29.02.2020

Warrior Soul - Live In London 2000




Endlich! Endlich, endlich, endlich! FUCKING ENDLICH!

Ich frage mich seit 20 Jahren, warum von der sagenumwobenen Reunionshow der besten Rockband des Planeten im herbstlichen London des Jahres 2000 bislang weder etwas zu sehen, noch zu hören war. Die Antwort auf diese Frage bleibt auch die heutige Entdeckung schuldig, aber immerhin ist hiermit nun die bild- und tonlose Zeit endlich vorüber.

Bereits im April des vergangenen Jahres erbarmte sich Gerry Gillan und lud die komplette Show auf Youtube hoch: Warrior Soul - Live In London.

Etwa zwei Monate nach diesem Gig veröffentlichte die Band das "Classics"-Album, eine Zusammenstellung ihrer größten Hits (in weiten Teilen sogar neu eingespielt) und wären diese vier Bekloppten jemals halbwegs bei Trost gewesen, hätten wir vielleicht sogar ein neues Studioalbum in der Originalbesetzung hören dürfen - aber es kam, wie es wohl kommen musste, und die Band, in dieser Besetzung traditionell ein einziges Pulverfass, brach erneut auseinander. Dieses Mal für immer: Schlagzeuger Mark Evans wurde 2005 in England ermordet. Mit ihm wurde auch das Original-Lineup begraben. 

Dieses Video ist pures Gold, ein heiliger Gral für die mittlerweile äußerst überschaubare Fangemeinde. 

Und wer nochmal nachlesen möchte, was ich vor über acht Jahren (fucking hell!) über Warrior Soul zu denken, sagen und schreiben hatte, nimmt sich einen halben Tag frei und macht schon mal die Hose auf:







08.02.2020

Best Of 2019 ° Platz 1 ° Arch/Matheos - Winter Ethereal




ARCH/MATHEOS - WINTER ETHEREAL


Selbst meine seit knapp 20 Jahren andauernden Streifzüge abseits der gleichfalls geliebten Rockmusik und also durch das Dickicht solch unterschiedlicher Genres wie Jazz, Electronica, Techno, Ambient, Soul und Funk können es nicht verhehlen. Es war nie sexy und es wird wohl auch niemals sexy sein, aber ich komme wohl nicht drum herum: Progressive Rock und -Metal sind meine Inseln, meine Leuchttürme und meine Rettungsanker. Und bevor mir noch ein weiteres maritimes Bild einfällt, will ich's schnell begründen. Sollte ich jemals auf die Idee kommen, meine, sagenwirmal 50 meistgeliebten Alben in einer Art Reihenfolge aufs Papier zu bringen, stehen die Chancen für einen mindestens 70% ausmachenden Anteil jener Musik nicht schlecht, die gemeinhin unter dem Rubrum "progressiv" firmiert. King Crimson, Dream Theater, Atheist, Marillion, Voivod, Fates Warning, Spock's Beard, Psychotic Waltz, Tool würden allesamt gleich mehrfach in dieser Liste auftauchen, und bis heute komme ich trotz meiner immer noch sehr ausgeprägten Auseinandersetzung mit neuer Musik immer wieder und sehr regelmäßig zu diesen Bands und ihren Platten zurück. Um ehrlich zu sein: je älter ich werde, desto öfter kehre ich zurück. 

"Winter Ethereal" sollte also auf fruchtbaren Boden fallen - auch ohne besondere Affinität zum Kultalbum Fates Warnings "Awaken The Guardian" aus dem Jahr 1986, das die Band zum letzten Mal mit Sänger John Arch zeigte, bevor Ray Alder zum Quartett aus Conneticut stieß, der seitdem höchstens noch von ein paar Betonköpfen von der Sängerposition wegzudenken ist.

Gut sieben Monate nach der Veröffentlichung ist "Winter Ethereal" meine Platte des Jahres 2019. 

