Segues 2013 erschienenes Album "Pacifica" war sowas wie ein Überraschungserfolg im Nischensegment Dub Techno und Ambient; immerhin ließ das Label Silent Season verlauten, man sei von der Geschwindigkeit, in der die 300 gepressten CDs ausverkauft waren, auf dem falschen Fuß erwischt worden. Die kurz darauf folgende Veröffentlichung der LP war ebenfalls in nullkommanix aus allen Katalogen gestrichen und wurde erst fünf Jahre später neu aufgelegt - und Neuauflagen sind für ein Label wie Silent Season alles andere als selbstverständlich. Vor diesem Hintergrund wäre die Nennung von "Pacifica" in meiner "Das Beste des Jahrzehnts"-Aufstellung sicher kein Fehler gewesen. Mal ganz davon abgesehen, dass es ganz zweifellos eine sehr tolle Platte ist.
Es hat allerdings seinen Grund, weshalb ich vor einigen Jahren im Review zu "Over The Mountains" schrieb, das Album müsste "bald in einem Atemzug mit "Music Has The Right To Children", "Amber" und "Substrata" genannt werden": Jordan Sauer wagt sich auf seinem zweiten Album auf Silent Season weiter ins offene Wasser hinaus als zuvor und eröffnet sowohl seinen Sounds als auch seinen Zuhörern völlig neue Perspektiven auf das Leben, die Natur, den Geist und die Seele - und krempelt damit im Prinzip ein ganzes Genre auf links. So wie es eben alle Großen tun. Die klangliche Ästhetik seiner Produktionen, die sehr geschmackvollen und bildhaften Sounds, die nach sattem, im milchigen Morgendunst liegendem und in Nebel gehülltem Grün klingen, nach verschlungenen und unberührten Pfaden durch mystische Wälder, sind völlig einzigartig, erhebend und inspirierend.
Niemand klingt so wie Segue.
Haben wir eigentlich alle schon geschnallt, wie glücklich wir uns mit dieser Musik schätzen können?
Ich spreche zwar oft davon, aber ich konnte mich bislang noch nicht dazu durchringen, die besten Platten der 90er Jahre auf die virtuelle Schiefertafel zu hämmern (wegen Phlegma, Apathie, Sauerteigbrot, Ficken - Zutreffendes bitte durchstreichen). Wenn ich es allerdings täterätääääte, dann wäre "Afraid Of Sunlight", das 1995er Album dieser britischen Progressive Rock-Institution, ohne auch nur den Hauch eines Zweifels in der Auswahl enthalten - womit sich der dreikommaviernull Dekaden umspannende Blogkreis schließen würde: Marillion wären damit die einzige Band meines musikalischen Universums, die in jedem Jahrzehnt ihrer Platten veröffentlichenden Existenz ein Dauerparker auf dem Treppchen ist. Für die 1980er Jahre bleibt das Debut "Script For A Jester's Tear" ungeschlagener Weltmeister in der Disziplin "Genesis 2.0", für die nuller Jahre ist "Marbles" aus dem Jahr 2004 Klassenbester und im just beendeten Jahrzehnt ist es, logo: "FEAR (Fuck Everyone And Run)" - ein Album, das sicher aufgrund seiner Message als auch wegen seiner bewegenden 75 Minuten Musik zu einem - und man muss das so sagen - Überraschungserfolg wurde. Wer sich die beinahe verschwundene öffentliche Anerkennung und Wahrnehmung dieser Band über die letzten dreißig Jahre hinweg vor Augen und Ohren hält, mit all der Ablehnung, der Ignoranz und Frustration, der darf sich angesichts von einer plötzlich erzielten Top 5-Chartplatzierungen für "FEAR" und einer in diesem Zuge ausverkauften Royal Albert Hall durchaus verwundert Augen und Kleinhirn reiben. Vielleicht muss man für eine Erklärung dieses Phänomens ganz tief in die Klischeeschublade abtauchen und das alte Palaver von "zur richtigen Zeit am richtigen Ort" abspulen. An sich glauben. Durchhalten. Das eigene Ding machen.
Und sich ab und an mal so ganz dolle am Riemen reißen, über sich hinauswachsen, ein extradickes Inspirationsbrett bohren und Texte schreiben, die einen zum hemmungslosen Heulen bringen.
So gehört es sich eben auch für die beste Band der Welt.
"Je öfter ich das sage, desto richtiger wird's." (Harald Schmidt).
Wer noch mehr Lobhudelei benötigt und außerdem einen der längsten Texte seit Bestehen dieses Blogs lesen möchte, der schaut HIER vorbei.
Da es aufgrund der (digitalen) Aufteilung von "FEAR" schwierig ist, einen der drei Longtracks ohne Unterbrechungen auf Youtube zu finden, habe ich mich für den zwanzigminütigen Abriss von "The Leavers" vom Livealbum "All One Tonight" entschieden - wer dazu nochmal etwas nachlesen mag, geht HIER entlang.
Jim Matheos und Ray Alder bliesen mir vor vier Jahren den eigentlich längt eingemottet geglaubten Heavy Metal-Marsch zurück ins Haus, und wo das gesagt ist: nicht nur mir! Die Herzallerliebste, schwerem Metall ansonsten nicht über alle Maßen zugeneigt, zeigte sich ebenfalls beeindruckt und hörte vor allem den zentralen Über-Song dieses Albums "The Light And Shade Of Things" über einen kompletten Sommer hinweg täglich auf heavy rotation - in voller Anerkennung des Kults um die Frühwerke der Band seitens der sowieso sehr loyalen Fanbase, ist dieser zehnminütige Wahnsinnstrack vielleicht das Beste, was jemals aus Herz und Hirn der beiden eingangs erwähnten Männer herausfiel.
Folgerichtig sind die zwei auch die Stars dieser Platte. Alder mit seiner unnachahmlich dunkel-aufgerauten, gereiften und nie besser klingenden Stimme und Gitarrist/Songwriter/Kompass Jim Matheos, letzterer aus drei Gründen. Erstens: niemand spielt so wie er. Zweitens: niemand schreibt so wie er. Drittens: Niemand produziert so wie er. Wer hat denn bitte jemals eine besser klingende Metalgitarre gehört als in der Single "Seven Stars" und ihrem in voller Breitseite durchgepeitschten offenen D-Akkord? Eben - niemand!
"Theories Of Flight" ist das beste Fates Warning-Album aller Zeiten.
Einer der härtesten Kämpfe, die ich Ende des vergangenen Jahres mit mir ausfechten musste, war die Entscheidung, "In The Lens" der australischen Band Solo Andata aus der Bestenliste 2016 herausplumpsen zu lassen, und wie so häufig schmerzt die über Tage und Wochen hin-, her- und aufgeschobene und also schlussendlich getroffene Wahl schon zweieinhalb Sekunden später. Wenn ich im Rahmen der Texte zu Purls "Form Is Emptiness" oder Warmths "Essay" davon schrieb, ganze Wochenenden mit diesen Platten verbracht zu haben und die Stopptaste nur zum Schlafen drückte, dann gilt ähnliches auch für dieses Album.
"In The Lens", erschienen auf dem beliebten 12k Label des Ambientmusikers Taylor Deupree, ist indes nicht so offensiv ohrenschmeichelnd wie die beiden genannten Werke aus dem Archives-Labelstall. Das Duo Kane Ikin und Paul Fiocco achtet stets darauf, sich nicht ausschließlich in der auralen Komfortzone aufzuhalten. Das beginnt schon bei der ungewöhnlichen Auswahl der Instrumente, die vor allem dann gerne zum Einsatz kommen, wenn sie bereits kurz vor dem Auseinanderfallen sind und endet (nicht) bei der bewussten Entscheidung für den Einsatz billiger Mikrofone. Zusammen mit vergessenen und verloren geglaubten Archivaufnahmen und krisseligen Field Recordings ist "In The Lens" charmant angeranzt und gibt sein Statement mit viel Natürlichkeit ab, mit einer Besinnung auf Ursprüngliches und Echtes.
Es hat seine Zeit benötigt, um mich auf diesen Lo-Fi Ansatz einzulassen und die kristalline Schönheit zu erkennen, die in ihm steckt - eine Schönheit, die sich in Kombination zwischen den nur kurz aufflackernden, sich aus zunächst beliebig erscheinenden getupften Clicks'n'Glitches herauswürmelnden Melodien und einer romantischen Stimmung von frisch gefallenen Herbstlaub auf von Nebel bedeckten Feldwegen zeigt.
