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06.07.2024

Sonst noch was, 2023?! - Beach Fossils - Bunny




BEACH FOSSILS - BUNNY


"Wenn man Hannelore Kohl, die Sharon Stone aus Oggersheim zu Gast hat, dann ist es schon sinnlich, wenn man mit der flachen Hand auf einen ausgestopften Saumagen klopft." (Oliver Kalkofe)


Sechs Jahre nach ihrem letzten Album "Somersault", das ich seinerzeit mit der Einschätzung in meine Top 30 des Jahres 2017 rollte, es klänge, als hätten  "Paul McCartney, Robert Smith, Sam Prekop und Johnny Marr am Strand von Kalifornien gehascht und wegen des gemeinsam bestaunten Sonnenuntergangs vor Ergriffenheit das Heulen angefangen", versüßte das Quartett aus Brooklyn mit dem Comeback "Bunny" meinen letzten Sommer - und das in Zeiten, die von tiefer Trauer über den Tod unseres Hunds Fabbi geprägt waren. Eigentlich eine unlösbare Aufgabe, aber ähnlich wie Element Of Crimes "Morgens Um Vier" traf "Bunny" einen ganz besonderen Nerv. 

Dass es ausgerechnet diese Musik schafft, mich so weichzuklopfen, ist mittlerweile eigentlich keine Erwähnung mehr wert. Wie oft habe ich schließlich schon in niemals enden wollenden und unverständlichen Satzungetümen darüber referiert, welche Anziehungskraft bisweilen von Projekten wie Tropics, Absolute Boys, Dreamscape, Slow Magic oder den leider sehr unrühmlich verglühten HOOPS ausgeht. 

Dieser unwiderstehlichen Mischung aus Lo-Fi Indie Pop (fürs Understatement), Shoegaze (fürs Schwüle, Warme, Feuchte) und einer Prise Postpunk (für die Zehenamputation wegen Unterkühlung), die den Schaltplan für Romantik, Nostalgie und Tagträume erstellt. Nach dem Zauber und dem Glanz in der Tristesse zu suchen war ein nobles Hobby in meiner Adoleszenz, nicht notwendigerweise aus Selbstmitleid, sondern weil die Vertiefung so verführerisch war. Insofern schließt sich hier der Kreis zum vergangenen Sommer: "Bunny" war gleichermaßen Trost und Heilung, weil es den Blick über die Trauer erhob und die Gefühlspalette erweiterte. Wir sahen ein paar Lichtstrahlen, ein paar Reflektionen. Spürten Sonne auf der Haut. Und wir erinnerten uns. 

Der immer noch so behutsam verhuschte Sound der Beach Fossils ist einerseits verknüpft mit einem außergewöhnlichen Gespür für Melodien - beispielhaft der zum Sterben schöne Harmoniewechsel im Refrain von "(Just Like The) Setting Sun" mit seinem im Zwielicht orchestrierten Streicherarrangement oder das Gitarrengeflacker in "Anything Is Anything", in dem jeder noch so schüchtern gespielte Anschlag eine melodische Dringlichkeit entwickelt - andererseits ist er der Mutterboden für die Ästhetik des melancholischen Großstadtslackers. 

Für immer 25, für immer emotionales Chaos, für immer verliebt, für immer Hoffnungslosigkeit. 

What year is it today?
It's funny how time slips away
Living in Nеw York, it can grind you down
I tell you, it will grind you down


Es ist zu gleichen Teilen imponierend wie beängstigend, wie mich die Beach Fossils zwanzig, dreißig Jahre in mein früheres Leben zurückschleudern - und wie fucking wehrlos ich dagegen bin. Ich spüre, wie sehr ich mich hier fallen lassen kann. Wie sehr ich hier verschwinden will. Und wie sehr ich für immer dort bleiben will.


 



Erschienen auf Bayonet Records, 2023.

07.01.2023

2021 Revisited: Cynic - Ascension Codes



CYNIC - ASCENSION CODES

Ein Blick auf meine Musiksammlungsdatenbank aus Giga-Nerdhausen, vulgo: Discogs, verrät, dass ich im Jahr 2021 tatsächlich nur drei Platten gekauft habe, für die der Stempel "Rockmusik" passt. Neben Cassius Kings "Field Trip" (prima) und Quicksands "Distant Populations" (naja), war insbesondere die Anschaffung von Cynics "Ascension Codes" eine echte Herzensangelegenheit. 

Zum einen bin ich seit fast dreißig Jahren Fan und finde ihre Musik selbst, oder besser: besonders nach den stilistischen Anpassungen über die letzten 15 Jahre einfach hoffnungslos attraktiv. Zum anderen bewundere ich Paul Masvidal, einen der kreativsten und eigenständigsten Musiker der Metal-Szene. Mutig und unerschrocken, offen, spirituell - und durch den unerwarteten Tod seiner beiden Freunde und ehemaligen Bandmitglieder Sean Reinert (Schlagzeug; Januar 2020) und Sean Malone (Bass, Dezember 2020) voller Trauer und Verzweiflung. Masvidals Beiträge auf seinem Instagram-Account geben Zeugnis von dem Schmerz, den er durch die kurz hintereinander erfolgten Verluste erleiden musste. Ebenfalls, und das soll nicht unerwähnt bleiben, ist Masvidal in meiner Wahrnehmung einer der verkanntesten Songschreiber des Heavy Metal. Warum ihm angesichts des Meisterwerks "Ascension Codes" nicht die halbe Metal-Welt die Tür einrennt, ist angesichts der sich zunächst zeigenden Sperrigkeit des Albums vielleicht nicht die allergrößte Überraschung - auch wenn sich die Komplexität mit ein bisschen Zeit und Eingewöhnung naturgemäß auflösen kann und wird. Aber ich habe durchaus Verständnisschwierigkeiten damit, warum nicht wenigstens die Anhänger des Progressive Rocks/Metals auf Knien angerutscht kommen, und zwar in Scharen. 

Denn das hier sollte eigentlich exakt ihr Sound sein: verspielt, komplex, ultrakomprimiert und dennoch leichtfüßig und mühelos - im Prinzip die musikalische Entsprechung zum Spruch meines Vaters über den ehemaligen Eintracht-Stürmer Anthony Yeboah: "Der spielt dich in einer Telefonzelle schwindelig!". Spektakuläre technische Fähigkeiten, ein atemberaubendes Coverartwork und eine spirituelle Story über das Leben, das Universum, das Unsichtbare, das Mystische, das Außerweltliche - "Ascension Codes" ist die beste Cynic-Platte aller Zeiten und in ihrer emotionalen Ausrichtung und ihrer offen dargestellten Zerbrechlichkeit das Progressive Metal-Album, das ich mir im Jahr 2020 von Fates Warnings "Long Day Good Night" erhoffte, aber nicht bekam. 

Ich möchte über Jahre in diesen Sounds versinken und mich verlieren. Masvidals Gitarre weist mir den Weg und mir ist im Grunde egal, wohin er mich führen wird. 

Chuck Schuldiner prägte den Satz "Let the metal flow!" - Paul Masvidal hat nun die passenden Songs dafür geschrieben. 


Vinyl: Das Mastering meiner Version auf türkisem Vinyl scheint die sowieso schon wahrnehmbare Kompression im Sounddesign noch weiter in den Vordergrund zu stellen; man merkt, dass es der Musik etwas schwer fällt, die Luft zum Atmen zu finden. Ich gehe davon aus, dass es sich hier um eine aktive Entscheidung im Entstehungsprozess des Albums handelt. Cynic Platten klingen nicht zum ersten Mal so. Die Pressung ist komplett fehlerfrei. Das wirklich atemberaubende und wertige Triple-Gatefold auf mattem, sich seidig anfühlendem Karton in Verbindung mit dem grandiosen Cover-Design von Künstlerin Martina Hoffmann ist nichts weniger als imposant.


   


Erschienen auf Seasons Of Mist, 2021. 

04.09.2022

OVERKILL - THE ATLANTIC YEARS 1986 - 1994 (Vinyl Boxset Review)


Ich hatte es im letzten Videoreview zu Voivods "Forgotten In Space"-Boxset bereits mehrfach angedroht, hier ist es nun: der zweite Beweis dafür, dass ich es mit vollmundigen Einlassungen wie "Ich mag keine Boxsets" oder despiktierlichen Fragen wie "Wer soll denn den ganzen Scheiß kaufen?" besser sein lassen sollte. 

Ich habe mir also Overkills "The Atlantic Years 1986 - 1994"-Rückschau vorgenommen und dabei versucht, es wenigstens ein kleines bisschen weniger zäh werden zu lassen als mein Review-Debut, und was immerhin den Blick auf die Uhr betrifft, ist mir das auch ausnahmsweise gelungen. Inhaltlich gibt es immer noch konfus abschweifendes Gelalle - aber das sind meine werten Leser über die letzten 15 Jahre schließlich auch gewohnt. Und ein wenig Kontinuität erlaube ich mir durchaus in diesen so chaotischen Zeiten. Weil ihr es mir wert seid. 

