Ich spreche zwar oft davon, aber ich konnte mich bislang noch nicht dazu durchringen, die besten Platten der 90er Jahre auf die virtuelle Schiefertafel zu hämmern (wegen Phlegma, Apathie, Sauerteigbrot, Ficken - Zutreffendes bitte durchstreichen). Wenn ich es allerdings täterätääääte, dann wäre "Afraid Of Sunlight", das 1995er Album dieser britischen Progressive Rock-Institution, ohne auch nur den Hauch eines Zweifels in der Auswahl enthalten - womit sich der dreikommaviernull Dekaden umspannende Blogkreis schließen würde: Marillion wären damit die einzige Band meines musikalischen Universums, die in jedem Jahrzehnt ihrer Platten veröffentlichenden Existenz ein Dauerparker auf dem Treppchen ist. Für die 1980er Jahre bleibt das Debut "Script For A Jester's Tear" ungeschlagener Weltmeister in der Disziplin "Genesis 2.0", für die nuller Jahre ist "Marbles" aus dem Jahr 2004 Klassenbester und im just beendeten Jahrzehnt ist es, logo: "FEAR (Fuck Everyone And Run)" - ein Album, das sicher aufgrund seiner Message als auch wegen seiner bewegenden 75 Minuten Musik zu einem - und man muss das so sagen - Überraschungserfolg wurde. Wer sich die beinahe verschwundene öffentliche Anerkennung und Wahrnehmung dieser Band über die letzten dreißig Jahre hinweg vor Augen und Ohren hält, mit all der Ablehnung, der Ignoranz und Frustration, der darf sich angesichts von einer plötzlich erzielten Top 5-Chartplatzierungen für "FEAR" und einer in diesem Zuge ausverkauften Royal Albert Hall durchaus verwundert Augen und Kleinhirn reiben. Vielleicht muss man für eine Erklärung dieses Phänomens ganz tief in die Klischeeschublade abtauchen und das alte Palaver von "zur richtigen Zeit am richtigen Ort" abspulen. An sich glauben. Durchhalten. Das eigene Ding machen.
Und sich ab und an mal so ganz dolle am Riemen reißen, über sich hinauswachsen, ein extradickes Inspirationsbrett bohren und Texte schreiben, die einen zum hemmungslosen Heulen bringen.
So gehört es sich eben auch für die beste Band der Welt.
"Je öfter ich das sage, desto richtiger wird's." (Harald Schmidt).
Wer noch mehr Lobhudelei benötigt und außerdem einen der längsten Texte seit Bestehen dieses Blogs lesen möchte, der schaut HIER vorbei.
Da es aufgrund der (digitalen) Aufteilung von "FEAR" schwierig ist, einen der drei Longtracks ohne Unterbrechungen auf Youtube zu finden, habe ich mich für den zwanzigminütigen Abriss von "The Leavers" vom Livealbum "All One Tonight" entschieden - wer dazu nochmal etwas nachlesen mag, geht HIER entlang.
Es hat etwas Zeit benötigt, bis ich den Zugang zu GOLD fand. Vermutlich waren angesichts personeller Parallelen zur mittlerweile aufgelösten Quatschcombo The Devil's Blood (GOLD-Gitarrist und -Gründer Thomas Sciarone) meine anfänglichen Vorbehalte zu prominent im Stammhirn platziert, was eine frühere Annäherung nahezu unmöglich machte - manchmal bin ich so, ich kann's nicht wirklich ändern. Mittlerweile sieht die Welt anders aus. GOLD sind die vielleicht bemerkenswerteste Rockband dieser Tage und haben seit dem eher unspektakulären Schalala-Rock ihres Debuts "Interbellum" aus dem Jahr 2012 eine atemberaubende Entwicklung durchgemacht. "Why Aren't You Laughing?" ist zweifellos der bisherige Höhepunkt dieser Transformation: die mystische, dunkel schimmernde Mixtur mit Elementen des Gothic-, Post- und Indierocks mit der gleichermaßen entrückt wie glasklar durch die Songs schwebenden, endlich auch selbstbewussten Stimme Milena Evas und die aus dem Black Metal aufgefächerten Gitarrenfiguren ergeben einen Sound, wie ihn die Welt bislang noch nicht gehört hat.
