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16.05.2021

Sonst noch was, 2020?! (8) - Inhmost - Everything Is New



INHMOST - EVERYTHING IS NEW

Ein magisches Album - das leider sehr unmagisch viel zu spät im Sossenheimer Kiez landete und für die Jahresliste 2020 nicht berücksichtigt werden konnte. "Everything Is New" hätte die Top Ten andernfalls im Sturm genommen. 

Es beginnt beim umwerfenden Artwork der ukrainischen Künstlerin Anna Liberté, geht über das Berliner Qualitätslabel La Luna, über eine fantastisch reich und voll klingende sowie absolut fehlerfreie Pressung und endet bei der Musik von Simon Huxtable (u.a. auch als Aural Imbalance und Kloor unterwegs), dem Soundtrack eines märchenhaften Traums. 

Die Vibes auf "Everything Is New" sind subtil. Vibrierende Synthiefäden flimmern über den Horizont, die wie schwerelos in der leichten Brise schwingenden Beats sind gleichermaßen lush wie crisp, die melancholischen Melodien bauen die Gehirnchemie um und stellen den Schalter im Dachgeschoss wie von Zauberhand auf "Das Leben Ist Schön". Und unter all dem hat Huxtable den eigentlichen Nährboden ausgerollt: sein Storytelling reicht von mystisch und entrückt bis hin zu dramatisch und expressiv, von isolierter Introvertiertheit bis zur Sehnsucht nach Verbindung und Gemeinschaft - und skizziert damit die Kulisse dieses Albums: Aufbruch, Mut, Zweifel - und das vielleicht Wichtigste: Vertrauen. 

Aufgefüllt und zu Leben erweckt werden jene Skizzen mit einer gelassenen "Keine Termine und leicht einen sitzen"-Atmosphäre im dämmernden Licht eines Sonnenuntergangs am abgelegensten und einsamsten Sandstrand des Universums, ketamingeschwängertem Downtempo-Swing, reichaltigem Ambient-Farbauftrag und sich durch das gesamte Album ziehende Texturen; feine Variationen, die immer weiter am Überbau von "Everything Is New" arbeiten, während sie selbst wie Farbtropfen im Wasser stets neue Gestalten annehmen - und sich zum Schluss verbinden und Eins werden.

"Everything Is New" wird bleiben. An solche Alben erinnert man sich ein Leben lang, und ich weiß jetzt schon, dass ich sie in ein paar Jahren in die Hand nehmen werde und mich etwas sagen höre, das klingt wie "Das ist eine ganz, ganz tolle Platte."


 



Erschienen auf La Luna, 2020. 

02.04.2021

Best of 2020 ° Platz 3 ° Soela - Genuine Silk


SOELA - GENUINE SILK

One more cosmic watergate
Psychic war, deletion zone
Future destiny unknown
(Voivod)

"Genuine Silk" hat mich noch kurz vor Jahresende blutig abgegrätscht, weil mein Bauchgefühl bereits bei Erstkontakt im Spätsommer des vergangenen Jahres sämtliche 10000 Watt Glühwürmchen in die "für die Jahreszeit zu warme" (Jens "Granate" Riewa) Winternacht Sossenheims schicken sollte. Der Ausgangspunkt, weil same procedure as last month, dear Girokonto: einfach mal ein Wochenende lang auf den bevorzugten Webstores rumhängen und mit geradezu ungesunden Mengen an Kaffee und Proteinriegeln in neue Musik reinhören, recherchieren, vergleichen und am frühen Montagmorgen um halb drei mit nervösen Ausfallerscheinungen und 57 Platten in 6 Warenkörben versuchen, Schiffe Versenken für behämmerte Giganerds zu spielen, um das Supermarkt-Budget am Monatsende nicht auf "rohe Kartoffeln, rohe Zwiebeln, frische Knorpel"-Niveau runterfahren zu müssen. Im Falle des Albumdebuts der in Berlin lebenden Produzentin Elina Shorokhova war die Sache eigentlich nach wenigen Augenblicken klar. Das markant-unwirkliche und anziehend wirkende Cover-Artwork, das Label (Dial) und eine Minute des Quasi-Openers "Shadows On The Wall" reichen aus, *klick*, gekauft, Hurra!

Eines meiner liebsten Labels, das in Los Angeles operierende A Strangely Isolated Place, bedruckte vor Jahren mal einige Merchandise-Shirts mit dem Motto "Ambient In The Sheets - Techno In The Streets" und wenn man mich früge (sic!), kam bislang kein anderes Album der Vereinigung der beiden vermeintlichen Gegensätze so nah wie "Genuine Silk". Für jemanden, dessen Leben sich zumindest mental ohne Weiteres zu 97% im Bett abspielen könnte, die restlichen drei Prozent gehen für den (fast) unvermeidlichen Toilettengang und Plattenpakete vom Briefträger an der Haustür abholen drauf, ist diese Platte ein Paradies: wachsweiche Synthieschwaden fließen sirupartig von der Decke herab, ein melancholischer Blick aus dem Fenster zeigt einen diesigen Horizont avec Nieselregen, die Nebelmaschine zischt mit der Kaffeemaschine um die Wette, das elegant getupfte Piano lässt zusammen mit dem verhuschten Stimmengefetze Erinnerungen an die verstörend leeren Schlafzimmerblicke der ersten Tri Angle-Veröffentlichungen wach werden - und in der zweiten Hälfte houst es sich mit hellerem, klarerem Beat in Richtung Kuschelsex und der Zigarette danach. Es. Ist. So. Fucking. Smooth. 

Ich habe mit "Genuine Silk" weite Teile des Lockdown-Winters verbracht. Das hat wegen der idyllischen Melancholie seiner Songs schon gut funktioniert. Ich kann es andererseits auch kaum erwarten, das Album in der Frühlingssonne und an lauen Sommerabenden auf der Terrasse in meinem Frankfurter Kiez zu hören. Denn diesen Spagat bekommt Soela hin: lebensfrohe und sommerliche Urbanität mit schwermütigem Grauschleier zu verbinden ist ein Klacks für dieses Wunderwerk. 

Wir treffen uns bitte in der Mitte, auf ewig.


 


Erschienen auf Dial, 2020.



05.01.2021

Die besten Second Hand-Funde 2020 (2): Jazzanova - In Between




JAZZANOVA - IN BETWEEN


Es war gar nicht so leicht, ein gut erhaltenes Exemplar des Jazzanova-Debuts zu ergattern, wenn man nicht gleich einen japanischen Postdienstleister bemühen wollte, und ich kann nur spekulieren, dass die drei Scheiben von "In Between" auf den Plattenspielern dieser Erde über die letzten 18 Jahre so oft, so lange und mit so viel Begeisterung gespielt wurden, bis mit letzter Kraft und zitternder Hand nur noch ein "G+" in das Feld für die Zustandsbeschreibung auf dem Plattensammlerportal Discogs eingepflegt werden konnte. Ich könnt's verstehen.

"In Between" war neben "The Cosmic Game" der Thievery Corporation mein Einstieg in die Welt elektronischer Musik und trotzdem rutschte es mir bis zum 2018er Comebackalbum "The Pool" unerklärlicherweise vom Radar - und nachdem ich mich angemessen geschämt hatte, begab ich mich für die nächsten zwei Jahre, ich habe ja sonst auch nichts zu tun, auf die Suche nach dieser LP. Und als ich sie endlich fand, fehlten die Original Inlays von zwei der drei Platten. Die Leiden des alternden Plattensammlers im Jahr der globalen Pandemie. Es geht schon wieder, danke für die Nachricht.