"In The Lens" ist eines jener durchaus seltenen Ambientwerke, die es zulassen, erkundet werden zu wollen - manchmal auch im Tausch mit dem Risiko, über die Klippe zu springen, bevor das ganze Puzzle zusammengesetzt wurde. Wer sich allerdings auf die Suche begibt und kein Gedanke ans Aufgeben verschwendet, wird mit einer reichen, kunstvollen Musik belohnt, die die Lebensfarben wie ein Prisma zunächst zu bündeln und anschließend aufzufächern vermag.
Und die aus meinem Leben nicht mehr wegzudenken ist.
"Wann kommen endlich New Model Army?"
"Noch nicht."
"Mit Dir rede ich kein Wort mehr, Du Penis."
Durch solcherlei via des Schnatterdienstes WhatsApp geführter Dialoge mit Freund Jens musste ich mich geschlagene vier Monate kämpfen, und manchmal war "Penis" noch die charmanteste Art der Beschimpfung. Muss man wissen: der Mann ist seit den achtziger Jahren beinharter New Model Army-Fan - der "Penis" ist es hingegen nicht, allenfalls wohlmeinender Symathisant. Weshalb der Auslöser für den Austausch solcher "Verballiebkosungen" (11 Freunde), der doch schon Ende April abgeschlossene Top 20-Countdown der besten Alben des letzten Jahres, ohne eine Beteiligung von "Winter" auskommen musste. Trotzdem (oder gerade deshalb) muss ich zu dieser durchaus besonderen Platte ein paar Worte verlieren.
Für eine gar nicht so kurze Zeit war meine einzige Verbindung zur Truppe um den immer noch unverwüstlichen Justin Sullivan die Coverversion ihres Hits "I Love The World" der Techno-Thrasher Anacrusis auf deren "Manic Impression" Album. Seltsamerweise hat das trotz deutlicher Zuneigung sowohl zum Songtext als auch zur Coverversion an sich bis vor wenigen Jahren nie ausgereicht, um mich mit auch nur einer der Platten des Originals eingehender zu beschäftigen. Und dabei standen und stehen gleich vier davon im Schrank. Mit "Winter" war es aus zwei Gründen anders. Erstens: Der Titelsong, vorab als erste Single veröffentlicht, machte mich Ohren spitzen: "Winter" ist ein ruhiger, melancholischer und mit dennoch typischem New Model Army Drive ausgestatteter Song, der mich immerhin so begeisterte, dass ich die Band zweitens live im restlos ausverkauften LKA in Stuttgart anschauen wollte - um mir anschließend den "Winter" in die langsam herbstlich abkühlende Wohnung zu holen. Es war eigentlich alles wie früher: die Single hören, Band live angucken, Platte kaufen. Wie oldschool kann man im Jahr 2016 noch bitte sein?
New Model Army geben auf der Bühne nicht die alten, feigen Lappen, die sich nur auf den Erfolg ihrer Hits verlassen und neues Songmaterial links liegen lassen - das Gegenteil ist der Fall: Sullivan ist von den letzten Platten seiner Kapelle gar so angetan, dass er den Schwerpunkt einer New Model Army Show im Jahr 2016 ziemlich eindeutig auf die letzten zwei, drei Alben legt, während ein Klassiker wie "51st State" auch gerne mal aus der Setlist rutscht, weil man einfach keine Lust hat, ihn zu spielen.
"Welche Songs die Zuschauer hören wollen, was die Musikindustrie über uns denkt....lass mich in Ruhe damit! Wir sind New Model Army. Ja, wir sind manchmal scheiße, ja, wir machen Fehler, die wir bedauern, aber wir machen das auf unsere Art und Weise." (Bericht im Deutschlandfunk)
Ganz anders sieht die Sache folgerichtig mit "Winter" aus, von dem live nicht weniger als acht Songs präsentiert wurden, von denen ich an diesem Abend im Oktober also sieben zum ersten Mal überhaupt höre. Und obwohl das ja immer so eine Sache ist, auf Konzerten erstmalig mit neuen und daher also "fremden" Songs konfrontiert zu werden, konnte ich den Kaufreflex nach diesem Samstagabend im Oktober nicht mehr unterdrücken.
Die Erfahrungen mit dem Album "Winter" waren etwas überraschend nicht von jenen mit dem Song "Winter" zu unterscheiden: ich hatte über mehrere Wochen hinweg das starke Verlangen, immer wieder diese Platte aufzulegen und kam zusammen mit der Herzallerliebsten gar zur Überzeugung, einer durchaus besonderen Platte die Aufmerksamkeit zu schenken - auch wenn wir uns beide nicht so recht erklären konnten, woran das lag. Denn diesen Disclaimer muss ich setzen und ich versuche, es nicht all zu despiktierlich klingen zu lassen: normalerweise taucht aktuelle Rockmusik, die sich stilistisch weniger durch überraschende, kreative Ideen als viel mehr durch den sicheren Aufenthalt innerhalb gängiger und konventioneller Genregrenzen definiert, in meinem Leben nicht mehr auf, und wenn man den ganz groben Blick aus 20.000 Fuß zumindest auf meine Erwartungshaltung zu "Winter" richtet, dann blieben mir mit solchen Maßstäben nicht viele Argumente übrig, um diesen Text zu rechtfertigen.
Aber es kam anders, und zwar mit dem Einzoomen und -grooven auf "Winter". Das ist eine hochemotionale Platte mit einfallsreich arrangierten und leidenschaftlich interpretierten Songs, die, von wenigen Ausnahmen zur Albummitte abgesehen, Lichtjahre vom trüben und geradlinigen Schnarchgerocke entfernt sind, mit dem Rockmusiker, ganz egal ob alte Hasen oder vermeintlich junge Gipfelstürmer, seit Jahren ganze Generationen ins Koma säuseln. Justin Sullivan ist auch mit 60 Jahren noch immer ein poetischer Krieger, in dessen Herz Zorn, Leidenschaft, Hoffnung und Liebe toben und der Emotionen und Romantik ganz zentral in seine Songs einwebt. Herausragend sind auf der LP-Version (die übrigens eine andere Songreihenfolge als die digitalen Versionen hat) vor allem die A- und D-Seite: "Winter" beginnt mit dem dramatischen "Beginning", geht von dort ins trotzige "Burn The Castle" und anschließend nahtlos in den grau-schimmernden Titelsong über - alleine diese drei Songs erzählen Dir praktisch alles, was Du über dieses Album wissen musst. Zu großer Form läuft die Band indes ganz zum Schluss auf: "Born Feral" war live mit seinem unwiderstehlichen Tribaldrumming-Outro DER Song des Abends und er ist auch auf "Winter" zweifellos der beste Moment der ganzen Platte. "Weak And Strong" und das balladeske, eindringliche "After Something" beschließen eine beeindruckende Songsammlung einer Band, die wie vielleicht keine zweite so wohltuend eigenständig, kreativ und stur die Erinnerungen an die eigene Vergangenheit ohne eine Spur von Anbiederung in eine Aufbruchstimmung im Hier und Jetzt umsetzt.
Ich wusste bis "Winter" nicht mal, dass ich genau das brauche oder auch nur suche - aber solange man nicht von allen guten Geistern verlassen ist und trüber Zynismus und Kulturpessimismus das Zepter im Oberstübchen schwingen, kann man das unmöglich nicht anerkennen.
Manche Dinge ändern sich offenbar nie. Obwohl ich regelmäßig die heißesten Liebschaften mit neuen Werken des britischen Progrock-Flagschiffs schon hinter mir glaubte, überfallen mich mindestens genauso regelmäßig die Schmetterlinge im Bauch, wenn der Veröffentlichungstermin eines neuen Albums näher rückt; meistens aus dem blanken Nichts heraus und aus heiterem Himmel, getragen lediglich von der Erinnerung an die wahrhaft magischen Momente, die ich über die letzten 30 Jahre mit ihrer Musik verbringen durfte einerseits, und andererseits von der Hoffnung, mich möge - wie in jenem Fall "FEAR" - mindestens so hart, tief und lang treffen wie einst "Afraid Of Sunlight" oder "Marbles".