Enjoy!


 


26.08.2022

Die Top 10 Der Besten Voivod-Songs



Schon wieder Voivod? 

Schon wieder Voivod!

Ende des vergangenen Jahres erhielt ich die Möglichkeit, für die 160. Ausgabe des legendären Ox-Magazins über meine Lieblingsband zu schreiben (Vielen Dank, Simon!). Genauer gesagt, ich erhielt die Möglichkeit, über die zehn besten Songs meiner Lieblingsband zu schreiben. Das war eine Ehre für mich, einerseits wegen des Ox, andererseits wegen Voivod - ich durfte das also auf keinen Fall zersägen. 

Und obwohl ich sofort Feuer und Flamme war, mich in ihre Platten einzugraben und umgehend loszulegen, wusste ich um die große Herausforderung - und wurde gleich mal für die nächsten Tage ausgebremst. Nicht nur wegen der umfangreichen und qualitativ so konstant hochklassigen Diskografie der Band, was eine Auswahl so oder so schwierig machen würde, sondern auch wegen ihres so diversen Repertoires. Wie soll ich diese enorme Bandbreite abdecken, von dem räudigen, chaotischen Thrash Metal zu Beginn ihrer Karriere über eine Heavy Metal-Version von Pink Floyd oder King Crimson bis hin zu einem verwehten Progressive-Industrial-Golem? Oder diesen Wagemut? 

Ihre einzelnen Entwicklungsphasen, und jetzt, wo ich's schreibe, weiß ich gar nicht mehr, was ich mit einer "Entwicklungsphase" eigentlich meine, oder ob sowas in ihrer Realität überhaupt existierte, haben schließlich gleich mehrere Eigenleben entwickelt. Und je weiter ich mich in ihre Welt über die letzten 25 Jahre eingegraben habe, desto mehr wucherte das Selbstverständnis dieser Band, ihr Anspruch und ihre Progressivität über die Brüche in ihrer Musik. Und all das soll ich in nur zehn Songs abdecken? 

Ich brütete über zwei, drei Wochen jeden Tag über dieser Liste. Dezent obsessiv. 

Als die Songs für die Top 10 endlich ausgeknobelt waren, ging es endlich ans Schreiben - und damit begann das eigentliche Martyrium: Zeichenlimit. 

Ein Zeichenlimit. Ich! Ein Zeichenlimit! Ha! Hahaha! 

Es war eine verdammte Pest. Aber ich liebte jede Sekunde der Auseinandersetzung mit den Songs dieser einzigartigen Band.

Enjoy!

 


(Klicken für eine vergrößerte Ansicht)


Für eine möglicherweise verbesserte Lesbarkeit gibt es hier auch noch die Textversion:



„Tribal Convictions“ 
"Tribal convictions" vom Sci-Fi-Thrash Meilenstein "Dimension Hatröss" ist einer der großen Klassiker der Bandgeschichte und bedeutete 1988 den Durchbruch für VOIVOD – auch dank des Videos, das MTV in sein Programm aufnahm und damit den Bekanntheitsgrad der Kanadier signifikant vergrößerte. Schneller waren fünf Minuten seither nie wieder vorüber. Ein durchgeknalltes Arrangement, das auf eine bizarre Weise trotzdem catchy war, gekrönt von einem umwerfenden Solo von Riffmeister Piggy. Öffnet Türen in Deinem Kopf, die vorher verschlossen waren. 

„Tornado“ 
Für das dritte Album „Killing Technology“ schluckte die Band erstmals ihre Supervitamine. Die Energie dieser Aufnahmen ist legendär und „Tornado“ macht seinem Namen alle Ehre: ein unbarmherziges und außer Kontrolle geratenes Getöse, das vor allem wegen Piggys dissonanten Gitarrenriffs und Aways geradewegs durch Panzerglas marschierenden Schlagzeugs den Vagusnerv mit Juckpulver traktiert. Dazwischen gibt’s nervöse Breaks und manisches Geschrei, die das Chaos nur noch mehr anheizen. Blutdrucksenker, olé!

„Forlorn“ 
Das zweite und letzte Album der Triobesetzung mit dem Bassisten und Sänger E-Force über einen der beiden Monde des Planeten Mars ist eine apokalyptische Tour de Force mit „Forlorn“ als glühend-intensivem Höhepunkt. Die brachiale Mixtur aus verwehtem Industrial Metal und kauzigem Progressive Rock vertont Einsamkeit und Verzweiflung im Zeichen des Untergangs und geht dabei stets über jede physische und emotionale Schmerzgrenze hinaus. „Forlorn“ ist übrigens der einzige Song dieser Ära, der auch nach der Reunion mit Sänger Snake ab und an den Weg in die Live-Setlist fand. Gewaltig. 

„Post Society“ 
Nach dem Tod ihres Riffmeisters Piggy im Jahr 2005 versackte der VOIVOD auf manch neuem Album im stilistischen Verwaltungsmodus; statt irrwitziger Reisen durch die Galaxis bog man lieber an der Autobahnraststätte Ennepetal ab. Mit „Post society“ und den neuen Crewmitgliedern Chewie (Gitarre) und Rocky (Bass) nahmen unsere Helden wieder direkten Kurs auf Centaurus A: der erfreulich angepunkte Titeltrack fächert Psycho-Breaks wie in allerbesten Zeiten auf und zeigt die Band in funkensprühender Spiellaune mit erstaunlichem Drive. Eine Wiedergeburt. 

„Clouds In My House“ 
„Angel Rat“ war nach Aussage von Schlagzeuger Away das Album, bei dem der Band der Wille zu „härter, lauter, schneller“ fehlte. Stattdessen zeigten sich VOIVOD melancholisch und introvertiert – und stießen die nach dem erfolgreichen Vorgänger „Nothingface“ angefütterte Fangemeinde vor den Kopf. Stilistisch steht „Clouds in my house“ zwischen Wave-Geflacker, sprödem Prog und dem „Anything Goes“-Vibe der frühen 1990er Jahre selbst für ihre Verhältnisse auf sehr ambivalentem Terrain. Warum der Song auf MTV’s „120 Minutes“ nicht durch die Decke ging, versteht kein Mensch.

„Into My Hypercube“ 
Völlig gleich, was uns in den letzten dreißig Jahren an neuen Trends und Extremen aufgetischt wurde, das Durchgeknallte, Knallbunte, Exzentrische, das Emotionale und Verletzliche, das Progressive und das Reaktionäre, ein zweites „Nothingface“ war nicht dabei. „Into my hypercube“ steht etwas im Schatten der Klassiker „The unknown knows“ und dem PINK FLOYD-Cover „Astronomy domine“, aber wer könnte dieses unvergleichliche Amalgam aus subtiler Punk-Aura und softer Fliegenpilz-Psychedelik je wieder vergessen, wenn es nur einmal die Blut-Hirn-Schranke passiert hat? 

„Jack Luminous“ 
Der Versuch, den VOIVOD-Sound über wildes Namedropping zu decodieren, wird spätestens nach den 17 Minuten von „Jack luminous“ zu einem traurigen Häufchen Asche zerbröselt. Jeder Vergleich wirkt trivial, jedes Bemühen, den Code dieser Wahnsinnigen zu knacken, endet zwangsweise am Boden existenzieller Unzulänglichkeit. „Jack luminous“ ist in der Bündelung aller Wahrzeichen dieser Band der Urknall ihres Universums, die Stunde Null des VOIVOD. Wer den endgültigen Beweis dafür haben möchte, dass die Oberstübchen dieser Typen einfach anders verdrahtet sind, wird ihn hier finden. 

„Cosmic Conspiracy“ 
Der Alternative-Industrial-Tanzflächenfeger „Nanoman“ vom selben Album „Negatron“ wäre die offensichtlichere Wahl gewesen, aber wir müssen über „Cosmic conspiracy“ sprechen - vor allem über die auf dem 2000er Livealbum „Lives“ veröffentlichte Version. Intensiver hat sich der VOIVOD trotz des etwas besseren Bootlegsounds nie wieder in den Orbit geschossen. Vor allem das Break zur Songmitte und das folgende so simple wie alles zersägende Mega-Riff zeigen, welche Energie diese Besetzung auf der Bühne entfesseln konnte. Die drei Typen machten Krach für zehn. Eine Naturgewalt.

