"Wenn man Hannelore Kohl, die Sharon Stone aus Oggersheim zu Gast hat, dann ist es schon sinnlich, wenn man mit der flachen Hand auf einen ausgestopften Saumagen klopft." (Oliver Kalkofe)
Sechs Jahre nach ihrem letzten Album "Somersault", das ich seinerzeit mit der Einschätzung in meine Top 30 des Jahres 2017 rollte, es klänge, als hätten "Paul McCartney, Robert Smith, Sam Prekop und Johnny Marr am Strand von Kalifornien gehascht und wegen des gemeinsam bestaunten Sonnenuntergangs vor Ergriffenheit das Heulen angefangen", versüßte das Quartett aus Brooklyn mit dem Comeback "Bunny" meinen letzten Sommer - und das in Zeiten, die von tiefer Trauer über den Tod unseres Hunds Fabbi geprägt waren. Eigentlich eine unlösbare Aufgabe, aber ähnlich wie Element Of Crimes "Morgens Um Vier" traf "Bunny" einen ganz besonderen Nerv.
Dass es ausgerechnet diese Musik schafft, mich so weichzuklopfen, ist mittlerweile eigentlich keine Erwähnung mehr wert. Wie oft habe ich schließlich schon in niemals enden wollenden und unverständlichen Satzungetümen darüber referiert, welche Anziehungskraft bisweilen von Projekten wie Tropics, Absolute Boys, Dreamscape, Slow Magic oder den leider sehr unrühmlich verglühten HOOPS ausgeht.
Dieser unwiderstehlichen Mischung aus Lo-Fi Indie Pop (fürs Understatement), Shoegaze (fürs Schwüle, Warme, Feuchte) und einer Prise Postpunk (für die Zehenamputation wegen Unterkühlung), die den Schaltplan für Romantik, Nostalgie und Tagträume erstellt. Nach dem Zauber und dem Glanz in der Tristesse zu suchen war ein nobles Hobby in meiner Adoleszenz, nicht notwendigerweise aus Selbstmitleid, sondern weil die Vertiefung so verführerisch war. Insofern schließt sich hier der Kreis zum vergangenen Sommer: "Bunny" war gleichermaßen Trost und Heilung, weil es den Blick über die Trauer erhob und die Gefühlspalette erweiterte. Wir sahen ein paar Lichtstrahlen, ein paar Reflektionen. Spürten Sonne auf der Haut. Und wir erinnerten uns.
Der immer noch so behutsam verhuschte Sound der Beach Fossils ist einerseits verknüpft mit einem außergewöhnlichen Gespür für Melodien - beispielhaft der zum Sterben schöne Harmoniewechsel im Refrain von "(Just Like The) Setting Sun" mit seinem im Zwielicht orchestrierten Streicherarrangement oder das Gitarrengeflacker in "Anything Is Anything", in dem jeder noch so schüchtern gespielte Anschlag eine melodische Dringlichkeit entwickelt - andererseits ist er der Mutterboden für die Ästhetik des melancholischen Großstadtslackers.
Für immer 25, für immer emotionales Chaos, für immer verliebt, für immer Hoffnungslosigkeit.
What year is it today?
It's funny how time slips away
Living in Nеw York, it can grind you down
I tell you, it will grind you down
Es ist zu gleichen Teilen imponierend wie beängstigend, wie mich die Beach Fossils zwanzig, dreißig Jahre in mein früheres Leben zurückschleudern - und wie fucking wehrlos ich dagegen bin. Ich spüre, wie sehr ich mich hier fallen lassen kann. Wie sehr ich hier verschwinden will. Und wie sehr ich für immer dort bleiben will.
Miniaturen aus dem Nichts. Sounds für Zigaretten und Kaffee im Schlafzimmer. Für eine einsam brennende Kerze in einem dunklen Raum. Für Umarmungen, die die Sehnsucht und tief empfundene Verbundenheit in eine gemeinsame Schwingung versetzen. Für das Dahindämmern. Für den leeren Blick gegen die Wand. Für Sonnenbrillen in der Nacht.
Wer die spirituelle Verbindung kennt, die frühneunziger Shoegaze und mittneunziger Trip Hop ins interne Gefühlsdickicht einer ganzen Generation einzuhäkeln vermochte, wird "Lashes" mit seeligem Lächeln ins Herz schließen. Das faszinierende Spiel mit der gegenseitigen Anziehung und einer Intimität, die sich in jenen tieferen Schichten ablagert, in denen Worte nicht artikuliert werden, sondern sich in einer Übersinnlichkeit vereinen, beherrschen Brooklyn Mellar und Ike Zwanikken auf ihrem zweiten Album in beeindruckender Souveränität.
Betörende Leuchtfeuer-Gitarren, bis in die Exosphäre eindringend und dort dem eigenen Untergang entgegensehen, langsam zerfallend bis nur noch einsame Gasmoleküle ums Überleben kämpfen, ein stoischer Beat für die eisgekühlten Kopfnicker, die Bowery Electrics "Beat" und die lebhaften, aufgeheizten Momente von Portishead in die eigene DNA eintätowiert haben, ein Lo-Fi-Lavasee für die Grundierung, der mehr Skills für das Wegdämmern, die Entzweiung, das Abdriften im Lebenslauf notiert hat als ein frisch aufgebrühtes Tässchen Ketamin - und die weltentrückte Stimme von Brooklyn Mellar, so eisgekühlt wie sinnlich in den Zwischenwelten schwebend, in denen der eigene Rückzug über geheime Kanäle infiltriert und die Kälte zurückgedrängt wird. Ich finde diese emotionale Serpentinenfahrt durch das eigene noch unerforschte Gelände überaus attraktiv.
Immer wenn ich "Lashes" auflegte, hörte ich es mehrere Male hintereinander am Stück. Eine süchtig machende Musik.
Erschienen auf Motion Ward, 2023.
P.S.: Die CD-Auflage war auf lediglich 100 Stück begrenzt und ist mittlerweile ausverkauft, aber es hallen Gerüchte durch die Plattensammlercommunity, dass Planungen für eine Vinylversion aufgenommen wurden - was absolut zu begrüßen wäre.
"Das Leben ohne Liebe ist nicht so einfach, wie Du glaubst." (Sven Regener)
Im vergangenen Juni starb unser Hund Fabbi. Er war unser erster Hund und war seit August 2009 in unserer Mitte, gerettet aus einem spanischen Tötungslager und mit einem Mercedes-Transporter in einem über 20 Stunden dauernden Ritt auf eine Waldlichtung bei Würzburg gebracht. Fabbi wurde 19 Jahre alt.
