Meine ausführliche Besprechung zu "Generation Vulture" ist keine 100 Tage alt, und die in jenem Text induzierten Hellseherfähigkeiten des stets leicht vertstrubbelten Bloggers aus Dreikommaviernullhausen hinsichtlich der möglicherweise übersichtlich angelegten Erfolgsaussichten dieses Comebacks muss ich nicht mal in meinen Lebenslauf eintragen. Jud waren schon fast immer die Übersehenen - und sollte nicht ein kleines Wunder geschehen werden sie es auch für fast immer bleiben. Und wie auch immer ich es versuche zu drehen: ich komme nicht dahinter, warum das so ist. Extraorginell, hochemotional, klischeefrei, smart, in der Lage, breitbeinig zu rocken und gleichzeitig verletzlich und sensibel zu wirken - warum die Heerscharen, die nach dem offiziellen Ende des Grunge auf der Suche nach ihrem musikalischen Methadon waren und Ende der 90er und Anfang der 00er Jahre die Musik von beispielsweise Queens Of The Stone Age und Blackmail in die Charts gewuchtet haben, dem Exil-Berliner Clemmons und seiner wie gewohnt supertight aufspielenden Truppe (Jan Hampicke, James Schmidt, Steve Cordrey und Anne de Wolff) nicht schon seit Jahr und Tag die Bude einrennen, ist eines der großen Rätsel der Rockmusik. Und wenn Du jetzt denkst, dass ich damit ja wohl mal viel zu dick auftrage, dann hast Du weder "Chasing California" noch "The Perfect Life" gehört. Ganz zu schweigen von "Generation Vulture".
Dann bist Du das Problem.
Harte Wahrheiten, supersexy formuliert: eine meiner großen Stärken.
"Generation Vulture" traf im Herbst des vergangenen Jahres mit voller Wucht auf sämtliche Nervenbahnen und bretterte über holprige Wald- und Wiesenwege direkt in mein emotionales Schmerzzentrum. Es bebt. Es brodelt. Es zittert, beißt, kratzt, streichelt, küsst. Und es lebt.
For fuck's sake: ES LEBT!
Im Laufe der letzten drei Monate hat sich die im ersten Text aus dem Dezember 2016 angedeutete Trilogie des Albums stärker herausarbeiten lassen; inhaltlich nimmt "Generation Vulture" eine aus dem Wut- und Frustrationszirkel stammende Entwicklung über Rebellion, Enttäuschung, Klarheit, Akzeptanz und einem kleinen Spritzer Optimismus (Huch!) mit erschütternd ernsthaft vorgetragener Leidenschaft. Unbestrittener und sich über die guten acht Minuten immer weiter hochschraubender Drama-Höhepunkt ist weiterhin "Humanity, The Lie", der vielleicht beste Song, den die Band bislang geschrieben und aufgenommen hat. Ein kathartischer, reinigender Moment. Wie eine wochenlange Reikibehandlung aus flüssigem und purpurnem Stahl, der vom Scheitel bis zur Sohle durch Körper und Geist fließt.
Ein bemerkenswertes Lebenszeichen einer bemerkenswerten Band.
Trump wird Präsident der USA und Jud bringen ein neues Album raus - beides wäre noch vor wenigen Monaten völlig undenkbar gewesen. Während die Wahl der faschistischen "Whiny Little Bitch" (Bill Maher) nebst der Nominierung rassistischer, antisemitischer, christlich-fundamentalistischer Blowhards für weitere Regierungsposten selbst im weit von Washington entfernten Sossenheim für eine Familienportion Depressionen sorgte, breitet sich in Sachen "Generation Vulture" zunehmend große Freude aus. Die letzten zwei Wochen im Hause Dreikommaviernull standen eindeutig im Zeichen dieses völlig unverhofften Comebacks, und die Anmerkung in meinem Textlein zur "Doppelgängers EP" von The Life And Times, dass also ebenejene gemeinsam mit "Generation Vulture" meinen Rock'n'Roll für die nächsten Monate bestimmen werden, kommt nicht von ungefähr: beide Bands haben die alte Schule besucht, in der Tiefgang, Komplexität, Groove und Melodie im Prüfungsfach "Klischeefreie Rockmusik für die Überlebenden der 90er Jahre" abgefragt und bewertet werden und bestehen jede noch so schwere Prüfung schon seit Jahren mit einem Extrasternchen.
