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06.04.2025

Sonst noch was, 2024?! (1): Wardown - III




WARDOWN  - III


"Most of us will reach a certain point in our living where if we can't figure out how and where to place our nostalgia it will completely overwhelm us." (Renee Gladman)


NOSTALGIE
Substantiv, feminin [die]
vom Unbehagen an der Gegenwart ausgelöste, von unbestimmter Sehnsucht erfüllte Gestimmtheit, die sich in der Rückwendung zu einer vergangenen, in der Vorstellung verklärten Zeit äußert, deren Mode, Kunst, Musik o. Ä. man wieder belebt


Der dritte und letzte Teil der Wardown-Trilogie des britischen Produzenten Pete Rogers erschien Mitte Dezember des vergangenen Jahres und kam mir damit für die offizielle Bestenliste leider zu spät auf den Plattenteller. Die beiden Vorgänger I und II zählen für mich zu den beeindruckendsten Elektronik-Alben der letzten fünf Jahre. Zum einen, weil die hier behandelten Themen der "Sehnsucht", ein Begriff, den Rogers in Interviews oftmals explizit auf Deutsch verwendet, weil die englische Sprache keine adäquate Übersetzung vorhält, sich bis in die hintersten Ecken meiner eigenen Echokammer ausbreiten konnten und dort sofort Verbindung mit mir aufnahmen. Zum anderen, weil die gesamte Ästhetik, von den Cover-Artworks bis hin zu den ausgewählten Sounds für diesen Ambient- und Drum 'n' Bass-Hybriden, sein Storytelling so überzeugend und transparent machte. Ich verstand damit tief im Innern, was Rogers mit diesen Projekten aussagen wollte, und je älter ich werde und je klarer sich damit das Sentiment der Nostalgie auch in mir selbst zeigt, desto größer wird die Anziehung, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen. 

Das war und ist erstens nicht immer angenehm - das eigene Spiegelbild zeigt bei entsprechenden Lichtverhältnissen und Perspektiven leider nur zu ungnädig auch jene Bereiche, die man am liebsten gar vor sich selbst versteckt hält, ganz zu schweigen von der Außenwelt. Was sagt es über mich, wenn die Gegenwart offenbar so unerträglich scheint, dass selbst die Reise ins bereits Ge- und Erlebte, ins Vergilbte, Ausgegraute und Vergangene mehr Attraktion verspricht, mehr Reizpunkte triggert und gleichzeitig paradoxerweise als stark wirkendes Sedativum Einsatz findet? Es zeigt mir zweitens auch, wie flüchtig diese Empfindungen tatsächlich sind. Sie offenbaren sich im Grunde fast immer nur als diffuses Grundrauschen, das sich einer konzentrierten Anschauung stets in dem Moment entzieht, in dem eine Struktur oder ein Muster vergrößert werden will. Rogers beschreibt dieses Phänomen in seinem lesenswerten Interview mit Ryan Griffin von A Strangely Isolated Place wie folgt:

"But it’s a very hard thing to accurately pin down and describe. I sometimes feel as though to get a sense of it I have to look out of the corner of my eye, as when I try and focus directly on it, it disappears. It’s often a very fleeting feeling brought on by certain scenes in the world, weather, photographs, old films. A kind of bittersweet, melancholy feeling about the past and things that have been lost. But quite often it’s a longing for things I’ve never personally experienced or may never have even happened."

