Beeindruckende Momente der Tiefe, der Einkehr und der Schönheit. Auf diesem im Jahr 2006 aufgenommenen Album spielen sich Bassist Charlie Haden und Antonio Forcione an der Gitarre in einen waren Tiefenrausch. Wer mal die Zeit anhalten will, vorzugsweise nachts gegen drei Uhr bei einer Tasse Kaffee und in gedimmten Licht, der hört "Heartplay" - dessen Faszination umso größer wird, hört man den beiden Musikern aufmerksam zu. Das mag gespreizt und prätentiös klingen, aber wie so oft bei Jazz steigt jedenfalls meine beinahe extatische Begeisterung, wenn ich die Wege der Musiker genau verfolge, ihr Zusammenspiel, die Raffinesse, das Einfühlvermögen. In solchen Momenten erscheint plötzlich sehr vieles, was sich im heimischen Plattenschrank vor allem unter dem Moniker "Uff, Rockmusik!" tummelt als fad, eintönig und there I said it: stumpf. Das ist im Grunde kein Problem für mich, schließlich mag ich es auch gerne stumpf, genau genommen bin ich sogar schon stumpf aufgewachsen, "ich weiß, wovon ich rede."(Polt), jedenfalls: der Reichtum von "Heartbeat" wächst exponentiell mit der Aufmerksamkeit, die man ihm entgegenbringt.
Forciones Talent für gleichzeitig in der emotionalen Ansprache üppige wie in der Ausführung sparsam eingesetzte Melodik konnte ich erstmal 1994 im Neuen Theater in Frankfurt-Höchst bewundern, als er mit seinem Partner Marcial Heredia unter dem Programm "Flamencomedy" eine abendfüllende Mischung aus Musik, Artistik und Humor präsentierte.
Teil 1:
Teil 2:
Die an diesem Abend erstandene CD, Forciones "Acoustic Revenge", zählt seither zu den unumstößlichen Grundpfeilern meiner musikalischen Adoleszenz, ganz besonders zeigt der Abschlusstrack "Heart Beat" die ganze Palette seines Könnens. Forcione bearbeitet in seinem Spiel jeden Quadratzentimeter seiner Gitarre, nutzt Boden, Decke, Hals und selbst die Mechanik als perkussives Instrument und lässt gleichzeitig viel Raum für die Entfaltung von Melodien und Stimmungen.
Über Kontrabasslegende Charlie Haden muss man indes nicht mehr so irre viele Worte verlieren. Der 2014 verstorbene Bassist war einer der einflussreichsten Musiker der letzten 50 Jahre, dazu ein kritischer, politischer, aktiver Geist, der nicht zuletzt mit seiner Beteiligung an Ornette Colemans "Free Jazz" und seinem Meilenstein nebst namengebendem Projekt "Liberaton Music Orchestra" stilprägend für folgende Musikergenerationen sein sollte. Außerdem ist mir sein Album "Nocturne" seit Jahren ein treuer Begleiter in warmen Sommernächten.
Acht Kompositionen stehen auf "Heartplay", vier davon stammen aus der Feder des italienischen Gitarristen, drei von Haden, dazu gesellt sich eine Coverversion von Fred Herschs "Child's Song". Hadens bekannte Stilistik, eine Mischung aus Verweigerung und Vereinfachung von Ton und Technik und dabei einer Haltung wie jener von Pianist Thelonious Monk nicht unähnlich, erhält hier eine neue Blaupause. Ganz besonders in Forciones Songs entwickelt Hadens fast schon stoisches Herumschlurfen einen ganz speziellen Puls, eine subtile, unterbewusst wahrnehmbare Rythmik - und Forcione reagiert darauf mit seinem ausgeprägten Gespür für Melodik und Raum. Die Ballade "Snow" und das folgende "Nocturne", die beide gegen Ende so leise und ätherisch werden, dass sie beinahe auseinanderfallen, sind Paradebeispiele für die Ausrichtung von "Heartplay".
Ein weises, introvertiertes, sparsames Album für Nächte im flackernden Kerzenschein. Klischees my ass.
Erschienen auf The Naim Label, 2015.