„Nuclear War“ 
Wo wir gerade bei „Lives“ waren, bleiben wir für „Nuclear war“ gleich hier. Ursprünglich auf dem 1984er Debut „War And Pain“ erschienen, bekommt das holpernde Stakkato-Geprügel des Erstlings in der Liverversion mit Sänger/Bassist E-Forst seine definitive (wenn auch leicht gekürzte) Ausbaustufe. Das militärisch stampfende Monster klingt mit der gurgelnden Stimme des neuen Frontmanns bedrohlicher und beklemmender als je zuvor, während Piggy Töne aus seiner Gitarre herausholt, die er ganz offensichtlich per Standleitung von einem anderen Planeten herübergebeamt hat. 

„Fix My Heart“ 
Der Opener des 1993 erschienenen Wunderwerks „The Outer Limits“ steht stellvertretend für einen weiteren Entwicklungsschritt der Band, die selbst nach den energieraubenden Metamorphosen der vorangegangenen drei Alben immer noch nicht müde wurde, nochmal einen draufzusetzen. VOIVOD zeigten sich insgesamt rockiger, ihr Sound schien durchlässiger für einen optimistischen Swing zu sein, die Grooves saßen lockerer, ohne dabei ihren legendären Drive einzubüßen. Ein besserer Beleg als das atemberaubend perlende Hauptriff von „Fix my heart“ wird sich nicht finden lassen.  

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(Mit freundlicher Genehmigung der Ox-Redaktion)

07.08.2022

VOIVOD - FORGOTTEN IN SPACE (Vinyl Box Set Video Review)

Beinahe fünf Monate Blog-Pause sind selbst für meine Wenigkeit ein starkes Stück. Es gibt Gründe - aber um offen zu sein: ich bin zu müde, um sie zunächst in Gedanken und anschließend Schrift nochmal Revue passieren zu lassen. Kommt Zeit, kommt irgendwas. Vielleicht aber auch nicht. 

Ich habe indes nach reiflicher Überlegung, und wer mich kennt, weiß, dass "reiflich" die Untertreibung des Jahrhunderts ist, ein Video aufgenommen, in dem ich über das neue Vinyl-Boxset meiner allerliebsten Metalband VOIVOD referiere. Alles, was ich dazu benötigte, waren zwei Liter schwarzen Kaffees, drei frische Unterhosen und ein kleiner Spritzer LSD. 

Ja, es ist viel zu lang. Niemand, wirklich niemand wird diese 32 Minuten durchhalten, ohne vorher sanft und friedlich wegzudämmern. Aber im Prinzip ist das nicht mein Problem. 

Ja, es ist im Hochformat aufgenommen (was subbi dämlich ist). Das ist definitiv mein Problem.

Ja, ich bekomme Selbstschamattacken. Und es wäre furchtbar, wenn ich sie nicht bekäme. 

Und dennoch: all das hält mich trotzdem nicht davon ab, derart full of myself zu sein, es hier zu posten. 

Enjoy!

   



17.03.2021

Best of 2020 ° Platz 8 ° Hum - Inlet



HUM - INLET

All the dreamers have gone to the side of the road which we will lay on
Inundated by media, virtual mind fucks in streams
(D'Angelo And The Vanguards)


"The Summoning". Grundgütiger, "The Summoning". 

Diese sich wie zähflüssige Lava den Weg freiwalzenden Gitarren. Ich habe schon lange keine mehr so gut klingenden Gitarren gehört. Diese Melodie, die so lange nachhallt, bis die Venus acht Mal umrundet wurde und man sich wieder auf dem Rückweg zur Erde befindet. Das Break im letzten Viertel, das sich gegen Ende auftürmt wie ein Gebirgsmassiv vor Millionen Jahren. Die stoische Stimme, die kaum mehr braucht als Begleitung und Erinnerung. Ein Jahrhundertsong. Aber eben auch nur einer von insgesamt gleich vieren: es sind vor allem die jeweils über acht Minuten langen, episch inszenierten Songs, die mich komplett plattmachen, auseinanderreißen, zerschmettern und dann wieder zusammenkleben, mit Spucke und einer Riesenpackung Hubba Bubba: "Desert Rambler", "Folding", "Shapeshifter" und eben "The Summoning", allesamt Giganten aus dem Stoff, aus dem 90er-Shoegaze und Alternative Rock-Herrlichkeiten gestrickt waren, bis unters Dach vollgepackt mit Understatement, Emotionalität, Tiefgründigkeit und Weite - und mit mit einer ganz eigentümlichen, nach innen gerichteten Intensität. 

Das Quartett aus Illinois, spätestens ab Mitte der 1990er Jahre und dem zaghaft ins US-Mainstreamradio einbrechenden Hit "Stars" eine Untergundsensation, war zu jener Zeit sehr knapp vor dem Sprung in die erste Liga, bevor die Band Ende des Jahrzehnts zunächst vom Label gedroppt und anschließend intern auseinanderbrach. Jetzt kommen sie im unheiligen Jahr des Clusterfucks 2020 praktisch aus dem Nichts mit neuer Musik zurück - 23 Jahre nach dem letzten Album "Downward Is Heavenward". Und auch wenn ich die Band erst Mitte der nuller Jahre von Freund Andreas ans Herz geschweißt bekam und also wie so oft ein totaler Spätzünder war, fühlt sich "Inlet" so vertraut an wie jede Gedanken- und Gefühlsreise in meine Adoleszenz in den 1990er Jahren, zwischen Teenage Angst, Flanellhemd, Benson & Hedges und dem süßen Duft der Freiheit (Wunderbaum Vanille; Opel Corsa I), der mindestens soviel Hoffnung machte, wie er mir bis in jede Faser meines Hirns Panikattacken schickte. Es gibt einen gar nicht so kleinen Teil in mir, der sich wünscht, bis ans Ende meiner Zeit in diesem emotionalen Schwebezustand der eigenen Vergangenheit zu verbleiben, mit all der Verklärung, der Ignoranz, dem Gilb und Kitsch des Vertrauten, Eingefahrenen, Sicheren. Das Getöse des Unmittelbaren ersetzen mit der damals  so geliebten wie gehassten und doch so verinnerlichten Stille. Auszeit. 

Insofern ist "Inlet" die perfekte Spiegelung dieser Ambivalenz, auf jeder Ebene. Laut und leise, rustikal und subtil. Erinnerung und Gegenwart. Hoffnung und Enttäuschung. Verwegenheit und Furcht. 

Heavy Music for introverts. Für immer die Liebe.


   


Erschienen auf Earth Analog Records, 2020.


21.02.2021

Best of 2020 ° Platz 14 ° GOLD - Recession




GOLD - RECESSION

Your shell is hollow, so am I
The rest will follow, so will I
(Neurosis)


Das letzte Konzert vor dem Virus. Ende Januar 2020 stand ich mit etwa 50 anderen Menschen im erschütternd leeren Colos-Saal in Aschaffenburg und ließ mir von GOLD Blutdruck und Herzfrequenz auf Stufe 11 drehen. Keine Ansagen, keine Zugaben - einfach nur auf die Bühne gehen, alles, aber auch wirklich alles supertight abreißen, und wieder gehen. Ich weiß noch, dass ich nach diesen 60 Minuten völlig euphorisiert und unangenehm laut "So macht man das! Genau so macht man das! NUR SO! EXAKT! GENAU! FUCKING! SO! MACHT! MAN! DAS!" rief und beim anschließenden Merch-Irrsinn sehr eindringlich auf Gitarrist Thomas Sciarone einredete, die Band möge sich bitte von der spärlichen Kulisse und dem fehlenden Zuspruch, dem quantitativen zumal, nicht beeindrucken lassen und für immer weitermachen - und dass, obwohl ich mich mit vermeintlich unangebrachten Reaktion gegenüber Musikern in der Regel sehr zurückhalte, weil ich diesen (und allen anderen) Menschen wirklich nicht auf den Sack gehen will. 

GOLD hatten für 2020 einen gut gefüllten Tourkalender. Die Corona-Zwangspause wurde mit nicht weniger als drei Veröffentlichungen überbrückt, die zunächst digital über ihre Bandcamp-Seite, später im Herbst als Sammelband unter dem Titel "Recession" auf Dreifach-Vinyl erschienen: "The Isolation Sessions", ein Live-Mitschnitt aus dem April 2020 eröffnete den Reigen, gefolgt von den intimen, nur von Sängerin Milena Eva und Thomas Sciarone aufgeführten "The Bedroom Sessions" im Juni und einer Zusammenstellung bislang unveröffentlichter Songs und Demoversionen unter dem Titel "The Archive Sessions" einen Monat später. 

