarm, die Innereien des Plattenspielers über die Kabel in den Lautsprechermembran seinen Weg bahnt, unaufhaltsam und mächtig und beinahe physisch spürbar direkt in dein Herz schießt - Treffer, versenkt. Was für ein Einstieg. Eigentlich eine eiskalte Dusche nach dem 180°C Saunagang - danach folgt totale Entspannung: sanft fließende Dub-Variationen, aquatische Motive, Levitation im freien Raum. 

Denn "Still" ist das beruhigendste und gleichzeitig betörendste Album des Jahres. Ich habe es im vergangenen Sommer tatsächlich in erster Linie in jenen Zeiten gehört, die nach aktiver Entspannung gerufen haben; wenn also Lohnarbeit, Leerdenker und Leben über das wucherten, was in normalen Zeiten noch geistige Gesundheit genannt wurde, war "Still" ein außerordentlich starkes Sedativum, das allerdings nicht die Sinne betäubte und dämpfte, sondern sie öffnete. In den vergangenen Texten über die Top 20 des vergangenen Jahres hatte ich mehrfach die Ambivalenz erwähnt, die ich in so mancher Musik entdeckt zu haben meinte - sei es aus Projektion und selektiver Wahrnehmung, 's is' eh schon alles egal - und die ich vermutlich deswegen so attraktiv finde, weil sie mich in der Notwendigkeit bestärkt, Grautöne wahrzunehmen, besser: wahrnehmen zu müssen, um die Welt und mich selbst zu verstehen. Denn das ist vielleicht immer noch der heilige Gral, den es im Leben zu finden gilt: Verständnis, Aufklärung, Bewusstheit. Alles, was mich diesem Kern näherbringt, hat Bedeutung und Wirkung. 

Das bemerkenswerte an "Still" ist: da ist keine Ambivalenz. Da ist keine Projektion und keine selektive Wahrnehmung, da sind keine bohrenden Zweifel, kein Grau, da ist kein Zaudern. Stattdessen: Klarheit. Tiefe. Wärme. Natur. Verbundenheit. Empathie. Ursprünglichkeit. Und die Erkenntnis, dass es keinen Antagonismus benötigt, um auf die andere Ebene, die andere Seite zu kommen. Ganz im Gegenteil: Es braucht Einigung. 

Viel näher kommt man an das Licht nicht heran.  


   

Erschienen auf Silent Season, 2020. 


02.04.2021

Best of 2020 ° Platz 3 ° Soela - Genuine Silk


SOELA - GENUINE SILK

One more cosmic watergate
Psychic war, deletion zone
Future destiny unknown
(Voivod)

"Genuine Silk" hat mich noch kurz vor Jahresende blutig abgegrätscht, weil mein Bauchgefühl bereits bei Erstkontakt im Spätsommer des vergangenen Jahres sämtliche 10000 Watt Glühwürmchen in die "für die Jahreszeit zu warme" (Jens "Granate" Riewa) Winternacht Sossenheims schicken sollte. Der Ausgangspunkt, weil same procedure as last month, dear Girokonto: einfach mal ein Wochenende lang auf den bevorzugten Webstores rumhängen und mit geradezu ungesunden Mengen an Kaffee und Proteinriegeln in neue Musik reinhören, recherchieren, vergleichen und am frühen Montagmorgen um halb drei mit nervösen Ausfallerscheinungen und 57 Platten in 6 Warenkörben versuchen, Schiffe Versenken für behämmerte Giganerds zu spielen, um das Supermarkt-Budget am Monatsende nicht auf "rohe Kartoffeln, rohe Zwiebeln, frische Knorpel"-Niveau runterfahren zu müssen. Im Falle des Albumdebuts der in Berlin lebenden Produzentin Elina Shorokhova war die Sache eigentlich nach wenigen Augenblicken klar. Das markant-unwirkliche und anziehend wirkende Cover-Artwork, das Label (Dial) und eine Minute des Quasi-Openers "Shadows On The Wall" reichen aus, *klick*, gekauft, Hurra!

Eines meiner liebsten Labels, das in Los Angeles operierende A Strangely Isolated Place, bedruckte vor Jahren mal einige Merchandise-Shirts mit dem Motto "Ambient In The Sheets - Techno In The Streets" und wenn man mich früge (sic!), kam bislang kein anderes Album der Vereinigung der beiden vermeintlichen Gegensätze so nah wie "Genuine Silk". Für jemanden, dessen Leben sich zumindest mental ohne Weiteres zu 97% im Bett abspielen könnte, die restlichen drei Prozent gehen für den (fast) unvermeidlichen Toilettengang und Plattenpakete vom Briefträger an der Haustür abholen drauf, ist diese Platte ein Paradies: wachsweiche Synthieschwaden fließen sirupartig von der Decke herab, ein melancholischer Blick aus dem Fenster zeigt einen diesigen Horizont avec Nieselregen, die Nebelmaschine zischt mit der Kaffeemaschine um die Wette, das elegant getupfte Piano lässt zusammen mit dem verhuschten Stimmengefetze Erinnerungen an die verstörend leeren Schlafzimmerblicke der ersten Tri Angle-Veröffentlichungen wach werden - und in der zweiten Hälfte houst es sich mit hellerem, klarerem Beat in Richtung Kuschelsex und der Zigarette danach. Es. Ist. So. Fucking. Smooth. 

Ich habe mit "Genuine Silk" weite Teile des Lockdown-Winters verbracht. Das hat wegen der idyllischen Melancholie seiner Songs schon gut funktioniert. Ich kann es andererseits auch kaum erwarten, das Album in der Frühlingssonne und an lauen Sommerabenden auf der Terrasse in meinem Frankfurter Kiez zu hören. Denn diesen Spagat bekommt Soela hin: lebensfrohe und sommerliche Urbanität mit schwermütigem Grauschleier zu verbinden ist ein Klacks für dieses Wunderwerk. 

Wir treffen uns bitte in der Mitte, auf ewig.


 


Erschienen auf Dial, 2020.