Marillion sind eine ganz besondere Band für mich, nicht zuletzt, weil ich sie in einer dramatischen und sehr unsicheren Zeit für mich (wieder) entdeckte, als ich nämlich, gerade vom Krebs geheilt, frisch vermählt, arbeitslos und mit Zukunftsängsten so groß wie der fucking Mount Everest, meinen vierwöchigen Kuraufenthalt im tragisch-verschnarchten Bad Rappenau beging und bei einem Spaziergang am zweiten Tag in den Ortskern den Laden des ebenda ansässigen lokalen Fernseh/Video/Elektro-Fachmannes betrat, der offensichtlich gerade dabei war, seine CD-Abteilung zu verschlanken, wenn nicht gleich bis auf die aktuellen Ergüsse der Lustigen Kirmesmasturbanten oder Die Drei Bumsfidelen Zwei komplett aufzulösen und also eine große Auswahl verblüffend günstiger Alben im Angebot hatte. Eines davon war "Anoraknophobia", das 2001er Werk von eben Marillion, und ich rang mir von meinem durch Arbeitslosigkeit, Sozialhilfe und wegen des sechsmonatigen Krankenhausaufenthalts lächerlich zusammengeschrumpelten Budgets die aufgerufenen fünf Euro ab - schließlich hatte Wolfgang Schäfer in seiner Besprechung in der Heavy Metal-Postille "Rock Hard" die Platte mit satten 9.5 Punkten (von 10) bewertet und über den sattgrünen, mit frischem Tau überzogenen Klee des Bad Rappenauers Kurparks gelobt und Schäfers Meinung hatte in meinem Buch zu progressiver Musik durchaus Gewicht. Außerdem fand ich das an die Southpark-Figuren angelehnte Coverartwork superduper. Was soll schon schiefgehen?
Dabei hätte es ganz schön schiefgehen können. Ich vergötterte bis zu jenem Zeitpunkt eigentlich nur eine Platte der Band: das Debut "Script For A Jester's Tear" aus dem Jahr 1983, mit dem ich dank meines Bruders und seiner gut aufgeräumten Plattensammlung schon als kleiner Knirps Bekanntschaft machte, und das in den folgenden Jahren meiner musikalischen Adoleszenz zu einer meiner Inselplatten heranreifen sollte. Den Sängerwechsel von der Identifikationsfigur Fish zu Steve Hogarth im Jahr 1988 und damit drei Studioalben später, nahm ich zwar mit einem viertel Auge wahr, aber die Verbindung zur Band und ihrer Musik war schon früh, praktisch mit dem zweiten Album "Fugazi", abgerissen. Auch die folgenden Megaseller "Misplaced Childhood" und "Clutching At Straws" haben mich emotional nie gepackt und erreicht. Aus damaliger Sicht erscheint es wenig überraschend, dass auch die Alben mit Steve Hogarth, "Brave" und "Afraid Of Sunlight", nichts mit mir anstellen konnten. Das war alles irgendwie ganz nett und als egales Hintergrundrauschen für ein sommerduseliges Sonntagmorgenfrühstück sicher nicht die allerschlechteste Wahl, aber für mehr waren mein Herz und mein Hirn einfach nicht ausgelegt. "Anoraknophobia" war dann der Ohrenöffner in Bad Rappenau, und es passierte zwischen dem Frühstück und dem Wasser-Aerobic-Kurs unter dem Einfluss von 40 Tropfen Novalgin: auf mitgebrachten und daher portablen zwomarkfuffzich Mini-Lautsprechern und meinem Disc-Man erschien mir das Licht, und ich stammelte praktisch im selben Moment über die Telefonleitung zur Herzallerliebsten in Wiesbaden gleichzeitig Worte der Begeisterung und der Überraschung. Sie müsse das unbedingt hören, wenn ich wieder zu Hause bin, das sei ja sensationell toll, und wie gut der singt! Und wie gut das komponiert ist. Und wie sehr mich das zuerst abholt und dann auch noch mitnimmt. Wie sehr mir bei "When I Meet God" die Tränen kommen und wie sehr ich über das alberne "Seperated Out" lachen muss, wie mir das Jahrhundertbreak in der Mitte von "Quartz" nicht mehr aus dem Kopf geht. Gestält von derlei Kopfverdrehung ging ich das Projekt "Entdecke Marillion" in den nächsten Wochen und Monate wieder an.
Und da stehen wir heute immer noch, lediglich vierzehn Jahre, fünf Studioalben, vier Livekonzerte und zwei durchgehuldigte und abgerissene (Knorpelschaden!) Knie später. Selbst wenn mich nicht jede Veröffentlichung des Fünfers seitdem komplett durchdrehen ließ, sind es die Erlebnisse mit Meilensteinen wie eben "Anoraknophobia", "Marbles" aus dem Jahr 2004 und "Afraid Of Sunlight" (1995), die so signifikanten Einfluss auf mein Leben und mich als Menschen hatten und die mich immer wieder zu dieser Band führen wie eine Motte zum Licht einer Straßenlaterne.
Als im letzten Sommer die ersten Informationen zu "FEAR (Fuck Everyone And Run)" durchsickerten, ließ mich vor allem ein Zitat von Keyboarder Mark Kelly aufhorchen:
"Today is the last day of recording for the band. We have set ourselves a deadline of tonight for each of us to submit any last minute additions or changes we would like to see before Mike starts mixing. It’s sounding fabulous already and I don’t think I’ve personally ever been so happy with a Marillion album as I am with this one. In the region of 70 minutes of music, but only 5 songs, it’s an album of big themes and subjects. Lyrically, it’s very serious and dark in places but the music takes you on a journey through highs and lows that rock one minute and are delicate and beautiful the next."
Was man wissen muss, um sich nicht in stupidem "Ha! Eh alles nur Promotion-Geschwätz!" zu verheddern: Kelly ist alles andere als ein Fan der rockigeren Seite Marillions - und ich bin es auch nicht. Ich erinnere mich an ein Interview mit Bassist Pete Trawawas, das ich mit ihm im Foyer des Offenbacher Capitols vor dem abendlichen Konzert im Rahmen der "Somewhere Else"-Tournee führte, und an seine Einlassung, dass Mark die Uptempo-Rocksongs der Kapelle wie "Most Toys", "Hooks In you" oder "Hard As Love" geradewegs hasst. Auch für mich ist jene Seite die Achillesverse der Band, denn sie klingt in solchen Momenten völlig uninspiriert, oberflächlich und nach 08/15-Würschtelrock - und was noch schlimmer ist: sie klingen durchgängig wie die falsche Band am falschen Ort zur falschen Zeit, die obendrein noch die falsche Musik spielt. Sie klingen nicht nach sich selbst. Wenn nun einer wie Kelly über sein Glück und seine Begeisterung über "FEAR" spricht, dann weiß der vermeintliche Kenner: Middle Of The Road-Gerocke wird es nicht zu hören geben, wenn ich bebend vor Spannung das Badewasser einlaufen lassen, um mich "FEAR" hörend in der Herbstbadewanne (Vanille, Patchouli, Schweinebraten, Mohn) kochen zu lassen. No small mercies.
Die ersten Tage mit "FEAR" gestalteten sich indes als überaus schwierig. Ich entschied mich zunächst nach einigen inneren Reichsparteitagen mit dem Kauf des Downloads, um zu prüfen, ob die Vinylversion, nicht zuletzt wegen des angesichts überlanger Songs erwartbar stockenden Albumflusses, überhaupt in Frage kommt - und bekam eine MP3-Version, die sich auf meinem Smartphone damit hervortat, nach jedem Song zunächst mal eine Pause von zwei Sekunden einzuhalten, bevor der nächste Track wiedergegeben wurde. Da sich die Band dazu entschloss, die drei Longtracks "El Dorado", "The Leavers" und "The New Kings" in bis zu sechs Untertiteln aufzuteilen, war der Hörfluss nun auch mit genau jener Version signifikant eingetrübt, mit welcher das Szenario genau hätte nicht passieren sollen. Hinzu kam, dass sich die oben erwähnte Vermutung, "FEAR" würde eher ruhig als rockig ausfallen, tatsächlich bewahrheitete, und was eigentlich ein Grund zum Jubeln war und ist, ergab in der Kombination mit den eben erwähnten Zwangsaussetzern in der Auseinandersetzung ein diffuses, kaum allokierbares Grundrauschen. Ich wusste eigentlich nie, wo die Band und ich jetzt eigentlich gerade waren - nicht nur in welchem Song, sondern auch inhaltlich. "FEAR" verkam zu einem zwar angenehm zu hörenden, aber "höggschd" (Bundesjogi) heterogenen und paradoxerweise gleichzeitig amalgamierten Gemisch aus kurz reingeworfenen und daher im ersten Eindruck strukturlosen Klang- und Wortfetzen. Zu schlechter Letzt bemängelte die Herzallerliebste in jener Zeit auch die vor allem textlich negative und beinahe verzweifelte, gar depressive Ausstrahlung des Albums im Allgemeinen und von Sänger Steve Hogarth im Besonderen.