P.S.: Die Aufnahmen wurden in den Londonder Abbey Road Studios speziell für die Veröffentlichung auf Vinyl gemastert - leider ist die Pressung auf 180g Virgin Vinyl zumindest auf meinem Exemplar nicht frei von Problemen, was sich an durchgängigem, zwar sehr dezentem, aber eben doch wahrnehmbarem Knistern zeigt. Mich persönlich stört das nicht, manchmal gar ganz im Gegenteil, und ich würde die Langspielplatte auch nachwievor uneingeschränkt empfehlen, aber wer sich von der oben stehenden Lobhudelei genötigt fühlt, die LP-Version von "Heartplay" zu erstehen und dabei einen ausgeprägten Reinraum-Soundfimmel hat, ist hiermit leise vorgewarnt.
Im Sommer musste an diesem einen Tag die Sonne wohl besonders stark über dem Stuttgart Kessel brennen. "Chinese Democracy" stand für 20 Euro im Second Hand-Spezialfachgeschaft für Tonträger herum, hatte einen riesigen Knick in der oberen rechten Ecke und ein kleiner Teil des Vinylrands war auch noch aus der ersten Platte herausgebrochen. Mein Hirn, vermutlich längst zu einem 180°C Umluftofen mutiert, gab mir den Feilschbefehl, ich handelte den Tresenmann noch auf 15 Schleifen runter - und stolzierte wie Pepé le Pew zurück ins Hotel und zuvor mit dem skeptisch dreinblickenden Herrn Jens auf die Terrasse eines Stuttgarter Restaurants. Das war kein Schnäppchen, die Platte gibt es mit ein wenig Glück zum selben Preis noch neu und ungeöffnet im Weltnetz. Aber das Weltnetz ist nicht der Plattenladen, und im Weltnetz scheint die Sonne auch nicht so stark, dass sie einem das Dach verwellt.
Das alles wird noch ein Eckchen absurder, wenn ich jetzt noch bekenne, die CD-Version des Albums, die ich natürlich kurz nach der Veröffentlichung im Winter 2008 hektisch kaufte, in der großen CD-Verramschung schon 10 Monate später wieder für den Preis von ganzen vier Euro aus dem Regal schmiss. Ich behaupte nicht, dass ich noch alle Tassen im Schrank habe, aber ich kann es erklären.
Vielleicht.
"Chinese Democracy" gehört zu meiner Generation. Genau genommen gehört das Warten auf "Chinese Democracy" zu meiner Generation. Und deren Säulen waren eben nicht nur die heiligen drei Könige "Nevermind", "Ten" und "Dirt", selbst durch den Heroinschleier des Grunge erkannten wir auch noch die einst kräftigen, jetzt dank des rauhen Seattle Klimas etwas ramponierten Pfeiler "Appetite For Destruction" und "Use Your Illusion". Und die von Jack Daniels, Marlboro und Haarspray benebelten Typen, die zu "November Rain" die ein oder andere Träne verdrückten und sich zu "Welcome To The Jungle" an Kronleuchtern über die ausgelassen feiernden Partygäste schwangen, fieberten immerhin in den ersten Jahren nach der vorläufig letzten Veröffentlichung "The Spaghetti Incident?" trotz der abgewanderten Aushängeschilder wie Slash, Izzy Stradlin und Duff McKagan dieser Platte entgegen, knietief und mitten im Alternative- und New Metal-Schlamm stehend, leicht orientierungslos. In der zweiten Hälfte der Neunziger kippte dann die Stimmung: immer wieder angekündigt, immer wieder mit festen Releaseterminen versehen - immer wieder verschoben. Und verschoben. Und wieder verschoben. "Chinese Democracy" wurde zum Running-Gag. Irgendwie spürten wir auch, dass die Zeit für Guns N' Roses vorbei war, denn die neuen Helden hatten andere Namen und andere Kleider. Und sie machten andere Musik, ganz andere Musik. Axl bekommt bestimmt eh nichts mehr auf die Kette, ganz alleine auf weiter Flur und ohne seine alten Sidekicks sowieso nicht. Völlig durch, der Typ. Diese Drogen. Dieser Alkohol. Schizophren soll er ja auch sein. Oder bipolar. Irgendwas im Kopf halt. Das wird nix mehr. Wir müssen weiterziehen.