Die acht Monate vor seinem Tod waren... - ich habe jetzt ein paar Minuten über das passende Wort nachgedacht, aber ich finde keines. Fabbi wurde im Oktober 2022 krank, und was zunächst nach einer nicht unbedingt ungewöhnlichen, wenn auch unschönen Magen/Darm-Episode aussah, entwickelte sich über einige Wochen zu einem Dauerzustand. Er hörte nichts mehr, er fraß nur noch unregelmäßig, die Demenz verschlimmerte sich zusehends, sein rechtes Hinterbein knickte nach innen weg, weil der Rücken, so oder so geschwächt von einem Bandscheibenvorfall aus dem Jahr 2019, offenbar nicht mehr genug Kraft hatte, ihn hinten gerade zu halten. Alina und ich taten in dieser Zeit alles, um sein Leben so leicht und unbeschwert wie nur irgend möglich zu machen - die Frage, ob es für ihn das leichte und unbeschwerte Leben denn unter diesen Umständen überhaupt noch geben kann, war sowohl ständiger Begleiter wie auch eine ständige Erinnerung an das Ende. Und an die Entscheidung über Leben und Tod, die wir irgendwann treffen mussten. Er würde es uns nicht ersparen können, das war klar. Die Wahrheit aber ist: ich konnte ihn nicht gehen lassen.
Wir schliefen über diese acht Monate keine einzige Nacht durch. Wir beruhigten ihn, wenn er nachts wie ein Getriebener durch das Schlafzimmer irrte, wir schliefen mit ihm auf dem Boden, vor seinem Bettchen, streichelten ihn, nahmen ihn in unsere Arme, beschützten ihn, küssten seinen Kopf. Traten um 3 Uhr nachts mit ihm auf die leeren Straßen Sossenheims, damit er nochmal pissen oder kacken konnte. Ich lief manchmal eine ganze Abendrunde um den Block zu ihm heruntergebeugt, damit er hinten nicht wegknicken und damit besser laufen konnte. Verbrachte Stunden mit ihm vor seinem gefüllten Fressnapf, um ihn irgendwie zum Fressen zu bewegen. War zu Tode betrübt, wenn es mal wieder nicht klappte und dann wieder fast schmerzhaft unangemessen euphorisch, wenn er aus dem Nichts plötzlich damit anfing, sein Futter geradewegs zu inhalieren. Ich war am Boden zerstört, wenn er seinen sonst so geliebten Plüschknochen nur mit leerem Blick hinterherschaute und weinte vor Freude, wenn er ihm mal drei Meter hinterhersprang und dann versuchte, ihn mir zurückzubringen. Dann war es für wenige Minuten so wie früher. Dann erkannte ich unseren Fabbi wieder. Vielleicht erkannte er sich in jenen Momenten auch selbst wieder, erinnerte sich an das Herumtollen, die Belohnungen, sein geliebtes Nasch-Nasch, die Streicheleinheiten. Aber die Momente wurden seltener. Und dann noch seltener. Und am Ende, da gab es sie schlicht nicht mehr.
Ich weiß auch nicht, wie das gehen soll
Ich bin schon viel zu lang' allein
Mein Mut ist klein, mein Herz ist kalt
Doch mit dir zu sein ist wundervoll
Emotional und körperlich war ich im absoluten Ausnahmezustand. Und ich muss das so deutlich sagen: ich war ein ferngesteuertes, auseinanderfallendes Wrack. Und für Fabbi hielt ich das Wrack auf Kurs, um jeden fucking Preis. Denn die Wahrheit ist: ich konnte ihn nicht gehen lassen.
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Ab dem 22.Juni 2023 waren Alina und ich alleine in unserem Haus. Zum ersten Mal seit 1999 waren wir nur noch zu zweit. Unsere Katzen Kleini und Schnuffel mussten uns schon früher verlassen, Fabbi war der letzte vierbeinige Mitbewohner. Und wie sehr uns sein Sterben wirklich mitgenommen hatte, wie erloschen wir waren, das erkannten wir eigentlich erst so richtig in den kommenden Wochen und Monaten, als wir uns langsam wieder aufrappeln mussten und feststellten, dass das Loch, in dem wir saßen, sogar noch tiefer war als zunächst befürchtet.
Ende August musste ich als Businesskasper zu einem Termin in Hamburg reisen. Wir entschieden, dass wir die Gelegenheit nutzen und zwei Tage auf eigene Faust anhängen, um mal rauszukommen, um etwas anderes zu sehen, Luft reinzulassen, vielleicht zur Abwechslung auch mal wieder ein bisschen Licht. An einem leicht bewölkten, trüb-sonnigen Sonntagmittag setzten wir uns ins Auto und fuhren von Hamburg nach Timmendorfer Strand an die Ostsee. Fabbi liebte den Strand. Unvergessen sind die vielen Momente dieses komplett durchdrehenden Fellballs, wenn er am Meer war. Als Soundtrack für unsere Reise wählten wir "Morgens Um Vier" von Element Of Crime...
...und ich habe die gut 60 Minuten dauernde Fahrt praktisch durchgeheult.
Hier sei gesagt: Ich bin nicht unbedingt glühender Fan von Element Of Crime. Ich bin der Band grundlegend sehr zugeneigt, einige ihrer Songs hinterließen ihre Spuren in meinem Leben, andere laufen schnurstracks an mir vorbei, ohne eine Berührung zu verursachen. Wenn jedoch "Morgens Um Vier" seine Kreise zieht, steht mein Gefühlszentrum im Vollbrand. Es mag am berüchtigten Set und Setting des Erstkontakts gelegen haben, dass ich so entflammbar war, so empfänglich für diese in purer Schönheit, subtilem Humor, alternativlosem Optimismus und hedonistischer Kapitulation gebatikte Melancholie. Und es mag der wenigstens in dieser Causa noch halbwegs funktionierenden Erinnerung an diese Autofahrt zu verdanken sein, dass es mich auch an einem frühlingshaften Tag im März des Folgejahres noch immer beinahe zerreißt.
Die Magnolie wird blühn
Und der Rasen wird grün
Und der Flieder die Bienen verzaubern
Und die Vögel singen im Vogelbeerbaum ihre Lieder
Und dann kommst du wieder
Und gehst nie wieder fort
Von hier
In die unnachahmliche Mischung aus Indierock, Chansons, Pop und Jazz, meisterhaft inszeniert sowohl für eine kammermusikalische Aufführung wie für die Grandezza der Elbphilharmonie, mit einem nahezu perfekten Gespür für die eleganten und schwärmerischen Arrangements, setzt Sänger und Texter Sven Regener mit seiner typischen, leicht ruppigen Art seine Worte über die Liebe, das Altern, das Zweifeln, die Furcht, die Sehnsucht, das Erkalten...die Entzündungen des Lebens.