01.04.2021

Best of 2020 ° Platz 4 ° Aril Brikha - Dance Of A Trillion Stars




ARIL BRIKHA - DANCE OF A TRILLION STARS

Broken, bruised, forgotten, sore
Too fucked up to care anymore
(Nine Inch Nails)


Über die ersten sechs Monate des Jahres saß "Dance Of A Trillion Stars" auf dem Thron der Jahresbestenliste und wurde erst in der zweiten Jahreshälfte ein ganz kleines bisschen verdrängt. Eine Platte, die ich in einer Zeit, in der vieles auseinanderzufallen drohte, als gesundes Regulativ wahrnahm, als Normal Null. "Dance Of A Trillion Stars" ist bei aller Introvertiertheit und Ruhe keine elegische Operette der Besinnung, es bietet keinen Pfad in die Untiefen des eigenen Geistes, es zeigt keinen übertriebenen Gestus der Dramatik. Es ist eher ein Glas frisches, kaltes Wasser: Ein Lebensspender, wenn die eigene Realität vor der geistigen Dürre kapituliert. 

Sein erstes Album seit 13 Jahren zeigt den schwedischen Produzenten in den Zwischenwelten der Schwerelosigkeit, des Fantastischen, der Bewegung und man fragt sich: waren das einmal Skizzen seiner sonst üblichen Techno und House-Tracks, bevor damit anfing, diese Kompositionen auseinanderzubauen und zu belüften? Einen Beat hat man den pulsierenden Grooves nämlich fast durchgängig entzogen; sie entstehen im Grunde lediglich aus ihrer Dynamik, die sich aus den übereinandergelegten, im Tempo immer wieder variierenden Schichten und dem Spiel unterschiedlicher Perspektiven und Fluchtpunkte einstellt. Das macht "Dance Of A Trillion Stars" einerseits abstrakt, weil die Verschiebungen so subtil inszeniert sind, dass man sich ihnen zunächst nur über das Flackern ihrer Aura nähern kann - andererseits entwickelt sich aus ihnen bisweilen eine fast expressive Klarheit. Wenn Brikha hingegen wie im Stück "Everything Was Here First" einen sehr rudimentären und nur für wenige Minuten sehr sparsam eingesetzten Beat zulässt, vergrößert sich diese Klarheit noch zusätzlich, sie wird lebhafter und direkter. Etwas diesig wird es eigentlich nur im Abschlusstrack "She's My Everything", der sich am weitesten ins Grenzgebiet zwischen Ambient und Techno vorwagt und die perlenden Synthieblitze mit einem gedämpft pochenden Unterwasserbeat und rollendem Basslauf begleitet. Und selbst hier ist es eher kaltweißes Licht, das die Dämmerung bricht als der vorgewärmte Sepiafilter im Wohlfühlpulli.

"Dance Of A Trillion Stars" ist Raumfahrer-Techno für den Spaziergang im unendlich weiten, kalten Kosmos. Eine Streckübung des Science Fiction Ambients, gebaut für den so benötigten Perspektiv- und Paradigmenwechsel: aus 3,40 Millionen Lichtjahren Entfernung ist auch der größte Scheißhaufen eben nur ein Maulwurfhügel. Ein Trost, immerhin.


 



Erschienen auf Mule Musiq, 2020.



28.03.2021

Best of 2020 ° Platz 5 ° Shuta Yasukochi & Carlos Ferreira - Quiet Reminders



SHUTA YASUKOCHI & CARLOS FERREIRA - QUIET REMINDERS


The blood drop signifies a rise in the stock
(Thievery Corporation)


Ich adelte "Quiet Reminders" in einer meiner sehr seltenen Reviews auf Bandcamp als das "most soothing and consoling album of 2020" und wenn ich mich außerhalb dieses Blogs zu solchen öffentlich vorgetragenen Meinungsäußerungen hinreißen lassen, handelt es sich um eine durchaus bemerkenswerte Ausnahme. 

Ich schreibe oft davon, dass die ersten Sekunden einer Ambient-Produktion oft den Unterschied für mich machen. Stephane Mathieu ist beispielsweise ein solcher Meister des unmittelbaren Klangs, der mich sofort einnimmt und in die Tiefe abtauchen lässt. Die Arbeiten von Shuta Yasukochi sind in dieser Hinsicht exotisch, weil sie mich zwar zum gleichen Ergebnis bringen, dafür aber ein paar Umlaufbahnen um mein Herz in Kauf nehmen müssen, an denen ich mich zunächst nur schwer entzünden kann. Wie bereits bei seinem Album "Short Stories" aus dem Jahr 2017 hat es auch bei seiner Zusammenarbeit mit dem brasilianischen Musiker Carlos Ferreira für "Quiet Reminders" etwas gedauert, bis ich den sorgfältig versteckten Eingang in dieses Labyrinth fand. 

Einmal durch diese Tür gegangen und die Schwelle zur Klangwelt auf der anderen Seite passiert, gibt es aber kein zurück mehr. Wie konnte das passieren? 

Ich glaube, die Antwort besteht aus zwei Teilen. Erstens: ich empfinde Yasukochis und Ferreiras musikalische Sprache als sehr bildhaft und assoziativ, sie gibt einen Schaltplan vor, der mögliche Verknüpfungen, Möglichkeiten, Wege und Linien aufzeigt und dem Hörer damit sämtliche Freiheiten in das eigene Zutrauen überlässt. Es folgt ein hochgradig komplexer und spezialisierter Prozess, der Muskeln trainieren, Reflexe anerkennen muss; ganz so, als müssten nach einer Gehirn-Operation bestimmte Körperbereiche und -funktionen wieder neu programmiert, oder besser: rebootet werden. Daran muss ich mich immer wieder zuerst gewöhnen, eine Mischung aus Phantomschmerz und Nachtblindheit. Zweitens: ihre Musik ist in ihrem Schwebezustand auffallend expansiv und wird geflutet von kaum wahrnehmbaren Mikrobewegungen. Die entstehenden Bilder entwickeln mit der Zeit ein Eigenleben, sie bewegen sich mit der Musik, verändern sich, tauchen ab, steigen wieder empor, stellen scharf und verschwimmen. Damit wird der zu beobachtende Raum übergroß und frei, obwohl er doch unter ständiger Kontrolle der beiden Musiker bleibt. Diese Ambivalenz, beinahe eine Chimäre, ist nicht leicht zu verarbeiten, weil sie einerseits überfordert und andererseits komprimiert. 

"Quiet Reminders" lebt von der Auseinandersetzung, von dem Spiel mit diesen Gegensätzen. Und eines Tages wachst du auf und stehst wie selbstverständlich mitten auf dem Spielfeld, angezogen von der Tiefe, belohnt mit der Weite.