Es war bereits bei dem immer noch aktuellen Studioalbum "Why Are You Not Laughing?" erkennbar, und ich muss es auch angesichts der Sammlung auf "Recession" wiederholen: das Aufregendste beim Eintauchen in den Kosmos von GOLD ist die Offenlegung der zu ihrem Selbstverständnis gehörenden bedingungslosen Verletzbarkeit und der gleichzeitig daraus erwachsenden Kraft - beides elementare Bestandteile ihrer Musik, ihrer Texte und ihres ganzen Auftretens. Es ist jene Ambivalenz, die diese Band so besonders macht und die sie mittlerweile so selbstbewusst und intensiv wirken lässt. Ihre Ideale und Überzeugungen zeigen sich dabei so tosend wie der sich entfesselt aufbauende Orkan aus den so dürr und nervös klirrenden Gitarren und den hypnotischen Schlagzeugfiguren mit Sängerin Milena Eva als Zeremonienmeisterin im Auge des Sturms: so karg und kühl ihr Vortrag an der Oberfläche erscheint, so unerschrocken kompromisslos und unmissverständlich ist ihre Botschaft von "individual empowerment", wenn sie von toxischer Maskulinität singt, von Unterdrückung, von ritualisierten und zementierten Geschlechterrollen, von Verlust, von Depression.  

Die Durchschlagskraft dieser Idee, diesem alles zusammenhaltenden Netz aus Worten und Tönen, dieser Aura von Klarheit und Mut, zeigt sich in jeder Sekunde der drei Eingangs erwähnten Alben, und dabei ist es egal, wie intim, spröde, fiebrig oder überspannt das Flackern ihrer Musik ist. 

Vielleicht die faszinierendste Band, die Rockmusik gerade zu bieten hat.

   


Self-Released, 2020. 


 

10.01.2021

Die besten Second Hand-Funde 2020 (5): Skyclad - Irrational Anthems


SKYCLAD - IRRATIONAL ANTHEMS


Von Hippie-Eso-Rock der 90er Jahre über Broken Beat, Future Jazz, Noise-Goth zu Folk Metal - und Sie fragen mich ernsthaft, warum hier niemand mitliest?! 

"Irrational Anthems" war das letzte fehlende Vinyl-Mitglied der Skyclad-Sammlung (was nicht ganz richtig ist, weil ich die Picture Disc vor genau 20 Jahren in einem Plattenladen in Lübeck entdeckte - aber...). Ich habe den Fund der Originalausgabe Freund Jens zu verdanken, der seine Augen und Ohren in den Social Media'schen Verkaufs- und Tauschgruppen für mich immer weit geöffnet hat. 

Wie ich zu dieser ehemals so fantastischen Band aus Newcastle stehe, lässt sich für Interessierte HIER nochmal ausführlich nachlesen - wenn's ein bisschen mehr sein darf, klickt man am unteren Bildrand auf "Neuerer Post" und kommt darüber zu den Einzelreviews - und wo wir gerade hier sind, verlangt es der Anstand, auch auf meinen damaligen Text über "Irrational Anthems" hinzuweisen, in dem ich abschließend befand, das Album sei zwar im Prinzip absolut fehlerfrei, als möglicherweise einziges Skyclad-Werk indes nicht so irre gut gealtert. Und es stimmt: einige Songs dieser Platte habe ich in meiner Jugend auch schlicht bis zum Ohnmachtsanfall abgenudelt; der Eindruck also, Hits wie "Penny Dreadful", "No Deposit, No Return" oder "Inequality Street" seien in einer Zeitkapsel eines bestimmten Lebensabschnitts eingeschlossen und könnten nie wieder unabhängig von den Erfahrungen und Erlebnissen jener Zeit gehört werden, ist sicherlich nachvollziehbar. 

Das nimmt allerdings nichts von Glanz und Wichtigkeit von "Irrational Anthems", was mir bei der neuerlichen Auseinandersetzung, ganz besonders mit den Songs der vermeintlich zweiten Reihe, bewusst wurde: "Snake Charming", "The Sinful Ensemble"(!), "My Mother In Darkness"(!!), "I Dubious"(!!!) und "Science Never Sleeps" sind einfach unsterbliche Klassiker. 

Und ich erneuere hiermit meine frühere Einschätzung: Diese Band hat in den 1990er Jahren keinen auch nur mittelmäßigen Ton aufgenommen. Alles aus Gold.


   



Erschienen auf Massacre Records, 1996. 

04.01.2021

Die besten Second Hand-Funde 2020 (1): Three Fish - The Quiet Table



THREE FISH - THE QUIET TABLE

Harald Schmidt sagte mal, dass maximal zwanzig Bücher ausreichten, um das Leben angemessen ausgestattet zu bestreiten, verbunden mit dem Hinweis auf die Tagebücher von Julien Green, in denen es heißt, dass am Ende seines Lebens nicht mal mehr Thomas Mann der groben Entflechtung des Literaturbestands standhielt. Immer öfter stehe ich selbst vor der Schallplattenwand und ertappe mich bei ähnlichen Gedanken. 50 Alben - mehr braucht's eigentlich nicht. Gib mir meinen Coltrane, meinen Scott-Heron, den Soundtrack meiner 90er Jahre Adoleszenz und fünf, sechs Metal-Hackepeter aus der Ursuppe der 1980er Jahre und ich bin okay. 

Die beiden Platten der Low-Key-Supergroup Three Fish würden diesen Auswahlprozess mühelos überstehen, sie fielen in den Eimer mit den dreckigen, nach Benson & Hedges und Zino müffelnden Karohemden meiner Neunziger. Tribe After Tribe Sänger/Gitarrist Robbi Robb, Pearl Jam-Bassist Jeff Ament und Wundertrommler Richard Stuverud veröffentlichten vor über 20 Jahren zwei herausragende, größtenteils ruhige, spirituelle Werke, geschmückt mit Einflüssen und Instrumenten des mittleren bis fernen Ostens, meistens aus lockeren Jamsessions entwickelt und in Aments Homestudio in den Bergen von Montana aufgenommen. Während das selbstbetitelte Debut noch hier und da auffindbar ist, ist das Vinyl von Album Nummer Zwo - "The Quiet Table" - mittlerweile leider sehr selten geworden. Es wurde über die letzten Jahre zu einer meiner meistgesuchten Schallplatten.  

Seit dem Quarantänen-Sommer 2020, einer Gelegenheit sowie einem großen Schuck aus der "I Just Don't Give A Fuck Anymore"-Pulle, liegt die Platte nun also regelmäßig auf meinem Teller, und ich freue mich sehr über diese zeitlose, klischeefreie, psychedelische und leider vergessene Perle der neunziger Jahre. 

Die perfekte musikalische Begleitung für den nächsten gemütlichen Abend im Opiumrausch. Der Quarantäne-Winter 2021 kann kommen. 


   


Erschienen auf Epic Records, 1999.


31.12.2020

Die besten Vinyl-Reissues 2020 (2): Trouble - Manic Frustration



TROUBLE - MANIC FRUSTRATION


Das war überfällig. Das niederländische Indielabel Hammerheart Records, in der Vergangenheit nicht immer mit blütenweißer Weste hinsichtlich (in)offizieller Veröffentlichungen unterwegs, hat sich mit den Doom Psychedelics Trouble geeinigt und über die vergangenen beiden Jahre einen großen Teil des umfangreichen Backkatalogs der Band neu aufgelegt. 

"Manic Frustration" (1992) gehört neben dem Vorgänger "Trouble" (1990) zum heiligen Gral der Fangemeinde: beide Alben gelten für viele Anhänger als Sternstunden der Band aus Chicago, verstaubten allerdings über viele Jahre in den Notarbüros von Rick Rubins Def American-Label und waren daher seit Ewigkeiten nicht mehr auf Vinyl erhältlich. Die übrig gebliebenen Fans der Band dürfen sich nun über eine Neuauflage freuen, die in fast jeder Hinsicht perfekt umgesetzt wurde: das Remaster drischt die eh schon sehr lebendige Musik geradewegs in einen Jungbrunnen und präsentiert den Proto-Stoner-Sound des Quartetts in einer unnachahmlichen Frische - wofür allerdings das im direkten Vergleich charmant angegraute Klangbild des Originals mit der Ästhetik der 1970er Jahre auf der lässig-groovenden Strecke blieb. Das glossy Cover mit unverändertem Artwork und der Einleger mit Texten sind ansprechend, die Pressung auf (in meinem Fall) rotem Vinyl ist absolut fehlerfrei und klingt irre gut. Im besten Sinne "irre" ist auch die Preispolitik des Labels: das schwarze Vinyl gibt's im eigenen Shop bereits für 15,90 Euro. 

Muss man haben.


 


Erschienen auf Def American Recordings/Hammerheart Records, 1992/2020.