Und irgendwann waren Guns N'Roses, war "Chinese Democracy", war Axl Rose vergessen. Wer spielt da eigentlich gerade? Ist doch egal! Gibt's die überhaupt noch? Ist doch egal! Die haben ja neulich ein großes Festival gespielt. Echt? Ist doch egal. Und es stimmt, irgendwann war es wirklich egal. Weil man eben tatsächlich weitergezogen war. "Chinese Democracy" nützte die Indifferenz nichts. Längst zu einem Mythos geworden, einem Sinnbild für gescheiterte, an Drogen und Alkohol zerbrochene Rocker, für verblasste und verklärte Erinnerungen, für Größenwahn und Verschwendung. Und natürlich für eine enttäuschte Generation von Rockfans, die mit dem diffusen Gefühl kämpfen musste, auf eine tragische Art betrogen worden zu sein. Das kann in einem Umfeld, in dem der mächtige weiße Ritter des Rock regiert und das auf einer zwar inszenierten, aber doch aufrichtig vorausgesetzten Ehrlichkeit und Loyalität aufbaut, nur in die Hose gehen.
Als "Chinese Democracy" tatsächlich nach über etwa fünfzehn Jahren Produktionszeit und geschätzten Kosten in Höhe von über dreizehn Millionen Dollar im November 2008 erschien, hagelte es Schimpf und Schande seitens der Presse und der Fans. Ich habe es in meinen 30 Jahren als Musikbesessener noch nie erlebt, dass eine Platte eine so umfassende, fast weltweite Ablehnung erfuhr, die sich in der Schnittmenge von "Das wird bestimmt ganz grauenvoll schlecht." und dem ganz tief im Unterbewusstsein vergrabenen Wunsch nach der Rettung des Rock darstellte. Aber bekam "Chinese Democracy" jemals wirklich eine Chance? Ich glaube nein. Diese Platte hätte nicht gewinnen können; es hätte vielleicht niemals den richtigen Zeitpunkt der Veröffentlichung gegeben. Selbst in den neunziger Jahren war es eigentlich schon zu spät. Ich habe mit meinem neuerlichen Kauf im Sommer 2015 den wenigstens für mich richtigen Zeitpunkt erwischt, denn ich hatte immer das Gefühl, dass, haben sich die Aufregung und die Enttäuschung gelegt, haben sich die Wunden wieder geschlossen, mehr hinter "Chinese Democracy" steckt. Dass es etwas zu Entdecken gibt. Dass das Album kolossal unterbewertet ist. Und tatsächlich: man hört mit sieben Jahren Abstand klarer. Nebenbei darf man sich auch mal schnell klar machen, wie lange sieben Jahre sind: der erste offizielle Albumstream wurde auf der - Achtung, aufgepasst: MYSPACE Seite der Band freigeschaltet.
MySpace. Laugh to come.
Ich war indes auch schon 2008 nicht so irre enttäuscht wie manch anderer. Es war eben "Uff, Rockmusik", noch dazu verpackt in einem überlangen Album - und gerade in meiner, sagen wir mal: experimentellen Phase im Jahr 2008 riss mich sowas wirklich nicht vom Hocker. Musikalisch hatte ich bis dato wahrlich Schlimmeres gehört; im Falle von "Chinese Democracy" und der seit Jahren damit in Verbindung gebrachten Schreckgespenster wie "Industrial Rock" und "Alternative Rock" hatte ich sogar weitaus Schlimmeres erwartet. Die Band schrieb in den jahrelangen Sessions insgesamt über 60 Songs für drei geplante Alben und nahm die für "Chinese Democracy" ausgewählten Tracks bis zu sechs Mal neu auf. Die Liste von Produzenten, die über die Jahre verteilt mal auf dem Mischpult-Thron saßen, ist eindrucksvoll lang und enthält unter anderen Namen wie Roy Thomas Baker, Bob Ezrin, Andy Wallace, Youth, Moby, Mike Clink und Tim Palmer, während die Aufzählung der beteiligten Engineers hingegen gar das Format dieses Blogs sprengen würde. Man besuchte für die Aufnahmen ganze 15 Studios und buchte Gastmusiker wie Dave Navarro, Sebastian Bach und Brian May, der 1999 ein Solo für "Catcher In The Rye" einspielte, das sich letzten Endes nichtmal auf der Platte befindet. Gerüchten zufolge wurden bis zu 250.000 Dollar pro Monat für Equipment verprasst, und Geffen entfernte das Album 2005 gar komplett von ihrem Veröffentlichungsplan:
"Having exceeded all budgeted and approved recording costs by millions of dollars, it is Mr. Rose's obligation to fund and complete the album, not Geffen's."