Und das ist vielleicht das Problem für das Erreichen der Weltherrschaft. Die Band spielte vor wenigen Tagen im Aschaffenburger Colos-Saal vor gerade mal 50 Zuschauern eines ihrer seltenen Solokonzerte (ansonsten werden sie auch 2020 in erster Linie auf Festivals zu sehen sein) und mir wurde plötzlich klar: die sind mit dieser musikalischen Mischung nebst der konzeptionellen Choreografie und den starken, feministischen, für Gleichberechtigung und eine offene, freie Gesellschaft einstehenden Texten vielleicht ein paar Jahre zu früh dran. Und überhaupt: fragt mal eine feministische Band wie beispielsweise War On Women, was sich an frauenfeindlicher Scheiße in den Kommentarspalten ihrer Youtube Videos abspielt. Man kommt nicht drum herum: was der rockende Bauer nicht kennt, frisst er eben nicht, und so mancher ist darüber hinaus auch einfach, pardon, klotzehohl. Ich kann das sagen, weil ich schließlich auch hin und wieder die Heugabel im Kopf stecken habe; wer einen Beweis braucht: er findet sich im einleitenden Satz dieses Beitrags.
Ich kann nur hoffen, dass die Band weitermacht - eigentlich sollten sowohl von dieser Band im Allgemeinen, als auch von dieser ganz hervorragenden und tief bewegenden Platte wahrlich ein paar mehr Menschen Notiz nehmen. Denn wer weiß, wie eiskalt mich aktuelle Rockmusik für gewöhnlich lässt und für wie austauschbar, stumpf, oberflächlich und mutlos ich den beinahe ganzen übrigen Sauhaufen halte, darf sich nun die wildesten Träume über die Qualität von GOLD ausmalen.
Ich habe ehrlicherweise lange mit mir gerungen, ob eine live aufgenommene Platte wirklich an der Spitze meiner Jahrescharts stehen sollte. Ganz aus Prinzip. Hätten es nicht eher die brillianten Wanderwelle mit ihrer funkensprühenden Kreativität oder die künstlerischen und traumwandlerisch souveränen The Sea And Cake verdient gehabt? Möglicherweise irgendjemand sonst, der wirklich neue Musik im Jahr 2018 präsentieren konnte und also nicht auf Bewährtes zurückgreifen musste, um eine Veröffentlichung vorweisen zu können?
Am Ende war es eine Entscheidung für ein "mehr als die Summe der einzelnen Teile", eigentlich für das Lebenswerk einer Band, die seit 40 Jahren im Geschäft und noch immer so voller Kraft, Leidenschaft und Kreativität ist. Die nach so langen wie problematischen Zeiten in den neunziger Jahren, in denen außer einer überschaubaren aber loyalen Fanbase niemand mehr einen Pfifferling auf sie geben wollte, sich immer wieder aufraffen und sich am eigenen Schopf aus dem Dreck ziehen konnte. Die trotz eines musikalischen Klimas, das für eine Progressive Rock Band, in der kein Steven Wilson mitspielt, kaum ungemütlicher und unwirtlicher sein kann, plötzlich mit einem aufsehen erregenden Studioalbum in die vorderen Regionen der Charts einsteigen konnte. Und die sich Ende 2017 plötzlich dort wiederfanden, wo sonst nur die größten der Großen aufspielen dürfen: in der Royal Albert Hall. Ein Blick in die Gesichter der fünf Musiker an diesem Abend sagt alles, was man über ihre Hingabe, ihre Begeisterung und ihr Durchhaltevermögen wissen muss.
Ich habe im August des letzten Jahres sehr ausführlich über "All One Tonight" berichtet und weil ich nicht glaube, außer den an dieser Stelle ausgebreiteten und also einleitenden Sätzen noch weitere Einsichten zum Besten geben zu können, die über das bereits Geschriebene hinaus gehen, lade ich meine werten Leserinnen und Leser ein, den damals herausgearbeiteten Text nochmals über sich ergehen zu lassen - oder ihn alternativ zum ersten Mal zu lesen. Nicht nur mit einer billigen Verlinkung, sondern mit dem vollen Text und in voller Pracht.