Je mehr Zeit wir allerdings mit "FEAR" verbrachten, und aufgrund unseres Urlaubs in der ersten Oktoberwoche 2016 verbrachten wir alleine schon auf der hinwegig sechsstündigen Autofahrt eine Menge Zeit mit dem weiteren Erkunden des Werks, desto mehr lösten sich all die Bedenken und Mängelansprüche auf. Je mehr man verstand, desto mehr verstand man, denn "das ist Physik" (Malmsheimer): was gibt es Bereichernderes und Schöneres als ein Album, in das man sich richtig reinknien muss, das Aufmerksamkeit und Beschäftigung verlangt? Mögen sie doch alle ihren billig hingerotzten "Here today, gone tomorrow"-Quadratscheiß über Spotify hören und hektisch weiter klicken, wischen und tippen, wenn es nicht so offensichtlich stumpf produziert ist, um den Dreck nicht schon nach zwei Nanosekunden mitpfeifen zu können.
Ich blieb dran, obwohl ich auch weiterhin und selbst nach zwei Wochen immer noch nicht mal sagen konnte, welcher Teil zu welchem Song gehört. Aber ich spürte, dass hier etwas Großes auf mich wartete - und so zog es mich ständig zu dieser Platte. Gar so häufig, dass die Herzallerliebste sich zu einem überraschten "Du hast die schon_wieder aufgelegt?" hinreißen ließ. Irgendwann war jener magische Moment erreicht, was der nicht ganz so helle Zeitgenosse aus Betriebswirtschaftslehrenhausen womöglich als "Turnaround" bezeichnen würde; dieser Moment, in dem die Platte aus ein, zwei Dezibel Abstand heraus betrachtet plötzlich und fast wörtlich strahlt und ich sie mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Ungläubigkeit anglotze. Der wichtigste Schritt auf diesem Weg war ganz bestimmt "Living In Fear", einer der beiden vergleichsweise kurzen Songs, den ich mitsamt seines Textes erst eines Abends in der Badewanne liegend komplett erfasste, mir dann aber trotz 50°C heißen Wassers eine extradicke Gänsehaut verpasste:
Our wide eyes
Aren't naive
They're a product of a conscious decision
The welcoming smile is the new Cool
The key left in the outside of the unlocked door
Isn't forgetfulness
It's a challenge to change your heart
There's always a price to pay
Living in f e a r is so very dear
Can you really afford it?
We've decided to risk melting our guns as a show of strength
We've decided to risk melting our guns as a show of strength
As a show of strength
Our wide eyes are not so weak
They're a product of a hard-won wisdom
So we will turn the other cheek
The apple pie cooling on the windowsill
Is such a welcome change from
Living in f e a r
Year after year after year
Can we really afford it?
Can you really afford it?
We have decided to start melting our guns as a show of strength
As a show of strength
We decided to leave the doors unlocked, our face unlocked
As a show of strength
We're not green
We're just pleasant
We're not green
We're just pleasant
We're not green
We've decided to start melting our guns as a show of strength
Our wide eyes aren't naive
They're a product of a kind of exhaustion
Will there come a time when we believe
The only way ahead is to put down our arms
When we finally know
The bitter consequence of not doing so
There's such a price to pay
For living this way
Living this way
We don't invite crime
We don't invite crime
Will you let one lost soul change what we stand for?
I don't think so
What a waste of time
The Great Wall of China
What a waste of time
The Maginot line
The Great Wall of China
Chto za trata vremeni
Berlinskaya stena
What a waste of time
Die Berliner Mauer
What a waste of time
What a waste of time
Überhaupt, die Texte. Nach dem peinlichen Komplettausfall "Gaza" vom Vorgängeralbum "Sounds That Can't Be Made" (und wo das gesagt ist, ist auch "Lucky Man" nicht gerade einen Literaturpreis wert) ist "FEAR" ein notwendiges Statement in merkwürdigen Zeiten. Hogarth sagt dazu:
"All worthwhile human impulses come from love. And all negative and destructive human impulses come from fear.
This album is called Fuck Everyone and Run or F.E.A.R.
This title is adopted not in anger or with any intention to shock. It is adopted and sung (in the song "New Kings”) tenderly, in sadness and resignation inspired by an England, and a world, which increasingly functions on an “Every man for himself” philosophy. I won’t bore you with examples, they’re all over the newspapers every day.
There’s a sense of foreboding that permeates much of this record. I have a feeling that we’re approaching some kind of sea-change in the world – an irreversible political, financial, humanitarian and environmental storm. I hope that I’m wrong. I hope that my FEAR of what “seems” to be approaching is just that, and not FEAR of what “is” actually about to happen."
Ich teile Hs Pessimsmus nicht, aber das scheint mir auch nicht wichtig zu sein. Mich beeindruckt viel mehr die Analyse der gegenwärtigen Situation und der Umgang mit dem Phänomen der Angst, diesem Patient Zero menschlicher Totalidiotie und ärgster Gehirnverdrehung. Das moralische Pathos, in das Hogarth klassischerweise immer wieder verfällt und von dem er sich auch auf "FEAR" nicht komplett freisprechen kann, wenn er etwa in "The New Kings VI - Why Is Nothing Ever True" den Romantik-Märchenonkel gibt, der nur einen Luftholer von dem Hinweis entfernt ist, dass ein Brötchen beim Bäcker vor drölfhundert Jahren auch mal nur 2 Pfennig kostete und nicht wie heute in den Erlebnistheken Deiner Aral-Tankstelle 'ne glatte Mark, ist diskussionswürdig und mit etwas Vorsicht zu genießen - aber in meinen Augen auch nicht mehr als das.
Remember a time when you thought that you mattered,
Believed in the school song, die for your country - a country that cared for you
All in it together?
If it ever was more than a lie or some naive romantic notion
Well, it's all shattered now
It's all shattered now
Why is nothing ever true?
Why is nothing ever true?
Why is nothing ever true?
Well do you remember a time when you thought you belonged to something more than you?
A country that cared for you
A national anthem you could sing without feeling used or ashamed
You poor sods have only yourselves to blame
On your knees, peasant
You're living for the New King
You're living for the New King
You're living for the New King.
Nach drei Monaten Leben mit "FEAR" (pun intended), die Liste für die besten Alben des 2016er Jahrgangs war beinahe und bis auf die ersten fünf Plätze komplett und in Reihenfolge gebracht, entschied ich mich dazu, "FEAR" auf den ersten Platz zu setzen. Ich hatte das zunächst nicht vorgesehen, weil die neuen Scheiben von Melanie De Biasio, Warmth, Segue und Esperanza Spalding nun wahrlich nicht von schlechten Eltern und mir über die letzten Monate ans Herz gewachsen sind. Andererseits: warum sollte ich es nicht tun? "FEAR" ist völlig fehlerlos, und auch wenn man Steve Hogarths Stimme die 57 Lebensjahre mittlerweile durchaus hier und da anhört, passt sein dunkleres Timbre zur bisweilen ebenso dunklen, jedoch eher melancholischen Musik besser als jemals zuvor. Und damit ist er auch immer noch der vielleicht beste Sänger aller Zeiten für mich. Und Steve Rothery? Holy Shit, was für ein Gitarrist! Was für ein Sound, was für ein Feeling! Wer diesen Typen nicht in einem Atemzug mit den ganz, ganz Großen nennt, hat ihn nie spielen hören (und sehen).
Hier ein 15 minütiger Zusammenschnitt seiner besten Soli aus der "Out Of Season" DVD. Und wenn Dir nicht spätestens bei den gigantischen Sternstunden von "This Strange Engine" (ab 6:35) und dem anschließenden, das Zeit- und Raum-Kontinuum wegballernde "Neverland" (ab 8:20) nicht sämtliche Sicherungen durchschmurgeln: go fuck yourself!