Ich möchte den Anteil von Gitarrist Jim Matheos an diesem Titel nicht schmälern; der Mann erlebt bereits seit einigen Jahren seinen x-ten kreativen Frühling und seine aktuellen Kompositionen für Fates Warning sowie für "Winter Ethereal" sind vielleicht die besten, die er je geschrieben hat. Seine Produktionen sind absolut state-of-the-art; ich habe seit 20 Jahren keine so natürlich und gleichzeitig so groß und offen klingende Metalplatte mehr gehört. Seine Sounds sind geschmackvoll und mehrere Universen von stumpfem Haudrauf-Metal entfernt, stattdessen wohlüberlegt und mit großer Erfahrung ins Sounddesign eingepasst. Auch seine Auswahl von Begleitmusikern für "Winter Ethereal" ist beeindruckend: nicht nur hat er beinahe die ganze Fates Warning Truppe zusammengetrommelt, inklusive früherer Mitglieder Mark Zonder und Frank Aresti, sondern darüber hinaus auch noch Steve DiGiorgio, Sean Malone und Schlagzeuger Thomas Lang für dieses Projekt gewinnen können. Matheos ist ein nimmermüder Suchender, ein intelligenter, emotionaler und introvertierter Musiker, der immer den berühmten Schritt weitergehen möchte, ohne dabei die klassische Signatur seiner Musik zu verlieren. 

Der eigentliche König auf "Winter Ethereal" ist aber Sänger John Arch. Ich habe schon sehr lange keinen Sänger mehr so singen hören. Arch hat sich nach seinem Abschied von Fates Warning vor über 30 Jahren sehr rar gemacht. Außer einer in den frühen nuller Jahren erschienenen EP tauchte er erst 2012 für das erste Arch/Matheos-Album "Sympathetic Resonance" wieder auf. Die Legende sagt, dass er in seinen Ruhephasen überhaupt nicht singt und deswegen ein ganzes verdammtes Jahr zur Vorbereitung benötigt, um entweder ein Aufnahmestudio zu besuchen oder eine Bühne zu betreten, damit er den Rost aus den Stimmbändern kratzen kann. Wer "Winter Ethereal" hört, mag das verstehen: Arch singt um sein Leben. Er singt viel, sehr viel sogar - beinahe ohne jede Verschnaufpause geht es in den allerhöchsten Stimmlagen über die gesamte Spielzeit dahin; tatsächlich wird seine Performance nur von zwei oder drei etwas längeren Gitarrenduellen zwischen Matheos und Aresti bewusst unterbrochen. Jeder ängstlich herbeihallizunierte Reflex, diesen extrem verschnörkelten, aus jedem Ruder laufenden, wieselflink zusammengepuzzelten Gesangslinien selbst zu folgen, sie also nachzusingen, wandert meist nach zwei Sekunden in die nächstbeste Tonne, stattdessen überfällt mich ein Gänsehautschauer nach dem anderen. Sein Gesang, seine Stimme, seine Texte so kraftvoll und so mächtig, seine Melodien so überwältigend, dass ich mir manchmal nicht anders zu helfen weiß als (i) in die Knie zu gehen, (ii) den Tränen freien lauf zu lassen oder (iii) der Herzallerliebsten nachts um 2 eine astreine Air-Mic-Vorstellung vor dem Plattenspieler zu geben. Irgendwo müssen die Gefühle ja hin. 

Alles, was mir musikalisch soviel bedeutet, ist hier zu finden: die emotionale Tiefe von Psychotic Waltz, die Dunkelheit und Melancholie der "Pleasant Shade Of Grey"-Phase von Fates Warning, die Komplexität und Wucht von Nevermore, die Verspieltheit von Dream Theater. Und doch könnte "Winter Ethereal" nicht weiter von Nostalgie und Pastiche entfernt sein.

Ich schrub im hellen Lichte von "Theories Of Flight" bereits vor drei Jahren, dass ich mich so darüber freuen konnte, diese Gefühle wieder entdeckt zu haben: ein hochklassiges, echtes, authentisches, tiefes, melancholisches, herausragend komponiertes und atemberaubend gut gesungenes Metalalbum hören zu dürfen. Jetzt ist es dank "Winter Ethereal" also wieder passiert, vielleicht sogar noch ausgeprägter als 2016. 

Ein echter Meilenstein, ein Meisterwerk, ein absolutes Ausnahmealbum, das mir bis zum Schlagen des letzten Stündleins nie mehr von der Seite weichen wird. 




Erschienen auf Metal Blade Records, 2019.


06.02.2020

Best Of 2019 ° Platz 2 ° Purl - Violante (Lost In a Dream)




PURL - VIOLANTE (LOST IN A DREAM)


Es ist mittlerweile nahezu unmöglich, den musikalischen Spuren Ludvig Cimbrelius' zu folgen. Alleine die Supernerds von Discogs listen neun Aliasse des Schweden auf - und alle haben zig Veröffentlichungen über das vergangene Jahrzehnt auf unterschiedlichen Labels vorzuweisen. Wer soll da noch durchblicken? Und wer soll das alles hören?