Ich beendete jene erste Huldigung auf "All One Tonight" mit dem Satz "Das ist die beste Band der Welt" und um den Kreis zu den eingangs gestellten Fragen zu schließen: Dann gehört die beste Band der Welt auch auf Platz 1 der Jahrescharts 2018.
Verdient ist eben verdient.
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Fans von Marillion sind bisweilen ein seltsames Völkchen. Die Diskografie der Band auf dem Plattensammler- und Plattenverkaufsportal Discogs listet aktuell nicht weniger als 142 Alben auf - und obwohl das Quartett auf eine beinahe vierzigjährige Karriere zurückblicken darf, die sicherlich nicht in erster Linie von Däumchendrehen und Tee trinken geprägt war, erscheint die stattliche Anzahl ein wenig irreführend: die loyale Handvoll Bekehrter, die der Band seit Jahrzehnten nicht nur aus der Hand frisst, sondern sie auch mittels eigenständig durchgeführter Internetpromotion ein wenig mehr in den musikgesellschaftlichen Fokus rücken und damit auch gleichzeitig das eigene Ego ein wenig streicheln möchte, hat also ganze Arbeit geleistet und wirklich jede noch so obskure Zusammenstellung und Liveaufnahme der über die geschäftlichen Hauptquartiere Racket Records, Intact Records und Front Row Club vertriebenen CDs in der Diskografie als Album geführt, hinzu kommen außerdem Bootlegs und BBC Radiomitschnitte, deren Aufnahmedatum in den Kommentarspalten auch noch rührselig korrigiert werden. Das passiert sicherlich und ausschließlich mit den allerbesten Absichten, ist einerseits lohnenswert für die Komplettisten in uns, die dieses eine Rothery-Lick von dieser raren Budapest-Liveaufnahme unbedingt auf eine Plastikscheibe gebrannt haben möchten, andererseits völlig überwältigend und unübersichtlich für fast alle anderen. Wer in dieses Rabbit Hole tatsächlich reinkrabbelt und sich die gelisteten Veröffentlichungen etwas genauer anschaut, stellt schnell fest, dass Liveaufnahmen integraler Bestandteil des Marillion'schen Selbstverständnisses sind. Die Anzahl ist Legion, und der Eindruck, die Band habe von jedem ihrer Konzerte in den letzten 40 Jahren mindestens sieben verschiedene Albenveröffentlichungen geschnitzt, wird plötzlich sonderbar real. Aber wer das alles kauft? Und wer das alles hört? Ich sagte doch: es ist ein seltsames Völkchen.
Selbst mit den offiziellen und also im regulären Handel erhältlichen Livealben wird es für das weniger gut organisierte Oberstübchen unübersichtlich und spätestens bei den zahllosen Versionen eines einzelnen Titels zerfällt wenigstens mein Dachgeschoss in Mikropartikel. In den letzten Jahren begeisterten mich aus dieser Kategorie immerhin zwei Aufnahmen so ausgeprägt, dass sie seitdem im heimischen Plattenschrank stehen und - entgegen des immer wieder vorgetragenen Einwands, man könne das ja eh niemals im Leben alles hören, aber stattdessen alles mal schön einstauben lassen - ziemlich regelmäßig auf dem Plattendreher und in der Playlist landen: "Marbles On The Road" und "A Sunday Night Above The Rain" sind exquisite, auf jeweils 3 LPs verteilte Liveaufnahmen, und ja, ich muss es zugeben: diese eine Version von "Montreal" - holy fucking shitballs, die sollte man gehört haben. Um Missverständnissen vorzubeugen: es ließe sich hier nachlesen, dass ich dem Song vor sechs Jahren nicht sonderlich zugetan war. Jetzt weiß ich: "I was wrong." (Mike Ness)