Das erste Auflegen in der brütend heißen Behausung im Frankfurter Westen schleuderte mich gefühlsecht in den Frühling des Jahres 2005, ins riesige Wohnzimmer unserer Wiesbadener Altbauwohnung mit den großen Fenstern und den langen weißen Vorhängen, durch die sich der Duft des herannahenden Stadtsommers mit dem sanften Aroma des frisch gebrühten Jasmintees vermählte und dem leichtfüßigen, raffinierten Gemisch aus Downtempo, Broken Beat, Jazz und HipHop einen passenden Rahmen schenkte. "In Between" ist Jazz für den Club, sophisticated, urban, elegant, sexy.

This stuff just never gets old. 

                     

Erschienen auf Jazzanova Compost Records, 2002.

10.04.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Qluster - Antworten




QLUSTER - ANTWORTEN


Ein Album für gewisse Stunden. Für Zeit und Raum. Für Dunkelheit. Für Stille. Für Liebe. Für Einkehr. Für Inspiration. Für Kraft. Für Trauer. Für Trost. Für Selbstgestricktes. Für Gebäck. 

Was in dieser Nacht auf der Bühne der Berliner Philharmonie zwischen Hans-Joachim Roedelius und Onnen Bock geschah, das spirituelle Fluten von Synapsen mit Energie, Verständnis und Vertrauen, wird wohl auf ewig ohne eine angemessene Erklärung auskommen müssen. Dass wir diesem gewaltigen Naturschauspiel trotzdem beiwohnen dürfen, und zwar immer wieder aufs Neue, dass wir uns immer wieder in der Tiefe jener Nacht verlieren dürfen, ist ein großes Geschenk. Kein berühmter Name, kein Marketinggekröse und aus der Ferne betrachtet eigentlich ein eher kleines, unscheinbares Werk - bis zu jenem Moment, in dem sich die Nadel auf diese Platte herabsenkt, die erste Musikrille erreicht und mit jeder weiteren Sekunde die Kinnlade ein Stückchen weiter nach unten kracht. 

Aktives Zuhören scheint in Zeiten  von Dschingdarassabumm-Streaming und dem ubiquitären Profit-Geflacker von Weltkonzernen nicht mehr über Gebühr en vogue zu sein, und ich möchte auch nicht der hinterletzte pretentious prick sein, der fürs Ressort des Kulturpessimismus' den wöchentlichen Leitartikel schreibt, aber for fuck's sake: hört dieser Platte zu! 




Erschienen auf Bureau B, 2012.


05.01.2020

Best Of 2019 ° Platz 15 ° Die Wände - Im Flausch




DIE WÄNDE - IM FLAUSCH


Ich erinnere mich daran, dass ich der Herzallerliebsten das phänomenale Cover-Artwork zeigte und dazu verlauten ließ, die Platte heiße "Im Flausch" und mir sei es nun völlig wurscht, wie das klingt, ich müsse das jetzt blind und taub kaufen. Als Antwort erhielt ich ein "Ich bitte darum!" und im Subtext eine neuerliche Erinnerung daran, dass wir verheiratet, vulgo: "ein Kopf und ein Arsch" (H.Schenk) sind. Jetzt sind wir hier, im Sinne von am Jahresende angekommen und wie zu sehen ist, habe ich die Entscheidung nach dem Anhören nicht nur nicht bereut, sondern ganz außerordentlich begrüßt: das Trio spielt im Postpunk-, Indie- und Noise-Sandkasten, hat nicht nur im Gestus den obersten Hemdknopf geschlossen und rasselt mir mit nonchalant vorgetragenen Texten wie "Ich finde nichts mehr gut. Ich lege mich nicht mehr fest. Ich schmeiße alles hin." nebst anschließendem Noise-Ausbruch direkt in die linke Herzkammer. Die angenehm dosierte Dissonanz, sowohl in der Musik als auch in den hintergründigen Texten, piekst mich genau dort, wo ich's gerne hab: kein breitbeiniger Rockzirkus, sondern eher distinguiertes Detachement. Und wenn es doch schmutzig, krachend und laut wird, räumt hinterher jemand schön auf und macht wieder alles sauber - allerdings mit dem Kommentar, dass das ja jetzt schon ziemlich unlocker sei. 

Unser Leben ist ein einziger, stets größer werdender Widerspruch - und das hier ist sein Soundtrack. 



Erschienen auf Späti Palace, 2019.

04.03.2019

Best Of 2018 ° Platz 8 ° Tocotronic - Die Unendlichkeit




TOCOTRONIC - DIE UNENDLICHKEIT


Auf Dreikommaviernull.de ist exakt ein Beitrag zu Tocotronic zu finden, zu mehr hat es in knapp 12 Jahren nicht gereicht - und das hat Gründe. Meine Haltung gegenüber der Hamburger Indie-Institution war bisher in allerhöchstem Ausmaß mit indifferent noch sehr höflich beschrieben, und mit Ausnahme des hier rezensierten "Kapitulation"-Albums aus dem Jahr 2007 zuckte ich im besten Fall mit den Schultern. Das hat sich 2018 gründlich geändert. Die Zeit war gekommen. 

Ich weilte im Dezember 2017 berufsbedingt für zwei Tage in Hamburg und lag nach dem obligtorischen Besuch bei Michelle Records und der Einnahme eines vegetarischen Burgers im Hotelbett und konnte nicht schlafen. Es folgte ein über Stunden andauerndes zielloses Herumtapsen auf dem Telefon, bis mir plötzlich die Youtube-App das neue Video von Tocotronic vorschlug. Es war der Titeltrack und damit der erste Teaser des im Januar erscheinenden neuen Albums.

Und es traf mich wie ein Blitz.

Es gibt Momente in meinem Leben, die ich mir nicht erklären kann. Momente, in denen Zeit und Raum ausgehebelt erscheinen, in denen oben plötzlich unten und unten plötzlich oben ist. Wenn alles vorher gelernte, geglaubte, fantasierte und manipulierte keinen Sinn mehr macht, das Herz schneller pocht, die Augen weit aufgerissen sind, eine Euphoriewelle nach der anderen durch den Hypothalamus schwappt und das innere Brodeln sich mit Licht und Liebe verbindet. Wenn klar ist, dass solche Momente noch in 50 Jahren glasklar vor einem liegen werden, in der strahlendsten und unauslöschbarsten Erinnerung. So wie ich mich bis heute an den Sprung von der elterlichen Couch auf die Auslegeware vor dem Röhrenfernseher erinnere, als ich zum ersten Mal "Smells Like Teen Spirit" hörte. Dieses Gefühl wieder zu erkennen, wieder zu entdecken, dass dank Lohnarbeit, Schlafmangel, Bluthochdruck und innerem Bleigießen noch nicht alles erstarrt ist - ein Seelenöffner. 

"Die Unendlichkeit" war mir ab der ersten Sekunde ganz nah. Es wurde mehr als nur Musik, es wurde zur Begleitung, mehr noch: zum Lebensgefühl. Wie bereits zur "Kapitulation" wurde ihre Musik mehr als nur Klang und Worte, sie wurde zum Leitmotiv, zur Stütze, zum Ratgeber. Und ich erkannte, dass es vermutlich keine andere Band gibt, die mit ihren Texten eine derart tiefe Verbindung zu mir herstellen kann. Ich verstand sie endlich. 

Ihr Intellekt, ihr Mut, ihre Verletzlichkeit und auch ihre Freundschaft untereinander waren im letzten Jahr eine große Quelle der Inspiration. 