09.08.2020

Das Beste des (eigenen) Jahrzehnts: Sun Never Sets - The Absurd




SUN NEVER SETS - THE ABSURD


"Ich nehme seit 1998 Platten auf und schreibe seitdem sowohl eigene Texte als auch eigene Musik und es gibt praktisch keine veröffentlichte Song- und Textsammlung, für die ich nicht ohne Zögern einen Atomkrieg anzetteln würde, auf dass dieser selbst ausgedachte Schmonz endlich vaporisiert und also vom Antlitz der Erde getilgt wird."

Bon, so schwer wie der dramatisch anmutende Ausblick zum Ende des letzten Artikels - "Kommt ihr nie drauf!" - war es dann vielleicht doch nicht, denn auch wenn ich versuche, das Ego klein und die Demut groß zu halten und darüber hinaus ein Begriff wie "stolz" weder im Sprachschatz noch Wertesystem eine Rolle spielt, bin ich von den vier mit meiner Beteiligung entstandenen Alben aus dem vergangenen Jahrzehnt mit mindestens zwei über das normale Maß hinaus verbunden. Ich habe auf diesem Blog und anderswo nie allzu großen Wirbel um die eigene Musik gemacht, und weil die zwei verbliebenen Gehirnzellen in meinem Kopf in permanentem Autopilot-Modus gegeneinander kämpfen, stellt sich Herr Dreikommablödvier im stillen Kämmerlein doch immer noch manchmal die Frage, was hätte passieren können, wäre der Wirbel ein anderer, ein größerer gewesen. Dabei ist der Traum von der Karriere als Musiker doch schon seit zwanzig Jahren ausgeträumt. 

Die Chronologie der Ereignisse verlangt den Start mit "The Absurd" von Sun Never Sets, erschienen im Sommer 2011. Die Geschichte dieser Band ist nicht in fünf Sätzen erzählt, und es gibt keinen Grund, es nicht dennoch zu versuchen: ich stieß im September des Jahres 2000 zu der damals noch unter dem Namen Soleilnoir (sic!) operierenden Band, übernahm das Mikrofon und fand mich schon ein halbes Jahr später in den Bazement-Studios von Markus Teske (u.a. Vanden Plas und Charlie Dominici) wieder, um die erste EP "Drown" aufzunehmen. Ein Jahr später wurde es leider sehr turbulent: Ich stieg aus und kehrte erst im Mai 2009 an die alte Wirkungsstätte zurück, während die Band zwischendrin mit Sänger Maggot noch zwei weitere EPs ("Interlude" und "Nucleus") veröffentlichte. Und weil rechte Sackgesichter sich mittlerweile die Begriffshoheit über die "Schwarze Sonne" (Soleil Noir) angeeignet hatten und wir deswegen von übereifrigen Volltrotteln von volltrotteligen Volltrottelbands sogar von Konzerten ausgeschlossen wurden, entschlossen wir uns recht zügig zu einer Namensänderung - Sun Never Sets waren geboren. Unser letztes Konzert spielten wir vor ziemlich genau acht Jahren, im August 2012 in Frankfurt. Offiziell aufgelöst wurde die Band kurioserweise nie, der Engländer würde wohl eher von einem "indefinite hiatus" sprechen. 

Das sind die nüchternen Fakten. Aus emotionaler Sicht stehen meine viereinhalb Jahre als Mitglied dieser Band möglicherweise als die intensivsten Bandjahre im Lebenslauf. Ich lernte Wolfgang, Jörg und Steffi kurz nach meiner ersten Krebsdiagnose und -OP kennen, und Leben und Hirn drehten sich wie Brummkreisel. Ich war Stammgast in den medizinischen Abteilungen der Frankfurter Stadtbibliothek, musste mich gegen empathiebefreite Ärzte verteidigen und mit angsterfüllten Familienmitgliedern verhandeln, dazu war ich immer noch frisch verliebt, lernte jeden Tag soviel Neues, dass ich mich jeden Morgen wie tatsächlich neu geboren fühlte, und dennoch: die Zukunft war ungewiss. Ich begegnete all dem Irrsinn mit, logo: vollen Hosen und auch einem gewissen Hedonismus, der sich in erster Linie in wahren Kreativitäsexplosionen manifestierte. Die ersten Aufnahmen im Winter 2001 verbrachte die Band für eine volle Woche Tag und Nacht gemeinsam im Studio und ich werde die gemeinsamen Abende mit Musik, Diskussionen, Rauchwaren und Pink Floyds "Ummagumma" (natürlich bis heute ihre beste Platte, fight me!) niemals vergessen. 

Ähnliches ereignete sich auch bei den Aufnahmen im Winter 2010. Erneut waren wir bei Markus Teske zu Gast, dieses Mal aber gleich für ganze zwei Wochen. Und weil die neuerliche Kreativitätsexplosion derart ergiebig war, sollte es nun erstmals ein ganzes Album mit neun Songs werden; Songs, die allesamt in den vorangegangenen sechs Monaten geschrieben wurden. Für eine nicht rund um die Uhr professionell arbeitende Band ist das gar nicht so übel.

Als wir endlich mit unserem ersten Album das Studio verließen, war das für mich ehrlicherweise ein sehr bedeutender Moment. Nicht nur, weil es unser Albumdebut war, das wir in den Händen hielten. Auch und ganz besonders, weil ich zum ersten Mal erlebte, was möglich ist, wenn jeder an der Produktion beteiligte die Idee und die Leidenschaft teilt. Die Platte klingt für das Jahr 2010 und für die zwei Wochen Produktionszeit ausnehmend gut und wirkt selbst zehn Jahre später nicht unangenehm gealtert. Und ich muss das nun zugeben: ich höre "The Absurd" immer noch gerne - und das ist sehr ungewöhnlich für mich. Weil ich aufgrund der eingangs erwähnten und persönlich wahrgenommenen Unzulänglichkeiten von Musik mit meiner Beteiligung ansonsten immer schnell in den Krümeln suchen muss: da wackelt die Stimme! Das Wort ist falsch phrasiert! Das Timing stimmt nicht! Und was ist das bitte für 1 Text? Sich mit dem eigenen Versagen zu arrangieren ist nun wahrlich keine einfache Übung. 

Der Scharfrichter in mir hat natürlich auch bei "The Absurd" viel zu tun und ich könnte aus dem Stand zwei Dutzend Momente auf- und beschreiben, die schlicht falsch sind und etwas Besseres verdient hätten. Die Zeit heilt alle Wunden, heißt es - ich kann das nicht bestätigen. Der Mumpitz ist auch 10 Jahre später immer noch sehr real.  

Dennoch tut er meiner Verbundenheit mit dieser Band, dieser Zeit und dieser Platte keinen Abbruch. 

"The Absurd" erschien im Sommer 2011 in einer Auflage von gerade mal 50 CDs im Digipak und ist natürlich komplett untergegangen. Vom Zeitgeist waren wir ganze Universen entfernt (bei Konzerten hörten wir nicht selten "Geiiiil, voll Neunziger!"), im Bandumfeld gab es praktisch keine "Fans" mehr, weil wir bis auf Schlagzeuger Johannes alle schon viel zu alt waren und der Bekanntenkreis, sofern er noch existierte, sich längst mit Frau und Kind im Eigenheim befand, und auch wenn wir pro Jahr sicher um die 25 bis 30 Konzerte mitunter in den kleinsten Käffern und Löchern spielten, tat sich erschütternd wenig. Selbst dann nicht, als wir im Frühjahr des Jahres 2012 im Frankfurt Bett im Vorprogramm einer größeren Alternative Band aus den Staaten und also vor 400 Zuschauern spielten. Hinzu kam sicherlich als der möglicherweise entscheidendste Faktor, dass wir schlicht nicht mehr alles geben wollten und konnten. Einen kleinen fünfstelligen Betrag an eine Deppenagentur überweisen, um vier Wochen durch Europas schimmeligste Clubs zu tingeln? Familie und Job aufs Spiel setzen? Im allerbesten Fall war die Mehrheit von uns, mir inklusive, in dieser Hinsicht indifferent - und das ist dann einfach zu wenig. Eigentlich ist man damit auch gleichzeitig sehr nahe an der Selbst-Sabotage. Und natürlich kann man das machen, aber dann verbietet sich streng genommen auch die Jammerei.  

Trotzdem: hätten ein paar mehr Leute die Möglichkeit gehabt, "The Absurd" überhaupt mal zu hören, wäre vielleicht ein bisschen mehr drin gewesen. Ich bin natürlich komplett voreingenommen. Für mich ist das immer noch eine tolle und ganz persönlich sehr wichtige Platte. 

Mittlerweile ist das Album praktisch nicht mehr digital erhältlich, daher habe ich es auf meinem Soundcloud-Account hochgeladen. Vielleicht wird es ja zehn Jahre später noch von ein paar Menschen entdeckt. Verdient wäre es.