Wardown III erscheint mir im Vergleich mit den beiden Vorgängern etwas schwieriger zu dechiffrieren zu sein. Blickte Rogers auf dem Debut in seine eigene Vergangenheit zurück und vertonte weichgezeichnete Kindheitserinnerungen mit bittersüßem Schmelz, beschrieb er für "II" die Zukunft aus der Perspektive früherer Generationen und stellte damit eine Form der Nostalgie in den Mittelpunkt, die als seitenverkehrtes Negativ die unbekümmerte Naivität und Euphorie aus der Vergangenheit mit einer trostlosen Gegenwartsanschauung verknüpfte, in der all die hoffnungsvollen Visionen als unerreichbare Utopien, als Fiktion entlarvt wurden. Für "III" zeichnet es sich hingegen ab, als sei Rogers nun endgültig auf der Rückseite einer Landschaft angekommen. Die Stimmung ist trüber als zuvor, so als wäre man von der Erkenntnis überrannt worden, dass der zweite Teil des Wortes "Sehnsucht" der eigentliche Bedeutungsvektor ist: eine Sucht. Eine Flucht. Ein Eskapismus. Vielleicht auch eine Überlebensstrategie; der letzte Strohhalm, an den sich geklammert wird, weil die Kälte und Gleichgültigkeit der Gegenwart mit der Erinnerung an eine Vergangenheit kollidiert, in der Bedeutung und Bestimmung die zumindest virtuellen Grenzen der Zielkorridors waren. "Everything has their cycle. They have their beginning, they have their end." heißt es in "39 to Beam Up". Und anschließend, über unheilbeschwörendes Sirenengeheul: "Planet Earth. About to be recycled. Your only chance to evacuate is to leave...with us."


Der Klappentext zu "III" liefert zusätzlich zwei Zitate als potentielle Leuchtfeuer. 

Nummer eins stammt aus dem Buch "The Ruins Of Nostalgia" der Autorin Donna Stonecipher aus dem Jahr 2024:

"We felt like nostalgic futurists, one half of our bodies aimed with hope at the prospect of future utopias, one half aimed with dread at the prospect of future utopias, torquing ever backward at an inexorably receding past"


Nummer zwei wurde dem im Jahr 1975 erschienenen Buch "Light Years" des US-amerikanischen Schriftstellers James Salter entnommen:

“We’re entering the underground river,” she said. “Do you know what I mean?”
“Yes, I know.”
“It’s ahead of us. All I can tell you is, not even courage will help..."

Mir erscheint vor allem der Verweis auf "Light Years" zentral für die Entschlüsselung zu sein. Salters Roman beschreibt vordergründig den langsamen Zerfall einer Ehe und erzählt von einem scheinbar perfekten und idyllischen Leben einer Familie im Osten Amerikas, über das sich über die Jahre flächendeckend Risse ausbreiten, das sich entzweit und immer weiter in Kleinpartikel zerstreut bis hin zur schlussendlichen Auflösung und Auslöschung. Die Unterströmung von "Light Years" hinterfragt hingegen jene Aspekte unseres Lebens, den wir als essentiell an- und hinnehmen, denen wir eine oberflächliche Relevanz beimessen, ohne die eigentliche Tragweite ihrer existenziellen Bedeutung erfassen zu können. Deren Gewicht bestimmt ist von performativem Verhalten, von falscher Loyalität, vom Festhalten am Status Quo. Und deren Betrachtung letzten Endes von Zukunftsängsten und von der oft so tiefsitzenden Furcht von Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung bestimmt ist. 

Ich empfinde das Eintauchen in die Themenwelt der Wardown-Alben als großes Glück. Es fordert mich heraus. Es provoziert mich. Gleichzeitig gibt es mir einen Anker zur Reflektion und einen Ausblick darauf, wie ich leben möchte. 

Und wer sich jetzt fragt, ob's denn nicht auch eine Nummer kleiner ginge...?! 

Nein, eigentlich nicht.


 



Erschienen auf Blu Mar Ten, 2024. 

24.12.2024

Best Of 2024 ° Platz 20: Xenia Reaper - Luvaphy




XENIA REAPER - LUVAPHY


"Nice guys, but absolutely clueless." (Vic Fontaine)


Ein kompletter Blindflug war zunächst das Debutalbum von Xenia Reaper - und ich weiß bis heute nicht, wer sich hinter dieser Produktion verbirgt. Außer einer Handvoll Singles/EPs seit dem Jahr 2022 (u.a. auf XENOPLEX) gibt es praktisch keine Informationen. Ähnlich rätselhaft ist die Musik. In die mal schwerelosen und eisgekühlten, mal mysteriös und tiefschwarzen Ambientflächen reißen heftige Bass-Exzesse und Drum 'n' Bass-Laser tiefe Schluchten, hinzu wirft Reaper unheilvolles Geknister, tiefes Brodeln und flüchtiges Stimmengewirr in diesen wilden, herausfordernden Mix. Unvergessen jener eindrückliche Moment, als mir der erste Bass von "Sued" in die Glieder fuhr und es sich anfühlte, als würden die umgebenden vier Wände zunächst vibrieren und dann kollabieren. 