Pressung: +++++ (Tadellos)
Ausstattung: +++++ (Glow In The Dark-Coverartwork, Gatefold, bedruckte Innenhüllen)





Erschienen auf Vertigo, 2018.

02.03.2019

Best Of 2018 ° Platz 9 ° Christian Kleine - Electronic Music From The Lost World 1998-2001




CHRISTIAN KLEINE - ELECTRONIC MUSIC FROM THE LOST WORLD 1998 - 2001

It's all about inspiration, innit?

Ich bin zweifellos ein Kind der 1990er Jahre. Das wurde auf diesem Blog schon so oft geschrieben, dass ich beim erneuten Hinweis darauf beinahe selbst in bräsigen Dämmerschlaf falle. Thrash und Power Metal, Grunge und Alternative Rock, Loriots "Pappa Ante Portas" und Harald Schmidt, Rot-Grün, Tschüss Birne, MTV, Parker Lewis, Atomausstieg, Frasier, De La Souls Ring Ring Ring, das Café Wunderbar in Frankfurt-Höchst, ein Abitur mit sattem Notenschnitt von 3,4, Wayne's World, die alte Frankfurt Batschkapp.

Für elektronische Musik fehlte es sowohl am sozialen Umfeld als auch an mentaler Kapazität, außerdem ist meine in der Kindheit konfigurierte und bis in die Gegenwart hinein immer noch aktive Programmierung, sich wirklich erst dann in Bewegung zu setzen, wenn die geistige und körperliche Unversehrtheit in Gefahr ist, vulgo: ich es mit mir selbst nur noch unter groben Schmerzen aushalten kann, keine große Hilfe beim Loslassen und Erforschen neuer Welten - und sei es nur die Abteilung für Elektronische Musik im Plattenladen. Die Neunziger in a fucking nutshell: Kaufen wir lieber das neue Album von Stratovarius. Gitarren, Langhaarige, peinliches Airbrush-Coverartwork, die Hoden des Sängers kann man dank exzellenter Ausleuchtung auf dem Bandfoto sehen - kenn' ich alles, wird schon so gut und gemütlich sein wie die seit sechs Tagen ununterbrochen getragene Unterhose. Hier stört das niemanden, hier bin ich zu Hause. 

Mittlerweile habe ich immerhin dieses erwähnte "Zuhause" seit einigen Jahren verlassen - und was im Chaos des immerhin teilmöblierten mentalen Dachbodens zurückblieb sind Fragen zu der einerseits durch ausgiebige Reflektion zusammengeschnitzte Erkenntnis, als auch andererseits zu der Erinnerung an ein früheres Leben: was habe ich erlebt, was war das für ein Lebensgefühl, und warum ist es heute noch so präsent? Es gab im letzten Jahr kein anderes Album, das diese Gedanken mit soviel Verve durcheinanderwirbelte wie Christian Kleines "Electronic Music From The Lost World 1998-2001". 

Es stellte mir darüber hinaus weitere Fragen: warum fühlt sich diese Zusammenstellung von unveröffentlichten Tracks, die Kleine nach seinem Umzug von Lindau nach Berlin Ende der neunziger Jahre unter dem Eindruck einer gerade zusammenwachsenden und zwischen neuem Leben und alter Melancholie umhertaumelnden Großstadt produzierte, so an, als würde ich nicht nur nach Hause kommen, sondern auch noch die Geschichte um dieses Zuhause verändern? Ich hörte zu der damaligen Zeit noch keine elektronische Musik, ich kann daher auch nicht, wie es mir mit Rockmusik am laufenden Band passiert, an sie erinnert werden. Ich war auch nicht in Szenen unterwegs, in denen diese Musik gespielt wurde. Ich war ja noch nicht mal in Berlin. Eigentlich müsste diese Erinnerung aus nichts als einem weißen Blatt Papier bestehen, es sollte nichts auslösen, nichts pieksen, keine Bilder produzieren, keine Emotionen provozieren. 

It's all about inspiration, innit?

Und doch drücken diese 11 Songs sämtliche Knöpfe meines Emotionszentrums, sie beamen mich in genau jene Zeit zurück, in der sie entstanden sind. Die Bilder sind wahrhaftig und plastisch; es ist, als würden vergessene oder unterdrückte Bereiche meiner Erinnerung wachgeküsst werden - Erinnerungen, von deren Existenz ich nicht mal wusste. Die sanfte und zugleich reine Melancholie in seiner Musik, die wegen ihrer Klarheit einen Begriff wie Kitsch nicht mal im bizarrsten Gedankengerumpel triggern könnte, verbunden mit einer zaghaft-euphorischen Aufbruchstimmung, die ihren Ursprung im blanken Sein und dem sich daraus entwickelnden künstlerischen und kreativen Freiheitsgedanken hat, modellieren ganz offensichtlich meine nunmehr 20 Jahre in der Vergangenheit liegende Realität nach. Und es zeigt sich, dass meine Beteiligung an jener Realität kein notwendiger Faktor im Erleben und Entdecken derselben zu sein scheint. 

Ich habe keine Antworten zu all dem, endgültige gleich gar nicht. It's work in progress. 

But it's all about inspiration.



Pressung: +++++ (Wie immer bei A Strangely Isolated Place: flawless)
Ausstattung: +++++ (Wie immer bei A Strangely Isolated Place: ein ästhetischer Hochgenuss, man will gar nicht aufhören, die Platte immer wieder anzuschauen. Gatefold, konsequentes, umwerfendes Art Design, Coke Bottle-Doppelvinyl)










Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2018.

12.01.2019

Best Of 2018 ° Platz 20 ° Jazzanova - The Pool

Geht ja prima los - so spät war ich ja noch nie dran. Stellt Euch für die Nummer 1 besser mal auf Juli ein, es ist ein Trauerspiel. 

Um trotzdem wenigstens ganz kurz ganz positiv zu werden und wie außerdem bereits geschrubt: 2018 wird es wieder nur 20 Aufsätze zu meinen Top-Alben zu begähnen geben - und damit also zehn weniger als noch im letzten Jahr. Das liegt weder an der Qualität noch Quantität neuer Musik oder dem damit verbundenen Deppensatz "Das war ja nicht so ein starkes Jahr wie...", sondern in erster Linie daran, dass ich mich im vergangenen Jahr schon beim Schreiben beinahe selbst langweilte. Wie unerträglich muss das dann erst für meine Leser gewesen sein?! 

Außerdem gibt es eine kleine Neuerung: Dreikommaviernull bewertet jetzt auch die Pressungen und Aufmachungen/Ausstattungen von Schallplatten. Mir fiel auf, dass ich 2018 keine einzige CD und kein MP3 Album kaufte. Alles Schallplatten. Das ist Premiere. Und warum dann nicht aus Gründen der, "äh, consistency" (Andi Brehme) einfach noch mehr prätentiösen Scheißdreck schreiben? 

Frage ich Sie! 

Beziehungsweise nicht. 