Dass nun im Jahr 2018 selbst die allergrößten Die-Hard Fans das aktuelle Werk "All One Tonight" als bestes Livealbum der Band seit dem Urknall feiern, lässt zunächst aufhorchen; bei genauerer Betrachtung ist indes kein anderes Urteil möglich. Die Band spielte nach dem überraschenden Erfolg ihres letzten Studioalbums "F.E.A.R." mit seinem Top Ten-Charteinstieg im Vereinten Königreich, in der nicht nur altehrwürdigen, sondern auch restlos ausverkauften Royal Albert Hall und das ist denkwürdig genug: dort, wo sich sonst nur die richtig Großen die Klinke in die Hand geben, die Roger Waters', die Brian Mays, die Robert Plants, kommen Marillion-Fans aus der ganzen Welt angereist, um das beeindruckende Gemäuer mit Licht, Liebe und Musik zu füllen. Ich möchte nicht respektlos klingen, aber Marillion galten allerspätestens ab Mitte der 1990er Jahre und der Trennung von der EMI nicht gerade als kommerziell attraktiv oder vielversprechend und segelten mit den in Eigenregie organisierten Crowdfunding-Kampagnen und derart finanzierten Albumveröffentlichungen nebst selbstständig gegründeten und geführten Labels unter dem Radar des Mainstreams - manchmal sogar unter dem Radar des Undergrounds. Das Ergebnis: eine außerordentlich enge, vielleicht einmalige Verbindung zu ihren Anhängern - die sich wenig überraschend in den zweieinhalb Stunden dieses auf sage und schreibe 4-LPs verteilten Mammutprogramms in voller Pracht zeigen darf. Die Publikumsreaktionen lassen das Dach der Royal Albert Hall abheben und wer via BluRay/DVD/Youtube in die Gesichter und auf die Körpersprache der Band schaut, die angesichts der Begeisterungsstürme und ob der schieren Tatsache, dass sie tatsächlich und nach vierzig Jahren zum ersten Mal in der verdammten Royal Albert Hall spielen dürfen, erkennt die Einzigartigkeit dieses Abends, dieser Band und ja: auch dieser Fans. Als konkretes Anschauungsobjekt möchte ich auf das weiter unten eingebettete Video von "Go" und auf die Szenen ab Minute 4:55 Minuten verweisen. Die Herzallerliebste und ich überbieten uns praktisch fortwährend mit den über uns schwappenden Gänsehautattacken.
Über das in Gänze aufgeführte "F.E.A.R." habe ich mittlerweile schon genug Lobeshymnen geschrieben, und ich könnte mich auch knapp 2 Jahre nach der Veröffentlichung nur wiederholen - es bleibt eines der drei herausragenden Alben ihrer Karriere und der damit erreichte Erfolg gibt Anlass zur Hoffnung, dass doch noch nicht alles verloren ist. Der zweite Teil des Abends besteht aus bekannten Bandklassikern wie "Afraid Of Sunlight", "The Space", "Easter" oder "Neverland", die mit der Unterstützung eines kleinen Orchesters aufgeführt werden und glücklicherweise nie überarrangiert in die Kitschfalle aus dem Hause Rondo Veneziano plumpsen, sondern dank der sehr behutsam in die Songs eingepassten Orchestrierung zwar voluminöser und einen Tacken melancholischer klingen, aber nie den eigentlichen Spirit aus dem Kern der Komposition verlieren. Unter normalen Umständen wird "All One Tonight" künftig in einem Atemzug mit "Live & Dangerous", "Live At The Apollo", "At Folsom Prison", "It's Alive" oder "Made In Japan" genannt. Nur: was ist heute noch normal?
Nun ist Herr Dreikommaviernull grundlegend ziemlich nah am Wasser gebaut und es ist nicht ungewöhnlich für mich, von Musik so tief berührt zu werden, dass mir selbst in der Öffentlichkeit die Tränen über die Wangen laufen. Es gibt beispielsweise die Heart-Coverversion von Led Zeppelins "Stairway To Heaven" aus dem Kennedy Center, bei der ich in den letzten dreieinhalb Minuten - völlig egal wo ich bin, wie es mir geht, was ich gerade denke und/oder mache - _IMMER_ Rotz und Wasser heulen muss und es also dem ebenfalls sehr gerührten Robert Plant gleichtue - obwohl mir Led Zeppelin weithin am Gesäß vorbeigehen und am Ende des Videos außerdem ein paar Rockstars auf der Bühne stehen, die sich meinetwegen besser einmauern sollten, aber ich kann mich selbst angesichts dieser "abominations unto the lord" (John Oliver) einfach nicht dagegen wehren, emotional fast zerrissen zu werden. Als ich in der vergangenen Woche in meiner Rolle als professioneller Businesskasper im ICE nach München saß und mir mit "Neverland" das schönste Lied der Welt ins Schallgesims gedrückt wurde, rächte sich mal wieder die Entscheidung, keine Papiertaschentücher ins Reisegepäck aufgenommen zu haben. Wie soll man sowas aushalten?