12.07.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Arch/Matheos - Winter Ethereal




ARCH/MATHEOS - WINTER ETHEREAL


Es liegt ein bisschen in der (meiner) Natur der (meiner) Sache, dass jene Alben, die in den letzten nasagenwirmal ein bis zwei  Jahren erschienen sind, in dieser Bestenliste etwas unterrepräsentiert sind. Ich habe die Neigung, Platten erleben zu wollen. Gemeinsame Geschichten schreiben, Erinnerungen entwickeln, Anker setzen, tiefer graben. Das geht fast immer nur mit Zeit. Manchmal dauert es Jahre, bis die Annäherung deutlich geworden ist. Und manchmal geht es andererseits überraschend flott, meistens dann, wenn die Gegebenheiten nicht völlig neu und unbekannt sind. Bei The Sea And Cake beispielsweise ist's einfach, da stehen sämtliche Scheunentore schon seit Jahren offen und der Weg zur großen ganzen Ergebenheit ist nicht mehr so weit. Ähnliches darf ich auch über das aktuellste Album in dieser Liste schreiben, denn der Boden für "Winter Ethereal" ist im Prinzip gleichfalls seit Jahren vorbereitet. 

Und so schrieb ich es bereits vor wenigen Monaten ins Internet hinein: wenn es in den 35 Jahren meiner Leidenschaft für Musik eine Konstante gibt, dann ist es Progressive Rock und Metal, meinetwegen in allen Spielarten, Subgenres und Auswüchsen. Ich bin mir nicht sicher, ob diese Affinität tatsächlich wiederbelebt werden musste, möglicherweise gilt das höchstens und im Besonderen für aktuelle Bands und Platten, aber "Darkness In A Different Light" und vor allem "Theories Of Flight" von Fates Warning waren zweifellos verdammt laute Weckrufe für ein Genre, das ich nicht unbedingt im Verdacht hatte, mich nochmal derart zu begeistern. Vor diesem Hintergrund ist es vermutlich keine riesige Überraschung mehr, "Winter Ethereal" bereits ein gutes Jahr nach der Veröffentlichung schon in einer Bestenliste für das ganze Jahrzehnt zu sehen. Der Apfel fällt eben nicht weit vom Stamm.

Und da schließt sich folgerichtig ein weiterer Kreis für "Winter Ethereal", sind John Arch und Jim Matheos doch die teils ehemaligen (Arch), teils noch aktiven (Matheos) Protagonisten von Fates Warning. Sieben Jahre nach dem Debut "Sympathetic Resonance" haben die beiden Superhelden im Jahr 2019 alle Regler auf Anschlag gedreht: Virtuosität, Kraft, Melodie, Komplexität, Tiefe, Klang - viel mehr ist für einen, der den jüngeren Entwicklungen im Metal mit einiger Skepsis gegenübersteht, kaum mehr vorstellbar. Keine aufgesetzte Härte, kein martialisches Herumprotzen, kein Image-Dachschaden, keine nukleare Atomreaktor-Produktion, stattdessen echte Durchschlagskraft durch überragende technische Fähigkeiten, ein über alle Ebenen gespanntes und bis in die letzte Ritze totalarrangiertes Melodieverständnis und mit John Arch ein Sänger, der die komplette Kontrolle über alle lyrischen Höhen und Tiefen hat und sich wie entfesselt durch diese neun Songs schraubt - unaufhaltsam, uneinholbar, unnachahmlich. Sollten sich von seiner Entscheidung, künftig nicht mehr auf Tournee gehen zu wollen, Indikationen auf das baldige Ende seiner Gesangskarriere ableiten lassen, so hat sich dieser Mann mit "Winter Ethereal" sein eigenes, ultimatives Denkmal gesetzt. Ich wüsste auch ehrlich gesagt nicht, was noch einer solchen Darbietung noch kommen soll. 

Herzklopfen. Feuchte Hände. Freudentränen. Ein echter Meilenstein des Heavy Metal. 




Erschienen auf Metal Blade, 2019. 



26.06.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: The Sea And Cake - Any Day




THE SEA AND CAKE - ANY DAY


In den letzten zehn Jahren erschienen gerade mal zwei Alben von The Sea And Cake, und wer sich nicht erst seit gestern auf diesem Blog herumtreibt oder mich gar, Himmel hilf!, persönlich kennt, ahnt, dass frei nach Vicco von Bülow eine Bestenliste ohne The Sea And Cake zwar möglich, aber komplett sinnlos gewesen wäre. Seit 15 Jahre trage ich meine Liebe zu diesem Quartett auf, neben, unter, vor und hinter dem Herzen spazieren und es gibt nur wenige Bands, die mich mit links zu einem furiosen, mit leuchtenden Augen und bebender Stimme vorgetragenen Monolog über Schönheit, Raffinesse, Subtilität, Virtuosität von Musik schubsen können. 

Vielleicht erfuhr meine Wertschätzung mit "Any Day" einen neuen Höhepunkt, denn das ist das Schöne am Älterwerden: man lernt Außergewöhnliches eben doch noch mehr zu schätzen, als wenn Testosteron, Samenstau und generelle juvenile Quadratblödheit im Weg stehen. Fünf Jahre nach dem ebenfalls hervorragenden "Runner" haben sich die dreieinhalb stillen Helden tatsächlich nochmal aufgerafft und ihren unnachahmlichen Sound weiter verfeinern können. Jede noch so diffizile Akzentuierung gelingt mühelos, jedes Break wird sicher und souverän durch alle Stromschnellen hindurch geführt, jede Melodie als Kokon sorgfältig verschnürt und mit großer Selbstverständlichkeit und einem Klaps auf den Hintern in die Freiheit geschickt. Wer ihnen genau auf die Finger und auf die funkelnden Hochenergiesynapsen in den vernetzt arbeitenden Gehirnen und Herzen schaut, wird im Verlauf von "Any Day" kaum ohne spitze Freudenschreie auskommen. 

Nie war dieses Urteil wertvoller und wahrer als heute: Was für ein Erlebnis, diesen absoluten Könnern zuzuhören. Ich lebe für solche Momente. 

The Sea And Cake ist Leben. 




Erschienen auf Thrill Jockey, 2018. 


26.05.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Fates Warning - Theories Of Flight




FATES WARNING - THEORIES OF FLIGHT


Jim Matheos und Ray Alder bliesen mir vor vier Jahren den eigentlich längt eingemottet geglaubten Heavy Metal-Marsch zurück ins Haus, und wo das gesagt ist: nicht nur mir! Die Herzallerliebste, schwerem Metall ansonsten nicht über alle Maßen zugeneigt, zeigte sich ebenfalls beeindruckt und hörte vor allem den zentralen Über-Song dieses Albums "The Light And Shade Of Things" über einen kompletten Sommer hinweg täglich auf heavy rotation - in voller Anerkennung des Kults um die Frühwerke der Band seitens der sowieso sehr loyalen Fanbase, ist dieser zehnminütige Wahnsinnstrack vielleicht das Beste, was jemals aus Herz und Hirn der beiden eingangs erwähnten Männer herausfiel. 

Folgerichtig sind die zwei auch die Stars dieser Platte. Alder mit seiner unnachahmlich dunkel-aufgerauten, gereiften und nie besser klingenden Stimme und Gitarrist/Songwriter/Kompass Jim Matheos, letzterer aus drei Gründen. Erstens: niemand spielt so wie er. Zweitens: niemand schreibt so wie er. Drittens: Niemand produziert so wie er. Wer hat denn bitte jemals eine besser klingende Metalgitarre gehört als in der Single "Seven Stars" und ihrem in voller Breitseite durchgepeitschten offenen D-Akkord? Eben - niemand! 

"Theories Of Flight" ist das beste Fates Warning-Album aller Zeiten.




Erschienen auf Inside Out, 2016.

07.03.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Minus The Bear - Omni




MINUS THE BEAR - OMNI


Der erste ernsthafte Versuch dieser, und es darf mittlerweile so gesagt werden: Indierock-Ikone aus Seattle, jeden in ihren Augen überflüssigen Ballast aus ihren Songs zu entfernen, führte zu einem Album, über das ich bereits vor acht Jahren dachte, man sei nur noch einen Katzensprung von einem unveröffentlichten Genesis-Album aus den 1980er Jahren entfernt - und bevor die Frage aufkommt, wie das jetzt schon wieder zu verstehen sei: natürlich nur im allerbesten Sinne. 

Ganz vielleicht wollten sowohl Band als auch Label mit "Omni" auch den Weg in Richtung Mainstream und damit Weltherrschaft gehen, bis ein paar Jahre später klar war, dass dafür schon so einiges zusammenkommen und -passen muss. Dabei hätte es meinethalben gerne klappen können - und ihr fünftes Album wäre geradezu dafür prädestiniert gewesen. Sänger Jake Snider sang auch auf "Omni" immer noch von allerlei Anzüglichem, während er sich bekifft in den Bettlaken räkelte, hatte aber nun die Mathrock-Hühnerbrust mit einem Holzfällerhemd verdeckt und ließ sich außerdem einen stattlichen Vollbart stehen, in dem sich die Sünden der vergangenen Nacht sammelten. 