Wir starten in 3...2...1......*puff*





JAZZANOVA - THE POOL


Das neue Album des Berliner Kollektivs Jazzanova hat mein Leben im vergangenen Jahr um einige lohnenswerte Gedanken und Erlebnisse bereichert. Ich habe die Platte oft gehört und es zog mich über Wochen, gar Monate immer öfter zu "The Pool" hin. Das passiert mir heute ehrlich gesagt nicht mehr all zu häufig - und erst recht nicht mit jeder dahergelaufenen Platte, die bei drei noch nicht im Regal verschwunden ist. Gerade vor diesem Hintergrund war es ungewöhnlich, trotz solch ausführlichen Begegnungen nur wenig im Hirnsieb auffangen zu können. Sogar Songs wie die mit künstlerisch feinem Video ins Rennen um Clicks geschickte erste Single "Rain Makes The River" mit der Sängerin Rachel Sermanni, besonders atmosphärisch eigentlich wie gemacht für eine tiefere Verinnerlichung, verweilten für diesen einen Moment mit allerlei ausgerufenen Lobeshymnen meinerseits in der Realität - und verschwanden danach flugs im Getöse des Alltags. Nur, warum ist das so? Nicht, dass ich diesen Umstand als besonders negativ betrachte, ganz im Gegenteil: Ich kenne dreikommavierfuckzillion Alben, die erst nach scheinbar unerträglich langer Zeit plötzlich zündeten. Die erst nach grotesk langem Eingraben, völligem Versinken gar, und der sich dazwischen immer wieder zeigenden Verzweiflung darüber, es wieder nicht geschafft zu haben, unverhofft zur prachtvollsten und wichtigsten Musik allen Lebens wurden. 

Was all jene Beispiele von Psychotic Waltz ("A Social Grace") bis Tool ("Aenima") und King's X ("Faith Hope Love") eint: irgendwas zog mich immer wieder zu ihnen hin und flüsterte mir "Bleib' dran!" zu. Womit wir wieder bei "The Pool" sind. 

Ein Album, in dem eine seltsame Ambivalenz ihr Unwesen treibt. Subtil, multidimensional, komplex - aber dabei sollte das alles hier doch Pop sein?! Das ganze Rudel von Gastsängerinnen und Gastsängern, mit Oddisee, Jamie Cullum und dem alten Bekannten Ben Westbeech! Den aufs erste Hören fluffigen Arrangements, der gewollten Eingängigkeit. Das beißt sich ja schon beim Lesen. Um das endgültig zu verstehen, brauchte es das Livekonzert der Band im Frankfurter Zoom, in dessen Verlauf diese Ambivalenz auf "The Pool" deutlich wurde. Ein wahnsinniger Groove, ungeschlagene Virtuosität, Hingabe, Leidenschaft, dicke Beats, Tanzerei, Hände zum Pimmel, Darmspiegelung mit Cocktailschirmchen. All das findet im leicht handgebremsten Pop-Kosmos statt, der in der Livesituation fast völlig ausgeblendet wird und sich erst dann wieder zeigte, als ich mich für das erneute Eintauchen in "The Pool" (ihr glaubt doch nicht, dass ich für eine Platte mit dem Titel "The Pool" auf die "Eintauchen"-Metapher verzichte; wer bin ich, Diederichsen?) auf dem Tigerfell vor dem prasselnden Kamin mit vor sich hin schmurgelnden Foo Fighters Platten räkelte. 

Ich glaube mittlerweile, die beiden Produzenten Axel Reinemer und Stefan Leisering wollten eigentlich ein reines Popalbum produzieren und haben mittendrin gemerkt, dass sie das gar nicht können. Herausgekommen ist ein Zwischenwesen mit überragenden, subtilen, emotionalen Kompositionen, begleitet von großen Stimmen, eingebettet in tiefgechillte Stimmung. Auf einem anderen Planeten im Vergleich zu ihren vorangegangenen Arbeiten ("The Pool" ist ihr erstes Studioalbum seit 2008), was die alte Fanbase reflexartig zu allerlei Online-Motzereien provozierte, aber es wird dadurch ja nicht weniger außergewöhnlich. 

Wenn mich Musik derart zum Nachdenken bringt, kann das nur ein gutes Zeichen sein. 

--

Pressung: ++ (Der Klang ist einwandfrei, aber schon beim ersten Abspielen zeigte sich an leisen Stellen ein signifikantes Rauschen und Rascheln, immerhin keine non-fills. Die Angaben beziehen sich auf das schwarze Vinyl, die weiße Version kenne ich nicht)

Ausstattung: + (Der Preis für das bekloppteste Schallplattensleevedesign geht an das Sonarkollektiv für die Veröffentlichung einer Doppel-LP ein einem glossy Gatefold-Sleeve, bei dem nur eine Öffnung für dann auch nur eine Platte gegeben ist. Was man mit der anderen LP machen soll, weiß der Himmel. Oder mein Hund. Und eine Doppel-LP ist bei der Laufzeit auch Kappes. Kinnerskinnerkinners, srsly?)




Erschienen auf Sonarkollektiv, 2018.

24.09.2017

Lovespeech (not really)

Sunday night coffee'n'anger'ranting music: Quicksand - Slip. We had our national election today in Germany and my fucktwat-dumb-as-shit county elected some nazis into our parliament. Talking about "The Germans learned their lesson." No, we fucking didn't. This is our very own Trump-era now and actually they are suspiciously close to each other in terms of their rhetoric, their fondness of playing the victim and their shit-quest for bluntly lying all over the place. It was also reported that the russians might have helped them along the way in social media outlets and campaigns. What a surprise. Not! I also decided not to muddy the waters anymore by looking for answers and explanations beyond "Because their voters are fucking stupid." They are fucking stupid and that's all they are. Case closed. Gotta fight fire with fire. Dunno yet how the fuck to fight them, but by any means: fight 'em.  #quicksand #btw17 #rant #naziscum #fckafd #vinyl #nowplaying #walterschreifels #nowspinning #vinylgram #33rpm #vinylporn #vinylcollection #recordcollection #instamusic #alternative #indie #ontheturntable #vinylcommunity #coffee #punk #hardcore #hc #instavinyl #vinyljunkie #ilovevinyl #vinyleveryday #political #angryasfuck
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25.03.2017

2016 ° Platz 6 ° Jud - Generation Vulture




Meine ausführliche Besprechung zu "Generation Vulture" ist keine 100 Tage alt, und die in jenem Text induzierten Hellseherfähigkeiten des stets leicht vertstrubbelten Bloggers aus Dreikommaviernullhausen hinsichtlich der möglicherweise übersichtlich angelegten Erfolgsaussichten dieses Comebacks muss ich nicht mal in meinen Lebenslauf eintragen. Jud waren schon fast immer die Übersehenen - und sollte nicht ein kleines Wunder geschehen werden sie es auch für fast immer bleiben. Und wie auch immer ich es versuche zu drehen: ich komme nicht dahinter, warum das so ist. Extraorginell, hochemotional, klischeefrei, smart, in der Lage, breitbeinig zu rocken und gleichzeitig verletzlich und sensibel zu wirken  - warum die Heerscharen, die nach dem offiziellen Ende des Grunge auf der Suche nach ihrem musikalischen Methadon waren und Ende der 90er und Anfang der 00er Jahre die Musik von beispielsweise Queens Of The Stone Age und Blackmail in die Charts gewuchtet haben, dem Exil-Berliner Clemmons und seiner wie gewohnt supertight aufspielenden Truppe (Jan Hampicke, James Schmidt, Steve Cordrey und Anne de Wolff) nicht schon seit Jahr und Tag die Bude einrennen, ist eines der großen Rätsel der Rockmusik. Und wenn Du jetzt denkst, dass ich damit ja wohl mal viel zu dick auftrage, dann hast Du weder "Chasing California" noch "The Perfect Life" gehört. Ganz zu schweigen von "Generation Vulture".

Dann bist Du das Problem.

Harte Wahrheiten, supersexy formuliert: eine meiner großen Stärken.

"Generation Vulture" traf im Herbst des vergangenen Jahres mit voller Wucht auf sämtliche Nervenbahnen und bretterte über holprige Wald- und Wiesenwege direkt in mein emotionales Schmerzzentrum. Es bebt. Es brodelt. Es zittert, beißt, kratzt, streichelt, küsst. Und es lebt.