Vom wilden Gefuchtel mit brechenden Soundartefakten in "Lust05", Stop-And-Go-Jungle-Reminiszenzen mit eingeschalteten Nebelleuchten in "MxB" bis hin zum intensiven Sci-Fi Geballer im Höhepunkt "Lllaao3", für das ich gerne den Kopf in die größte Bassbox des Universums stecken möchte, während der Alien-Barkeeper mir einen Ketamin-Rucola-Smoothie mixt, wirkt "Luvaphy" einerseits wie eine Dehnungsübung für wilden Zeitgeist-Shit, andererseits baut es irgendwie neue Nervenbahnen ins Dachgeschoss. 

Man fühlt sich hinterher ein ganz kleines bisschen schlauer.




Erschienen auf INDEX: Records, 2024.


26.05.2024

Sonst noch was, 2023?! - Packed Rich - Warp Fields




PACKED RICH - WARP FIELDS


“Right now, however, the extreme asymmetries of knowledge and power that have accrued to surveillance capitalism abrogate these elemental rights as our lives are unilaterally rendered as data, expropriated, and repurposed in new forms of social control, all of it in the service of others’ interests and in the absence of our awareness or means of combat." (Shoshana Zuboff)



Ich hab drauf geschlafen. Nicht wörtlich, bon - aber ich habe es verpennt, "Warp Fields" für die Bestenliste 2023 zu nominieren, und selten hat mich ein solcher Umstand mehr geärgert als hier. Sowas passiert manchmal - und vor allem dann, wenn ich, ganz banal, ein Album schlicht zu spät in die Finger bekomme. Hier war's im Dezember und ich stand bereits knietief in den sowohl geplanten als auch schon geschriebenen Reviews für das abgelaufene Musikjahr. Unter normalen Umständen ist "Warp Fields" ohne eine Nanosekunde des Zögerns ein Kandidat für die Top 5, vielleicht sogar Top 3. Daher müssen wir also jetzt im fuckin' Mai 2024 eine kurze Rückschau organisieren, verbunden mit der ziemlich vehementen Aufforderung, sich auf Bandcamp umgehend die 180g-Schallplatte für nur 16 Euro zu besorgen. Es sind noch fünf Exemplare direkt vom Label zu haben,  und alleine das ist ja schon ein mittelschwerer Skandal. Ich glaube, es geht los?! Was stimmt denn nicht mit Euch?!

Ich falle auch gleich mit der Tür ins Haus, wenn's genehm ist: "Warp Fields" klingt wie eine tiefenentspannte Frischkäse-Version eines Blue Hour-Sets von Flying Lotus, inklusive des Marijuananebels, der aus jeder Rille dieser Platte zu strömen scheint. Konzentriertes Drum'n'Bass-Gefuchtel, Lo-Fi Hip Hop-Kopfnicker, jazzy Broken Beats mit ätherischen Krautanteilen und verwinkelten Thundercat-Basslines verknoten sich mit einem hintergründigen, mehrdimensionalen Melodieverständnis, expansiven Ambient-Soundcollagen aus dem Katzenaugennebel und einer mystischen Science Fiction-Ästhetik als dicht gewebte Unterbodenstruktur. An den Rändern nehme ich überraschenderweise sehr subtile Nuancen aus dem Spiritual Jazz wahr, aber die zeigen sich in erster Linie in der Aura der Produktion, im Ansatz des Miteinanders (als Gäste dabei: Jessica Pham, Marvz, Marco Zenker und Robin Jermer), der Offenheit, der Umarmung. 

Denn auch wenn bei ich "Warp Fields" eine aus den entsprechenden Genres adaptierte intellektuelle Distanz oder meinetwegen "Verkopftheit" (note to self: muss aus dem eigenen Sprachgebrauch entfernt werden, und zwar schnell!) spüren kann, liegt das möglicherweise attraktivste Angebot dieses Albums darin, eine emotionale Verbindung aufzubauen. "Warp Fields" kann einerseits über die Abstraktion und die technisch anspruchs- und eindrucksvollen Aspekte der Musik einen Connect realisieren, aber der Magnetismus der Wärme, des Kollektivs und der Faszination über die Möglichkeiten des gemeinsamen Erlebens, der im Kern dieser Musik pulsiert und strahlt, ist schlicht unwiderstehlich. "Warp Fields" batikt Dir neue Nervenbahnen ins energetische Netz Deines Lebens. Das muss man zulassen wollen - oder auch nur können. Aber ich bezweifle, dass Gegenwehr eine Option ist.