Für unbeschwerte Sommertage mit Hanfplantage in Hanglage und einem handgepressten Pferdeapfelburger aus der Hipster-Manufaktur gibt es fast nichts Besseres. 



Erschienen auf Dangerbird Records, 2010.



01.03.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Atheist - Jupiter




Schon seit einigen Wochen sitze ich noch mehr als üblich im mentalen Sandkasten und halluziniere in den buntesten Farben eine Art Auftrag herbei, über die besten Platten der letzten zehn Jahre zu schreiben - denn was 2010 galt, kann für 2020 meinethalben auch gelten, es geht hier ja schließlich immer noch um "Content!" (Antitainment).

25 Alben sollten es am Ende des real existierenden Excel-Massakers werden und ich kann freudig weißen Rauch aufsteigen lassen: es ist vollbracht! Zwischen Discogs-Sammlung, Jahresbestenlisten, Plattenregal und Alzheimer werde ich diesem Blog wenigstens für eine kurze Zeit wieder ein bisschen Leben (und außerdem viele der so innig geliebten Tippfehler) einhauchen - und ich nahm darüber hinaus die Übung gleich zum Anlass, ein wenig über die letzten zehn Jahre zu reflektieren. Das war nicht immer einfach. Manches aus jener Zeit erscheint emotional heute weiter von mir entfernt zu sein, verblasster und undurchdringlicher als die gefühlsmäßige Standleitung in die romantisch verklärte Adoleszenz in den 1990er Jahren, und das wirft bei entsprechender Chraktereigenschaft unangenehme Fragen aufs Tableau. Die Zäsur des Jahrzehnts war sicherlich mein Jobwechsel im Jahr 2015, der im Prinzip mein bisheriges Leben auf den Kopf stellte. Wer belastbares Beweismaterial sucht, findet es in den seitdem deutlich zurückgegangenen Beitragszahlen auf diesem Blog; ein Umstand der mich nicht gerade mit Stolz erfüllt. Offensichtlich konnte ich mich 2016 noch irgendwie durchbeißen, aber bereits ein Jahr später musste ich immer öfter die weiße Flagge in das Alltagsgetöse halten, und ich sehe leider nicht, wie sich das ohne stattlichen Lottogewinn künftig ändern ließe. Was indes Hoffnung macht: auch wenn die Frequenz der geschriebenen und hochgeladenen Texte sank, ist überhaupt und immerhin noch eine Frequenz vorhanden! Das klingt im mehr oder minder gut verschleierten Subtext fatal nach "Es war ja auch nicht alles schlecht!", dabei ist's ja nicht anderes als ein bereits ordentlich ausgefranster Strohhalm, an den ich mich immer noch klammere. Es ist schon alles ziemlich verrückt.

Dabei macht mir das Schreiben immer noch sehr viel Spaß, vor allem, weil es die Auseinandersetzung mit der Musik "fördert und fordert" (Schröder). Das Problem dabei: auch wenn es die Qualität öfter als mir lieb ist nicht unbedingt vermuten lässt, so ist für meine Texte ein ziemlich großer Aufwand notwendig. Die Recherche, das Sammeln der Gedanken, die unzähligen Textentwürfe, die andauernden Überarbeitungen - und all das im Zeichen des allgegenwärtigen Kleinkriegs mit der Prokrastination und der sowieso immanenten geistigen Limitierung - machen praktisch jeden Beitrag zur Mut- und Kraftprobe. Und wenn dann noch die Zeit fehlt, und die fehlt wirklich fucking immer, schmeiße ich schon beim bloßen Gedanken an den zu erwartenden Krampf beim Ringen nach Worten, nach Stil und Eleganz das Handtuch. Ein Rückblick auf die letzten zehn Jahre machte mir deutlich, dass ich höchstens 10% der in dieser Zeit geschriebenen Texte für einigermaßen erträglich halte, im Sinne von "ohne gröbere Fremdscham bis zum Ende des Artikels lesbar". Der Rest ist oft halbgar recherchiert und hölzern formuliert, vielleicht immer gut gemeint, aber selten wirklich gut gemacht. Einiges überarbeite ich im Stillen teils noch Jahre später, wenn ich mal wieder über ganz besonders furchtbare Peinlichkeiten stolpere; ich habe schon Beiträge nochmal komplett neu geschrieben, die vermutlich wirklich niemand mehr jemals lesen wird, aber ernsthaft: ich kann das doch so nicht stehen lassen!

Es ist im Prinzip wie bei meiner selbstgemachten Musik. Ich nehme seit 1998 Platten auf und schreibe seitdem sowohl eigene Texte als auch eigene Musik und es gibt praktisch keine veröffentlichte Song- und Textsammlung, für die ich nicht ohne Zögern einen Atomkrieg anzetteln würde, auf dass dieser selbst ausgedachte Schmonz endlich vaporisiert und also vom Antlitz der Erde getilgt wird. Da arbeitet man Jahre an sowas, nimmt es unter gröbsten Anstrengungen auf, ist exakt für zwei Minuten glücklich - und ist sprichwörtlich beim ersten Schritt aus dem Aufnahmestudio soweit, sich auf der Heimfahrt den finalen Baumstamm auf der Landstraße auszusuchen - wie konnte ich diese eine Melodie denn bitteschön so scheiße singen?! Warum habe ich denn da zwei Mal die gleiche Strophe gesungen? Fucking hell, die Gitarre ist verstimmt! Aber mein Über-Ich in einem Paralleluniversum war beim initialen Gedanken offenbar der Meinung, dass es sich doch auch prima mit halber Kraft fahren ließe - und ließ bei der Erkenntniss glatt einen fahren. Die stetig voranschreitende Mediokrität der eigenen Umwelt hat ja auch sein Gutes, das Feigenblatt zur Abdeckung der eigenen Mittelmäßigkeit kann mithin nicht groß genug sein.

Genug mit der Selbstkasteiung, sprechen wir lieber über Musik. Denn musikalisch betrachtet war es das beste Jahrzehnt aller Zeiten, stilistisch ein möglicherweise gar zu gleichen Teilen konsistenteres und eklektischeres als das vorangegangene. Ich denke, die folgende Auswahl er 25 besten, tollsten und geliebtesten Platten kann diese These bestätigen. Ich fühle mich mittlerweile in dem Spannungsfeld der nachwievor manischen und so unabhängig wie nur möglich durchgeführten Suche nach neuer Musik und dem immer wieder vollkommen erfüllenden Abtauchen in bekannte und längst auf dem Olymp stehende Alben ganz wohl - es gehört zum fast täglichen Ritual, sowohl das eine, als auch das andere in meinem Leben zu begrüßen. Auch wenn der Drang, sich wegen latenter Überforderung immer mehr aus dem Tagesgeschäft zurückzuziehen, durchaus vehementer spürbar ist als noch vor fünf Jahren. Im Moment halte ich den Gegenwind noch aus.

Und dieser letzte Satz ist vielleicht eine etwas krude Einleitung für eine Textreihe, die sich explizit mit der Vergangenheit auseinandersetzen soll. Da haben wir's wieder: einmal nicht nachgedacht, schon kommt nur "Mumpitz" (Matthias Breusch) raus.

Auf die nächsten zehn Jahre Mumpitz.


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ATHEIST - JUPITER 

Atheist haben mit "Jupiter" ein Album eingespielt, das qualitativ nahtlos an ihre ersten drei Klassiker "Piece Of Time" (1989), "Unquestionable Presence" (1991) und "Elements" (1993) anschließt. Mir fällt sonst keine andere reformierte Metalband mit entsprechender Fallhöhe ein, die das erreichen konnte - was vermutlich auch der Grund dafür war, im Oktober 2010 und damit also kurz nach dem Release des mich, Zitat: "wuschig" machenden Vorabstracks "Second To Sun" darüber zu phantasieren, dass mich das kurz darauf zu veröffentlichende Album ganz sicher nicht so mitnehmen werde wie ihre Frühwerke. Gebranntes Kind, und so. Und zack, zehn Jahre später hat's mich geradezu mit- und weggerissen. Technisch so anspruchsvoll wie eh und je, kraftvoll und kompromisslos, dazu mit der so typischen (für Atheist) wie ungewöhnlichen (für das Genre) Eingängigkeit ausgestattet, ist "Jupiter" der nächste Meilenstein im Schaffen dieser einzigartigen Band - auch wenn die Experimentierfreudigkeit meines Lieblingsalbums "Elements" beim Comeback in der Grastüte vergraben blieb. Gerüchte über ein neues Album halten sich seit Jahren hartnäckig, tatsächlich hat man im Jahr 2018 sogar einen neuen, weltweiten Plattenvertrag unterzeichnet, aber abseits einiger Tourneen auf der anderen Seite des großen Teichs, hat sich bislang leider nichts getan. Wenn "Jupiter" ihr Schwanengesang bleiben sollte: ich kann damit bestens leben.