"FEAR" ist nicht nur das mit Abstand beste Studioalbum der Band seit 12 Jahren, es reiht sich zudem in die großen Alben ihrer Karriere ein und steht für mich gleichberechtigt neben und zwischen "Afraid Of Sunlight" und ihrem 2004er "Marbles" Meilenstein. Dass mich eine Band nach einer so langen, turbulenten und ganz bestimmt nicht einfachen Karriere, in der sie schon mehrfach sowohl kommerziell als auch künstlerisch abgeschrieben wurde, noch derart begeistern und mitreißen kann: dafür gibt es nur eine Entscheidung: "FEAR" ist mein Album des Jahres 2016.
Und obendrauf gibt's den goldenen Flori als Anerkennung für ihr Lebenswerk.
"Blackened Cities" hielt sich über Monate hinweg auf dem Platz an der Sonne auf, auf der Nummer 1 nämlich, also auf dem ersten Rang meiner scheckheftgepflegten Top 20-Liste für die beste Musik des Jahres 2016. Der Verdrängungsdruck wurde ihr tatsächlich erst auf den letzten Metern des Dezembers gefährlich, und wenn hier tatsächlich überhaupt noch irgendwer mitliest und nicht etwa schon bei Platz 13 (des Jahres 2012) ausgestiegen/eingeschlafen/verschimmelt ist, dann erhöht das immerhin nochmal die "Spannung" für die "Nummer 1" auf diesem "Blog". Darauf einen kräftigen Schluck aus der Keramik.
Nun schrieb ich bereits im letzten Juni über das zweite Werk der belgischen Sängerin, nachdem ich es schon vor zwei Jahren für den umwerfenden Vorgänger "No Deal" vegane Schweinehaxen regnen ließ, gerechterweise, wie ich anfügen möchte: Der Text zu "Blackened Cities" ist mir im Rückspiegel möglicherweise etwas schwerverdaulich geraten und mit etwas Mut zum freien Zitat ließe sich dezent provokativ "Kommen sie nächste Woche wieder, dann gibt's auch wieder richtige Plattenkritiken." auf eine alte Ausgabe der Spex (07/2010) kritzeln, aber letzten Endes war es der Ausdruck purer Hilf- und Ratlosigkeit that made me do it: was soll ich über eine Platte schreiben, die mich sprachlos macht? Wie werde ich dieser Musik gerecht? Mit ein paar hingeworfenen Vokabeln des über drei Jahrzehnte angelesenen Schwachsinns aus Musikmagazinen? Oder lieber mit ein bisschen Untergangsromantik im Hipsterformat, so ein bisschen und zaghaft gesellschafts- und konsumkritisch? Für was ich mich entschied, ist nun also immer noch nachzulesen, solange deine Johanneskrautölkapseln das innere Ungleichgewicht, beziehungsweise die neuen Papiertaschen vom Rewe tragen können.
"Blackened Cities" ist eine Sensation, ein aus einer Jamsession im herbstlichen Brüssel entstandener Mammutsong von über 24 Minuten Länge, der hinsichtlich des Arrangements, des Timings und der Atmosphäre zum Besten zählt, was ich jemals gehört habe. Mächtig in seiner Vielfalt und Einzigartigkeit, fragil und intim in seinen klanggewordenen Beobachtungen, der Ansprache, der Stimmung.
Große Worte, jedoch allesamt berechtigt: "Blackened Cities" ist mit nichts zu vergleichen. "Blackened Cities" ist mutig. "Blackened Cities" ist inspirierend.
Vom Licht zart geküsst. Von der Dunkelheit entführt.
Das ist der "Binge-Listening"-Gewinner des vergangenen Jahres. Und das will was heißen, habe ich doch schon ausführlich und also beinahe redundant davon berichtet, wie ausgiebig und pausenlos die letztjährigen Werke von Purl und Halftribe im CD-Wechsler angesteuert wurden. "Essay" hat sie dennoch alle in die Schranken verwiesen. Die Herzallerliebste betont an dieser Stelle die stark ausgeprägte Qualität samt Neigung des Albums, den Zuhörer sanft und schwebend ins Reich der Träume zu begleiten, immerhin sanfter und schwebender als alles andere aus dem Jahr 2016. Sagt sie. Und sie hat, wie praktisch immer: recht.
"Essay" ist, bricht man es auf den eigentlichen Ton herunter, ein Fluss in totaler Ruhe und Kontrolle. Vom Grundrezept der im Hintergrund aufgezogenen Weitläufigkeit mit opulenten, tiefgehenden Soundscapes und hellblau darüber getupften Klangseifenblasen, die majestätisch durch die Szenerie segeln, weicht das Debut des spanischen Produzenten Agustin Mena nur selten ab. Im Ergebnis funkelt "Essay" fast gläsern, wie grob aufs Papier gebrachte Wasserfarbenkacheln, die am Rand nicht scharf begrenzt sind, sondern in Zeitlupe ins Außen strömen. Einnehmend, ausbreitend, übergreifend.
Im Grunde ist das in der Machart nicht so irre weit von den Epen eines Brock van Weys entfernt, aber, und das ist womöglich das Geheimnis dieser Platte, Warmth lässt die Dramatik, die emotionalen Abstürze, das Zitten und Beben vor der Tür. "Essay" wirkt bei aller Tiefe und klanglicher Komplexität nüchtern, in seiner vornehmen und stolzen Elegantia fast schon stoisch. Wie ein Leuchtturm auf offener See, der das wachende und vor allem ruhende Auge im Zeichen der Stürme und der Unordnung ist. Unbeugsam und unkompromittierbar, dafür aber auch ein Retter und Tröster.
Musik, die die Welt gesehen und erlebt hat. Öffnet Geist und Herz.
Obwohl ich die Karriere der US-amerikanischen Bassistin Esperanza Spalding seit dem Album "Esperanza" aus dem Jahr 2008 verfolge und mich ihr scheinbar grenzenloses Talent in bisweilen strenges bis sehr ungläubiges Staunen versetzte - wer es schon nicht mit einer ihrer Studioaufnahmen versuchen will, soll sich bitt'schön recht dringend einer Livebehandlung unterziehen - hat mich bislang noch keines ihrer Alben auf die volle Distanz überzeugen können. Die gerade mal 32-jährige Musikerin war und ist der Shooting Star der Jazzszene, wurde mit Grammys überhäuft und spielte bereits mehrfach für den ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama im Rahmen verschiedener Festivitäten des Weißen Hauses - dass Spalding damit knietief im Jazz-Establishment steht, kann dem weniger Wohlgesonnenen einen gewissen Sicherheitsabstand einnehmen lassen. Tatsächlich waren die bisherigen Alben, darunter die beiden kommerziell erfolgreichsten Werke "Chamber Music Society" und "Radio Music Society" wie gemacht für den Mainstreamigen US-Jazz: etwas bieder, glatt und gleichförmig. Freilich herausragend gespielt und gesungen, ebenso fraglos mit einigen umwerfenden Songs ausgestattet (Tipp: "Black Gold"), aber mir fehlte immer das gewisse Etwas über die gesamte Spieldauer.
"Emily's D + Evolution" ist nun eine deutliche Zäsur ihres Schaffens und es ist in dieser Hinsicht kaum verwunderlich, dass meine Jahresbestenliste bis zu Spaldings fünftem Staudioalbum warten musste, um im Sturm genommen zu werden. Spalding hat sich bewusst neu erfunden und möglicherweise im Rahmen dieses Prozesses den Abnabelungsprozess vom Mainstream eingeleitet - es wäre ihr angesichts der Frische und Klasse dieses Werks wirklich zu wünschen. Esperanza suchte nach neuen Wegen, nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten, nach neuen Konzepten, zog in ihre Heimatstadt Portland um und sich für volle zwei Jahre aus dem Hamsterrad Musikbusiness zurück, um die kreativen Batterien nicht nur aufzuladen, sondern gleich das ganze Akkupack auszutauschen. Spalding agiert auf "Emily's D + Evolution" als die Stimme ihres Alter Egos Emily, die den Hörer dazu bringen soll, die Regeln des Systems in Frage zu stellen und für Frieden und Stille zu kämpfen, um die Verbindung zum eigenen spirituellen Zentrum wieder herstellen zu können.
"Emily "is a spirit, or a being, or an aspect who I met, or became aware of. I recognize that my job … is to be her arms and ears and voice and body."