Im zaudernden, beinahe torkelnden "Wieder Sonntags" singt Regener:
Wer braucht alte Sofas, wenn du nicht draufsitzt
Wer braucht schöne Lieder, wenn du sie nicht singst
Ein Lächeln von dir war schon immer Gottes größtes Wunder
Und den Himmel versprach schon immer die Liebe, die du bringst
„Bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie „Ich“ sagen.“ (Theodor W. Adorno)
Als Anthony Fantano, "Internet's busiest music nerd", vor gut zwei Jahren glatte und überaus seltene zehn Punkte an "The Turning Wheel" der kalifornischen Künstlerin SPELLLING vergab, war klar, was zu tun ist: kaufen! Und zwar so, wie ich es am liebsten mache, "commando", also nackig und also ohne vorangegangenes Testhören, wie immer planlos und mit offener Hose. Fantanos Beschreibung der Musik reichte aus, um schnell angefixt zu sein. Und wenn ich für die Bestenliste 2021 nicht in den Dornröschenschlaf gefallen wäre, hätten meine werten Leserinnen und Leser bereits damals lesen können, wie ich mit der Bewertung (i.S.v. "Kategorisierung") des dritten Albums von Tia Cabral zwar meine liebe Mühe hatte, aber gleichzeitig fasziniert war von diesem Kaleidoskop unterschiedlicher Einflüsse, dem außerweltlichen Gesang und den mit reichlich Mystik inszenierten Songs. Das Album ist nicht nur in meinem persönlichen musikalischen Kosmos eine Ausnahmeerscheinung, und ich finde vieles davon bis heute unerklärlich und rätselhaft.
Das im August 2023 erschienene "SPELLLING & The Mystery School" ist eine Zusammenstellung von Neuinterpretationen ihrer früheren Songs, die nun hier zum Teil erstmals in einem Bandkontext vorgestellt werden und deren neue Versionen sich aus den mit voller Band gespielten Konzerten der "The Turning Wheel"-Tournee entwickelten. Vor allem für jene Titel, die den ersten beiden Alben "Pantheon Of Me" (2017 in Eigenregie veröffentlicht) und "Mazy Fly" entnommen wurden, sind die Überarbeitungen ein künstlerischer Gewinn: SPELLLINGs Musik war in den ersten Karrierejahren sehr reduziert, kühl, sehr synthielastig und stilistisch mit Elementen des Darkwave und sogar einer gewissen Goth-Ästhetik spielend. Das hatte durchaus einen geisterhaften, geheimnisvollen Charme. Der Sprung von "Mazy Fly" zu "The Turning Wheel" war dann allerdings ein gewaltiger, wie auch Fantano in seiner Rezension hervorhob: der vormals auf das Wesentliche beschränkte und eher dürr zu bezeichnende Ansatz ihrer Musik erfuhr plötzlich die voluminöse, detaillierte, sich stetig ausbreitende Produktion eines Art Pop-Projekts, ein bisschen transzendental und metaphysisch, wie es bei Alben von beispielsweise Kate Bush oder auch Björk erfahrbar ist. An dieser Stelle setzt "SPELLLING & The Mystery School" an.
Ich gehe so weit zu sagen, dass die Songs von "Patheon Of Me" und "Mazy Fly" hier die "The Turning Wheel"-Behandlung bekamen - und in diesen Fällen kristallisieren sich einige echte Höhepunkte des Albums heraus. Der Opener "Walking Up Your House" wächst aus der Synth/Stimme-Miniatur des Debuts zum großzügig aufgezogenen Überflieger, "Under The Sun" durchläuft dank Piano, Schlagzeug und des Streicher-Arrangements des Del Sol String Quartetts gleich mehrere Metamorphosen, vom 70er-Abba-Vibe zu Beginn zum abruptem Wechsel in das Zaubergartenlabyrinth mit Fliegenpilzeintopf und dem Schlussakkord, der die folkige Stimmung mit selbstbewusster Kickdrum durchbricht. "Haunted Water" spielt wie "Phantom Farewell" mit dem bereits im Original wahrnehmbaren dunklem Wave-Geflacker und verbindet es mit tanzbaren Beats und einer Ahnung von Pop-Appeal zwischen (späten) Dead Can Dance und (mittleren) Depeche Mode. Die vier Neueinspielungen von "The Turning Wheel" zeigen sich dagegen eher etwas konservativer, weil sie das grundsätzliche Sounddesign des Albums beibehalten und lediglich in den Arrangements die Entwicklungsstufen der Band dokumentieren, nachzuhören im Hit "Boys At School" mit seiner neuen Streicherinstrumentierung und einer verfeinerten Dynamik im Zusammenspiel der Band. Das ist freilich immer noch hervorragend in Szene gesetzt und lohnenswert.
SPELLLINGs Musik ist auch auf dem Stand des Jahres 2023 noch immer herausfordernd, bizarr, außerweltlich und einzigartig. Es kann vielleicht ein Weilchen dauern, bis so halbwegs klar ist, was hier passiert - und manchmal passiert womöglich gar nichts. Was einem dann noch bleibt, ist universell: einfach zuhören.
"Glückliche Menschen langweilen mich." (Wolf Wondratschek)
Wir haben miteinander gefeiert, sind gemeinsam zusammengebrochen, haben gelacht und geweint, getanzt, geschwitzt, uns angezogen und wieder abgestoßen. Haben die Theatralik bestaunt, das Drama bestanden, sind auf dem Boden des Atlantiks aufgeschlagen und haben die Sonne geküsst. Das Chaos umarmt, die Einsamkeit ausgehalten. Wir waren frei und entfesselt, haben dem Hedonismus ein "How ya doin'?" vor die Füße gerotzt und dem Tabu ein Grab geschaufelt. Haben in den Spiegel geschaut und die Risse in unserem Gesicht gesehen, die sich in die Breite verästelnden Zerwürfnisse nachgezeichnet, die Ketten mit Spucke poliert, die Zeit verflucht, den Tagen, Wochen, Monaten und Jahren den Mittelfinger entgegengestreckt. Erlebten Agonie und haltlose Hysterie, waren ohne Orientierung und voller Pläne. Überwältigt von der Kälte, überfordert mit der Hitze. In Embryohaltung dem Staub beim Zerfallen zugeschaut und uns so schnell gedreht, dass wir uns selbst überholten. Blitze geschleudert, das Meer geteilt, den Sturm gesät und Zerstörung geerntet. Das Licht zum Explodieren gebracht, die Dunkelheit ausgelöscht. Die Liebe, das Leben, eine einzige Orgie.
Als meine Wenigkeit vor fast exakt vier Jahren einen halbsteifen Beschwerdebrief in die eigenen vier Wände sandte, weil es beinahe unerklärlich sei, dass "Good Day" des britischen Songwriters nicht in der Liste der damaligen besten Platten des Jahres 2018 auftauchte - wo doch vor allem die Herzallerliebste einen regelrechten Narren an den so markanten wie zwanglosen Songs Jeremiahs gefressen hatte und wir "Good Day" also überdurchschnittlich oft (und gerne) hörten - ließ sich gleichfalls eine gewisse Ratlosigkeit in meinen Ausführungen nieder. Immer diese Stilfragen. Was ist das denn hier eigentlich? Und wo kommt es her?