         


Erschienen auf Archives, 2020.

25.03.2021

Best of 2020 ° Platz 6 ° Recondite - Dwell


RECONDITE - DWELL


Here's Tom with the weather.
(Bill Hicks)


Corona-Lockdown-Soundtrack, Teil 2: Es gibt Musik in meiner Welt, die für immer mit einer bestimmten Zeit in meinem Leben verbunden sein wird; Alben und Songs, die Bilder, Situationen, Lebensgefühle in emotionale Frischhaltefolie gepackt haben und deren auch nur kurz aufzuckende Erinnerungsblitze sofort die Tür zur Herzkammer aufreißen und "Film ab!" rufen. In der Retrospektive sind das jene Platten, die bleiben werden, für immer. Und wenn ich mich endlich mal zu einer Entscheidung durchringen könnte, wäre das ganz eventuell die Antwort auf die sich seit Jahren in meinem Kopf windende Frage, wie der Auswahlprozess bei einer radikalen Verkleinerung der Tonträgersammlung wohl aussehen mag. Es klingt so einfach, aber ich würde mir lieber den kleinen Zeh mit einer rostigen Nagelschere entfernen oder ein Metalcore-Album bei vollem Bewusstsein anhören, als es wirklich durchzuziehen. Noch. 

"Dwell" von Recondite aka Lorenz Brunner ist mein Soundtrack des ersten deutschen Corona-Lockdowns. Ich hörte im März und April des Jahres 2020 keine andere Platte so häufig - und keine andere Platte war in der Lage, mir dieses Gefühl der Geborgenheit und des Trosts zu spenden wie "Dwell" - und das ist deswegen bemerkenswert, weil "Dwell" weder Kuschelambient noch ein "Feel Good Hit Of The Summer" ist. Gehen wir also auf Entdeckungsreise. 

Dämmerung. Fahles, gelbes Licht. Unschärfe. Zeitlupe. An der Oberfläche ist das kein ungemütlicher Ort. Es funkelt schwach unter der matten, glatten Fassade; ein paar fiebrige Erinnerungen, ein rauschhaftes Verlangen, ein sedierter Morgen danach. Es lässt sich sehr tief sinken mit dieser Platte, und vermutlich gilt das für exotherme wie auch für endotherme Lebensrealitäten, für die Extase wie für den Knacks. In beidem steckt Melancholie, sie unterscheiden sich nur in der Art der Lichtbrechung: das senkrecht auftreffende Licht ändert seine Richtung nicht, es erfährt weder einen Erkenntnisgewinn noch Varianz. "Ich will so bleiben wie ich bin", der ganze Wahnsinn einer Margarinewerbung in Schwermut gebadet. Anders das schräg einfallende Licht, das schon aus einer Quelle entspringt, die Zweifel, Kritik und Geistesgegenwart auf die Stirn küsste - und beim ersten Hindernis vom Weg abkam. "Dwell" hat all das mit seinem elegischen Ambient-House verinnerlicht; es spielt sein Blatt mit all dem Drama, all der Schwere - und verzieht dabei doch keine Miene. Bleibt nüchtern, hält sogar etwas Abstand ein, beschreibt und dokumentiert mehr, als dass es sich in das Schauspiel direkt hineinbegibt. Als hätte Lorenz "Dwell" auf eine Leinwand gemalt: da ist eine Verbindung zum Bild, aber fast keine zum Motiv. 

Aber da ist noch mehr. Die dunklen, minimalistischen Melodiebögen, dessen Arrangements manchmal wie eine obskure Mischung aus spätromantischen Dead Can Dance und torkelnden Boards Of Canada klingen und die Weite in den großen, kargen Flächen dieser Songs bis hin zur Klaustrophobie verengen können. Darunter der stoische Beat, der ab und zu ins Stolpern gerät und mit überraschenden Trap-Elementen spielt, dazu die nervöse, zitternde HiHat. Bei aller Elegie - hier brodelt auch etwas Unheilvolles unter der Oberfäche vor sich hin. Vielleicht hat sich mein Gefühl der Unsicherheit und der Furcht im vergangenen Jahr in dieser Musik gespiegelt und vielleicht kam darüber die enge emotionale Bindung zu "Dwell". 

"Dwell" kann all das. Die Endorphin-Rumba im Hedonismusmantel, Leidenschaft bis zur Selbstaufgabe - und zum Sun-Downer ein Diazepam-Flip mit Kirschwasser. Der süße Nektar des Scheiterns. Endlich daheim.


   


Erschienen auf Ghostly International, 2020.


21.03.2021

Best of 2020 ° Platz 7 ° D.K. - Live At The Edge




D.K. - LIVE AT THE EDGE

There's no such thing
As owning something
It's all borrowed for a time
It's all borrowed for a time
(Marillion)


Ich habe bis zur Mitte der 00er Jahre keine elektronische Musik gehört, ich war Rock with a capital R, Rrraaaawwwwwwk; nicht unbedingt in Person, weil ich schon immer ein Sensibelchen war, nett, lieb, brav und emotional mit so manch heikler Situation, zwischenmenschlicher zumal, schlicht überfordert, aber beides war eben auch meine Sozialisation: gut behütet und beschützt im ruhigen Frankfurter Westen aufgewachsen, Elternhaus weitgehend intakt, der Tag hatte Struktur wenn ich morgens in Panik in die Schule und am Nachmittag mit Tüll-Tü-Tü auf die Rollschuhbahn zum Eislaufen (o.s.ä.) musste, es darf sich einfach niemand mehr über irgendwas wundern  - aber ich hatte auch einen Bruder im Nebenzimmer, der mich in den 1980er Jahren mit Hardrock, Heavy, Thrash und Speed Metal anfixte. Oder besser: seine Poster-, Picture Disc- und Konzertkartensammlung an der Wand seines Zimmers fixten mich an. Erst als Rock im Allgemeinen und Metal im Besonderen so frisch und spritzig wie eine drei Tage alte Urinprobe von Jürgen Fliege waren und ich außer königlicher Langeweile nichts mehr spürte, streckte ich die Hände zur Rettung aus - und wurde von den üblichen Verdächtigen aus dem trüben Sumpf der gespielten Rebellion und egaler Gleichförmigkeit gezogen: es waren zunächst die Downtempo und Future Jazz Vibes von Jazzanova und der Thievery Corporation, der Glücklich-Samplerreihe von Rainer Trüby, die Latin Jazz-Exkursionen eines Gilles Peterson, später kamen dann die abstrakteren Vertreter wie Autechre oder Boards Of Canada hinzu. Diese, nennen wir sie zeitgemäß einmal "zweite Welle" erlebte im vergangenen Jahr ein Comeback im Hause Dreikommaviernull und es waren Platten wie "Live At The Edge", die dafür mitverantwortlich waren.

