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07.01.2024

Best Of 2023 ° Platz 20: Jogging House - Because




JOGGING HOUSE - BECAUSE


“Dass wir nicht mehr können, erliegen, dass wir unrettbar sind, in der Kapitulation leben, das sagten wir nicht, wir fühlten es bloß.” (Roger Willemsen)


Eine Kassette also. Ich habe nicht mal mehr ein funktionierendes Tapedeck. Oder präziser: ich will nicht mal ausprobieren, ob es noch funktionierte, aus Angst, es würde sich über das eingeschobene Tape hermachen und im besten Falle einen Bandsalat, im ungünstigeren Fall ein schlimmes Häcksel-Massaker anrichten (*). Trotzdem habe ich mir "Because" von Jogging House (übrigens wie Herr Dreikommaviernull in Frankfurt zu Hause) auf Kassette gegönnt, und das nach einem nur knapp einminütigen Bandcamp-Testlauf. "Because" schien eines jener Alben zu sein, die schon ab der ersten Sekunde den Raum um mich herum verändern können. Die auf einer bestimmten Frequenz Verbindungen herstellen, Nervenbahnen miteinander verbinden. Deren Puls sich ohne Anstrengung und also ganz natürlich an die Geschwindigkeit der eigenen Realität anpasst. 

Mein Bauchgefühl täuscht sich mittlerweile sehr selten - und wenn es das ist, was ich aus der so innigen Auseinandersetzung mit Musik über die letzten Jahrzehnte gewonnen und also mitgenommen habe, dann war selbst mit einem mitleidigen Blick auf die viel zu vielen Schallplatten in unserem Wohnzimmer vielleicht nicht alles perdu. 

"Because" öffnet unentwegt neue Horizonte, entwickelt Fluchtpunkte aus dem Nichts und zaubert unter den mehrdimensionalen Schichten der nicht mal über Gebühr geglätteten Texturen diesen einen besonderen Moment der Besinnung und des Lichts hervor. Reibung. Erinnerung. Frieden. Ich habe das Album oft in den Abendstunden meiner Arbeitstage gehört, wenn das Getöse des Tages endlich verstummte und ich in die so trübe Tunke aus Exceltabellen und Rechenschieber eintauchen konnte musste. 

Und das Leben wurde ein bisschen leichter.


   


Erschienen auf Seil Records, 2023.


(*): Die Sorgen waren unbegründet.

04.02.2023

Best Of 2022 ° Platz 23: Carlos Ferreira - Before Memories Fade



CARLOS FERREIRA - BEFORE MEMORIES FADE

Meine erste Begegnung mit dem brasilianischen Musiker Carlos Ferreira fand im Rahmen der Auseinandersetzung mit "Quiet Reminders" statt, einer gemeinsamen Arbeit mit Shuta Yasukochi, die 2020 auf dem spanischen Archives Label erschien. Ich halte das Album bis heute für einen echten Ambient-Meilenstein und meine damalige Jubelarie über die weitläufige und bildhafte Sprache der beiden Musiker flüstere ich immer noch in jedes offene Ohr. Ich fand Carlos wenig später auf Instagram und wir stellten nach einiger Zeit fest, dass unsere Biografien sowohl hinsichtlich unserer musikalischen Vergangenheit als auch Gegenwart und unsere politischen Ansichten in erstaunlich parallel verlaufenden Bahnen durchs Leben flitzen. 

Sein im Februar 2022 auf dem texanischen Label Aural Canyon veröffentlichtes "Before Memories Fade" triggerte mich aus zweierlei Gründen. Zum einen sprach mich sowohl der Albumtitel, als auch das dahinter stehende Konzept sofort an. Carlos schreibt dazu:

“One of my strongest creative vectors is about meditating on “memory”. It fascinates me to imagine that every memory corresponds to a fragment that is not static - it changes throughout life, due to our maturation and recent experiences. “Before Memories Fade” is a reflection on this fundamental element of our existence. About eternalizing moments in an organic, live and unpredictable way.”

Ich hatte in den ersten sieben Monaten des abgelaufenen Jahres erneut ein größeres Thema mit meiner Gesundheit. Mir fehlt ehrlicherweise etwas die Kraft, um weiter ins Detail zu gehen, aber ich musste leider wieder die existenziellen Fragen aus dem Koffer holen, der eigentlich seit ein paar Jahren luftdicht verschlossen hinter gleich vierzehn Schrankwänden steht. All die Ängste, Brüche, Konflikte, die Erinnerungen und Enttäuschungen, die Zuversicht, die Hoffnung und die Liebe - es tobte alles für volle sieben Monate durchs Nervengestrüpp wie ein tollwütiges Eichhörnchen auf Crack. "Before Memories Fade" als Konzept, als Ansprache, war ein Resonanzraum für derlei Gedanken. Ich hörte das Album bevorzugt in der heißen Badewanne, wo es die gewünschte Wirkung eines auralen Sedativums am besten entfalten konnte. 

Das bringt uns um zweiten Trigger: der Musik. Vom ätherischen und illuminierenden Beginn mit "Liminal" über das sternenfunkelnde "Dandelion", das aufwühlende "Nostalgia" und dem ausgegrauten Vintagehappen "Cloudy Morning" bis zum meinem persönlichen Highlight "Accepting Transience" - so durchlässig, friedlich, tröstend; es mag makaber sein, aber vielleicht möchte ich genau das als letztes Musikstück hören, bevor das Licht final ausgeknipst wird - es ist deutlich, wie sehr das Konzept über Erinnerungen und die Sicht auf das eigene Erleben jede Minute dieses Albums trägt. Introspektiv, melancholisch, nostalgisch - und mit jedem weiteren Gedanken ein bisschen näher dran am wahren Selbst. 


Für Haptikfreunde gibt es zwar leider kein Vinyl, aber immerhin ein Tape, das über die Bandcamp-Seite des Labels bestellt werden kann. Ansonsten tut's der Bandcamp-Download:


 



Erschienen auf Aural Canyon, 2022.