Bassist Tommy Stinson hob in Bezug auf die lange Wartezeit in einigen Interviews Axl Rose' demokratischen Anspruch für das Songwriting hervor:
"It's a lengthy process because you have to get eight people to basically write a song together that everyone likes.
Und ein beteiligter Engineer sagte zu Rose' Perfektionismus:
"Axl wanted to make the best record that had ever been made. It's an impossible task. You could go on infinitely, which is what they've done."
Das Image von Axl Rose, er sei ein peinlicher Redneck, ein kaputter Diktator, ein Faulpelz, der die letzten Jahre mehr mit Drogen und Frauen beschäftigt war als mit Musik, muss nach der Beschäftigung mit den Geschichten, die diese Platte umranken, sicherlich neu gezeichnet werden. Schwieriger Typ, labil, größenwahnsinnig, zu Kurzschlusshandlungen neigend? Kann sein. Ein musikbesessener, sensibler Künstler, ein manischer Perfektionist mit großer kreativer Kraft und einer genauen Vorstellung davon, wie seine Band und seine Musik klingen soll? Ganz bestimmt. Dafür holte sich Rose über die Jahre die creme de la creme in seine Band. Rein musikalisch rauchen die neuen Guns N' Roses alleine mit den Gitarristen Bumblefoot und Buckethead einen gewissen Saul Hudson in der Pfeife, ganz besonders Buckethead spielt einige geradezu umwerfende Soli auf dieser Platte, zum Beispiel auf "There Was A Time", nachzuhören auf dieser Instrumentalversion:
Die größte Überraschung auf einem über weite Strecken brilliant komponierten Album ist allerdings die Zeitlosigkeit des Songmaterials und damit war nun wirklich nicht zu rechnen: geschrieben und aufgenommen vor der Jahrtausendwende, lässt sich bemerkenswert wenig Patina finden. Selbst die elektronischen Spielereien, die sowieso deutlich zurückhaltender eingesetzt wurden als man es durch die Berichterstattung im Vorfeld erwarten konnte (die allerdings auch nur die durch Leaks veröffentlichten Songs kommentierte, die, wir lernten es einige Zeilen weiter oben, zig Mal neu arrangiert und aufgenommen wurden und sich somit durch mehrere Stadien durcharmorphelten), haben zwar noch einen Hauch der 90er Jahre im Atem, sind aber streng genommen so gut eingepasst und bearbeitet worden, dass wir weit davon entfernt sind, die Songs auf dieser Basis zeitlich einordnen zu können. Das ist keine altbacken klingende Platte. Und es ist auch keine hypermodern klingende Platte - diese eine Handvoll Gitarrenriffs, die einen ganz dezenten Industrial Rock-Charakter in der DNA haben, wobei wir auch gerne darüber diskutieren können, ob Industrial Rock 2008 noch so schrecklich "modern" war, sind vernachlässigbar und auch hier: in ein durchaus klassisches Rockkonzept eingesetzt worden. Alle seitens einer auflagen- und sensationsgeilen Presse geschriebenen Übertreibungen in diese Richtung sind kompletter, unseriöser, quatschbekleckerter Bullshit.
Ich kann nicht sagen, dass ich Fan von Guns N'Roses bin. Die Band ist heute mehr Marke als Musik, wirkt live weniger kraftvoll als wie die am Nasenring durch die Manege gezogene und fast stoisch agierende Sensation (mit den drei Köpfen), zieht damit dementsprechendes Prosecco-Paradise City-Publikum an - und dass einer wie Rose diesen Rock'n'Roll-Krempel immer noch mit macht, mit Cowboyhut und -stiefeln, zerrissenen Jeans, Sonnenbrille und Beer'n'Barbecue Wampe, nimmt manchmal durchaus tragische Züge an. Dass man vielleicht trotzdem mit dem ein oder anderen Vorurteil gegenüber der Person Axl Rose auf der einen, und ganz bestimmt gegenüber dieser Platte auf der anderen Seite aufräumen kann, soll, darf und muss, ist in meinem Buch völlig legitim.
Ich mag diese Platte. Sie ist gut. Sieht Slash übrigens ähnlich. Also Haken dran.