Manchmal erscheint das alles zu groß, wichtig - überlebenswichtig! - und heilend, um es darüber hinaus in Worte oder auch nur Gedanken zu kleiden.
Manchmal ist es besser, es einfach so im Raum stehen zu lassen: Das ist die beste Band der Welt.
Die Überraschung des Jahres - und das ist fast noch eine Untertreibung. Hätte man mir vor zwölf Monaten erzählt, die neue Platte der Afghan Whigs würde in meiner Jahresbestenliste auf dem zweiten Platz landen, hätte ich vermutlich den Notzarzt gerufen und die ersten Anzeichen für Schlaganfallsymptome (blaues Auge, gebrochene Rippe) abgefragt. Tatsächlich habe ich vor einem Jahr nicht mal daran gedacht, "In Spades" überhaupt nur zu hören. Nach kurzem Check des Comebackalbums "Do To The Beast" aus dem Jahr 2014 gab ich keinen Pfifferling mehr auf die Truppe, die mit "Congregation", "Gentlemen" und "1965" immerhin drei echte Klassiker der neunziger Jahre veröffentlichte und mit ihrem souligen (Alternative) Rock zwischen Sex, Hedonismus und emotionaler Agonie zu einer echten Ausnahmeband heranreifte. Die Leidenschaft in ihrer Musik war verschwunden, die Whigs klangen alt und müde. Ein Konzert im Juni 2017 veränderte dahingehend aber ziemlich viel - wenn nicht gar alles.
Es sollte unser erstes livehaftiges Aufeinandertreffen sein, und weil ich es ja schon mal an anderer Stelle erwähnt habe: ich bin ein loyaler Fan. Davon hat die Band, zumindest in Deutschland, offenbar nicht mehr so viele, denn die Batschkapp war mit maximal 300 Leuten nicht mal zu einem Viertel gefüllt. Ich erinnere mich heute nicht nur an einen wunderbar angenehmen Abend zurück, sondern habe darüber hinaus den vielleicht eindrücklichsten Konzertmoment der letzten 15 Jahre für immer auf meiner Festplatte gespeichert: Whigs-Gitarrist Dave Rosser kämpfte zum Zeitpunkt des Konzerts bereits seit einigen Monaten gegen Darmkrebs und konnte daher nicht an der Tour teilnehmen. Dazu gab es von Sänger Greg Dulli bereits während der Show eine Ansage, jeder Musiker auf der Bühne spiele heute Abend für den im Sterben liegenden Freund - und wenn einem das schon einen Kloß in den Hals zauberte, passierte bei der Bandvorstellung jener Gänsehautmoment, der mich bis heute bei jeder Erinnerung wie ein Blitz durchfährt: die Band spielt "Faded" vom "Black Love" Album, und Dulli nennt gegen Ende des Songs die Namen seiner Mitmusiker. Als Dulli den Namen Dave Rosser mit allem, was seine Lunge, seine Seele und sein Herz noch hergeben, geradezu herausschreit, lässt die Band das ohnehin wild um sich schlagende und seit Minuten auftürmende Crescendo zu einem einzigen Donnerhall werden, zu einem ohrenbetäubenden Schlag. Es war, als würde sich Energiestrahl aus dem Hallendach auf den langen Weg nach New Orleans zu Rossers Krankenbett aufmachen. Ein umwerfender Moment, der mich bis heute beschäftigt. Dave Rosser starb nur wenige Tage nach dem Frankfurt Konzert an seiner Krankheit.