Überzogen mit einer Patina aus den sechziger und siebziger Jahren, mit Orchester-Grandezza und manchmal gar einem Galabühnen-Vibe, aber andererseits unmittelbar, glänzend, frisch und modern. Irgendwie, und ich nehme jetzt allen Mut zusammen: hip! Wer nun obenrum möglicherwiese mit einer opulenteren Ausstattung protzen darf, wird derlei stilistische Lästigkeiten aus den tödlichen Fängen des Egos nicht weiter beachten und stattdessen einfach die Musik genießen. Aus welchen Gründen schreibt der Musikexpress denn auch sonst seine Rezensionen? Frage ich Sie!
Aber wir sind glücklicherweise nicht im mentalen Springer-Hochhaus und damit im Keller jeglicher Moral, sondern in fucking Sossenheim, bitches! Hier darf sich nach Herzenslust der gelbe Schmackes mit rostigen Nägeln aus der Hinrinde gekratzt und im Warum, Wieso, Weshalb regelrecht gebadet werden.
Im Vergleich mit "Good Day" erscheint mir "Horsepower For The Streets" tatsächlich stärker amerikanisch geprägt zu sein. Die "europäische Eleganz", die ich auf dem Vorgänger ausmachen (im Sinne von "identifizieren") konnte und die man auch als vornehme Zurückhaltung interpretieren darf, ist in meiner Wahrnehmung etwas in den Hintergrund getreten und hat jenem kalifornischen Weichzeichner mehr Raum überlassen, den ich gleichfalls bereits vor vier Jahren auf "Good Day" zu entdecken glaubte. Ein bisschen mehr Form über Funktion, ein bisschen mehr Pathos denn Ironie, ein bisschen mehr Vogelperspektive als Detailtiefe. Das zeigt sich auch im Sound, vor allem das Schlagzeug und die Arrangements der Chöre sind mittlerweile full blown Petula Clarke im Jahr 1965, wenn auch sicher mit deutlicher Moll-Färbung und mit all der neuen Komplexität, mit der sich ein Mittvierziger in heutigen Zeiten beschäftigen muss. "Horsepower For The Streets" ist insgesamt melancholischer und introvertierter als "Good Day", steht deutlicher im Sixties/Seventies-Soul, und wäre immer noch der passende Soundtrack für eine Autofahrt im Ami-Schlitten-Cabrio am Strand von San Diego. Ein bisschen Klischee muss sein.
Vinyl: Schönes, sehr ansprechend gestaltetes Gatefold-Cover mit tollem Foto auf der Innenseite. Die Pressung auf schwarzem Vinyl ist abgesehen von einigen No-Fills zu Beginn von "Sirens In The Silence", dem letzten Stück auf der B-Seite, fehlerfrei. (++++)
Die Beths waren DIE Entdeckung des letzten Jahres. Und vielleicht sogar noch mehr als das - ich kann mich kaum an eine andere Situation in den letzten zwanzig Jahren erinnern, bei der ich bereits beim Erstkontakt mit einer Band Feuer und Flamme war. Und for fuck's sake: das will bei mir altem und verbittertem Knallsack echt was heißen.
Und das kam so: an einem warmen Juniabend tat ich das, was zu meinen liebsten Freizeitbeschäftigungen zählt - ich goss mir eine warme Cola ein, öffnete eine schöne Flasche Pommes und stöberte nach neuen Platten. Die obligatorischen fünfundzwanzig Browser-Tabs geöffnet, vier Warenkörbe und neun Merkzettel im Anschlag, dazu lerne ich Band-Diskografien, Label-Kataloge und Presswerklisten auswendig. Ich bin praktisch Fluglotse für Schallplatten, und ich kann damit problemlos Stunden, Tage und Wochen verbringen. Ich habe eben nach wie vor die Verdrängungsleistung eines verkackten Öltankers.
So scrollte ich mich also gerade durch das Programm von anost.net, dem Mailorder und Sublabel von Morr Music (u.a. The Notwist und Deaf Center), generell eine exzellente Adresse für die Anschaffung experimenteller und abseitiger Musik, als ich von einem Cover beinahe magisch angezogen wurde. Es war "Future Me Hates Me" der Beths, ihr Debutalbum aus dem Jahr 2018. Ich hatte vorher noch nie von der Band gehört und meine in den frühen bis mittleren Nullern eingeübten Reflexe, wirklich jede "The"-Band zumindest mal gehört haben zu müssen, wurden in den vergangenen Jahren nun auch wirklich nicht weiter trainiert. Aus irgendeinem Grund musste ich hier nun aber unbedingt reinhören. Das Ergebnis: Es brauchte exakt bis zum ersten Chorus des Openers "Great No One", um die Platte in den Warenkorb zu legen. Das war ein Rekord. It really hit different.
Das Geheimnis, was The Beths auch auf ihrem neuen Album "Expert In A Dying Field" so außergewöhnlich macht, ist das beispiellose melodische Gespür von Songschreiberin/Sängerin/Gitarristin Elizabeth Stokes. Hier nur von einem "Händchen" zu sprechen, müsste fast als bodenlose Beleidigung gewertet werden: Stokes schreibt die Songs für die großen, kleinen, funkelnden, melancholischen Melodien in ihrem Bauch, die gleichzeitig sowohl introvertiert und beinahe schüchtern als auch voller Selbstvertrauen und Kraft sind. Und wie es scheint tut sie das am Fließband: es gibt auf den drei bislang erschienenen Studioalben keinen einzigen mediokren Moment, keine Note, die nicht in glitzernden Regenbogenfarben vibriert, keine Gesangsharmonie, die keine Gänsehautwellen über den Astralleib schickt.
Das sind Hymnen zwischen Power-Pop, Indierock und ganz zärtlich eingetreuten Punk-Elementen, wie in einem der Höhepunkte "Head In The Cloud" oder auch der Single "Knees Deep". Immer mitreißend, immer tief bewegend. Wer das Video des unten verlinkten Titeltracks anschaut und beim großen Finale mit den schönsten Gesangsharmonien der Welt, der musikalisch perfekt inszenierten aufreißenden Wolkendecke und den dazu passend feierlich arrangierten Bildern der Musiker:innen nicht vor Ergriffenheit zusammenklappt, hat ein Herz aus Stein. Dazu kommt ein wunderbar doppelbödiger Text, der auf der offensichtlichen Trägerwelle über ausgestorbene Berufe und verloren gegangene Fähigkeiten die versteckten Bilder über erkaltete Liebesbeziehungen schickt, dass sich also zwei Menschen über viele Jahre der Zweisamkeit und Partnerschaft so viel Wissen übereinander und über sich selbst angeeignet haben, das bei einer Trennung sich schlicht in Luft auflöst.
So erfrischend echt, sympathisch, frei von jeglichen Macho-Attitüden und aufgesetzter Härte - für mentale Pullunder-Träger wie meine Wenigkeit kann's kaum besser werden.