For fuck's sake: ES LEBT!

Im Laufe der letzten drei Monate hat sich die im ersten Text aus dem Dezember 2016 angedeutete Trilogie des Albums stärker herausarbeiten lassen; inhaltlich nimmt "Generation Vulture" eine aus dem Wut- und Frustrationszirkel stammende Entwicklung über Rebellion, Enttäuschung, Klarheit, Akzeptanz und einem kleinen Spritzer Optimismus (Huch!) mit erschütternd ernsthaft vorgetragener Leidenschaft. Unbestrittener und sich über die guten acht Minuten immer weiter hochschraubender Drama-Höhepunkt ist weiterhin "Humanity, The Lie", der vielleicht beste Song, den die Band bislang geschrieben und aufgenommen hat. Ein kathartischer, reinigender Moment. Wie eine wochenlange Reikibehandlung aus flüssigem und purpurnem Stahl, der vom Scheitel bis zur Sohle durch Körper und Geist fließt.

Ein bemerkenswertes Lebenszeichen einer bemerkenswerten Band.







Erschienen auf Supermusic, 2016

11.02.2017

2016 ° Platz 12 ° Oliver Schories - Relatively Definitely



"But honestly, since I make music I never heard any DJ play one of my original tracks." (Oliver Schories)

Ich kann nicht mehr genau sagen, warum das letzte Album des "Bremeners" (Thomas Berthold) lediglich in meiner 2015er Nachzügler-Liste und nicht etwa unter den nominell 20 besten Scheiben des Jahres auftauchte - da hätte es gar nicht mal so irre streng genommen nämlich hingehört. Der Sommersoundtrack 2015 wurde zweifellos zu einem ziemlich guten Stück von "Fields Without Fences" bestritten, einem schwül-flirrenden Gemisch aus Techno und wärmenden Downbeatsounds, das die Sonne immer nochmal ein bisschen heller und heißer machte. Jedenfalls: das passiert mir nicht nochmal! 

Nur ein knappes Jahr nach "Fields Without Fences" erschien mit "Relatively Definitely" gleich die nächste Zusammenstellung von Songs, die Schories als persönliches "Best Of" betrachtet, und erneut bin ich total verschossen. Seine Tracks sind nicht für die Tanzfläche, sondern für Abende vor dem Plattenspieler oder für lange und nächtliche Autofahrten gemacht - also genau das, was neben Lohnarbeit, Katzenklo und Decke anstarren mein Leben zu einem Großteil ausmacht. Und wäre Herr Dreikommaviernull nicht ganz so unfähig gewesen und hätte er also die MP3s von "Relatively Definitely" ordentlich getaggt, wäre das Album sicherlich in den Top 5 der meist gehörten Platten auf meinem überraschenderweise immer noch existenten Last.Fm-Profil  aufgetaucht. Die größte Stärke von Schories ist sein Spiel mit eingängigen Melodien, dieser unwiderstehlichen Straight-Forward-Attitüde der stoisch durchgebummsten (Huch!) Bassdrum und vor allem den daraus entstehenden Stimmungen der Tracks. Melancholisch? Ja, aber irgendwie nicht so richtig. Happy Frohsinn-Feuerwerk? Dafür sind andere zuständig. Drive? Aber Hallo! Positive und relaxte Vibes? Wie ein Abend mit stundenlangem Oralsex auf der zwei mal zwei Meter großen Partypizza. Und der Mann hat im Jahr 2016 ein paar ganz dicke Parties gefeiert: 108 Shows und 146 Reisetage auf vier Kontinenten. 

"Quality will find its way" lautet das Motto. Was ja auch ein Grund dafür ist, warum ihr das hier gerade lest. 





Und für die nächste Gartenparty im Sommer 2017 sein Set beim letzjährigen Bespoke Musik Sunset Boat Festival in New York:




Erschienen auf SoSo Records, 2016.

17.01.2017

2016 ° Platz 16 ° Merrin Karras - Apex




Als hätte Jean-Michel Jarre im Jahr 1978 mit Lachgas und Valium herumexperimentiert, während er im Spiegelsaal die Stroboskopanlage testete: "Apex" ist ein futuristisches Sedativum im Breitbandkinoformat, dramatisch auf die ganz große Bühne gezaubert und bis ins letzte Byte durchchoreografiert.

Die acht experimentellen Kompositionen des Wahlberliners Brendan Gregoriy bilden dabei ein perfektes Bindeglied zwischen der Berliner Schule um Künstler und Pioniere wie beispielsweise Klaus Schulze oder Manuel Göttsching und einem visionären, melodisch versierteren Ambient-Entwurf, dessen Ausprägungen im Sounddesign und in seinen Arrangements sowohl komplexer als auch bildhafter sind. "Apex" baut die Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft.

Und darüber hinaus sieht es mit dem wunderbar gestalteten Coverartwork und den beiden türkisfarbenen Vinylscheiben auch noch ganz ausgezeichnet aus.





Noch mehr über "Apex" lesen? --> Klick!

Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2016.

10.01.2017

2016 ° Platz 18 ° Qluster - Echtzeit




Manchmal erlebe ich mit diesem Blog echte Überraschungen. Seit über neun Jahren schreibe ich hier über den Kessel Buntes in meiner Plattensammlung, der so kohärent wie der Inhalt eines explodierten Aktenvernichters ist, und wenn der weltbeste Leser aus dieser Einlassung eine gewisse Zufriedenheit herauslesen mag, dann liest er richtig: erstens sind neun Jahre eine ganz schön lange Zeit, und es gab dennoch nur ganz wenige Momente, in denen ich den Sinn hinter all dem mit einem Achselzucken und dem Gedanken an eine Liquidierung des Blogs hinterfragen und quittieren wollte. Zweitens ist es einer wie auch immer gearteten, aber zumindest engeren Leserbindung ziemlich bis sehr abträglich, an einem Tag etwas über Justin Timberlake zu lesen und vierundzwanzig Stunden später den virtuellen Kniefall vor einer asozialen Thrash Metal Band mit Texten wie "I teach you a lesson in violence" zu bestaunen - und trotzdem sehe ich keinen Grund, daran etwas zu ändern. Hier ist mein musikalisches Leben zu finden, und ich genieße auch heute immer noch die enge Auseinandersetzung mit den vorgestellten Platten - vor allem, weil es mich vor dem endgültigen Versumpfen in Lohnarbeit und der damit verbundenen Aufzucht eines veritablen Burn-Out-Syndroms bewahrt. Weshalb es mich gleichfalls und nach wie vor nicht über Gebühr belastet, dass die Leserschaft auch nach neun Jahren sehr übersichtlich ist. 

Und doch gibt es Momente, die jene sorgfältig konstruierte und eben erklärte Luftblase, dass also sowieso niemand den Krempel liest und ich fröhlich, unaufgeregt und vor allem: vermeintlich unbeobachtet meine Kreise ziehen darf, zum Platzen bringen. 