"In Spades" ist ein Juwel des Indie- und Alternativerocks und auch wenn mittlerweile der Sex in ihrer Musik tatsächlich weitgehend fehlt, hat Dulli noch immer alle Fäden zu Deinen Nervenenden in den Händen - und er spielt damit Schnick Schnack Schnuck: In etwas mehr als dreißig Minuten sagt die Band ohne einen fucking einzigen überflüssigen Ton alles, was es für die Generation X im Jahr 2017 zu sagen gibt und deckt dabei jede Schattierung zwischen lebens- bis gefühlsecht ab. Im überragenden Abschlusssong "Into The Floor" schmettern sie im Prinzip alles gegen die Wand, was seit 10 Jahren eine Gitarre in der Hand gehalten hat.
Die Afghan Whigs sind das, was gemeinhin unter der Bezeichnung "a national treasure" läuft und auch wenn ich nach dem Comeback einige Jahre gebraucht habe, um (wieder) in ihre Arme zu fallen: "In Spades" macht es einem klarer als jemals zuvor. Ich brauche die Whigs. Du brauchst die Whigs. Verfickt noch eins - die ganze verfluchte Welt braucht die Afghan Whigs.
Im Oktober des letzten Jahres schrub ich an anderer Stelle über "Wallflower", das zweite Album des gebürtigen Australiers Jordan Rakei werde in der Jahresendabrechnung ganz sicher unter den ersten 5 zu finden sein. Nun ist es tatsächlich die Bronzemedaille geworden - und das ist, wie ich mir just in diesem Augenblick nochmal via Endlosschleife auf dem Plattenteller versichern lasse, nicht nur verdient, sondern sogar das untere vorstellbare Limit. Das ist eine sensationell gute Platte.
Aufmerksam geworden bin ich auf den mittlerweile in London lebenden Multiinstrumentalisten bereits 2016. Das Coverartwork seines "Cloak" Debuts (erschienen auf Soul Has No Tempo), ein kunterbuntes und geheimnisvolles Gemälde von der kuwaitischen Künstlerin Zaina Al Hizami versprach wenigstens Interessantes - und ich sollte nicht enttäuscht werden. "Cloak" ist ein beeindruckendes Debut und zeigt bereits Rakeis Fähigkeit, aus rhytmisch raffinierten Kompositionen eingängige Refrains zu entwickeln. Fatalerweise war und ist die Vinylpressung von "Cloak" eine der furchtbarsten aller Zeiten, und so gab ich nach drei Versuchen (jeweils bei unterschiedlichen Mailorders bestellt) entnervt auf: die erste Lieferung hatte zwei Mal die A/B-Seite in der Hülle stecken, aber keine C/D-Seite - trotz Laminierung! Was zum Fick? Der zweite und dritte Anlauf sollte die negativen Kommentare auf Discogs bestätigen: ein einziges Kratzen, Schleifen und Springen. Ich habe wirklich noch niemals eine derartig miese Pressung gehört, aber das hält natürlich niemanden davon ab, "Cloak" immer noch zum Verkauf anzubieten. Ganz im Gegenteil, denn mittlerweile ist das Vinyl ziemlich rar geworden und kostet eine ordentliche Stange Geld. Augen auf beim Plattenkauf: so toll die Musik auf der Platte auch ist, ist hier ganz sicher ein anderes Format vorzuziehen.
Die Vinylpressung von "Wallflower" hingegen ist fehlerlos und damit ganz so, wie man es von Ninja Tune erwarten konnte. Rakei ist mittlerweile zum britischen Spezialistenlabel für modernen Eklektizismus gewechselt und das macht Sinn: seine Musik zeigt Einflüsse aus Jazz, Rhythm & Blues, Hip Hop, Electronica, Soul und Reggae, die er hier noch mehr als auf "Cloak" zu einer homogenen, äußerst stimmungsvoll in Szene gesetzten Melange zusammenfügt. "Wallflower" ist nicht nur ernster und dunkler als der Vorgänger, es zeigt auch einen lyrisch deutlich intimere Seite des Musikers, der unglaublicherweise erst 25 Jahre alt ist: Rakei reflektiert in seinen Texten sein Leben als "Outsider" in sozialen, zwischenmenschlichen Situationen, zeigt sich auf "Wallflower" sehr persönlich und und wollte das auch im Coverartwork widerspiegeln: das Bild des kleinen Jungen mit dem überspannten Regenschirm ist der junge Jordan im australischen Brisbane:
"It's an image that's very personal to my family and me. It's a picture of me that used to sit in our house when we were growing up. Visitors would always comment on it. Because the album is so personal, I wanted to make sure I didn't overcomplicate the artwork. I was focused on portraying as much vulnerability as possible, and this photo definitely represents that."