Manchmal, wenn die Herzallerliebste und ich uns früh morgens zum ersten gemeinsamen K&K (Kaffee & Kuscheln) trafen, bevor die Welt da draußen Fahrt aufnahm und die mich bisweilen an den Rand mentaler und emotionaler Robustheit bringende Lohnarbeit nach mir rief, wenn also alles friedlich, alles nur Liebe, Glück und Freude darüber war, gemeinsam durch dieses verrückte Leben gehen zu dürfen, und "Violante (Lost In A Dream)" sich auf dem Plattenteller drehte, während wir das stimmungsvolle Coverartwork anschauten, dann dachte ich oft: eigentlich muss ich nie wieder etwas anderes hören. Alles, was ich bin, was ich fühle, was ich will, woher ich komme und wohin ich gehe, finde ich in dieser Musik. 

Details, die für neun Leben reichen. 

Tiefe bis zum Kontrollverlust. 

Schönheit, die zu Tränen rührt. 


Ludvig, you're a fucking wizard. 



Erchienen auf Archives, 2019.

02.02.2020

Best Of 2019 ° Platz 3 ° GOLD - Why Aren't You Laughing?




GOLD - WHY AREN'T YOU LAUGHING?


Es hat etwas Zeit benötigt, bis ich den Zugang zu GOLD fand. Vermutlich waren angesichts personeller Parallelen zur mittlerweile aufgelösten Quatschcombo The Devil's Blood (GOLD-Gitarrist und -Gründer Thomas Sciarone) meine anfänglichen Vorbehalte zu prominent im Stammhirn platziert, was eine frühere Annäherung nahezu unmöglich machte - manchmal bin ich so, ich kann's nicht wirklich ändern. Mittlerweile sieht die Welt anders aus. GOLD sind die vielleicht bemerkenswerteste Rockband dieser Tage und haben seit dem eher unspektakulären Schalala-Rock ihres Debuts "Interbellum" aus dem Jahr 2012 eine atemberaubende Entwicklung durchgemacht. "Why Aren't You Laughing?" ist zweifellos der bisherige Höhepunkt dieser Transformation: die mystische, dunkel schimmernde Mixtur mit Elementen des Gothic-, Post- und Indierocks mit der gleichermaßen entrückt wie glasklar durch die Songs schwebenden, endlich auch selbstbewussten Stimme Milena Evas und die aus dem Black Metal aufgefächerten Gitarrenfiguren ergeben einen Sound, wie ihn die Welt bislang noch nicht gehört hat. 

Und das ist vielleicht das Problem für das Erreichen der Weltherrschaft. Die Band spielte vor wenigen Tagen im Aschaffenburger Colos-Saal vor gerade mal 50 Zuschauern eines ihrer seltenen Solokonzerte (ansonsten werden sie auch 2020 in erster Linie auf Festivals zu sehen sein) und mir wurde plötzlich klar: die sind mit dieser musikalischen Mischung nebst der konzeptionellen Choreografie und den starken, feministischen, für Gleichberechtigung und eine offene, freie Gesellschaft einstehenden Texten vielleicht ein paar Jahre zu früh dran. Und überhaupt: fragt mal eine feministische Band wie beispielsweise War On Women, was sich an frauenfeindlicher Scheiße in den Kommentarspalten ihrer Youtube Videos abspielt. Man kommt nicht drum herum: was der rockende Bauer nicht kennt, frisst er eben nicht, und so mancher ist darüber hinaus auch einfach, pardon, klotzehohl. Ich kann das sagen, weil ich schließlich auch hin und wieder die Heugabel im Kopf stecken habe; wer einen Beweis braucht: er findet sich im einleitenden Satz dieses Beitrags. 

Ich kann nur hoffen, dass die Band weitermacht - eigentlich sollten sowohl von dieser Band im Allgemeinen, als auch von dieser ganz hervorragenden und tief bewegenden Platte wahrlich ein paar mehr Menschen Notiz nehmen. Denn wer weiß, wie eiskalt mich aktuelle Rockmusik für gewöhnlich lässt und für wie austauschbar, stumpf, oberflächlich und mutlos ich den beinahe ganzen übrigen Sauhaufen halte, darf sich nun die wildesten Träume über die Qualität von GOLD ausmalen. 

Sie sind alle wahr. 



Erschienen auf Artoffact Records, 2019.