Das ist weniger als direkte Reminiszenz an die Musik der eben erwähnten großen Namen gemeint, denn wo Autechre so lange dekonstruierten bis außer geisterhafter, im Nebel herumstehender Grundmauern einer Ahnung von Musik nicht mehr viel blieb und Boards Of Canada es sich mit einer Überdosis in Ketamin getränktem Weichmacher auf dem Jupiter gemütlich machten, gerät die im Club The Edge in Seoul aufgenommene Livesession des französischen Produzenten Dang-Khoa Chau im Vergleich weder über Gebühr experimentell noch entrückt. Was "Live At The Edge" aber zwischen Schwebeteilchenambient, Unterwasserelectronica und betäubtem Sci-Fi-Deep-Bass channelt, sind die Vibes jener avantgardistischen Aufbruchstimmung der 90er Jahre, die diffuse Nostalgie, Befreiung und Beklemmung gleichermaßen im Subtext mitlieferte. 

Melancholie, Nostalgie, Kellog's Frosties - die drei wichtigsten Götter der Generation X. "Live At The Edge" erinnert mich daran, an uns nämlich, und außerdem daran, das Proseminar "Soziale Strukturen II: Gesellschaft und Konsum" nicht abgeschlossen zu haben, sei's drum: Man sagt uns nach, dass wir uns um nichts kümmern, dass wir zynisch sind, oberflächlich. Schlau und gebildet, gewiss - aber doch an nichts interessiert. In Wahrheit waren wir verloren und isoliert - und umarmten daher Musik, die unsere Orientierungslosigkeit reflektierte, uns auffing und verstand. Die uns eine Perspektive gab, obwohl sie genau so wenig wusste woher wir kommen und wohin wir gehen. Das gilt genreübergreifend für die aufkommende Technoszene wie für den Grunge und Alternative Rock. Und das gilt auch für das, was früher unter dem umstrittenen Begriff des IDM, also der Intelligent Dance Music einsortiert wurde. "Live At The Edge" ist aus diesem Stoff gestrickt. So aufgeweckt wie trist, so indifferent wie klar. Endlose Weite im Kosmos und gleichzeitig Klaustrophobie im unterirdischen Labyrinth der Werjowkina-Höhle. This beat is Ambivalenz. Man kann es uns nicht recht machen.


   



Erschienen auf 12th Isle, 2020.


17.03.2021

Best of 2020 ° Platz 8 ° Hum - Inlet



HUM - INLET

All the dreamers have gone to the side of the road which we will lay on
Inundated by media, virtual mind fucks in streams
(D'Angelo And The Vanguards)


"The Summoning". Grundgütiger, "The Summoning". 

Diese sich wie zähflüssige Lava den Weg freiwalzenden Gitarren. Ich habe schon lange keine mehr so gut klingenden Gitarren gehört. Diese Melodie, die so lange nachhallt, bis die Venus acht Mal umrundet wurde und man sich wieder auf dem Rückweg zur Erde befindet. Das Break im letzten Viertel, das sich gegen Ende auftürmt wie ein Gebirgsmassiv vor Millionen Jahren. Die stoische Stimme, die kaum mehr braucht als Begleitung und Erinnerung. Ein Jahrhundertsong. Aber eben auch nur einer von insgesamt gleich vieren: es sind vor allem die jeweils über acht Minuten langen, episch inszenierten Songs, die mich komplett plattmachen, auseinanderreißen, zerschmettern und dann wieder zusammenkleben, mit Spucke und einer Riesenpackung Hubba Bubba: "Desert Rambler", "Folding", "Shapeshifter" und eben "The Summoning", allesamt Giganten aus dem Stoff, aus dem 90er-Shoegaze und Alternative Rock-Herrlichkeiten gestrickt waren, bis unters Dach vollgepackt mit Understatement, Emotionalität, Tiefgründigkeit und Weite - und mit mit einer ganz eigentümlichen, nach innen gerichteten Intensität. 

Das Quartett aus Illinois, spätestens ab Mitte der 1990er Jahre und dem zaghaft ins US-Mainstreamradio einbrechenden Hit "Stars" eine Untergundsensation, war zu jener Zeit sehr knapp vor dem Sprung in die erste Liga, bevor die Band Ende des Jahrzehnts zunächst vom Label gedroppt und anschließend intern auseinanderbrach. Jetzt kommen sie im unheiligen Jahr des Clusterfucks 2020 praktisch aus dem Nichts mit neuer Musik zurück - 23 Jahre nach dem letzten Album "Downward Is Heavenward". Und auch wenn ich die Band erst Mitte der nuller Jahre von Freund Andreas ans Herz geschweißt bekam und also wie so oft ein totaler Spätzünder war, fühlt sich "Inlet" so vertraut an wie jede Gedanken- und Gefühlsreise in meine Adoleszenz in den 1990er Jahren, zwischen Teenage Angst, Flanellhemd, Benson & Hedges und dem süßen Duft der Freiheit (Wunderbaum Vanille; Opel Corsa I), der mindestens soviel Hoffnung machte, wie er mir bis in jede Faser meines Hirns Panikattacken schickte. Es gibt einen gar nicht so kleinen Teil in mir, der sich wünscht, bis ans Ende meiner Zeit in diesem emotionalen Schwebezustand der eigenen Vergangenheit zu verbleiben, mit all der Verklärung, der Ignoranz, dem Gilb und Kitsch des Vertrauten, Eingefahrenen, Sicheren. Das Getöse des Unmittelbaren ersetzen mit der damals  so geliebten wie gehassten und doch so verinnerlichten Stille. Auszeit. 

Insofern ist "Inlet" die perfekte Spiegelung dieser Ambivalenz, auf jeder Ebene. Laut und leise, rustikal und subtil. Erinnerung und Gegenwart. Hoffnung und Enttäuschung. Verwegenheit und Furcht. 