Vinyl: Keine Ahnung, woran das genau liegt, aber mir ist leider keine fehlerfrei Vinylpressungen ihrer Platten bekannt, und ich habe mittlerweile und immerhin: alle. Carpark scheint's mit der Qualitätskontrolle nicht ganz so eng zu sehen. Hi-Fi-Nerds müssen hier also manchmal sehr stark sein und mit Hintergrundgeraschel und einigen Knacksern leben. Alle anderen, die sich in erster Linie an der tollen Musik und der tollen Aufmachung ergötzen wollen, kommen erneut auf ihre Kosten: das aufklappbare und farbenfrohe Coverartwork mit Prägedruck sowie die Platte in...äh...Kanariengelb sind einfach sensationell gestaltet und fügen der Hörerfahrung eine ganze Menge Spaß zu. Da sind mir die paar Knackser ehrlich gesagt fast schon egal - zumal ich es wenigstens bei meinem Exemplar nicht als überdurchschnittlich störend empfinde. Insgesamt also ambivalent, aber noch knapp erträglich. (++-)
Die Herzallerliebste und ich beschlossen vor etwa drei Jahren, uns nach einer langen Zeit der Tanz-Abstinenz wieder öfter ins Nachtleben Frankfurts und der angeschlossenen Funkhäuser zu schmeißen. Nach einigen Tests mit ganz, äh, unterschiedlichen Erfahrungen und Ergebnissen, sollten vier Etablissements in der engeren Auswahl für die wochenendliche Abendplanung verbleiben. Eine Nacht, die künftig als feststehender Termin gebucht war, war der Fürstentanz im Gambrinus in Bad Homburg, eine Gothicparty, die für uns weniger wegen der Affinität zu solchen Sounds, als viel mehr durch die immer angenehmen Gäste interessant wurde. Keine Besoffenen, kein aggressives Verhalten, keine Idioten - keine offensichtlichen immerhin - what's not to like?
Oddzoos "Future Flesh" haben wir auf dem Mainfloor noch nicht gehört, aber es wäre weder Stilbruch noch Überraschung: das französische Trio pendelt zwischen einer teils durchaus ruppigen und überdimensioniert arrangierten Noise-Ästhetik und pompösen, elegischen Melodiebögen und entwickelt in diesen Momenten nicht zuletzt wegen der glockenklaren Gesangsstimme ein bizarr wirkendes Pop-Verständnis, das für mindestens zwei Tanzflächenmonster in Deiner Gothic-Datsche gut sein dürfte.
Besonders herausragend: die mit großen Refrains zugeballerten "Little Death", "Lunesta" und das abschließende "Singularity". Wenn Martin Gore, Danny Cavanagh und Chris Corner ein Nebenprojekt gründen würden.
"I'm New Here" ist möglicherweise die wichtigste Platte des vergangenen Jahrzehnts. Mir wurde das in vollem Umfang erst in den letzten Tagen so richtig bewusst, als ich mich nochmal mit dem Werk beschäftigte, um die richtigen Worte für diesen Text zu finden (und im Anschluss des neuerlichen ersten Durchlaufs natürlich dann doch die kürzlich veröffentlichte Jubiläumsausgabe auf pinkem und grünem Vinyl bestellte - einfach, weil ich nie gesagt habe, ich sei nicht quadratverblödet).
Bis in den Februar des Jahres 2010 war mir der Name Gil Scott-Heron zwar durchaus geläufig, aber ich kann mich nicht daran erinnern, seine Musik jemals bewusst gehört zu haben. In den 1980er und in weiten Teilen der 1990er Jahre wäre ich für seinen Sound sowieso noch komplett juvenil-vernagelt gewesen, und die erste Hälfte der nuller Jahre waren hinsichtlich der musikalischen Ausrichtung noch zu sehr von den Irrungen und Wirrungen meiner Orientierungslosigkeit aus den späten neunziger Jahren geprägt, als ich mit den neuen Entwicklungen in der alten Komfortzone nicht mehr klar kam. Oder deutlicher: als Heavy Metal anfing, so richtig knalldoof zu werden. Erst mit der Entdeckung Coltranes in der zweiten Hälfte der 2000er Jahre wurde vieles wieder klarer. Und just, als ich knietief in Freejazz-Kakophonien von Clifford Thornton und William Parker stand und mich mit entsprechender Literatur immer tiefer in den Kaninchenbau hineinwühlte, holte Produzent und XL Recordings-Gründer Richard Russell den vom Leben gebeutelten Scott-Heron aus der Versenkung. Ich war bereit.
Russell hatte dieses Projekt schon lange geplant. Er kontaktierte Scott-Heron erstmals, als jener noch wegen Kokainbesitz auf Rikers Island einsaß und erzählte später, sie hätten schon in ihren ersten Briefwechseln auf einer Wellenlänge miteinander kommuniziert. Russells Begeisterung war offenbar ansteckend: der Godfather of Rap lehnte normalerweise die meisten Anfragen ab, für "I'm New Here" sagte er jedoch sofort zu - auch wenn er später davon sprach, das Album sei in erster Linie Russells Werk:
"This is Richard's CD. My only knowledge when I got to the studio was how he seemed to have wanted this for a long time. You're in a position to have somebody do something that they really want to do, and it was not something that would hurt me or damage me—why not? All the dreams you show up in are not your own."
Richard hatte von Beginn an eine Vision für "I'm New Here", die von Scott-Herons Debut "Small Talk at 125th and Lenox" beeinflusst war: minimalistisch, spartanisch, dürr. Auch die kurze Spieldauer von gerade mal 29 Minuten entspringt diesem Gedanken, denn auch, wenn die Sessions mehr aufgenommenes Material hergaben, sollte die Platte in einem hochkonzentrierten Durchgang alles sagen, was es zu sagen gibt. Das ist geglückt. "I'm New Here" ist ein tief grummelndes, nachdenkliches Stück Musik zwischen dystopisch pumpenden Beats und dunkel schimmerndem Blues, in dessen Kern Scott-Herons schlackernder Bariton-Sprechgesang das Leben reflektiert, Bilanz zieht. Und so hart er mit sich selbst ins Gericht geht, so weise sind seine Pointen.
Because I always feel like running
Not away, because there is no such place
Because if there was I would have found it by now
Because it's easier to run
Easier than staying and finding out you're the only one
Who didn't run
(aus "Running")
And I'm shedding plates like a snake
And it may be crazy, but I'm
The closest thing I have
To a voice of reason
(aus "I'm New Here")
Ich war von "I'm New Here" ab der ersten Sekunde fasziniert. Alles, was dieser Mann in diesen 29 Minuten sang und sprach klang wichtig. Fürs Leben. Fürs Anerkennen der eigenen Limitiertheit. Fürs Erforschen der Möglichkeiten - weil es hinterm Horizont eben weitergeht, dem eigenen zumal. Wusste schon Udo "Dichter Denker" Lindenberg. Und hinter meinem Horizont ging es tatsächlich weiter, denn "I'm New Here" war die Initialzündung für das Entdecken von Scott-Herons Musik. Die frühen Arbeiten aus den 1970er Jahren mit seinem kongenialen Mitstreiter Brian Jackson. Die drei Soloalben aus den Achtzigern, die bislang nicht neu aufgelegt wurden und kommerziell nie an die früheren Klassiker heranreichten. Das 1994er Album "Spirits", das seinen Ruf als "Godfather of Rap" nur weiter im Boden des zu jener Zeit in voller kommerzieller Blüte stehenden HipHops verwurzelte.