Resistance is futile.


 


Erschienen auf Ilian Tape, 2023.

01.05.2021

Sonst noch was, 2020?! (7) - Wardown - Wardown




WARDOWN - WARDOWN

Das Debutalbum von Wardown war einen Tick zu spät dran, um noch in die Liste zu rutschen. Ende 2020 auf dem gleichnamigen Label der Drum & Bass-Institution Blu Mar Ten veröffentlicht, hatte ich das Gefühl, ich müsse zunächst noch mehr Zeit mit dieser Platte verbringen. Und ganz ehrlich gesagt: alles, was mir bei der Auswahl für die Top 20 mit einer halbwegs guten Entschuldigung keine schlaflosen Nächte bereitet, ist immer gern genommen. Dabei war es schon im November des letzten Jahres nach wenigen auf Bandcamp gehörten Songs entschieden, dass die Platte zumindest den Status eines neuen Mitbewohners erhalten wird. Fast ein halbes Jahr später ist ebenso klar, ein paar Worte über dieses bemerkenswerte Album verlieren zu müssen. 

Wardown ist das Projekt von Pete Rogers, einem Teil des Drum & Bass-Duos Technimatic, und auch wenn meine Lebensrealität noch nie eine erwähnenswerte Schnittmenge mit Drum & Bass aufwies, ich also ausnahmsweise nicht über Gebühr mit Sentimentalitäten zu kämpfen habe, traf "Wardown" schon nach wenigen Sekunden einen Nerv - denn mit den übrigen Sentimentalitäten, die Rogers auf dieser Platte aufwühlt und verarbeitet, kenne ich mich aus: "Wardown" ist ein Tagebuch verwischter Erinnerungen an seinen Heimatort Lutons, in dem er aufwuchs. "An account of physical, temporal, familial, musical and sentimental dislocation." - und da werden meine regelmäßigen Leser über meine just an dieser Stelle gespitzten Ohren eher unterrascht sein, denn: this hits home, wie Peter Griffin sagt. Hier schreibt immerhin der Fachmann für derlei Nostalgie. 

Rogers hat "Wardown" aus Aufnahmen alter Mixtapes aus seiner Kindheit zusammengeschnippelt und mit Sprachaufzeichnungen mittlerweile verstorbener Familienmitglieder und Field Recordings aus dem Zentrum der Nahe London liegenden Stadt garniert und dabei das deutsche Wort im Fokus gehabt, für das es im Englischen nur unzureichende Übersetzungen, allenfalls eine Kombination aus ähnlichen Begriffen gibt: Sehnsucht, "an inconsolable longing in the heart for we know not what". Die Produktion passt sich dieser delikaten, sensitiven und überaus persönlichen Ausrichtung an: wo vor allem frühe Drum and Bass Sounds oft krude und schroff erschienen, ein stilistisches Relikt aus alten UK Jungle-Zeiten, wirkt  "Wardown" sanft und fließend, ohne dabei den Weichzeichner zu bemühen: die Konturen sind klar und crisp, und wenn im Opener "Culverhouse" nach ein paar Minuten die erste D'n'B-Abfahrt beginnt, fegt mich der Druck der Basslines fast aus dem Sessel - was nicht zuletzt auch an der tollen Pressung liegt. Der über diesem Album liegende Schleier von Traurigkeit, in diesem Zusammenhang sei auf den perfekten Blend aus elegischem Ambient und D'n'B-Beats im großartigen "Susurration" verwiesen, entwickelt sich in erster Linie aus dem Vibe des Verpassten, des Vergessenen, des Vergänglichen, den Rogers herausgearbeitet hat. 

Ein bemerkenswert persönliches und emotionales Wunderwerk elektronischer Musik.
 

   



Erschienen auf Blu Mar Ten Recordings, 2020.