Heavy Music for introverts. Für immer die Liebe.


   


Erschienen auf Earth Analog Records, 2020.


06.03.2021

Best of 2020 ° Platz 11 ° Downscope - Nature's Canvas III




DOWNSCOPE - NATURE'S CANVAS III

Bring me the snowfall, bring me the cold wind, bring me the winter
(New Model Army)


Downscope macht es mir mit meiner Begeisterung über seine Musik nicht leicht. Der in Washington DC lebende Künstler hat seit Jahren einen Ausstoß an neuer Musik, der mich völlig überwältigt und selbst, wenn ich alles hören wollte, was er produziert und veröffentlicht, ginge es erstens meinem sowieso schon unterirdisch miesen Zeitmanagement und zweitens meinem Konto an den Kragen: seine Bandcamp-Diskografie listet bis Mitte Februar 2021 sage und schreibe 134 Releases, die man zum bereits um 40% reduzierten Preis von knapp 600 Euro in der Komplettsammlung kaufen kann. Hinzu kommen ausgewählte physische Varianten mit zwischen 5 und maximal 30 Exemplaren pendelnden sehr kleinen Auflagen aus vermutlich eigenhändig hergestellten Tapes und CDs. Maximum DIY. Engage. 

Meine erste Begegnung mit seiner Musik fand im vergangenen Sommer mit "Drifting Forward" statt, einer Art Minimal Dub Techno mit überlangen, an seidener Monotonie aufgehängten Tracks für stylisch-urbane Architekten mit Hang zum narkotisierendem Opiumrausch. Und weil ich das Album im Corona-Sommer nicht nur so ausgiebig hörte, sondern dessen beruhigende Qualitäten auch bis heute im Corona-Winter 2.0 sehr zu schätzen weiß, war die Nominierung für die Top 20 Liste im Grunde nur noch Formsache. Aber dann kam "Nature's Canvas III", Bestandteil einer kuratierten Edition von über 5 Stunden Musik: 

"Over five hours of softly rhythmic, ambient dub techno scores for your enjoyment. These pieces were composed as a tribute to mother nature’s lament, smothered by humanity." 

Ich kann mich der Faszination dieses 72-minütigen Herzschlags der Natur nicht entziehen. 

Wer noch nicht im Wachkoma vor sich hin- und also wegdämmert, erinnert sich möglicherweise an meine vor wenigen Wochen hier kurz niedergeschriebene Erzählung von dem gemeinsamen Urlaub mit der Herzallerliebsten und dem plüschigen Fellmonster im norddeutschen Niemandsland. Nach einem Tag am eisigkalten Strand mit Sturmböen und wie Bindfäden herunterfallenden Regens, war "Nature's Canvas III" der Soundtrack zur abendlichen Sauna-Sause, inklusive einer außerkörperlichen Erfahrung zwischen Wach und Schlaf, als dieser stoisch dahinschlurfende Puls das Steuer zu übernehmen schien und mich auf Händen durch Raum und Zeit trug. Er führte mich durch jene Zwischenwelt, die das Bewusste vom Unbewussten trennt, das Erleben vom Ertragen, die Hoffnung von der Aufgabe - und begann nach einiger Zeit damit, die Grenzen einzureißen: die im Inneren amalgamieren, die im Außen expandieren. Schnittstellen werden zu Verläufen, einstige Barrieren werden durchlässig, porös; sie werden zu Filtern, schwingen und vibrieren und adaptieren die neue Ordnung der Unordnung. Es sind diese kurzen und überaus raren Momente des Lebens, in denen Wahrheit und Bestimmung in einem Sekundenbruchteil zu Gestalt werden, sie sich zu einer Formation zusammenfinden, die das Chaos überwindet.

Es spielt keine Rolle, dass sich die Struktur umgehend verflüchtigt. Das Wissen von ihrer Existenz ist mir genug.


   



Self released, 2020.



27.02.2021

Best of 2020 ° Platz 12 ° Quiet Places - Volume 1




QUIET PLACES - VOLUME 1

Flossing gums, then licking bottoms
(Thought Industry)


Okay! Hör' zu! Du hast LSD genommen und stehst in einem Spiegel-Irrgarten. Die Hosen voll (literally!), der Kopf halbleer, die Pfanne mit den Rühreiern: in Flammen. Du bist seit 5 Tagen wach, tripping your fucking ass off. Eier wärn's jetzt, aber vegane, ohne Tierleid. This is your brain on drugs - gelungene und vor allem erfolgreiche Initiativen gegen Drogenkonsum, die dreihundertvierzigste. Schnitt, dann voller Zoom auf die virilen Schmalspurrocker von Placebo. Anruf beim Dealer. Hochdosis, bitteschön. 

Kein Mensch weiß, wo das alles anfing. Der junge Inuk, den ich heute Vormittag beim Rennrodelnachmittag in Oberkassel getroffen hatte, hat mir eben gerade noch sein Einfamilienhaus gezeigt, ein prachtvolles Etablissement aus getrockneten Fettaugen am Rande der Tundra, mit so kleinen Schaschlikspießchen und Zahnstochern, hihi, wie klein die waren! Dann hat er mir frisch gemolkenes Walfett angeboten (mit Maggi; der Kapitalismus schreckt einfach vor nichts zurück!) und im nächsten Augenblick sank ich hinab auf den Meeresboden. Ich glaube, mit dem Maggi war was nicht in Ordnung, seit wann ist die Brühe denn auch bitte grün? Jedenfalls: Wer immer noch behauptet es gäbe keine Außerirdischen, war noch nie vollverstrahlt 8000 Meter unter dem Meer. Manchmal blinkt es einfach nur. Alles. Das flackert alles. Von wegen Dunkelheit, "ist doch taghell" (B.Spencer) - man darf einfach keinen Meeresbiologen glauben, ich sag's seit Jahren, Jacques Sielmann, Heinz Cousteau, die wissen ja auch nichts. Und woher auch?! Haben sie schonmal einen Meeresbiologen gesehen, der sich auf LSD in die Hosen gekackt und mit zerfransten Schwebewürsten aus Alienhausen eine spirituelle Verbindung über eine Außenbeleuchtungs...äh...girlande von Tchibo (9,99€, "für ihren Post-Corona-Gangbang in ihrem wunderschönen Garten") etabliert hat? Blink, blink, blink. Blinkblinkblinkblink. Na?! Naaaa?! Glaubt denen bloß nicht. Hier tobt Captain Picards Unterhose mit sechs Milliarden Jahren altem Amöbenschleim durch die Warp-Spulen! 