So wie Iron Maidens "Live After Death" mich zum Metal, "Nevermind" zum Alternative Rock, Bad Religions "Generator" zum Punk, bvdubs "The Art Of Dying Alone" zum Ambient und das SF Jazz Collective zum Jazz brachte, öffnete "I'm New Here" die Türen zum Soul und Funk. All diese Begegnungen mit Musik waren lebensverändernd, grenzenlos wichtig für das eigene Selbstverständnis, zur Selbstidentifikation. Ich sah die Welt jedes Mal mit anderen Augen, wenn sie mir von Steve Harris, Kurt Cobain, Greg Graffin, Brock van Wey, John Coltrane und Gil Scott Heron in neuem Licht gezeigt wurde.
Vielleicht ging es vielen Menschen mit "I'm New Here" ähnlich. Richard Russell sollte sein Ziel, Scott-Heron auch jungen Menschen näher zu bringen erreichen - was nicht zuletzt mit den aus den Sessions entstanden Remix- und Tributeplatten gelingen sollte, die Jamie XX mit "We're New Here" und kürzlich Schlagzeuger Makaya McCraven mit "We're New Again" produzierten.
I think, for whatever reason, I feel a bit of duty to introduce him to people because he was never that commercial, crossover figure. What Makaya [McCraven] did and what I asked Jamie [xx] to do earlier is all a part of that reintroducing. Historically, there’s a lot of great artists who get overlooked. It makes me happy that Gil is not one of them and that people are still discovering him.
Ich habe Gil Scott Heron wegen Richard Russell entdeckt. Der Einfluss auf mein Leben war und ist bis heute allgegenwärtig. Dankbarkeit.
In den letzten zehn Jahren erschienen gerade mal zwei Alben von The Sea And Cake, und wer sich nicht erst seit gestern auf diesem Blog herumtreibt oder mich gar, Himmel hilf!, persönlich kennt, ahnt, dass frei nach Vicco von Bülow eine Bestenliste ohne The Sea And Cake zwar möglich, aber komplett sinnlos gewesen wäre. Seit 15 Jahre trage ich meine Liebe zu diesem Quartett auf, neben, unter, vor und hinter dem Herzen spazieren und es gibt nur wenige Bands, die mich mit links zu einem furiosen, mit leuchtenden Augen und bebender Stimme vorgetragenen Monolog über Schönheit, Raffinesse, Subtilität, Virtuosität von Musik schubsen können.
Vielleicht erfuhr meine Wertschätzung mit "Any Day" einen neuen Höhepunkt, denn das ist das Schöne am Älterwerden: man lernt Außergewöhnliches eben doch noch mehr zu schätzen, als wenn Testosteron, Samenstau und generelle juvenile Quadratblödheit im Weg stehen. Fünf Jahre nach dem ebenfalls hervorragenden "Runner" haben sich die dreieinhalb stillen Helden tatsächlich nochmal aufgerafft und ihren unnachahmlichen Sound weiter verfeinern können. Jede noch so diffizile Akzentuierung gelingt mühelos, jedes Break wird sicher und souverän durch alle Stromschnellen hindurch geführt, jede Melodie als Kokon sorgfältig verschnürt und mit großer Selbstverständlichkeit und einem Klaps auf den Hintern in die Freiheit geschickt. Wer ihnen genau auf die Finger und auf die funkelnden Hochenergiesynapsen in den vernetzt arbeitenden Gehirnen und Herzen schaut, wird im Verlauf von "Any Day" kaum ohne spitze Freudenschreie auskommen.
Nie war dieses Urteil wertvoller und wahrer als heute: Was für ein Erlebnis, diesen absoluten Könnern zuzuhören. Ich lebe für solche Momente.
"Unter strengen Maßstäben" (Schäuble) müsste hier eigentlich nur die Videoverlinkung zu Timberlakes Auftritt in der US-amerikanischen Talkshow "Ellen" zu sehen sein, ohne jeden weiteren Kommentar. Um nicht zu sagen: kommentarlos. Nicht nur, dass er das nicht gerade leicht zu singende "Mirrors" bis auf die letzte Nuance perfekt auf die Bühne bringt und der Song ohnehin einer der Höhepunkte auf dem ersten Teil seines "The 20/20 Experience"-Projekts ist - die Performance mit seiner Begleitband The Tennessee Kids ist so atemberaubend groß und mit positiven Power-Vibes geflutet, dass es mir einen Adrenalinschub nach dem anderen durch die müde Hülle meines irgendwie noch immer eher weltlichen Daseins peitscht. Noch dazu, und auch das muss gesagt werden, löst der smarte Timberlake einen leichten Man-Crush bei mir aus. Wie es ein ehemaliger Arbeitskollege einmal ausdrückte:"Flo, im nächsten Leben bin ich eine Frau und habe Fixgehalt." Count me the fuck in!
Auch über "Mirrors" hinaus ist Teil 1 der "20/20 Experience" immer noch von herausragender Qualität. Ich bleibe zwar bei meiner früheren und außerdem hier geäußerten Einschätzung, das Album komme mit dem ungewöhnlichen Eröffnungsdoppel "Pusher Love Girl" (alleine die Chuzpe, mit diesem achtminütigen Slomo-Feger zwischen klassischen Streicherarrangements, Ketamin-RnB und Future Beats den Startschuss zu geben) und der ersten Single "Suit & Tie" noch etwas schwer in die Gänge, aber dann Jeschäftsfreunde! Aaaaber dann!
Ab "Don't Hold The Wall" brechen alle Dämme. Timberland und Timbaland schütteln federleichte und gleichzeitig mit ordentlich Gravitas verzierte Sieben- bis Achtminüter aus dem Pophimmel, mit all den pompösen Albernheiten und funky Arschgewackel und auf die Knie zwingendes Pathos und Schmetterlinge im Bauch und Marriannengraben-Tiefe mit dreifach-doppelten Böden und gefühlsechtem Blümchensex und JALECKENSIEMICHDOCHAMARSCH: so geil war's seit "Thriller" oder "Lovesexy" nicht mehr. Alles am Ende gekrönt von der ungewöhnlich subtil arrangierten Megaballade "Blue Ocean Floor", die mit all dem unwürdigen Rest aus der Kotzekiste eines schmierigen Pop-Produzenten und dessen fürs ewig krähende Formatradio gezüchteten Gesangsdarstellern den fucking Boden aufwischt.