Das fällt bei der Wohngemeinschaft Dreikommaviernull mit seinen ehemaligen Kindern des Grunge natürlich auf offene Herzen und geradewegs in sanft pulsierende Hosen: wir waren beide derart angetan von dem über Wochen auf heavy rotation laufenden "Wallflower", dass wir uns an einem kalten Novemberabend und nach einem wie gemalt maximal abgefuckten Arbeitstag ins 80 Kilometer entfernte Mannheim bewegten, um gemeinsam mit einer überraschend hohen Anzahl Besucher Rakei nebst seiner Liveband auf der Bühne zu bewundern. Wir würden es jederzeit wieder tun. In a heartbeat.
Ich habe weiter oben von Rakei's "rhythmisch raffinierten Kompositionen" geschrieben und als Paradebeispiel kann, wenn nicht gar: muss "Sorceress" genannt werden; hier in einer leider nicht optimal aufgenommenen Liveversion aus New York. Es ist jedes Mal aufs Neue verwunderlich, wie prima das alles ineinanderfließt - und wie die Band es schafft, dabei nicht komplett auseinanderzufallen:
Und weil die Performance von "Talk To Me" beim letztjährigen North Sea Jazz Festival so umwerfend ist, gibt es das Video noch als extra Zugabe - auch wenn der Song vom Vorgängeralbum "Cloak" stammt. Was für ein Monsterdrummer das ist.
Und da stand er also vor mir. Keine 6 Meter entfernt, im wollweißen Schlabberstrickpulli, Zottelhaare, Jeans. Und ich war damit für einige Minuten komplett überfordert, während tosender Beifall der Zuschauer über meinen Kopf hinwegdonnerte wie eine haushohe Welle am Strand von Nazaré.
Chris Cornell. Seit 1989 und dem Cover des Soundgarden Albums "Louder Than Love" irgendwie immer an meiner Seite. Einer aus der Zeit, die mich sowohl musikalisch als auch charakterlich so sehr prägte, wie keine andere. Ich kann vermutlich sagen, dass in den ersten Minuten des Konzerts in der Hamburger Laeiszhalle, mein damaliges Leben an mir vorbeiziehen sah: die Karohemden, den 8-Tage-Bart, die zerrissenen Jeans, die Nirvana-Sammlung - denn wie sehr ich damals Fan war, so jung war ich eben auch, und so waren Konzertbesuche aufgrund fehlender Einflussmöglichkeiten in den elterlichen Entscheidungsprozessen (Erpressung, Bestechung, etc.) Mangelware. Kurz: ich sah von meinen damaligen Wegweisern, Leuchttürmen, Trostspendern und Krafttankern nicht einen einzigen auf der Bühne. Ich hatte zwar ein Ticket für das Konzert von Nirvana am 3.März 1994 in der Offenbacher Stadthalle, dummerweise sollte das Konzert in München am 1.3.1994 aber aus bekannten Gründen der letzte Auftritt der Band werden. Als ich endlich alt genug war, Konzerte alleine besuchen zu können, waren die Überlebenden wie Pearl Jam schon auf dem kreativen Nullpunkt angekommen, oder, wie im Falle Soundgarden, nur auf großen und furchtbaren Festivals zu sehen, während sich der Rest (u.a. Alice In Chains) schon aufgelöst hatte und sich für eine peinliche und unwürdige Reunionscheiße (u.a. Alice In Chains)(sic!) frisch machte.
Ich war an diesem lauen Frühlingsabend in Hamburg von so vielen Emotionen und Gedanken und Flashbacks einfach völlig überwältigt.
Und dass Chris Cornell für die Herzallerliebste und mich darüber hinaus eine ganz besondere Bedeutung hat, darüber hatte ich meine Leser schon Ende des vergangenen Jahres aufgeklärt - was für uns beide, wie wir dort mit großen Augen und Herzen in der vierten Reihe saßen und halb ungläubig, halb überglücklich auf die Bühne schauten, nicht zwangsläufig zur Entspannung beitrug.