Auch wenn der Stilwechsel bedeuten konnte, sich aus der eingerichteten Komfortzone mit all den schönen Grammynominierungen zu verabschieden, ging Spalding den Weg erstaunlich konsequent. Unterstützt wurde die Produktion vom langjährigen David Bowie-Intimus und -Produzenten Tony Visconti, dessen Einfluss man hören kann: "Emily's D + Evolution" ist künstlerisch, schräg, intellektuell, offen und damit ziemlich viele Universen von dem entfernt, was sich im Mainstream derzeit tummelt: nicht nur hat Spalding offenbar eine Büchse mit ein paar psychedelischen Muntermachern geöffnet, sondern auch den ihr so oder so lieb gewonnenen Fusion-Sound mit einigen verspulten, bisweilen überraschend harten Gitarrenriffs sehr promiment in den Sound eingebaut. Als hätten Jimmy Hendrix, Frank Zappa, Prince und Joni Mitchell zu einer großen Jamsession im Jenseits eingeladen. Ich persönlich nehme bisweilen noch einen dezenten Einfluss der Rockmusik von Beginn der neunziger Jahre wahr, und sei es nur in der visionären Ausrichtung, der Kühnheit wirklich etwas Neues zu wagen. Ich kann es vermutlich nicht über den eben genannten Rahmen hinaus erklären, aber mir kommen immer wieder die frühen Janes Addiction in den Sinn, wenn es darum geht, die Stimmung dieser Produktion zu beschreiben. Dass mir aber jetzt bloß keiner auf die Idee kommt, "Ritual De Lo Habitual" musikalisch mit Esperanza Spalding zu vergleichen. Wir sind ja nicht bescheuert.
Und weil also kreativer Mut in diesen Zeiten, in denen er zwar nicht ausgestorben, sich dafür aber so rar gemacht hat, dass die Menschen nichts mehr mit ihm anzufangen wissen, und der in der Folge auch gerne mal sanktioniert wird, beispielsweise mit schlechten Verkaufszahlen, hat sich "Emily's D + Evolution" nach dem Erfolg des Vorgängers und dessen zehnten Platz in den US-amerikanischen Alben-Charts, beziehungsweise gar dem ersten Platz in den US-Jazz-Charts, nach einem enttäuschenden 88.Platz sehr schnell wieder von der Billboard-Bühne verabschiedet. Um das auch nur lose einzuordnen: das entspricht etwa 2500 verkaufter Platten in der ersten Woche nach Veröffentlichung. Es werden seitdem nicht gerade Millionen hinzugekommen sein. Oder auch nur Tausende.
Die Kritik und die Sossenheimer Blogbanane indes: jubeln.
Eine vertonte Wanderung durch tiefsten Urwald. Dunst über dem Boden. Feuchtigkeit, Wärme. Es ist schwül. Sonnenlicht schaukelt sich durch Blätter und Äste. Offene Augen, offener Geist, offenes Herz. Manchmal gibt es kein euphorischeres Gefühl, als ganz unmittelbar Schönheit zu erkennen - verbunden mit der Demut, Zeuge davon sein zu dürfen.
Auch wenn in meinem Wohnzimmer keine Jahrhundertbäume durchs Hausdach wachsen, so bleiben als Bild und Gefühl an diesen letzten, vergangenen Sommer die warmen Nächte bei weit geöffnetem Fenster und "Over The Mountains" in Endlosschleife. Ästhetik und Eleganz sind keine Fremdworte für den Kanadier Jordan Sauer, und wo ich schon bei seinem letztes Werk für das kanadische Silent Season Label "Pacifica" (2013) auf die Knie sank, muss ich es hier schon wieder tun. Dabei ist im Detail auf "Over The Mountains" einiges anders und man sieht es mir bitte nach, dass ich zunächst die Genreschubladen öffnen muss: Sauers zunächst etwas obskur anmutende, eigentlich simple und hypnotische Melodien, sein damit verbundenes raffiniertes Spiel mit Harmonien, seine Rhythmik und nicht zuletzt das Klangdesign seiner Sounds haben mit Dub Techno nicht mehr viel zu tun. Sie sollen mehr als alles andere Bilder erzeugen. Vielleicht ein Gefühl von Sehnsucht? Ganz bestimmt viel Licht - und es scheint, als sei alles auf "Over The Mountains" sorgfältig genau darauf ausgerichtet.
Ich schrub es vor wenigen Wochen schon mal bei Twitter: Hier ist einer, der sich spätestens mit diesem Album ein paar Jährchen vor der Konkurrenz aufhält. So wie es alle großen vor ihm taten. Wenn alles noch mit rechten Dingen zugeht - und wer würde angesichts des abgelaufenen Jahres nicht daran zweifeln - müsste "Over The Mountains" eigentlich bald in einem Atemzug mit "Music Has The Right To Children", "Amber" und "Substrata" genannt werden.
Ein umwerfendes, naturverbundenes Werk voller Schönheit und Introspektion.
Meine ausführliche Besprechung zu "Generation Vulture" ist keine 100 Tage alt, und die in jenem Text induzierten Hellseherfähigkeiten des stets leicht vertstrubbelten Bloggers aus Dreikommaviernullhausen hinsichtlich der möglicherweise übersichtlich angelegten Erfolgsaussichten dieses Comebacks muss ich nicht mal in meinen Lebenslauf eintragen. Jud waren schon fast immer die Übersehenen - und sollte nicht ein kleines Wunder geschehen werden sie es auch für fast immer bleiben. Und wie auch immer ich es versuche zu drehen: ich komme nicht dahinter, warum das so ist. Extraorginell, hochemotional, klischeefrei, smart, in der Lage, breitbeinig zu rocken und gleichzeitig verletzlich und sensibel zu wirken - warum die Heerscharen, die nach dem offiziellen Ende des Grunge auf der Suche nach ihrem musikalischen Methadon waren und Ende der 90er und Anfang der 00er Jahre die Musik von beispielsweise Queens Of The Stone Age und Blackmail in die Charts gewuchtet haben, dem Exil-Berliner Clemmons und seiner wie gewohnt supertight aufspielenden Truppe (Jan Hampicke, James Schmidt, Steve Cordrey und Anne de Wolff) nicht schon seit Jahr und Tag die Bude einrennen, ist eines der großen Rätsel der Rockmusik. Und wenn Du jetzt denkst, dass ich damit ja wohl mal viel zu dick auftrage, dann hast Du weder "Chasing California" noch "The Perfect Life" gehört. Ganz zu schweigen von "Generation Vulture".
Dann bist Du das Problem.
Harte Wahrheiten, supersexy formuliert: eine meiner großen Stärken.
"Generation Vulture" traf im Herbst des vergangenen Jahres mit voller Wucht auf sämtliche Nervenbahnen und bretterte über holprige Wald- und Wiesenwege direkt in mein emotionales Schmerzzentrum. Es bebt. Es brodelt. Es zittert, beißt, kratzt, streichelt, küsst. Und es lebt.
For fuck's sake: ES LEBT!
Im Laufe der letzten drei Monate hat sich die im ersten Text aus dem Dezember 2016 angedeutete Trilogie des Albums stärker herausarbeiten lassen; inhaltlich nimmt "Generation Vulture" eine aus dem Wut- und Frustrationszirkel stammende Entwicklung über Rebellion, Enttäuschung, Klarheit, Akzeptanz und einem kleinen Spritzer Optimismus (Huch!) mit erschütternd ernsthaft vorgetragener Leidenschaft. Unbestrittener und sich über die guten acht Minuten immer weiter hochschraubender Drama-Höhepunkt ist weiterhin "Humanity, The Lie", der vielleicht beste Song, den die Band bislang geschrieben und aufgenommen hat. Ein kathartischer, reinigender Moment. Wie eine wochenlange Reikibehandlung aus flüssigem und purpurnem Stahl, der vom Scheitel bis zur Sohle durch Körper und Geist fließt.
Ein bemerkenswertes Lebenszeichen einer bemerkenswerten Band.
Purls "Stillpoint" war im Jahr 2015 mein Album des Jahres. Sein Debut für das kanadische Label Silent Season beschrieb ich damals als "die schönste, beruhigendste, hell funkelndste, strahlendste, melancholischste, bittersüßeste, reichste Musik des vergangenen Jahres" und ich bin versucht, ähnliches über "Form Is Emptiness" zu schreiben. Eben mit dem Unterschied, dass es seine erste Veröffentlichung für das spanische Label Archives in diesem Jahr zwar nicht auf die Pole Position, dafür aber immerhin unter die Top Ten geschafft hat. Ich weiß, es geht hier nicht in erster Linie um schnöde Zahlen und Platzierungen, aber es liegt mir etwas daran, das weiter zu differenzieren.