"The 20/20 Experience I" ist das beste, anspruchsvollste und ausgefeilteste Album Timberlakes. Und ich will jetzt kein peinliches Geflenne wegen N'Sync und Teenie und Dauerwelle hören.
Ich spreche zwar oft davon, aber ich konnte mich bislang noch nicht dazu durchringen, die besten Platten der 90er Jahre auf die virtuelle Schiefertafel zu hämmern (wegen Phlegma, Apathie, Sauerteigbrot, Ficken - Zutreffendes bitte durchstreichen). Wenn ich es allerdings täterätääääte, dann wäre "Afraid Of Sunlight", das 1995er Album dieser britischen Progressive Rock-Institution, ohne auch nur den Hauch eines Zweifels in der Auswahl enthalten - womit sich der dreikommaviernull Dekaden umspannende Blogkreis schließen würde: Marillion wären damit die einzige Band meines musikalischen Universums, die in jedem Jahrzehnt ihrer Platten veröffentlichenden Existenz ein Dauerparker auf dem Treppchen ist. Für die 1980er Jahre bleibt das Debut "Script For A Jester's Tear" ungeschlagener Weltmeister in der Disziplin "Genesis 2.0", für die nuller Jahre ist "Marbles" aus dem Jahr 2004 Klassenbester und im just beendeten Jahrzehnt ist es, logo: "FEAR (Fuck Everyone And Run)" - ein Album, das sicher aufgrund seiner Message als auch wegen seiner bewegenden 75 Minuten Musik zu einem - und man muss das so sagen - Überraschungserfolg wurde. Wer sich die beinahe verschwundene öffentliche Anerkennung und Wahrnehmung dieser Band über die letzten dreißig Jahre hinweg vor Augen und Ohren hält, mit all der Ablehnung, der Ignoranz und Frustration, der darf sich angesichts von einer plötzlich erzielten Top 5-Chartplatzierungen für "FEAR" und einer in diesem Zuge ausverkauften Royal Albert Hall durchaus verwundert Augen und Kleinhirn reiben. Vielleicht muss man für eine Erklärung dieses Phänomens ganz tief in die Klischeeschublade abtauchen und das alte Palaver von "zur richtigen Zeit am richtigen Ort" abspulen. An sich glauben. Durchhalten. Das eigene Ding machen.
Und sich ab und an mal so ganz dolle am Riemen reißen, über sich hinauswachsen, ein extradickes Inspirationsbrett bohren und Texte schreiben, die einen zum hemmungslosen Heulen bringen.
So gehört es sich eben auch für die beste Band der Welt.
"Je öfter ich das sage, desto richtiger wird's." (Harald Schmidt).
Wer noch mehr Lobhudelei benötigt und außerdem einen der längsten Texte seit Bestehen dieses Blogs lesen möchte, der schaut HIER vorbei.
Da es aufgrund der (digitalen) Aufteilung von "FEAR" schwierig ist, einen der drei Longtracks ohne Unterbrechungen auf Youtube zu finden, habe ich mich für den zwanzigminütigen Abriss von "The Leavers" vom Livealbum "All One Tonight" entschieden - wer dazu nochmal etwas nachlesen mag, geht HIER entlang.
Ich orakelte schon im 2016er Jahresrückblick über die zu erwartende Ausnahmestellung von "Still Life", und siehe da: ich kenne mich manchmal doch besser als gedacht.
"Es gab in 2016 so einige Platten, die mein Leben vermutlich auch über das immer noch andauernde Superscheißjahr 2016 hinaus prägen werden; in erster Linie, weil ich mit Ihnen eine bestimmte Zeit, auch ganz besonders ein Lebensgefühl verbinden werde. Und einige davon werden vielleicht wichtig für das restliche Leben werden, sei es, weil sie besondere Saiten in mir angeschlagen haben, sei es, weil ich mit ihnen überhaupt nicht rechnete und die Überraschung und Begeisterung nicht zuletzt genau davon getragen wird und wurde. "Still Life" könnte so eine Platte werden."
Das musikalische Tagesbuch von Sängerin Melati Malay und ihrem Partner Isaac Emmanuel, erdacht und ausgetüftelt auf Malays Reisen, unter anderem auch in ihr Heimatland Indonesien auf der Suche nach den Lebensspuren ihres damals just verstorbenen Vaters, oszilliert durch ätherische Zwischenwelten, sediert die Sinne, durchdringt die Trauer und feiert das Leben.
Und dennoch fehlen mir immer noch die Worte für die Gefühle, die "Still Life" in mir auslöst. Ich konnte es schon vor vier Jahren nicht genau beschreiben und es macht mich auch im Supersupersuperfuckingsuperscheißjahr 2020 ratlos. Irgendetwas in dieser Musik scheint mir so verflucht nahe zu kommen, dass ich mich beinahe davor fürchte, genauer hinzuschauen.
Vielleicht das persönlichste und möglicherweise deshalb auch rätselhafteste Album des Jahrzehnts.
Eine Bestenliste des letzten Jahrzehnts ohne diesen Meilenstein ist kaum vorstellbar. Auch auf die Gefahr hin, ein bisschen zu dick aufzutragen: "The Epic" hat die Welt verändert, praktisch aus dem Nichts. Und jeder, der es hörte, ahnte schon früh, dass die Ohren bitteschön zu spitzen seien.
Denn etwas Großes war im Gange, man möchte fast zum despektierlichen "Größenwahn" greifen: 180 Minuten Musik verteilt auf drei LPs beziehungsweise CDs, ein Orchester, ein Chor, überlange Songs, für deren Arrangements die Beschreibung "opulent" nichts weiter als ein abgeschmackter Euphemismus ist, ein ikonisches Coverartwork und eine inszenierte Sogwirkung, die in ihrer Begeisterung alles mitriss, was sich nicht in die hinterste Ecke des Jazzclubs zu den anderen Betonköpfen retten konnte, die seit 50 Jahren auf "Bitches Brew" herumquallen und dabei langsam zu Staub zerfallen.
"The Epic" wurde zum großen Vermittler und zur spirituellen Einigungsstelle und ja, "The Epic" hat die Welt zu einem besseren Ort gemacht. Das mag angesichts eines Irren, der nur 18 Monate später als herumstammelnde Hämorrhoide das Weiße Haus besetzen sollte, etwas schwer zu begreifen sein - aber wer diese Platte gehört hat, wird schon verstehen.
(Mehr Hintergrundinformationen gibt es in meinen alten Posts HIER und HIER)
Der Sommer 2015 mit dieser Platte im Reisegepäck wird unvergessen bleiben. Wir verbrachten einige Tage bei der Familie in Lübeck und fuhren jeden Tag mit dem Auto an einen Hundestrand an der Ostsee (Fabbi liebt den Strand!), und was schon auf der sechsstündigen Anreise offensichtlich war, dass wir also unsere Sommerplatte des Jahres gefunden hatten, wurde auf den täglichen Fahrten nur noch bestätigt: es verging keine Sekunde ohne "Fading Love".