Immerhin satte acht Jahre liegen zwischen dem letzten Werk "Sufferboy" und "Generation Vulture" und obwohl Bandchef David Judson Clemmons auch während dieser acht Jahre neben seinem in Berlin ansässigen Antiquitätenladen musikalisch immer noch und meistens mit Soloauftritten aktiv war, durfte man nicht zuletzt wegen der vermutlich sehr übersichtlichen Verkäufe des Vorgängers wirklich nicht mit einer Auferstehung rechnen. Jud waren irgendwie immer die Vergessenen und selbst dann, wenn der Zeitgeist ihnen eigentlich wohlgesonnen war, tat sich auf der Popularitätsskala so gut wie gar nichts. Schon das Debut "Something Better", immerhin von Korn/Sepultura/Slipknot-Knöpfchendreher Ross Robinson klanglich vollveredelt, ging 1996 trotz dezenter Indie- und Alternative-Schlagseite völlig unter, die beiden Nachfolger "Chasing California" und "The Perfect Life", beides glasklare 10 Punkte Klassiker aus dem viel zu oft zitierten Bilderbuch, konnten an jenem Zustand gleichfalls nichts ändern; dabei hätte gerade "The Perfect Life" mit seinen melodisch verschrammelten Powerindiedoom mit dem Tiefgang eines Ozeandampfers doch wirklich für einen Achtungserfolg sorgen können. Aber es tat sich nichts. Gar nichts.
Ob sich das Bild mit "Generation Vulture" ändern wird, ist höchst zweifelhaft - und wieder bleibt festzuhalten, dass der Band qualitativ nichts, aber auch so gar nichts vorzuwerfen ist. Über drei Jahre wurde penibel an dem neuen Werk gearbeitet und man hört es "Generation Vulture" zu jeder Sekunde und im allerbesten Sinne an. Die Produktion ist mehr als nur state of the art - ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich zuletzt ein so imposant in Szene gesetztes Album einer Rockband hörte; einer Indieband zumal, die nicht von Majors, A&Rs und Managern mit ein paar Scheinchen aus der Megaseller-Schatulle gefördert wird. Glasklar, druckvoll, bretthart - und doch soviel Transparenz und Intelligenz, um ihren ureigenen und einzigartigen Signature-Sound wie einen großen Mittelfinger in Richtung der Legion von talentlosen Nichtskönnern zu schmettern, die sich hinter ihrer totproduzierten Plastikscheiße verstecken müssen. Die sieben Songs, drei davon ungewohnterweise jeweils um die acht Minuten lang, gehören mit zum Besten, was diese Band jemals geschrieben hat: groovebetont wie eh und je, fräsen sich vor allem die ersten drei Tracks "Blind Society", "Where We Come From" und "Summer Of Love" mit monströsem Riffing in jedes Rockerherz, das auch ohne breitgetretene Klischees nicht die Arbeit einstellt, sondern stattdessen lieber das Emotionszentrum aufheizt. Große Gefühle, große Bühne, großer Gummiknüppel. Ich erlebe vor allem in jenen Momenten Gänsehautschauer - and that's the fucking truth! - die sich harmonisch und atmosphärisch deutlich am 1998er Zweitwerk orientieren. "Chasing California" blitzt tatsächlich manchmal durch und das ist deswegen so auffällig, weil nur Clemmons solche Harmonien schreibt. Niemand sonst. Kann auch sonst niemand.
Freudenschreie. Luftschlagzeug. Luftgitarre. Schmerzverzerrtes, weil mitleidendes und mitlebendes Gesicht. Becker-Faust. Bohlen-Pimmel (gebrochen). Dreifacher Salto mit zweieinhalbfacher Schraube von 28 Meter Turm. Alles auf der Autobahn und bei 140 Sachen.
Nach "Summer Of Love" folgt eine kleine Zäsur, denn jetzt wird's sperrig und die eigentliche Arbeit beginnt: "Find Us, Heal Us" kratzt erstmals an der acht Minuten Marke und ist eine komplex arrangierte Achterbahnfahrt zwischen Drama und Melancholie. "The Operation" taut erst nach knappen drei Minuten so richtig auf und basiert im Prinzip auf nur einem dreckig gespielten Bluesriff. Dazwischen: viel Schmutz, viel Dreck, ein ganz kleines bisschen Gitarrensolo und ein praktisch komplett durchgeschlagenes Crash-Becken. Und Tiefe. Tiefe, Tiefe, Tiefe.
Wem über die letzten Jahre mit Streaming, Downloads und kultureller Verwahrlosung die echte Auseinandersetzung mit Musik abhandengekommen ist, muss spätestens hier zwangsläufig die weiße Flagge hissen. "Humanity, The Lie" setzt tatsächlich nochmal einen drauf und ist möglicherweise das Kernstück von "Generation Vulture": über acht Minuten lang türmt sich ein Emotions- und Riffklotz über den nächsten auf, bis das so entstandene Intensitätsgebirge fast schon körperlich erfahrbar wird. Was - außer Pudding in den Beinen und einem signifikant beschleunigten Puls - kann nach einem solchen Hammer noch kommen? Können wir jetzt bitte wieder ein bisschen abkühlen? Ich muss mal an die frische Luft.