Wenn ich in meiner Einführung zum Top 20-Countdown möglicherweise etwas arg dramatisch davon berichtete, die Entscheidungen hinsichtlich der Auswahl der besten Alben für das Jahr 2016 seien hart und härter als jemals zuvor gewesen, dann ist das keine Übertreibung; noch furchtbarer rang ich aber mit mir und den tatsächlichen Platzierungen, und zwar in einem Ausmaß, das mich erstmals daran denken ließ, den Countdown mal schön Countdown sein zu lassen und stattdessen eine alphabetische Reihenfolge zu präsentieren. Ich kam nach ein paar Wochen (sic!) wieder davon an - man muss sich ja auch mal entscheiden können - aber es zeigt auch, wie ungerne ich eine Platte wie "Form Is Emptiness" in den Plätzen 10 bis 20 vergraben wollte. Eine Platte, die, und das werden wir im weiteren Verlauf dieses Wahnsinns noch öfter lesen, manchmal ein ganzes Wochenende im Hause Dreikommaviernull durchlief. Auch das ist keine Übertreibung. Ich knipste sie beispielsweise an einem Samstagmorgen zum ersten und ritualisierten Kaffee mit der Herzallerliebsten an, stellte den CD Player auf Repeat und schaltete ihn erst tief in der Nacht zum Sonntag wieder aus - nur um das Prozedere am Sonntagmorgen exakt so zu wiederholen.
Es ist eine von Ruhe und Schönheit geküsste Musik, die jeden Raum des Hauses mit Licht und Liebe flutet und mich meinen Mittelpunkt finden lässt. Es ist ganz offensichtlich, dass mein Geist im vergangenen Jahr nach jeder sich bietenden Möglichkeit suchte, um in sich zu gehen und sich gleichzeitig damit auszuklinken. Durchzuatmen. Einen Ort des Friedens zu betreten. Weit weg von Emails, Telefonen und Exceltabellen, ohne Druck, den selbstgemachten zumal, und ohne Verantwortung. Einfach nur die Liebe meines Lebens, die Katze, der Hund und eine heiße Tasse Kaffee auf der Couch. Dazu lief "Form Is Emptiness" mit seinen so sensibel und delikat kuratierten Soundscapes und diesem im Hintergrund pumpenden Puls des Lebens.
Das waren meine schönsten und gleichzeitig inspirierendsten Momente im letzten Jahr.
Die Behauptung, "Theories Of Flight" sei das beste Metalalbum des Jahres, wäre kühn - vor allem, weil ich außer des Metal Church Comebacks "XI" kein anderes Genrealbum vollständig gehört habe, und die Wahl angesichts der immer noch schwächelnden Power Metal Legende aus Seattle folgerichtig denkbar einfach war. Darüber hinaus kroch mir aus Kuttenhausen nichts Nennenswertes ins Schallgesimms; der Großteil der Szene hat es sich mit dem Herumkrebsen zwischen der Erwartungshaltung überwiegend stockkonservativer Fans und der gefälligst breitbeinig vorzutragenen Rock-Kirmes seit gut 20 Jahren am kreativen Nullpunkt schön gemütlich gemacht, und solange der Rubel immer noch so schön rollt, wie er rollt, dann rollt man eben mit. Für jemanden, der die Sturm & Drang Phase des Metals in den 1980er Jahren und mit den 1990ern seine Transformation miterlebte, ist die beinahe bodenlose Harm- und Mutlosigkeit von heute auch gleichfalls eine nur schwer anzuerkennende Erinnerung an das eigene Versagen als Fan. So wie Mudhoney nicht akzeptieren wollten, dass sich 15 Jahre später eine Band wie Creed auf sie berief, will ich, der Bands wie Janes Addiction, Judas Priest, Pearl Jam und Possessed, Motörhead und Stone Temple Pilots nicht nur ganz selbstverständlich nebeneinander existieren ließ, sondern sie auch abgöttisch liebte, nicht für Volbeat und Sabaton verantwortlich gemacht werden. Oder dafür, dass die zittrigen Klapperrochen alternden Stars der Szene wie WASP, Scorpions, Metallica, Maiden und Sabbath langsam aber sicher auf die Bühne geschoben werden müssen. Aber wer soll's auch sonst und ohne sie richten, wenn der Nachwuchs derart untalentiert ist?
Angesichts der langen und kritischen Einfahrt in diesen Text ist es lohnenswert darauf hinzuweisen, dass der Status von "Theories Of Flight" nicht damit gemindert werden darf, dass bei tiefstehender Sonne auch Zwerge lange Schatten werfen. Das zwölfte Studioalbum unserer Helden ist auch ein gutes halbes Jahr nach Veröffentlichung noch regelmäßiger Gast in jeder vollstellbaren Abspielvorrichtung im Hause Dreikommaviernull und noch immer ein verlässlicher Auslöser für spitze Jubelschreie und Gänsehautschauer - ausnahmsweise unisono mit der Herzallerliebsten, die bei aktuellem Metal für gewöhnlich noch schneller auf Durchzug stellt als meinereiner.
Am stärksten sind Fates Warning mittlerweile dann, wenn sie ihrem Händchen für große melancholische Momente und Melodien freien Lauf lassen und nicht auf Biegen und Brechen versuchen, "Metal" zu sein (...)"
uns es freut mich ungemein, dass die Band auf "Theories Of Flight" diese Schwachstelle beseitigen konnte, ohne gleichzeitig die 2013 neu entdeckte Wucht der Moderne zu vernachlässigen. Songschreiber und Gitarrist Jim Matheos hat mit seinem Mut zum "kommerziellen Nachwaschen" (Andreas Schöwe) und der damit einhergehenden Fokussierung auf eingängige und dabei weitgehend klischeefreie Melodien Luft und Raum in die Arrangements gelassen und damit vor allem Schlagzeuger Bobby Jarzombek wenigstens gefühlt etwas einfangen können. Ich war bislang kein großer Freund Jarzombeks Stils, musste aber anerkennen, dass die Schuhe seines immer leichtfüßigen und überkreativen Vorgängers Mark Zonders für mich auch ganz besonders groß waren. Dabei ist Jarzombek ein technisch starker und moderner Metal-Schlagzeuger, dessen Bassdrumarbeit auf "Theories Of Flight" in so manchen Momenten ein echter Hinhörer ist - dass mir die Doublebass indes immer noch viel zu oft reflexartig aus der Kiste geholt wird, anstatt sich um eine variantenreichere und interessantere Lösung zu bemühen, ist vermutlich weniger der Faulheit der Protagonisten, als viel mehr den heutigen Genrestandards geschuldet. Es darf einfach keine Lücken mehr geben. Und dort setzte Matheos für "Theories Of Flight" an: Jarzombek hat vor allem in der Beinarbeit immer noch viele Freiheiten und trümmert jedes auch nur entfernt entstehende Soundloch humorlos dicht, dafür hat Matheos seine Kompositionen im Allgemeinen und seine Riffs im Speziellen gestrafft und die Abstimmung mit dem knallharten Druck der Rhythmusfraktion - Joey Vera am Bass und eben Jarzombek - verbessert. Bestes Beispiel sind die beiden Eingängigkeitsmonster "White Flag" und ganz besonders "Seven Stars", die die früheren und mittlerweile über 25 Jahre zurückliegenden Versuche der Band, dank Radiorotation in Dream Theater'sche Erfolgssphären zu gelangen, in Sachen Sound und Hit-Potential geradewegs pulverisieren.
Womit wir beim strahlendsten Faktor von "Theories Of Flight" angelangt sind: Sänger Ray Alder. Ich darf mich erneut kurz wiederholen und einen Auszug aus dem Text zu "Darkness In A Different Light" zitieren - Vorsicht, wir betreten nun den Sektor "Unreflektierte Lobhudelei":
"Alder ist aufgrund seiner Arbeiten in den letzten 25 Jahren für mich einer der zehn besten Sänger der kompletten Szene, und es gibt auch auf "Darkness In A Different Light" Gesangslinien, die in Verbindung mit den Texten eine intellektuelle Tiefe erreichen, die ich schon sehr lange nicht mehr auf einem Metalalbum gehört habe. Ich bin beinahe geneigt festzustellen, dass ihm, nachdem es plötzlich auch im Heavy Metal en vogue geworden ist, auf gute Sänger mit ausdrucksstarken Stimmen keinen gesteigerten Wert mehr zu legen, in kreativer und emotionaler Hinsicht praktisch niemand mehr das Wasser reichen kann - auf der Bühne sieht das bisweilen wegen seines Tabakkonsums etwas anders aus, und der Mann wird schließlich auch nicht jünger. Dennoch: eine Platte mit seiner Beteiligung sollte immer gehört werden. Heute mehr denn je, und sei es nur, damit man sich daran erinnert, wie wichtig, toll und fantastisch eine großartige Stimme auf einer Heavy Metal Platte klingen kann."