Kurz nachdem ich meinen ersten Erfahrungsbericht zu Qlusters neuem Album "Echtzeit" veröffentlichte und mich darin über die nicht ganz perfekt gelungene, weil an manchen Stellen kratzende Vinylversion beklagte, erreichte mich tatsächlich eine Email von Qluster-Mitglied Onnen Bock, in der er sich einerseits für die warmen Worte bedankte, andererseits aber auch sein Bedauern über den Zustand meiner Schallplatte ausdrückte - und mir anbot, ein neues Exemplar aus der zweiten Auflage auf den Weg Richtung Last Exit Sossenheim zu schicken. Ich war zunächst für vier Tage "star struck" und beinahe in Schockstarre, bevor ich mich traute, zu antworten. Konnte ich das annehmen? Dass der Mann mir kleinem Blog-Pimpf einfach eine neue Platte zuschickt? Auch noch geschenkt? Soll ich sie ihm bezahlen? Oder wenigstens des Versand übernehmen? Das geht doch so nicht, der kann doch nicht einfach.....doch, er konnte: eine Woche später hielt ich das neue Exemplar in meinen Händen. Das Exemplar einer Platte, deren Musik so kontemplativ, überlegt, suchend und vor allem in den scheuen, aber dennoch kräftig auftrumpfenden melodischen Momentaufnahmen so prägnant ist, dass sie zu den meist gehörten Alben des Jahres zählt. Und zu den besten sowieso.

Vielen Dank, Qluster.
Vielen Dank, Onnen.
Und die neue Platte klingt wirklich besser. 




Erschienen auf Bureau B, 2016.


09.12.2016

Resurrection




JUD - GENERATION VULTURE


Trump wird Präsident der USA und Jud bringen ein neues Album raus - beides wäre noch vor wenigen Monaten völlig undenkbar gewesen. Während die Wahl der faschistischen "Whiny Little Bitch" (Bill Maher) nebst der Nominierung rassistischer, antisemitischer, christlich-fundamentalistischer Blowhards für weitere Regierungsposten selbst im weit von Washington entfernten Sossenheim für eine Familienportion Depressionen sorgte, breitet sich in Sachen "Generation Vulture" zunehmend große Freude aus. Die letzten zwei Wochen im Hause Dreikommaviernull standen eindeutig im Zeichen dieses völlig unverhofften Comebacks, und die Anmerkung in meinem Textlein zur "Doppelgängers EP" von The Life And Times, dass also ebenejene gemeinsam mit "Generation Vulture" meinen Rock'n'Roll für die nächsten Monate bestimmen werden, kommt nicht von ungefähr: beide Bands haben die alte Schule besucht, in der Tiefgang, Komplexität, Groove und Melodie im Prüfungsfach "Klischeefreie Rockmusik für die Überlebenden der 90er Jahre" abgefragt und bewertet werden und bestehen jede noch so schwere Prüfung schon seit Jahren mit einem Extrasternchen.  

Immerhin satte acht Jahre liegen zwischen dem letzten Werk "Sufferboy" und "Generation Vulture" und obwohl Bandchef David Judson Clemmons auch während dieser acht Jahre neben seinem in Berlin ansässigen Antiquitätenladen musikalisch immer noch und meistens mit Soloauftritten aktiv war, durfte man nicht zuletzt wegen der vermutlich sehr übersichtlichen Verkäufe des Vorgängers wirklich nicht mit einer Auferstehung rechnen. Jud waren irgendwie immer die Vergessenen und selbst dann, wenn der Zeitgeist ihnen eigentlich wohlgesonnen war, tat sich auf der Popularitätsskala so gut wie gar nichts. Schon das Debut "Something Better", immerhin von Korn/Sepultura/Slipknot-Knöpfchendreher Ross Robinson klanglich vollveredelt, ging 1996 trotz dezenter Indie- und Alternative-Schlagseite völlig unter, die beiden Nachfolger "Chasing California" und "The Perfect Life", beides glasklare 10 Punkte Klassiker aus dem viel zu oft zitierten Bilderbuch, konnten an jenem Zustand gleichfalls nichts ändern; dabei hätte gerade "The Perfect Life" mit seinen melodisch verschrammelten Powerindiedoom mit dem Tiefgang eines Ozeandampfers doch wirklich für einen Achtungserfolg sorgen können. Aber es tat sich nichts. Gar nichts. 

Ob sich das Bild mit "Generation Vulture" ändern wird, ist höchst zweifelhaft - und wieder bleibt festzuhalten, dass der Band qualitativ nichts, aber auch so gar nichts vorzuwerfen ist. Über drei Jahre wurde penibel an dem neuen Werk gearbeitet und man hört es "Generation Vulture" zu jeder Sekunde und im allerbesten Sinne an. Die Produktion ist mehr als nur state of the art - ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich zuletzt ein so imposant in Szene gesetztes Album einer Rockband hörte; einer Indieband zumal, die nicht von Majors, A&Rs und Managern mit ein paar Scheinchen aus der Megaseller-Schatulle gefördert wird. Glasklar, druckvoll, bretthart - und doch soviel Transparenz und Intelligenz, um ihren ureigenen und einzigartigen Signature-Sound wie einen großen Mittelfinger in Richtung der Legion von talentlosen Nichtskönnern zu schmettern, die sich hinter ihrer totproduzierten Plastikscheiße verstecken müssen. Die sieben Songs, drei davon ungewohnterweise jeweils um die acht Minuten lang, gehören mit zum Besten, was diese Band jemals geschrieben hat: groovebetont wie eh und je, fräsen sich vor allem die ersten drei Tracks "Blind Society", "Where We Come From" und "Summer Of Love" mit monströsem Riffing in jedes Rockerherz, das auch ohne breitgetretene Klischees nicht die Arbeit einstellt, sondern stattdessen lieber das Emotionszentrum aufheizt. Große Gefühle, große Bühne, großer Gummiknüppel. Ich erlebe vor allem in jenen Momenten Gänsehautschauer - and that's the fucking truth! - die sich harmonisch und atmosphärisch deutlich am 1998er Zweitwerk orientieren. "Chasing California" blitzt tatsächlich manchmal durch und das ist deswegen so auffällig, weil nur Clemmons solche Harmonien schreibt. Niemand sonst. Kann auch sonst niemand. 

Freudenschreie. Luftschlagzeug. Luftgitarre. Schmerzverzerrtes, weil mitleidendes und mitlebendes Gesicht. Becker-Faust. Bohlen-Pimmel (gebrochen). Dreifacher Salto mit zweieinhalbfacher Schraube von 28 Meter Turm. Alles auf der Autobahn und bei 140 Sachen. 

Nach "Summer Of Love" folgt eine kleine Zäsur, denn jetzt wird's sperrig und die eigentliche Arbeit beginnt: "Find Us, Heal Us" kratzt erstmals an der acht Minuten Marke und ist eine komplex arrangierte Achterbahnfahrt zwischen Drama und Melancholie. "The Operation" taut erst nach knappen drei Minuten so richtig auf und basiert im Prinzip auf nur einem dreckig gespielten Bluesriff. Dazwischen: viel Schmutz, viel Dreck, ein ganz kleines bisschen Gitarrensolo und ein praktisch komplett durchgeschlagenes Crash-Becken. Und Tiefe. Tiefe, Tiefe, Tiefe. 

Wem über die letzten Jahre mit Streaming, Downloads und kultureller Verwahrlosung die echte Auseinandersetzung mit Musik abhandengekommen ist, muss spätestens hier zwangsläufig die weiße Flagge hissen. "Humanity, The Lie" setzt tatsächlich nochmal einen drauf und ist möglicherweise das Kernstück von "Generation Vulture": über acht Minuten lang türmt sich ein Emotions- und Riffklotz über den nächsten auf, bis das so entstandene Intensitätsgebirge fast schon körperlich erfahrbar wird. Was - außer Pudding in den Beinen und einem signifikant beschleunigten Puls - kann nach einem solchen Hammer noch kommen? Können wir jetzt bitte wieder ein bisschen abkühlen? Ich muss mal an die frische Luft. 

