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03.04.2021

Best of 2020 ° Platz 2 ° War On Women - Wonderful Hell





WAR ON WOMEN - WONDERFUL HELL

"If you say you're not a feminist, it's kinda like admitting a lot of really weird shit about yourself." 
(Tim McIlrath)


Ich habe seit Jahren einen Narren an dieser Band gefressen, ich geb's zu. Seit der ersten Begegnung im Vorprogramm von Propagandhi bin ich fasziniert von dem damals noch sehr aufgerauten und nervösen, heute melodisch ausgefeilteren Hardcore-Punk-Gemisch, den völlig kompromisslosen und konfrontativen Texten, ihrem rigorosen Auftreten. Wo sie es einem anfangs noch etwas schwer machten, die von naiver Ungestümtheit und der zügellosen Stimme von Sängerin Shawna Potter geprägten Punkeruptionen der EP "Improvised Weapons" vorbehaltlos zu umarmen, machen sie es einem spätestens ab dem ersten selbstbetitelten Album praktisch unmöglich, ihnen die kalte Schulter zu zeigen. Sie wurden immer besser, sowohl auf Platte als auch live: zwischen der ersten Show im Jahr 2013 bis zum letzten Auftritt im sommerlichen Wiesbaden liegt eine kleine Welt. Apropos, das Konzert zusammen mit den ebenfalls so tollen wie wichtigen Petrol Girls - ein Traum-Billing, sowieso - war vielleicht das beste des Jahres 2019. Überall gute und entspannte Menschen und zwei herausragende Punkbands mit einer so bedeutsamen Message, dass es mir bei den intensiven Ansagen von Petrol Girls-Sängerin Ren Aldridge nicht nur einmal um ein Haar die Tränen kamen. Diesen Abend werde ich so schnell nicht vergessen.

"Wonderful Hell" ist nun auf jeder Ebene ein einziger Triumphzug für War On Women und der vorläufige Höhepunkt ihrer Karriere. Wenn ich beim letzten Album "Capture The Flag" darüber schrieb, die Band aus Baltimore könne es sich sogar erlauben, den besten Song "Anarcha" im hinteren Drittel zu verstecken, dann haben sie es sich jetzt erlaubt, gleich die ganze Platte bis unters Dach mit derlei Brechern vollzupacken. Hits. Hits, Hits, Hits. Überall Hits. Durchgängig. I'm not fucking kidding.

Shawnas erneut verbesserter Gesang (die Frau hat fucking pipes!), ein überragendes Melodieverständnis, ohne auch nur einen Hauch Durchschlagskraft und Drive zu verlieren, ein angenehm weites stilistisches Spektrum mit einigen herausragenden Ideen und Experimenten wie im rhythmisch vertrackten und abwechslungsreichen "Big Words" oder das zynische "Her?" mit großartigem Riffing und zornigem Text, der den allgegenwärtigen Frauenhass und die Doppelmoral einer von Männern konstruierten Welt offenlegt. Apropos Texte: auch auf "Wonderful Hell" stehen glasklare Kante zeigende und -einfordernde Texte, die in ihrer Geradlinigkeit so kraftvoll sind und damit selbst einem wie mir, der sich über den eigenen Status als Profiteur des patriacharlichen Gesellschafts- und Wirtschaftssystems sehr genau im Klaren ist und über all die so sorgfältig aufgebauten protektiven Strukturen und ihre desaströsen Folgen besser Bescheid weiß als mir lieb sein kann, immer noch den Holzhammer auf die gleichfalls immer noch erschütternd leere Birne bommeln lassen und mich jedes Mal aufs Neue dazu zwingen, meine eigene Realität und Wahrnehmung zu hinterfragen. 

Und dennoch haben sie es auch jetzt wieder geschafft, die beiden alles überstrahlenden Tracks ans Ende des Albums zu setzen. Zunächst entwickelt sich "The Ash Is Not The End" von einem recht unspektakulärem Beginn innerhalb von Sekunden zu einer mitreißenden Hymne mit bebendem Text:

So you wanna burn it all to the ground
Like there's no coming back from this?
You fucking quitter
The fire, the embers, the ash are not the end
If you want it, then you're gonna have to build it yourself

bevor "Demon", in guter Tradition als längstes und ungewöhnlichstes Stück am Ende des Albums platziert, dann mit bislang ungeahnter Intensität tatsächlich alles zu Staub zerbröseln lässt. Bedrohlich und düster - und so kraftvoll und mächtig. 

Ein beeindruckender Abschluss für ein beeindruckendes Album einer beeindruckenden Band. 

Wo soll das alles noch hinführen? 

 

Erschienen auf Bridge Nine Records, 2020. 