Alder singt auf "Theories Of Flight" überragend. Sein Timbre ist über die letzten Jahre aus den erwähnten Gründen sicher etwas dunkler geworden, was seinen melancholischen Melodien und seiner transportierten Tiefe nur zu Gute kommt. Seine Gesangslinien und -harmonien sind in Verbindung mit den Matheos'schen Riffs Sternstunden des Heavy Metals der letzten 20 Jahre und ein nicht enden wollender Garant für fassungsloses Staunen. Er war nie besser als heute. Als Beweis ist die zehnminütige Blaupause eines epischen Longtracks anzuführen: "The Light And Shade Of Things" ist der unumstrittene Höhepunkt von "Theories Of Flight", ein völlig fehlerloses Monstrum eines Songs. Und es ist Ü-BER-RA-GEND gesungen.
Das letzte Metalalbum, das bei mir solche Reaktionen ausgelöst hat, wurde vor 18 Jahren von einer Band namens Dream Theater veröffentlicht und hieß "Scenes From A Memory". Dass mir sowas im Jahr 2016 wirklich nochmal passiert - ich hätte selbst als wahrhaftig schlimmster Höhenangstpatient einen Bungeesprung ohne Seil dagegen gewettet. Ohne "Theories Of Flight" wäre das letzte Jahr wirklich trister gewesen.
Was auch immer das spanische Label Archives im vergangenen Jahr anpackte und also veröffentlichte, es gehörte in meinem Rückspiegel für 2016 zu den bemerkenswertesten Alben des Jahres. Das beginnt bei der Gestaltung der in limitierter Stückzahl - man spricht von etwa 100 Exemplaren pro Titel - angebotenen CDs mit viel ästhetischem Stilempfinden auf die Musik und deren Aussage abgestimmten Artworks, wunderbaren Naturfotos von Wäldern, Pflanzen, Flüssen und Küsten und endet (noch lange nicht) bei der Musik von über die ganze Welt verstreut arbeitenden Künstlern.
Der letztjährige sich in meiner linken Herzkammer abspielende und möglicherweise finale Siegeszug des Ambient wurde nicht zuletzt von Archives im Allgemeinen und "Luxia" im Speziellen angeführt. Manchmal wartet man ja nur auf sowas - diesen einen Moment, der Ohren, Augen und Hosen öffnet und der neue Inspirationen aufsaugt wie ein von jahrelanger Dürre ausgetrockneter kalifornischer Waldboden einen unverhofften Regenguss. Zumindest, wenn die Umstände mitspielen, Set & Setting, und bei mir spielten sie mit. Trotzdem kann ich in diesem Rahmen und bei aller in überdurchschnittlichem Ausmaß vorhandener Selbstreflektion letzten Endes nur spekulieren, warum ich speziell im vergangenen Jahr so oft nur ein leises Säuseln, ein zaghaftes Rascheln, ein friedliches Vogelgezwitscher hören konnte und wollte: mein Geist schrie nach Ruhe. So viel Unruhe, so viel drohender Kontrollverlust, so viel gefühlte Überforderung - da lass' ich mich doch nicht in meiner Freizeit von einem kalten, langhaarigen Stahlbolzen anbrüllen. Oder mir von einem britischen Hipster Saufgeschichten in breitem Cockney-Slang ins Ohr näseln. Oder einer zu lauten Bassdrum aus Technohausen zu viel Aufmerksamkeit schenken.
Ich will ein bisschen Frieden. Eine weiße Gitarre. Und langes, wallendes, mit Timotei auf einer schweizerischen Alm und mit bestem Bergwasser gewaschenes Haar, aus dem sich Ralf Siegel eine Pumuperücke stricken kann.
"Luxia" ist ruhig und beruhigend und lief an so manchem Wochenende über Stunden in Endlosschleife. Angedubbtes, warm gebürstetes Klanggold, das sich um den Nukleus aus weit aufgefächerten Soundscapes wickelt und mit vereinzelten Pianotupfern Struktur im luziden Raum gibt. Ganz besonders beeindruckend: dieser Hauch von intellektueller Kühle und Klarheit in einer ansonsten sehr intimen und weichgezeichneten Umgebung. "Luxia" benötigt keine Rettung aus dem Kitsch, aber es ist gut, ein wenig angedeutete Schärfe zu spüren. Macht klar im Kopf. Befreit den Geist. Macht Spaß zu Hören.
Mein musikalisches 2016 war ein bemerkenswertes Jahr. Dass sich die virtuell mit mir herumgeschleppte Liste mit den besten Platten über das Jahr lässig und beinahe wie von selbst füllte, ist dabei nicht der außergewöhnlichste Punkt; dass sich indes unter den 20 Gewinnern des letzten Jahres eine gar nicht so kleine Anzahl von Alben tummeln, die einen so großen Eindruck auf mich und meinen Alltag der vergangenen Monate machten, die mir so ans Herz gewachsen sind, dass sie aus meinem Leben gar nicht mehr wirklich wegzudenken sind, ist hingegen beispiellos.
"The Oceans Of Ganymede" ist eines dieser Alben. Meinen Sommer 2016 erlebte ich vor allem mit dieser Musik, und es gibt so viele Bilder, die mit ihr verbunden sind: als ich wegen des plötzlich in den Song kriechenden Saxofons in "Fanny" in der heißen Badewanne lag und trotzdem Gänsehaut bekam. Der brütend warme und daher auf der faulen Haut und in eiskaltem Gin Tonic verbrachte Samstagnachmittag, an dem sich die Sonne zwischen den heruntergelassenen Jalousien (und Hosen) ins Wohnzimmer erbrach und der Reggaebeat und die frech geklimperten Klavierspitzen von "Rockaway Beach" das Fernweh an die Sonnenseite New Yorks beinahe unerträglich werden ließ - und dabei war ich weder jemals in New York, noch an der Rockaway Beach:
Tiny sand dunes
In the midday sun
Tattooed young Dominicans
A gentle breeze from New York City
Salt and diesel fumes
And life seemed not so out of reach
That day on Rockaway Beach
She seemed so serious
And so debonnaire
Salt water dryin' in her hair
Her eyes closed tight against the glare
Life's hard at 23
But life seemed not so out of reach
That day on Rockaway Beach
Candy wrappers
In the sand
Old men strollin' down the strand
Airplanes off to distant lands
Full of hopes and dreams
And life seemed not so out of reach
That day on Rockaway Beach
Oder die morgendlichen Fahrten ins Büro durch den Frankfurter Downtown-Sommer mit "Happy Man" und "Aurelia", die mit ihrem Drive gleichzeitig Sorgenglätter und aurale Vitamin-D-Spender waren.
Noch heute höre ich "The Oceans Of Ganymede" sehr regelmäßig. Und weil ich bei unseren Bandproben wohl derart blind und naiv ins grenzenlose Schwärmen geriet, und die beiden Blank When Zero-Jungs komplett wahnsinnig und außerdem komplett toll und großartig sind, kann ich jetzt sogar die komplette Brazzaville-Diskografie, erhältlich bei Bandcamp, ebenfalls sehr regelmäßig hören - was ich, nehme ich die Nerd-Statistiken meines Last.fm Kontos für bahre Münze, auch tatsächlich und immer noch tue.
Es gibt "keine Note auf dieser Platte, die nicht den Geist Barcelonas zwischen urbaner Freiheit, Ausgelassenheit und Melancholie mit dem bittersüßen Fotofilter aus dem Sommer 1976 einfängt. Es gibt keine Note auf dieser Platte, die ohne herzergreifende Wärme, Liebe und Hingabe gespielt ist, keine Note, der nicht die Sehnsucht nach Frieden und Schönheit innewohnt." - das schrieb ich im Mai 2016 in meinem ersten Text zu "The Oceans Of Ganymede".