"It's a really good record. It's very different from what the original Guns N' Roses sounded like, but it's a great statement by Axl... It's a record that the original Guns N' Roses could never possibly make. And at the same time it just shows you how brilliant Axl is." (Slash)
Über die seitens des ZDF selbsternannte Satiresendung "Die Anstalt", als Nachfolger zur "Neues aus der Anstalt" Reihe seit Anfang 2014 monatlich ausgestrahlt, kann man sicherlich einiges zum Meckern finden und es ist auch kein Geheimnis, dass das Format des Vorgängers, insbesondere mit dem Weggang des großen Georg Schramm als Partner von Urban Priol, einige Federn lassen musste. Nichtsdestotrotz war ich speziell bei den letzten beiden Ausgaben der Anstalt im April und Mai überrascht, wie gut sich die beiden neuen Protagonisten Max Uthoff und Claus von Wagner mittlerweile eingespielt haben. Zusätzliche Pluspunkte sammelte die Sendung bei mir durch eine von ZEIT Herausgeber Josef Joffe eingereichte Unterlassungserklärung an das ZDF, weil Claus von Wagner in der Sendung vom 29.April 2014 auf die Verbindungen von Qualitätsjournalisten zu elitären Zirkeln aus Wirtschaft und Politik und den daraus vermeintlich resultierenden Interessenkonflikten hinwies:
Plump und polemisch (= genau meine Kragenweite) könnte man jetzt laut "Ha! Getroffene Hunde bellen!" rufen, aber das Thema ist natürlich - wie dummerweise so vieles auf dieser Welt - bedeutend komplexer. Der oben verlinkte Heise-Artikel stellt die Komplexität in diesem Sinne sehr anschaulich dar.
Die aktuelle Ausgabe der Anstalt aus dem Mai 2014 befasst sich beinahe ausschließlich mit der Fußball-WM in Brasilien und passt deshalb bestens zur vorangegangenen Motzattacke meinerseits.
und der heutige Karfreitag scheint ein besonders guter Termin für einen aktuellen Programmhinweis zu sein.
Vor wenigen Wochen ist nämlich das in meinem ersten Beitrag erwähnte Set "But I'm Not Wrong" wieder auf Youtube aufgetaucht. Da es hierzu auch eine DVD-Version gibt, die offensichtlich der Grund dafür ist, warum alle ehemals hochgeladenen Videos umgehend wieder gelöscht wurden, ist davon auszugehen, dass sich auch diese Version nicht lange halten wird. Deswegen sei an dieser Stelle der besonders schnelle Blick empfohlen.
"But I'm Not Wrong" ist im Jahre 2010 aufgezeichnet worden, demnach inhaltlich nicht mehr so irrsinnig taufrisch; da sich das Konzept von "Religion" auch in den letzten vier Jahren aber noch ganz prächtig gehalten hat, die "Klimalüge" immer noch in den Köpfen von Zurückgebliebenen existiert, Sexismus und Rassismus en vogue sind, und sich die sowohl politisch als auch medial inszenierte Hysterie so griffig und schnell wie noch niemals zuvor auf die Gesellschaft überträgt, sind viele von Mahers Einlassungen auch heute noch aktuell und die Themen zeitlos. Dummerweise. Ich wünschte ja, so manche grobe Unverschämtheit langsam zu den Akten legen zu können.
Was auffällig ist: sowohl beim Programm "I'm Swiss" (zu finden unter dem oben verlinkten Blogpost aus dem März 2013), als auch bei "But I'm Not Wrong" sitzen in der ersten Reihe Menschen, die keinen Hehl daraus machen, mit Mahers Ansichten nicht im Entferntesten übereinzustimmen. Bei "I'm Swiss" war es eine vierköpfige Familie, die an keiner Stelle klatschte oder lachte und zwei Sekunden nach Mahers Abgang die Sachen packte, bei "But I'm Not Wrong" ist es ein Pärchen, das von Maher während der knapp 80 Minuten desöfteren angegangen wird ("A sweater vest? In 2010? Let me guess - Republican?"). Ich frage mich ja, ob man die Leute da absichtlich für die Aufzeichnung hingesetzt hat, damit Maher im Verlauf des Sets die ein oder andere Pointe auf deren Kosten setzen kann, oder ob das US-amerikanische Comedy-Publikum wirklich so schmerzfrei ist, dass es sich auch zu politisch eindeutig entgegengesetzten Comedians treiben lässt. Aber dann wirklich gleich in die erste Reihe? Really?
“Writing this now, God, how I miss the cultural side of the eighties - the rhetoric, the raggedy clothes, the politics, gigs you were frightened to go into, Radio 1 when it had weird bits, Channel 4 when it was radical, the NME when it had writers, and the thrill of discovering underground music and new comedy for yourself.”