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Die Nase blutet, aber gut - ich bin jetzt schon stundenlang gegen diese verfickten Spiegelwände gelaufen. Sehe aus wie dieser Andrew W.K. damals. Ob der sich wohl wirklich auf die fiese Fresse gelegt hat? Oder wurde der etwa...GESCHMINKT?! Ist auch so scheiße hell hier. Ich hasse Helligkeit. Wenn's nach mir ginge, und es geht praktisch nie nach mir, verbringe ich mein Leben im Dämmerzustand, sowohl mental, als auch hinsichtlich meiner Rolladenwahl (schwarzes Blei, wattiert). Helle und kalte Wintertage sind die Höchststrafe. Wenn man mich foltern will, schickt man mich am besten an einem Sonntagmittag bei -5°C und Tschernobyl-Nachglüh-Gedächtnissonnenschein auf ein offenes Feld und lässt mich da einfach inmitten der sehr guten Pflanze Qungilik rumstehen. Arschkalt, scheißhell - aber geile Pflanzenproteine "zwischen die Kiemen" (Manfred Krug) schieben! 

"It's the quietest place." - und Muh macht die Kuh. 

Apropos Kuh: Ich habe eben Bill Drummond und Jimmy Cauta gesehen. Tragen nun auch Vollbärte (untenrum), sagen, 1990 sei die beste Zeit für "Porn" (Mike Pence) gewesen; ich glaube, wegen Bush - hab's aber nicht genau verstanden, die beiden sakrilegen Sackgesichter haben Kühe umgeschubst und das dann irgendwie fotografiert, mit einer Schuhschachtel, oder so. Das war dann auch zu laut, die haben die ganze Zeit mit dem Dean Jones am Telefon rumgestritten und dabei rumgebrüllt, sorry, hab's einfach nicht gehört. War aber auch zu hell. Kennt das eigentlich sonst noch jemand, dass man die Musik leiser dreht, um besser zu sehen? Was ist da eigentlich genau kaputt, weiß man da schon mehr? Sollen ja einen launigen Humor gehabt haben, Drummond und Cauta. Eigentlich kam da ja schon lange nix mehr ran, an diese Platte mit den Kühen. Die hatten sich bestimmt auch früher Maggi reingechillt und danach in die Hosen geschissen. Ich hoffe, es geht ihnen gut.

Heute bleibt die Küche kalt
Gerutscht wird auf den Fliesen
Magnesia ist des Turners Kalk
hätt' ich jetzt gern frische Hosen (zum Genießen)
(Christian von der Morgenlatte, um 1776)


(Das trippigste Album des Jahres. Ich empfehle vehement, sich den einstündigen Album-Mix einzuflößen. Und weil ich auch einen launigen Humor habe, manchmal, stelle ich mir jetzt mal vor, wie jemand den ganzen Quatsch hier in den Google-Translator reinhaut. LOL!)


 



Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2020 



25.02.2021

Best of 2020 ° Platz 13 ° 36 & zakè - Stasis Sounds For Long​-​Distance Space Travel




36 & zakè - STASIS SOUNDS FOR LONG-DISTANCE SPACE TRAVEL

"Just sitting around waiting for this world to end."
(JUD)


Covid-Lockdown-Soundtrack, Teil 1: als im März des letzten Jahres die Situation erstmals so richtig ungemütlich wurde, die Angst das Zepter in die Hand nahm und plötzlich alles aus den Fugen zu laufen schien, war ich emotional in keinem guten Zustand. An meiner eigenen, konkreten Lebensrealität gab es nur wenige wirklich spürbare Veränderungen, aber es machte den Eindruck, als würden die Ängste und Sorgen eines ganzen Landes sich mit den meinen verbinden - und alles wurde gleichzeitig größer und dunkler und unberechenbarer. Die Dynamik aus den Anfangstagen dessen, was gemeinhin unter dem Begriff  "Lockdown" bezeichnet wurde, zusammen mit den minütlich auf allen Kanälen abgefeuerten Informationen, sowie die daraus stets wahrnehmbare Verunsicherung, empfand ich als äußerst unangenehm. Mich beeindruckte das sehr, seelisch wie körperlich. 

"Stasis Sounds For Long​-​Distance Space Travel" war (und ist) Klang gewordener Balsam in jener Zeit und es hat den Anschein, als sei diese Musik für genau solche Situationen gemacht worden. Der ursprüngliche Gedanke des Albums, "intended for the listener to embrace moments of stillness, quietude and reflection", neben einem Sci-Fi-Plot mit der Idee der künstlichen Stase, einem Schlafzustand, in dem man sich durch Raum und Zeit bewegt, ohne Raum und Zeit wahrzunehmen, morphte mit der Angst, sich künftig mit den guten Gästehandtüchern den Hintern abzuwischen, denn die kapitalistische Entsolidarisierung macht eben auch vor Scheißhauspapier nicht Halt, in ein kosmisches Hintergrundrauschen, das beruhigte und die Reise ins Innere, "die Reise ans Ende des Verstandes - für viele von uns nur ein Kurzausflug" (Schmidt) tatsächlich mit Zuversicht und Trost untermalen konnte. Es dauerte eine gewisse Zeit, bis ich das verstand - die kaum wahrnehmbare Schwingung, die minimalistische Dehnung in dieser Musik erscheinen zunächst blass, geglättet, sie fordern prima vista auch keine Emotionalität heraus. Erst über die Zeit erkannte ich die Tiefe in der Repetition, die Zuflucht in der Dürre, die Innigkeit des Nichts. 

Es ist überaus bemerkenswert, wie viel Macht Musik haben kann.


   


Erschienen auf Past Inside The Present, 2020. 