Um es vorwegzunehmen: es sollte sich auch musikalisch und meinetwegen auch auf jeder anderen Ebene ein beeindruckendes, denkwürdiges Konzert entwickeln. Dabei stehe ich Cornells künstlerischem Output seit seinem Solodebut "Euphoria Mourning" aus dem Jahr 1999 nicht mal in vollem Ausmaß unkritisch gegenüber: sein drei Studioalben andauerndes Intermezzo mit drei Vierteln der Crossoverlegende Rage Against The Machine unter dem Audioslave-Banner, sein Ausflug in R'n'B Gefilde mit dem kolossal bodenlosen, von Timbaland produzierten Album "Scream", die in den letzten 15 Jahren deutlich angeschlagene Stimme und eine immanente Orientierungslosigkeit in seiner künstlerischen Ausrichtung, ließen alles in allem nicht unbedingt auf einen herausragenden Konzertabend schließen.
Er sollte uns alle Lügen strafen. Die Stimme? Wie eine Eins! Ich bin bei Sängern wirklich ein überkritisches Arschloch und hatte mich angesichts seiner früheren Gesangsleistungen schon mit verbalem Dauerfeuer für diesen Text bewaffnet, aber leckmichamarsch: das war perfekt. Die Songs? Gab es aus allen wichtigen Schaffensperioden: Temple Of The Dog, Soundgarden, Audioslave und von seinen Soloalben. Besonderes Bonbon: "Seasons" vom "Singles"-Soundtrack. Sein Sidekick? Bryan Gibson an Cello, Mandoline und Piano, durchweg nicht nur überirdisch gespielt, sondern bis auf die Ausnahme "Black Hole Sun", das in der Akustikversion immer leicht verstrahlt wirkt, auch kongenial arrangiert. Cornells Laune? Zwischen sonnig und souverän. Der Mann scheint nach jahrelanger Suche endlich in seiner Mitte angekommen zu sein - mit Auswirkungen sowohl auf seine Musik, als auch auf den Menschen dahinter. Was ich davon halte, dass er "ausgerechnet" (Kalle Rummenigge) mit den unglücklicherweise reformierten Soundgarden den breitbeinigen Rockopa gibt, kann sich der erfahrene Leser meines Blogs möglicherweise denken - warum so viele der alten Meister der Verweigerung, der Anti-Rebellion, der Introspektive und der Klischeeverdammung auf der Bühne plötzlich Mitsing- und Klatschspielchen starten, Konfettikanonen zünden und Fangesänge aus den bierseligen Fußballstadien dieser Welt anstimmen, wird mir mindestens in diesem Leben ein großes und ärgerliches Rätsel bleiben - an diesem Abend in Hamburg war davon nichts zu sehen, hören, spüren. Cornell ist redselig, so manche Ansage dauert gar länger als der darauffolgende Song, er ist aber ganze Universen davon entfernt, den Hampelmann zu geben. Das gibt andererseits das Setting auch nicht her: die Laeiszhalle ist ein altehrwürdiges Konzerthaus mit teurer und hoffentlich strapazierfähiger Auslegeware, komplett bestuhlt und mit aufwändigen Stuckarbeiten an Decke und Wänden ausreichend autoritär in der Wirkung. Das Publikum (Vollbartquote bei den Männern lag mit konservativer Schätzung bei ca. 98%, bei den Frauen nicht ganz so hoch) ist gleichfalls nicht mehr das jüngste und hat sich wohl wie Herr und Frau Dreikommadingsbums über den weichen Sitzplatz gefreut. Abschließend ist Cornells Auftritt nicht für die große Rockpose gemacht, denn es sind die leisen Töne, die hier regieren. So entsteht über die gut zwei Stunden Spielzeit eine intime Atmosphäre, ein unsichtbares Band zwischen den Zuschauern im Saal und Chris Cornell auf der Bühne - und ganz gleich, ob eine solche Stimmung für ihn nach abertausenden Shows noch etwas Besonderes ist: er genießt die gemeinsame Zeit mindestens so sehr wie das zum Abschluss erwartbar frenetisch klatschende Publikum.
Um ein Haar hätte man sich eine Konfettikanone gewünscht.