Bittersüße Melodien, Melancholie im Nicki-Strampler mit einem trockenen Martini in der Hand, Sonnenuntergänge im Sepiafilter. Herausragender Moment ist sicher die Single "Full Circle", die mühelos das gesamte Album tragen kann und bis heute Emotionen und Bilder hervorruft, die gegensätzlicher nicht sein könnten. Im Grunde will man die Welt umarmen und dabei Rotz und Wasser heulen. Und weil das gleichzeitig eine sehr akkurate Beschreibung des eigenen Gemütszustandes am Rande des Wahnsinns ist, finde ich, das trifft's auch im Frühjahr 2020 noch ganz anständig.
Möglicherweise ist der Sound dieses Produzenten-Duos aus Neuseeland zu speziell und zu anspruchsvoll für den Mainstream - ich habe ansonsten keine Erklärung dafür, warum ganz besonders dieses Album so dermaßen unter jedem Radar blieb.
Seit ihrem im Untergrund gefeierten Debut aus dem Jahr 2010 mit prominenten Fürsprechern wie beispielsweise Gilles Peterson, warte ich eigentlich auf den ganz großen Durchbruch für Electric Wire Hustle - stattdessen ist es nach ihrem letzten Album "The 13th Sky" beunruhigend leise geworden. "Love Can Prevail" ist ein Geniestreich: die Mischung aus Soul, Broken Beats, Jazz und Electronica ist völlig einzigartig, Songs wie "Loveless", "Light Goes A Long Way" oder mein Favorit auf Lebenszeit "Blackwater" oszillieren zwischen visionärem Sounddesign und Pop-Appeal, und das Video zur Single "By & Bye" ist in der künstlerischen Eleganz in Verbindung mit einem rastlosem, nie so recht ankommen wollenden Arrangement das Beste, was in den letzten zehn Jahren zu Klang gedreht wurde.
Thinking Man's Urban Soul Party.
Erschienen auf Somethink Sounds, Okayplayer Records, 2014.
Urlaube waren dank unseres Haustierzoos rar in der letzten Dekade. Als es uns 2017 doch mal in die Ferne trieb, genauer gesagt zu einem Herbsturlaub an die stürmische Nordsee, machten wir zu später Stunde Gebrauch vom im Strandhaus befindlichen Kamin, öffneten eine Flasche Rotwein und versuchten, die sehr volatil arbeitende Heizung mit Decken und aneinandergekuschelten Körpern zu ignorieren. Es liest sich wie billigstes Klischee, aber der Chronist in mir verlangt nach Akkuratesse.
Jedenfalls: wir hörten Zara McFarlanes "If You Knew Her" bis in die frühen Morgenstunden und es wurde einer jener Momente, in denen aus einer sehr, sehr guten Platte eine wird, die man künftig nur selten auflegen mag, aus Angst, diesem magischen Moment etwas von seiner überwältigenden Romantik zu nehmen.
Der unten verlinkte Hit "Open Heart" darf als Blaupause für eine Platte gelten, die randvoll mit so subtil wie selbstbewusst inszeniertem Souljazz gepackt ist - urban und nokturn, zerbrechlich und mit einer nur selten gehörten Dringlichkeit.
Wenn der ganze Misthaufen um uns herum in nasagenwirmal: 20 Jahren wirklich noch steht, im Sinne von fröhlich vor sich hindampft wie Jockel Fischer in der Sauna oder in der Kantine von Siemens, 's eh schon alles scheißegal, dann wird es Menschen geben, die "No World" als vergessene Perle, als unterschätztes und unbekanntes Meisterwerk bezeichnen - darauf verwette ich ein Maxi-Eiweißshake "Straciatella" mit aufgeschäumten Büffelsperma.
Denn auch wenn das Bruder-Duo aus Kalifornien es irgendwie geschafft hat, sich in den Soundtrack des Videospiels Grand Theft Auto reinzuschummeln und die Gamer den Song "The Place" auf fast eine Million Views auf Youtube geschoben haben, ist ihr sedierter Slomo-R&B unter wirklich jedem Mainstream-Radar geblieben. Bon, die beiden sehr schüchtern wirkenden und sich fast schon schmerzhaft natürlich gebenden Jungs sind vielleicht auch nicht gerade der feuchte Traum eines Marketingprofis. Immerhin war "No World" für einen der etwas skurrileren Beiträge auf diesem Blog verantwortlich. Ich weiß nicht genau, was mich damals geritten hat und ich sage auch nicht, dass selbst ich alles davon verstanden habe, aber unterhaltsam ist's schon. Unterhaltsam oder verstörend - manchmal sind die Grenzen ja fließend.
Ihre Musik ist auch sieben Jahre nach der Veröffentlichung von "No World" immer noch einzigartig, stimmungsvoll und unwiderstehlich sexy. Eine Platte wie Kuschelsex auf einer Familienpackung Pilzen.
Urban wie ein Solo-Sonntagsbrunch im Hamburger Neustadt-Kiez mit frisch gedruckter Wochenzeitung, intellektuell wie ein tiefes, reflektiertes Gespräch mit einem guten Freund. Ein bisschen Philosophie über guten Kaffee und die sozialen Verwerfungen in den USA, eine Idee über Tanzen und Realitätsflucht, Jazz und Soul.
Unter der Conscious-Pudelmütze im Arbeitszimmer irgendwo in Brooklyn steckt ein Einzelgänger, ein mutiger, smarter, offener Geist, auf der Bühne steht und derwischt hingegen ein Teamplayer, der mit seiner Begleitband Good Compny jeden Laden in die Knie glühen kann. Ich durfte das Spektakel zwei Mal erleben, und vor allem das Konzert im leider eher unzulänglich besuchten Bett zu Frankfurt im November 2013 wird mir mit seinen positiv geladenen Power-Vibes zwischen klassischem Hip Hop, Soul, RnB und Jazz wohl auf ewig in Erinnerung bleiben. Sicherlich eines der besten Gigs, die ich im vergangenen Jahrzehnt gesehen habe.
Wer es mit eigenen Augen und Ohren erleben will, klickt das folgende Video vom Into The Great Wide Open Festivals aus dem Jahr 2015 an und hält schon mal den Sack für die Glücksgefühle weit auf):
"People Hear What They See" war möglicherweise Oddisees Durchbruch im Hip Hop Underground - und auch wenn die größeren Hits wie "That's Love" oder "Things" auf den späteren, und darüber hinaus ebenfalls brillianten Alben "The Iceberg" und "The Good Fight" erschienen, ist das 2012 erschienene Soloalbum des (ex-)DC-Mannes nicht nur wegen der umwerfend aussehenden Vinylpressung der Klassiker seiner bisherigen Diskografie. Und es ist für mich bis heute ein Rätsel, wie dieser ultradicke und alles niederpumpende Bass auf "People Hear What They See" die Nadel nicht dazu bringt, nach zwei Sekunden aus der Rille zu flumpfen.