21.02.2021

Best of 2020 ° Platz 14 ° GOLD - Recession




GOLD - RECESSION

Your shell is hollow, so am I
The rest will follow, so will I
(Neurosis)


Das letzte Konzert vor dem Virus. Ende Januar 2020 stand ich mit etwa 50 anderen Menschen im erschütternd leeren Colos-Saal in Aschaffenburg und ließ mir von GOLD Blutdruck und Herzfrequenz auf Stufe 11 drehen. Keine Ansagen, keine Zugaben - einfach nur auf die Bühne gehen, alles, aber auch wirklich alles supertight abreißen, und wieder gehen. Ich weiß noch, dass ich nach diesen 60 Minuten völlig euphorisiert und unangenehm laut "So macht man das! Genau so macht man das! NUR SO! EXAKT! GENAU! FUCKING! SO! MACHT! MAN! DAS!" rief und beim anschließenden Merch-Irrsinn sehr eindringlich auf Gitarrist Thomas Sciarone einredete, die Band möge sich bitte von der spärlichen Kulisse und dem fehlenden Zuspruch, dem quantitativen zumal, nicht beeindrucken lassen und für immer weitermachen - und dass, obwohl ich mich mit vermeintlich unangebrachten Reaktion gegenüber Musikern in der Regel sehr zurückhalte, weil ich diesen (und allen anderen) Menschen wirklich nicht auf den Sack gehen will. 

GOLD hatten für 2020 einen gut gefüllten Tourkalender. Die Corona-Zwangspause wurde mit nicht weniger als drei Veröffentlichungen überbrückt, die zunächst digital über ihre Bandcamp-Seite, später im Herbst als Sammelband unter dem Titel "Recession" auf Dreifach-Vinyl erschienen: "The Isolation Sessions", ein Live-Mitschnitt aus dem April 2020 eröffnete den Reigen, gefolgt von den intimen, nur von Sängerin Milena Eva und Thomas Sciarone aufgeführten "The Bedroom Sessions" im Juni und einer Zusammenstellung bislang unveröffentlichter Songs und Demoversionen unter dem Titel "The Archive Sessions" einen Monat später. 

Es war bereits bei dem immer noch aktuellen Studioalbum "Why Are You Not Laughing?" erkennbar, und ich muss es auch angesichts der Sammlung auf "Recession" wiederholen: das Aufregendste beim Eintauchen in den Kosmos von GOLD ist die Offenlegung der zu ihrem Selbstverständnis gehörenden bedingungslosen Verletzbarkeit und der gleichzeitig daraus erwachsenden Kraft - beides elementare Bestandteile ihrer Musik, ihrer Texte und ihres ganzen Auftretens. Es ist jene Ambivalenz, die diese Band so besonders macht und die sie mittlerweile so selbstbewusst und intensiv wirken lässt. Ihre Ideale und Überzeugungen zeigen sich dabei so tosend wie der sich entfesselt aufbauende Orkan aus den so dürr und nervös klirrenden Gitarren und den hypnotischen Schlagzeugfiguren mit Sängerin Milena Eva als Zeremonienmeisterin im Auge des Sturms: so karg und kühl ihr Vortrag an der Oberfläche erscheint, so unerschrocken kompromisslos und unmissverständlich ist ihre Botschaft von "individual empowerment", wenn sie von toxischer Maskulinität singt, von Unterdrückung, von ritualisierten und zementierten Geschlechterrollen, von Verlust, von Depression.  

Die Durchschlagskraft dieser Idee, diesem alles zusammenhaltenden Netz aus Worten und Tönen, dieser Aura von Klarheit und Mut, zeigt sich in jeder Sekunde der drei Eingangs erwähnten Alben, und dabei ist es egal, wie intim, spröde, fiebrig oder überspannt das Flackern ihrer Musik ist. 

Vielleicht die faszinierendste Band, die Rockmusik gerade zu bieten hat.

   


Self-Released, 2020. 


 

13.02.2021

Best of 2020 ° Platz 16 ° Ignacio Tardieu - Shadow Dancer



IGNACIO TARDIEU - SHADOW DANCER

The flat earth society is meeting here today
Singing happy little lies
(Bad Religion)


Dieser aurale Zaubertrank führt Dich in ein unterirdisches Labyrinth mit 52°C Kerntemperatur und einer Luftfeuchtigkeit von 340%. Hypnose. Dunst. Freiheit. Sex. Der Bass schon beim ersten Schritt so tief, das Zwerchfell wird zum Trampolin. Die Orientierung ist außer Funktion. Roter Alarm. 

"Shadow Dancer" ist ein geheimnisvoller Ort. Ebene um Ebene verschluckt es jeden in dieser kilometertief in die Erde gebauten Welt, saugt alles ein, lässt nichts mehr los. Freaks huschen durch schmale, nur von einzelnen Fackeln schwach illuminierten Gänge, es riecht nach verbranntem Holz. An den aufgerauten, porösen Steinwänden flackern tanzende Schatten. Vielleicht schanzen auch tackernde Flatten. Ihre Körper sind unsichtbar, nur ihre Silhouetten bewegen sich zu den tribal-artigen, nie enden wollenden Schlägen und Rhythmen. Sie rufen Dich. Sie rufen Dich. Sie rufen Dich...

...die Welt ist weit weg. Tageslicht hat hier unten niemand gesehen. Schon seit Wochen nicht. Oder waren es Jahre?

BANDCAMP


 


Erschienen auf Odrex Music, 2020. 

07.02.2021

Best of 2020 ° Platz 17 ° nthng - Hypnotherapy




NTHNG - HYPNOTHERAPY

So I'ma build a bunker now
In the underground, surviving with that other sound
(Oddisee)


Techno hat's unter Corona vielleicht so hart getroffen wie kein anderes Genre, denn das, was unter normalen Umständen in den Clubs dieser Welt gespielt wird, ist auch genau für diesen Ort produziert worden. Elektronische Tanzmusik ist zum, Achtung, festhalten: Tanzen gemacht, im besten Fall in einer Gemeinschaft, in einem dunklen, heißen, feuchten Raum; die Hände zum Himmel, Koks von der Klobrille, Herpes vom Mojito, geiles Leben, Feierei. Aber was macht man eigentlich mit Techno, wenn niemand mehr tanzt? 