"How The West Was Won" beginnt tatsächlich zunächst etwas dezenter, bis ich inmitten des cleveren, an Postrockgrößen wie Godspeed You! Black Emperor erinnernden Spannungsaufbau spüre, dass die Band schon wieder am nächsten Brocken tüftelt - bis zum finalen Einsturz. Ich will nicht zuviel verraten, aber es endet alles ganz anders. Und plötzlich merke ich, wie viel Sinn das hier alles macht. Wie sich der Kreis nach diesen Songs schließt. 

Are you alone in this world?
And are you ready for the new world war?
Have you decided just what you're gonna fight for?
Are you alone tonight?

Das ist eine große, große Platte. Und ich finde fast keine Worte mehr für die Tragik, dass auch "Generation Vulture" nur von einer Handvoll Eingeweihter gehört und geliebt werden wird. Von denen dafür aber dann umso inniger.





Erschienen auf Supermusic, 2016.



12.11.2016

Klasse M Planet



MERRIN KARRAS - APEX


A Strangey Isolated Place kam mir erstaunlicherweise erst in diesem Jahr so richtig aufs Radar, dafür dann aber durch die Alben von Markus Guentner, Arovane & Hior Chronik und der Zusammenstellung zum Tod des Produzenten Parks mit deutlich zu vernehmendem Nachhall. Das 2008 in England gegründete und mittlerweile nach Nordamerika umgesiedelte Label kümmert sich in erster Linie um Arbeiten aus dem Ambient- und Elektronikspielgarten und hat sich, ähnlich wie beispielsweise Constellation Records für den Postrock, zu einer richtigen Community entwickelt. 

Das Debutalbum von Merrin Karras ist dabei das Werk eines alten Hasen: Brendan Gregoriy, usprünglich aus Irland stammend, aber seit einigen Jahren in Berlin zu Hause, ist in erster Linie und seit gut 15 Jahren unter dem Künstlernamen Chymera im Techno- und House-Umfeld bekannt und hat sich nach einer zähen und aufreibenden Albumproduktion für sein Hauptmoniker mit "Apex" neu ausgerichtet und erstmals ein Ambientalbum veröffentlicht. 

"Apex" ist futuristischer Sci-Fi-Ambient mit kosmischen Synthiesounds, offensichtlich auch unter dem Einfluss von Michael Lopatins Oneohtrix Point Never und, na logo: Klaus Schulze entstanden, mit viel Weite und Raum und einem freien Blick auf den Sternenhimmel. Cineastische Dramatik im Breitbandformat wie in "Elevate", dazu harmonische Schwergewichte wie "Void", Geglitzer für Mondanbeter im abschließenden "Isolation" und weitläufige Verschachtelungen wie im Titelsong machen "Apex" zu einer introvertierten Schönheit im Alufolienkostümchen, manchmal mit zarten Flashbacks an die große Zeit der beiden Schotten von Boards Of Canada wie etwa in "The Veldt". 

Brendan sagt: “I wanted to make something that I could listen to when I travel, something I could enjoy just for what it was." - und ich habe für Euch beides getestet: bei nächtlichen Autofahrten wurde ich alleine wegen des konzentrierten Zuhörens praktisch automatisch zu einer Kapazität auf dem Gebiet der Astrophysik - auch, weil ich es hingenommen habe, wie es ist: eine hochinteressante, tadellos visionäre, komplexe und sehr bildhafte Musik. 




Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2016.

22.09.2016

Astral hinters Licht




QLUSTER - ECHTZEIT


"Und wenn Keith Jarrett diese Platte hört, setzt er sich nie wieder an einen Flügel." schrub ich zu Beginn des Jahres 2013 über "Antworten", den dritten Teil der Qluster "Fragen" - "Rufen" - "Antworten"-Trilogie, und auch wenn der unerbittlich mit sich selbst ringende Schwerstarbeiter unter den Improvisierern diese ganz bemerkenswerte Platte ganz offensichtlich immer noch nicht gehört, oder jedenfalls wenigstens meinen Text noch nicht gelesen hat, empfehle ich hier und heute all' meinen dreikommavier Lesern, selbiges zu tun. Also sowohl das eine, als auch das andere. Stichwort: Jetzt erst recht.

"Echtzeit" ist mittlerweile bereits das sechste Werk von Hans-Joachim Roedelius, Onnen Bock und Armin Mentz und nach dem reinen Klavieropus "Tasten" aus dem letzten Jahr eine Rückkehr zu einer etwas elektronischeren Ausrichtung. Es ist auf jeder Ebene eine leise Rückkehr, was angesichts der bisherigen Alben des Trios indes nicht sonderlich überraschen mag: viel Raum, viel Ruhe. Wenig Bewegung. Aber darüber musste ich nachdenken - stimmt das denn überhaupt? Stillstand? Verharren? Schon alleine aufgrund der Musiker und ihrer Historie ist das eigentlich ein völlig absurder Gedanke, aber "Echtzeit" hat mich ein bisschen ausgetrickst. Qlusters Musik ist so zurückgezogen und so akkurat auf einen Mikrometer Hirnfläche ausgerollt, dass die eigentliche Bewegung, vor allem die in Richtung Herz-Chakra, sich in ein Flirren am Sommerhorizont aufzulösen scheint. Eine aurale Täuschung, die solange die Oberhand gewinnt, bis man "Echtzeit" selbst näher auf die Pelle rückt und den Zoom neu einstellt.

Tatsächlich sind Qluster in ständiger Bewegung und erschaffen unentwegt neue Ebenen und neue Richtungen. Manchmal, nicht oft, lässt sich ein kurzes, vermeitliches Zögern ausmachen, eine kurze Pause zur erneuten Wegbestimmung, zum wortlosen, aber dafür energetischen Gedankenaustausch, bevor wieder eine Idee vor und hinter die nächste und die letzte gesetzt wird. Meistens ist das Resultat solcher Orientierung eine bemerkenswerte, weil unerwartete Melodie. Am besten Nachzuhören auf "Beste Freunde" und "Weg Am Hang". 

Eine Bemerkung zum Abschluss: Zumindest die mir zugesandte Vinylausgabe von "Echtzeit" ging leider wieder in Richtung des Mailorders zurück - ein stetes Kratzen und Zischeln lässt auf eine misslungene Pressung schließen und ist auf einem Ambientwerk durchaus unangebracht. Hier empfehle ich also die CD oder den Download. Streaming kann mich mal. Immer noch. Und meinetwegen auch immer wieder.





Erschienen auf Bureau B, 2016.


08.05.2016

Elaenia



FLOATING POINTS - ELAENIA


Fuck, die ging mir durch die Lappen. Nicht, dass es im Jahr 2015 noch mehr herausragende Musik hätte geben müssen, ich wurde schließlich bestens bedient und mit Klangdukaten aus reinem Gold zugeschissen. Aber "Elaenia", Mann. "ELAENIA"!

Sam Shepherd aka Floating Points hätte ich doch eigentlich auf dem Radar haben müssen. Auf seinem Eglo Label veröffentlichte Shepherd das hier geadelte Debut "Yellow Memories" der britischen Sängerin Fatima und seine zahlreichen EPs und Singles waren mir wenigstens zum Teil ein Begriff. 

"Elaenia" ist nun sein erstes Album, erschienen im November 2015. Ein Amalgam aus Jazz, Ambient, Klassik und elektronischen Sounds der Berliner Schule, ätherisch wie die späten Talk Talk, diffus wie eine Nebelbank im November in Manchester, opulent und mehrdimensional wie ein Fresko von Giovanni Battista Tiepolo, strahlend wie tausend explodierende Sonnen. Fender Rhodes, Geklingel, Geklangel, Geklungel, dazu ein zumindest auf drei Songs aufspielendes echtes Musikerkollektiv mit Bassisten, Cellisten, Schlagzeugern, Chören, Violinisten aus Fleisch und Blut, das beim abschließenden Getöse von "Peroration Six" das Ensemble gar in Richtung Free Jazz führt. 