Erschienen auf Seasons Of Mist, 2010.



29.02.2020

Warrior Soul - Live In London 2000




Endlich! Endlich, endlich, endlich! FUCKING ENDLICH!

Ich frage mich seit 20 Jahren, warum von der sagenumwobenen Reunionshow der besten Rockband des Planeten im herbstlichen London des Jahres 2000 bislang weder etwas zu sehen, noch zu hören war. Die Antwort auf diese Frage bleibt auch die heutige Entdeckung schuldig, aber immerhin ist hiermit nun die bild- und tonlose Zeit endlich vorüber.

Bereits im April des vergangenen Jahres erbarmte sich Gerry Gillan und lud die komplette Show auf Youtube hoch: Warrior Soul - Live In London.

Etwa zwei Monate nach diesem Gig veröffentlichte die Band das "Classics"-Album, eine Zusammenstellung ihrer größten Hits (in weiten Teilen sogar neu eingespielt) und wären diese vier Bekloppten jemals halbwegs bei Trost gewesen, hätten wir vielleicht sogar ein neues Studioalbum in der Originalbesetzung hören dürfen - aber es kam, wie es wohl kommen musste, und die Band, in dieser Besetzung traditionell ein einziges Pulverfass, brach erneut auseinander. Dieses Mal für immer: Schlagzeuger Mark Evans wurde 2005 in England ermordet. Mit ihm wurde auch das Original-Lineup begraben. 

Dieses Video ist pures Gold, ein heiliger Gral für die mittlerweile äußerst überschaubare Fangemeinde. 

Und wer nochmal nachlesen möchte, was ich vor über acht Jahren (fucking hell!) über Warrior Soul zu denken, sagen und schreiben hatte, nimmt sich einen halben Tag frei und macht schon mal die Hose auf:







08.02.2020

Best Of 2019 ° Platz 1 ° Arch/Matheos - Winter Ethereal




ARCH/MATHEOS - WINTER ETHEREAL


Selbst meine seit knapp 20 Jahren andauernden Streifzüge abseits der gleichfalls geliebten Rockmusik und also durch das Dickicht solch unterschiedlicher Genres wie Jazz, Electronica, Techno, Ambient, Soul und Funk können es nicht verhehlen. Es war nie sexy und es wird wohl auch niemals sexy sein, aber ich komme wohl nicht drum herum: Progressive Rock und -Metal sind meine Inseln, meine Leuchttürme und meine Rettungsanker. Und bevor mir noch ein weiteres maritimes Bild einfällt, will ich's schnell begründen. Sollte ich jemals auf die Idee kommen, meine, sagenwirmal 50 meistgeliebten Alben in einer Art Reihenfolge aufs Papier zu bringen, stehen die Chancen für einen mindestens 70% ausmachenden Anteil jener Musik nicht schlecht, die gemeinhin unter dem Rubrum "progressiv" firmiert. King Crimson, Dream Theater, Atheist, Marillion, Voivod, Fates Warning, Spock's Beard, Psychotic Waltz, Tool würden allesamt gleich mehrfach in dieser Liste auftauchen, und bis heute komme ich trotz meiner immer noch sehr ausgeprägten Auseinandersetzung mit neuer Musik immer wieder und sehr regelmäßig zu diesen Bands und ihren Platten zurück. Um ehrlich zu sein: je älter ich werde, desto öfter kehre ich zurück. 

"Winter Ethereal" sollte also auf fruchtbaren Boden fallen - auch ohne besondere Affinität zum Kultalbum Fates Warnings "Awaken The Guardian" aus dem Jahr 1986, das die Band zum letzten Mal mit Sänger John Arch zeigte, bevor Ray Alder zum Quartett aus Conneticut stieß, der seitdem höchstens noch von ein paar Betonköpfen von der Sängerposition wegzudenken ist.

Gut sieben Monate nach der Veröffentlichung ist "Winter Ethereal" meine Platte des Jahres 2019. 

Ich möchte den Anteil von Gitarrist Jim Matheos an diesem Titel nicht schmälern; der Mann erlebt bereits seit einigen Jahren seinen x-ten kreativen Frühling und seine aktuellen Kompositionen für Fates Warning sowie für "Winter Ethereal" sind vielleicht die besten, die er je geschrieben hat. Seine Produktionen sind absolut state-of-the-art; ich habe seit 20 Jahren keine so natürlich und gleichzeitig so groß und offen klingende Metalplatte mehr gehört. Seine Sounds sind geschmackvoll und mehrere Universen von stumpfem Haudrauf-Metal entfernt, stattdessen wohlüberlegt und mit großer Erfahrung ins Sounddesign eingepasst. Auch seine Auswahl von Begleitmusikern für "Winter Ethereal" ist beeindruckend: nicht nur hat er beinahe die ganze Fates Warning Truppe zusammengetrommelt, inklusive früherer Mitglieder Mark Zonder und Frank Aresti, sondern darüber hinaus auch noch Steve DiGiorgio, Sean Malone und Schlagzeuger Thomas Lang für dieses Projekt gewinnen können. Matheos ist ein nimmermüder Suchender, ein intelligenter, emotionaler und introvertierter Musiker, der immer den berühmten Schritt weitergehen möchte, ohne dabei die klassische Signatur seiner Musik zu verlieren. 

Der eigentliche König auf "Winter Ethereal" ist aber Sänger John Arch. Ich habe schon sehr lange keinen Sänger mehr so singen hören. Arch hat sich nach seinem Abschied von Fates Warning vor über 30 Jahren sehr rar gemacht. Außer einer in den frühen nuller Jahren erschienenen EP tauchte er erst 2012 für das erste Arch/Matheos-Album "Sympathetic Resonance" wieder auf. Die Legende sagt, dass er in seinen Ruhephasen überhaupt nicht singt und deswegen ein ganzes verdammtes Jahr zur Vorbereitung benötigt, um entweder ein Aufnahmestudio zu besuchen oder eine Bühne zu betreten, damit er den Rost aus den Stimmbändern kratzen kann. Wer "Winter Ethereal" hört, mag das verstehen: Arch singt um sein Leben. Er singt viel, sehr viel sogar - beinahe ohne jede Verschnaufpause geht es in den allerhöchsten Stimmlagen über die gesamte Spielzeit dahin; tatsächlich wird seine Performance nur von zwei oder drei etwas längeren Gitarrenduellen zwischen Matheos und Aresti bewusst unterbrochen. Jeder ängstlich herbeihallizunierte Reflex, diesen extrem verschnörkelten, aus jedem Ruder laufenden, wieselflink zusammengepuzzelten Gesangslinien selbst zu folgen, sie also nachzusingen, wandert meist nach zwei Sekunden in die nächstbeste Tonne, stattdessen überfällt mich ein Gänsehautschauer nach dem anderen. Sein Gesang, seine Stimme, seine Texte so kraftvoll und so mächtig, seine Melodien so überwältigend, dass ich mir manchmal nicht anders zu helfen weiß als (i) in die Knie zu gehen, (ii) den Tränen freien lauf zu lassen oder (iii) der Herzallerliebsten nachts um 2 eine astreine Air-Mic-Vorstellung vor dem Plattenspieler zu geben. Irgendwo müssen die Gefühle ja hin. 

Alles, was mir musikalisch soviel bedeutet, ist hier zu finden: die emotionale Tiefe von Psychotic Waltz, die Dunkelheit und Melancholie der "Pleasant Shade Of Grey"-Phase von Fates Warning, die Komplexität und Wucht von Nevermore, die Verspieltheit von Dream Theater. Und doch könnte "Winter Ethereal" nicht weiter von Nostalgie und Pastiche entfernt sein.

Ich schrub im hellen Lichte von "Theories Of Flight" bereits vor drei Jahren, dass ich mich so darüber freuen konnte, diese Gefühle wieder entdeckt zu haben: ein hochklassiges, echtes, authentisches, tiefes, melancholisches, herausragend komponiertes und atemberaubend gut gesungenes Metalalbum hören zu dürfen. Jetzt ist es dank "Winter Ethereal" also wieder passiert, vielleicht sogar noch ausgeprägter als 2016. 

Ein echter Meilenstein, ein Meisterwerk, ein absolutes Ausnahmealbum, das mir bis zum Schlagen des letzten Stündleins nie mehr von der Seite weichen wird. 




Erschienen auf Metal Blade Records, 2019.