Na logo: man verwächst zu Hause mit der Couch, baut sich ein Rohrpost-System zum Kühlschrank und legt das ungeliebte Techno-Album auf. Autoren-Techno. Prätentiöser Kackmist, wer will sowas denn hören? Elfmeter ohne Tormann: sicherlich sehr viel mehr, wenn es denn nur mehr richtig gute Platten gäbe. 

nthng kann es jedenfalls. Hat er 2015 mit dem Debut "It Never Ends" auf Lobster Theremin bewiesen, einem konzeptionell überraschend stringent arrangierten, motivischen Album. Seitdem gab es vom niederländischen DJ und Produzenten eine Handvoll 12-Inches (u.a. auf Mörk und Delsin) und nun im Corona-Scheißjahr 2020 mit einem extrem miesen Timing die zweite Sammlung "Hypnotherapy". Eine Tour zum Album kann man sich schön in die Haare schmieren, hinzu kam ein Leak bereits Wochen vor dem offiziellen Release. Wie's so geht? NA, EXZELLENT!

"Hypnotherapy" lebt weniger vom Konzept, ich mag darüber hinaus bezweifeln, dass es überhaupt eines gab, als von erstens: einer unglaublichen stilistischen Bandbreite, zweitens: sehr, sehr starken Einzelsongs und drittens einer über dieser Platte schwebenden Leichtigkeit und Freiheit. Und wenn drittens das Konzept ist: bon, approuvé!

Vom luftigen, von skurrilen "Many Men (Wish Death)"-Sprachsamples durchzogenen und damit die Atmosphäre brechenden Ambient-Einstieg "50 Flower" über Trance-Strahlemänner wie den absoluten Höhepunkt "Heifft" mit seinem halsbrecherischem Tempo, straighten Hits wie "I Just Am" (mit Whitney Houston-Sample) und dem funkelnden "Spirit Of Ecstasy" oder den New Age streifenden Titeltrack mit flächig-bebendem Finale bis hin zum Ambient in "Beautiful Love" und dem weich und entrückt wegdämmernden Abschluss "With You" hat das Album durchgängig Stil, Eleganz und Klasse. Jeder Track ein Hit - und alles funktioniert bestens in den eigenen vier Wänden. 

Liegend - oder zappelnd.

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Pressung: Vielleicht die ärgerlichste Pressung des Jahres 2020. Die beiden großartigen, subtilen Ambienttracks "Beautiful Love" und ganz besonders "With You" sind ohne Tobsuchtsanfall praktisch nicht zu hören. Ich weiß nicht, wie es mit der schwarzen Vinylversion ausschaut, aber es würde mich schwer wundern, wenn die problemfrei liefe. Abhorrent. (+)

Ausstattung: Die reine Optik der colorierten Version ist zum Dahinschmelzen. Keine gefütterten Innenhüllen, kein Downloadcode. Bei Bandcamp kostet der digitale Download nochmal satte 10 Pfund. (++)


   


Erschienen auf Lobster Theremin, 2020. 


03.02.2021

Best Of 2020 ° Platz 18 ° The Vision Reels - Eyes Open



THE VISION REELS - EYES OPEN

The planet is fine.
The people are fucked. 
(George Carlin)


2020 hätte viel verdient gehabt, zum Beispiel eine vorbehaltlose und uneingeschränkte Selbstauflösung ab sagen wir mal April. Darüber hinaus: eine eigene Digital-Best Of-Liste. Ich habe noch nie soviel digitale Musik gekauft und gehört wie 2020 auf Bandcamp, und die ab März regelmäßig durchgeführten sogenannten Bandcamp-Fridays zur Unterstützung der von Corona und der daraus resultierenden Komplettabschaltung jedes Kulturbetriebs ordentlich durchgeschüttelten Künstler und Labels, haben daran sicherlich einen sehr großen Anteil gehabt. "Eyes Open" von The Vision Reels (aka Adam O'Hara, u.a. Gründer von Groundwork Recordings) rutschte in letzter Minute in meine Top 20, und ist damit auch das einzige Album meines kleinen Countdowns, das nur im digitalen Format verfügbar ist. Das ist ungewöhnlich, weil ich eigentlich vorhatte, solche Formate künftig nicht mehr in Betracht zu ziehen; man sieht mir meine Quatschhaltung in dieser Sache bitte nach. Mein musikalisches Leben und die daran angebundenen Lebenslinien drehen sich nun mal in erster Linie um Schallplatten als künstlerisches Ausdrucksmittel, daher geht es in mir in erster Linie um die Abbildung ebenjener. Manchmal komme ich aber trotz solch prätentiöser Totalverbretterung nicht drum herum - wie eben bei und für "Eyes Open". 

Ich weiß praktisch nichts über Adam O'Hara oder dieses Album. Es war ein ziemlicher Zufallstreffer auf Bandcamp, vermutlich stolperte stöberte ich durch eine Sammlung eines anderes Nutzers und wurde vom tollen, an Astral Industries-Artworks angelehnten Cover (Dima Rabik) angezogen. Und Anziehung ist das Schlüsselwort für "Eyes Open". Ganz egal, wie viel mir wegen Lohnarbeit, Haustier, Corona und geradezu Tonnen anderer Musik um die Ohren flog, kam ich immer wieder zurück zum sanften, nächtlichen Puls dieses Albums. Über den Lichtern der Stadt, leise und elegant fließend, und ein Timing mit beinahe sedierender Wirkung - wenn das Ketamin mal wieder mit (benutztem) Katzenstreu und Palmin gestreckt wurde, programmiert man den Player einfach auf 72 Stunden Endlosschleife und lässt die Nachbarn sich darüber wundern, warum seit Freitagabend die Rollläden nicht hochgezogen wurden. 

O'Hara wählt für sein Debut unter dem Projekt The Vision Reels einen sehr aufgeschlossenen Ansatz, der glücklicherweise keine Gefühlsduselei benötigt. Ich empfinde "Eyes Open" als durchaus emotional, introspektiv, manchmal in der bildhaften Darstellung von objektiver Schönheit geradezu betörend, insbesondere zu hören beim funkelnden Titeltrack, bleibt dabei aber erstaunlich zurückgezogen, ja fast nüchtern. Nicht freudlos, nicht akademisch, aber distinguiert und abseitig genug, um selbst für die Momente einer stärker ausgeprägten Zugänglichkeit in den Tracks "Chrysanthemum", einem tief pochenden Unterwasser-Star-Ride und dem urban glitzernden "Sacred Architect" der Hood mitzuteilen, dass der Sepiafilter zum Sonnenuntergang auf Ibiza weder angebracht noch erwünscht ist. 

Besser Rollläden runter und einsam im Licht der Lavalampe wegdämmern. Leben 2020 FTW.




   



Erschienen auf Kizen Records, 2020.