Stewart Lee, How I Escaped My Certain Fate
Vor einigen Jahren wurde ich dank des damaligen Titanic-Redakteurs Oliver Nagel und dessen "Humorkritik Spezial" im endgültigen Satiremagazin, auf den britischen Komödianten, Autor, Regisseur und Musiker Stewart Lee aufmerksam. Nagel, der außerdem seine Leidenschaft, praktisch jeden zu kennen, zu erforschen und zu beschreiben, der jemals in Großbritannien auf einer Bühne stand oder im Fernsehen war, um die Mitinsassen zu erheitern, auf der überaus angemessen betitelten und darüber hinaus ganz famosen Website www.britcoms.de feiert, war voll des Lobes über diesen Mann, dessen Ansatz sich so deutlich von nahezu allen anderen Stand-up Comedians unterscheidet. Lange Jahre war sich das Publikum nicht sicher, was es mit Lees vermeintlich vermurksten Pointen, den absurden Wiederholungen und der prachtvollen Übellaunigkeit eigentlich anstellen sollte - mittlerweile ist man schlauer: nach mehreren sehr erfolgreichen BBC-Programmen und Tourneen durch das vereinte Königreich, werden die Hallen größer, und die Zweifel kleiner. Lee ist kein Großmaul, banale Parolen und offensichtliche Crowdpleaser sind in seinen Sets nicht zu finden, es sei denn, sie dienen dramaturgisch der zu spielenden Rolle. Dafür verpackt er seine Gags in zweifach Alufolie, die er zuerst zusammenditscht und -knetet, plattdrückt und als Kügelchen minutenlang über und durch die Köpfe seiner Zuhörer schweben lässt, bevor er, nicht selten mit einem einzigen Satz, alles in Flammen aufgehen lässt.
In den vergangenen Wochen zog es mich immer öfter zu den Stewart Lee-Clips auf Youtube, vor allem deshalb, weil ich seit mindestens drei halben Ewigkeiten auf der Suche nach einem ganz bestimmten Video bin, das mir, jedenfalls in meiner vernebelten Erinnerung heraus, von Oliver Nagel in dem erwähnten Titanic-Artikel empfohlen wurde. Also, nicht mir persönlich, aber uns. Uns Leser. Ihr wisst schon. *handwedel* Jedenfalls: ich kenne mittlerweile fast alles, was jemals von Stewart Lee erdacht und präsentiert wurde, aber das gesuchte Werk - unauffindbar. Wie vom virtuellen Erdboden verschluckt.
Vor zwei Wochen fasste sich der Florian schließlich ein Herz und belästigte den kongenialen ehemaligen Titanic-Partner von Stefan "Ich will ein Kind von Dir" Gärtner direkt auf seiner Seite - und erhielt nach der Aufzählung der noch im Hinterkopf verschlumpften Gedankenbrocken "Grabstein", "irgendein Typ, der Lee auf die Palme brachte" und einem eher weniger schmeichelhaften Schimpfwort doch tatsächlich den entscheidenen Hinweis.
Es ist selbstverständlich lohnenswert, den kompletten Clip zu schauen, wenngleich sich der eben kurz umrissene Teil erst ab 4:40 bahnbricht:
Außerdem möchte, ach was: MUSS ich noch auf zwei weitere besonders herausragende Episoden hinweisen, die mich und die Herzallerliebste zum unkontrollierten Heulen brachten. Beim ersten Video zitiert Lee vermeintlich echte Kommentare aus dem Internet:
Nummer zwei zeigt die letzten 15 Minuten eines gut 40-minütigen Rants über die äußerst beliebte britische Fernsehserie "Top Gear", ein einstündiges, auf BBC Two ausgestrahltes Automagazin, das mittlerweile weltweit mit rund 350 Millionen Zuschauern protzen darf. Lee weiß, dass die Mehrheit seines Publikums "Top Gear" liebt - und macht es in seinem Programm “If You Prefer a Milder Comedian, Please Ask For One" trotzdem, oder gerade deswegen, zu einem zentralen Thema.
Und wer dann noch nicht genug hat, darf sich dieses ausführliche Interview mit Stewart Lee durchlesen, das im Jahr 2011 in der Financial Times erschienen ist
Und: die DVDs seiner Programme gibt's auf amazon.co.uk zu kaufen.