Davor gibt es Experimente und Lektionen in Klang und dessen -Design, in der Darstellung von Ebenen, Fluchtpunkten und Dimensionen und einem geradezu manisch anmutenden Hang zur perfekten Detaillierung. Ganz besonders deutlich wird das in den den sehr leisen, beinahe nicht mal wahrnehmbaren Momenten dieser Platte, wie beispielsweise im atemberaubenden Titelsong, zu dem nur ein Stück Holz mit der Empathie eines Gullideckels mit den Schultern zucken würde.

Ich darf an dieser Stelle ausdrücklich die Vinylversion von "Elaenia" empfehlen, die mit extraguter Pressung, extragutem Sound und geschmackvollen Design glänzt. 

Eigentlich schon jetzt ein Klassiker. 


Das hier ist die für das Video stark editierte Version von "Silhouettes":





Und dies ist die ungekürzte Fassung:



Erschienen auf Eglo Records, 2015.


07.04.2016

Atlantis




BIODUB - FAMILIAR WARMTH


Eine Platte, die unter normalen Umständen und mindestens in der Aufstellung für die "Nachzügler 2015" gelandet wäre, unter "strengen Maßstäben" (Schäuble) hätte sie sich aber genauso gut gleich in den Top 20 platzieren können. Aber die Umstände sind eben nur selten normal und strenge Maßstäbe kommen mir per se nicht ins Haus.

Meinen ersten Kontakt mit Patrick Wurster aka Biodub hatte ich im Sommer 2011 mit seinem Debutalbum "Reisegefährte", einem verhältnismäßig straighten Dubtechno-Album, das bei Genrefreunden - und damit auch bei mir - einige Anerkennung erfuhr; die Platte lässt sich auch heute noch regelmäßig in meiner Playlist finden. Vier Jahre später erschien nun also im letzten Sommer das zweite abendfüllende Werk "Familiar Warmth" auf Tiefenrausch und die Weiterentwicklung seines Sounds ist bereits nach wenigen Minuten immanent: Mehr Ebenen, mehr Winkel, mehr Perspektiven. Die Hinzunahme des Reggaesängers Ray Darwin und des Gitarristen Chriz the Wiz öffnen das gesamte Bild des Albums, das stilistisch sowieso über das hinausgeht, was in diesem Genre viel zu oft als status quo anerkannt und protegiert wird. Ich schrieb neulich über Oliver Schories, dass ihm mit seinem aktuellen Werk "Fields Without Fences" ein tatsächliches Album im Sinne einer Story gelungen ist. Ich kann gleiches über "Familiar Warmth" sagen: immer kohärent in der Ausgestaltung des Kontextes zu einem zusammenhängenden Dickicht, dabei absolut konsequent und mutig außer der Reihe.

Biodub sagt über seine Musik, dass sie im besten Fall sowohl im Club als auch im heimischen Wohnzimmer funktionieren soll. Diesen Spagat, an dem so viele Produzenten in der elektronischen Musik scheitern, bekommt "Familiar Warmth" ohne sicht- und hörbare Strapazen auf die Reihe. 




Erschienen auf Tiefenrausch, 2015.


19.03.2016

Kanaworms - Die Nachzügler 2015 (3)



OLIVER SCHORIES - FIELDS WITHOUT FENCES


Schrägness is the new geil. Und wenn einer nicht schräg ist, nicht dunkel, geheimnisvoll und extravagant, dann schreiben Menschen seltsame Sachen. "Fields Without Fences" sei belanglos, weichgespült, die Wichser von Springer nennen es dezent despiktierlich gar "Funktionsmusik", fügen aber immerhin noch ein "auf Weltklasseniveau" zu. Wie sich die Grenzen doch verschoben haben. 

Dabei lasse selbst ich an "Plätscherschtronika" (Connaisseur_M) kaum ein gutes Haar, und es gibt genug prominente Beispiele aus den letzten Jahren, die das heimische Plattenregal nach nicht allzu langer Zeit wieder verlassen mussten. Aber was sollte das alles mit Oliver Schories und "Fields Without Fences" zu tun haben? Natürlich bratzt hier keine Unterwasser-Avantgarde durchs Grimegestrüpp, kein Dark Ambient-Klumpen durch studentische Existentialistenbuden. Stattdessen lässt "Fields Without Fences" mein Lebensfreude-Barometer im Dreieck springen und versenkt außerdem die zweifellos vorhandene German Gemütlichkeit in einem wahren Tiefenrausch. Die melodische und atmosphärische Bühne, die Schories hier aufzieht und zu meiner Überraschung über die gesamte Laufzeit im Lichtkegel hält - mittlerweile selten genug für ein ganzes Album, egal aus welchem Genre - liefert zu gleichen Teilen Tiefe und Drive - und mehr braucht's eigentlich nicht für ein gutes House-Album. Das dazu passende Lebensgefühl kommt dann gratis frei Haus. 

Lief im letzten "Sahara-Sommer" (Julian Reichelt) über Tage auf Endlosschleife, während ich mir die Tüte mit dem Tiefkühlrosenkohl zur Abkühlung auf Stirn, Wämpchen und Pumu legte.





Erschienen auf SOSO, 2015. 

04.02.2016

2015 ° Platz 8




VOICES FROM THE LAKE - LIVE AT MAXXI


Donato Dozzy und Guiseppe Tillieci haben für ihre Performance im MAXXI Kunstmuseum in Rom die vom Debut bekannten Dubtechno-Beats in der großen Kiste mit den vielen Ideen gelassen und als Ersatz die noch größere Kiste mit den noch viel, äh, vieleren Ideen geöffnet - eine Schatzkammer des Sounds. "Live At MAXXI" klingt unverschämt gut, so weit und klar, so breit und tief. Ich glaube nicht, dass ich im Jahr 2015 besser klingende Musik gehört habe. 

Ich kann nur erahnen, was es benötigt, um als Musiker an einen solchen Punkt zu gelangen. Dozzy und Tillieci sind für ihre akribische Auseinandersetzung mit Sound und -Design bekannt, was sich sowohl auf ihrer selbstbetitelten ersten Platte als auch auf den Arbeiten ihrer anderen Projekte abseits von Voices From The Lake hören lässt. Mit "Live At MAXXI" geht das Duo gleich mehrere Schritte weiter. Auch deshalb, weil sie bis auf wenige, im Gesamtbild des Werks beinahe untergehenden, Momente auf die klassischen Beats verzichteten - das verärgert die Peer Group, die von ihren Helden doch bitteschön immer und immer wieder dieselbe Suppe vorgesetzt bekommen möchte. Aber wer Ohren hat, der höre, denn diese Platte ist ein Meisterwerk des hypnotischen Ambients: jedes noch so kurze Rascheln, jedes Zucken, jede Fläche, jedes Funkeln, jedes Gluckern hat seinen Platz in diesem Universum, flüstert ins Ohr, reibt sich, fließt, schaukelt, und arbeitet nur auf diesen einen großen Moment hin, auf den "Live At MAXXI" ab der ersten Sekunde ausgerichtet ist. Die abschließende Coverversion "Max" von Paolo Conte ist der himmel-, seelen- und herzaufreißende Höhepunkt. 

Glücksgefühle, Gänsehaut, Freudentränen. 






Erschienen auf Editions Mego, 2015.