"How The West Was Won" beginnt tatsächlich zunächst etwas dezenter, bis ich inmitten des cleveren, an Postrockgrößen wie Godspeed You! Black Emperor erinnernden Spannungsaufbau spüre, dass die Band schon wieder am nächsten Brocken tüftelt - bis zum finalen Einsturz. Ich will nicht zuviel verraten, aber es endet alles ganz anders. Und plötzlich merke ich, wie viel Sinn das hier alles macht. Wie sich der Kreis nach diesen Songs schließt.
Are you alone in this world?
And are you ready for the new world war?
Have you decided just what you're gonna fight for?
Are you alone tonight?
Das ist eine große, große Platte. Und ich finde fast keine Worte mehr für die Tragik, dass auch "Generation Vulture" nur von einer Handvoll Eingeweihter gehört und geliebt werden wird. Von denen dafür aber dann umso inniger.
Zugegeben, "Sufferboy" hatte es nicht leicht. Was als Rockprojekt der Berliner Fullbliss-Belegschaft um David Judson Clemmons begann und sogar mit einigen Gigs in Berlin bedacht wurde, entwickelte sich mit der Zeit zu einem Comeback, an das so mancher nicht mehr glauben wollte: JUD wollten es also tatsächlich nochmal wissen und kündigten Ende des letzten Jahres eine neue Platte an. Aufgenommen in der Besetzung, die bereits an den Arbeiten am Fullbliss-Oevre beteiligt war. Das überraschte wenig, da Clemmons' Headquarter in Berlin einerseits eine Spur zu weit entfernt war, um mit den ehemaligen Mitgliedern Steve Cordrey (Bass) und Hoss Wright (Drums) nochmal gemeinsame Sache zu machen, und andererseits bewiesen Jan Hampicke und James Schmidt (der sowieso schon das fantastische 98er Jud-Album "Chasing Califonia" eintrommelte) in mehreren Livegigs, dass sie die legendäre Intensität und die unbändige Kraft des Trios bestens fortführen können.
Zugegeben, "Sufferboy" hatte es nicht leicht. Weil die Alben "The Perfect Life" (2001) und das bereits erwähnte "Chasing California" über die Jahre hinweg zu mehr als nur zwei guten Freunden wurden und es mittlerweile geradezu undenkbar ist, ohne diese beiden Meisterwerke des verschrammelten Indierocks zu existieren, war neben all der Freude über die Wiederkehr auch Skepsis ein ständiger Begleiter. Hält "Sufferboy" wirklich das Niveau der Vorgänger? Die Frage war ja auch: mag ich das eigentlich wirklich noch hören? Und vor dieser Antwort hatte ich ehrlich gesagt weitaus mehr Angst. Als die Band das neue Stück "Drained" als Vorgschmack auf ihrer Homepage präsentierte, wurde ich indes wieder etwas ruhiger. Alles in Butter.
Zugegeben, "Sufferboy" macht es einem nicht leicht. Was Clemmons in einem Interview als "Fucking Mental Torture" beschreibt, sind wahrlich die wütendsten und härtesten Songs, die es wohl jemals von Jud zu hören gab. Alleine das Eröffnungsduo "Bright White Light" und "Drained" prasselt wie eine LKW-Ladung Bleikugeln auf einen nieder und auch "Asylum" (mit tonnenschwerem Doomriff) oder "Satisfy" sind Kaliber, mit denen man nicht unbedingt rechnen konnte. Auch Clemmons' Stimme passt sich dieser Ausrichtung an; er klingt in manchen Momenten derart zerstörerisch und aggressiv, dass ich mich durchaus frage, aus welchem Körperteil GENAU er sich diese Töne herauskratzt. Auf der anderen Seite stehen mit "Universal" oder "The Maggots" Songs auf dem Programm, die - entsprechend arrangiert - auch auf einem Fullbliss-Album stehen könnten. Apropos: das auf dem letzten Album "Yes Sir" befindliche "The Cowboy Song" gibt es auf "Sufferboy" in der breitbeinig rumstehen & lässig aussehen-Version und ist für mich das klare Highlight dieser Platte.
Zugegeben, "Sufferboy" macht es einem nicht leicht. Auf den ersten Blick (wohl auch aufgrund der Härte) ungewohnt sperrig und zerfahren, entwickelt sich das Album erst nach einigen Durchläufen zu einem wahren Koloss. Und wenn man erstmal durch die in typischer Clemmons-Manier angeschrägten und vor allem zeitgemäßen Riffmonster gegraben hat, die sich die drei Herren hier aus dem Ärmel schütteln, dann merkt man zum wiederholten Male, wie kriminell eigenständig diese Band eigentlich ist. Und hat damit wohl auch die Antwort auf die Frage gefunden, warum die Buben nicht schon längst drei, vier Stufen auf der Karriereleiter genommen haben. Ich für meinen Teil hätte gar nichts dagegen, wenn demnächst größere Hallen gebucht werden müssten...und "Sufferboy" könnte es ihnen eigentlich ganz leicht machen.
"Sufferboy" von JUD ist im August 2008 auf Noisolution erschienen.