21.02.2021

Best of 2020 ° Platz 14 ° GOLD - Recession




GOLD - RECESSION

Your shell is hollow, so am I
The rest will follow, so will I
(Neurosis)


Das letzte Konzert vor dem Virus. Ende Januar 2020 stand ich mit etwa 50 anderen Menschen im erschütternd leeren Colos-Saal in Aschaffenburg und ließ mir von GOLD Blutdruck und Herzfrequenz auf Stufe 11 drehen. Keine Ansagen, keine Zugaben - einfach nur auf die Bühne gehen, alles, aber auch wirklich alles supertight abreißen, und wieder gehen. Ich weiß noch, dass ich nach diesen 60 Minuten völlig euphorisiert und unangenehm laut "So macht man das! Genau so macht man das! NUR SO! EXAKT! GENAU! FUCKING! SO! MACHT! MAN! DAS!" rief und beim anschließenden Merch-Irrsinn sehr eindringlich auf Gitarrist Thomas Sciarone einredete, die Band möge sich bitte von der spärlichen Kulisse und dem fehlenden Zuspruch, dem quantitativen zumal, nicht beeindrucken lassen und für immer weitermachen - und dass, obwohl ich mich mit vermeintlich unangebrachten Reaktion gegenüber Musikern in der Regel sehr zurückhalte, weil ich diesen (und allen anderen) Menschen wirklich nicht auf den Sack gehen will. 

GOLD hatten für 2020 einen gut gefüllten Tourkalender. Die Corona-Zwangspause wurde mit nicht weniger als drei Veröffentlichungen überbrückt, die zunächst digital über ihre Bandcamp-Seite, später im Herbst als Sammelband unter dem Titel "Recession" auf Dreifach-Vinyl erschienen: "The Isolation Sessions", ein Live-Mitschnitt aus dem April 2020 eröffnete den Reigen, gefolgt von den intimen, nur von Sängerin Milena Eva und Thomas Sciarone aufgeführten "The Bedroom Sessions" im Juni und einer Zusammenstellung bislang unveröffentlichter Songs und Demoversionen unter dem Titel "The Archive Sessions" einen Monat später. 

Es war bereits bei dem immer noch aktuellen Studioalbum "Why Are You Not Laughing?" erkennbar, und ich muss es auch angesichts der Sammlung auf "Recession" wiederholen: das Aufregendste beim Eintauchen in den Kosmos von GOLD ist die Offenlegung der zu ihrem Selbstverständnis gehörenden bedingungslosen Verletzbarkeit und der gleichzeitig daraus erwachsenden Kraft - beides elementare Bestandteile ihrer Musik, ihrer Texte und ihres ganzen Auftretens. Es ist jene Ambivalenz, die diese Band so besonders macht und die sie mittlerweile so selbstbewusst und intensiv wirken lässt. Ihre Ideale und Überzeugungen zeigen sich dabei so tosend wie der sich entfesselt aufbauende Orkan aus den so dürr und nervös klirrenden Gitarren und den hypnotischen Schlagzeugfiguren mit Sängerin Milena Eva als Zeremonienmeisterin im Auge des Sturms: so karg und kühl ihr Vortrag an der Oberfläche erscheint, so unerschrocken kompromisslos und unmissverständlich ist ihre Botschaft von "individual empowerment", wenn sie von toxischer Maskulinität singt, von Unterdrückung, von ritualisierten und zementierten Geschlechterrollen, von Verlust, von Depression.  

Die Durchschlagskraft dieser Idee, diesem alles zusammenhaltenden Netz aus Worten und Tönen, dieser Aura von Klarheit und Mut, zeigt sich in jeder Sekunde der drei Eingangs erwähnten Alben, und dabei ist es egal, wie intim, spröde, fiebrig oder überspannt das Flackern ihrer Musik ist. 

Vielleicht die faszinierendste Band, die Rockmusik gerade zu bieten hat.

   


Self-Released, 2020. 


 

03.01.2021

Die besten Vinyl-Reissues 2020 (5): PJ Harvey - Dry

 




PJ HARVEY - DRY


1992 in der Keimzelle des Anything Goes-Vibes veröffentlicht und ein Klassiker des Alternative Rock, vielleicht gar eines der letzten wirklich großen Rockalben von der Insel der Brexit-Besinnungslosen: das Debut der britischen Sängerin und Multiinstrumentalistin ist lauter Weirdo-Blues, giftiger Feministenpunk, knarzender Noise. Das Trio, allen voran Schlagzeuger Rob Ellis mit seinem unwiderstehlichen Powerhouse-Drumming, holzt sich bis auf wenige Ausnahmen ("Happy And Bleeding" und "Plants And Rags") furios durch ein Album, von dem PJ einst dachte, es würde nicht nur ihr erstes, sondern auch gleichzeitig ihr letztes sein - was sie dazu bewog, für die Produktion alles in die Waagschale zu schmeißen, was sie hatte. 

Wie viel sie wirklich hatte, wird auf diesem fantastisch klingenden Reissue nochmal offensichtlicher. Nie war der Vergleich zwischen totkomprimierter gestreamter Billigscheiße von den Musikhassern von Shitify und einer famos gemischten, gemasterten und perfekt gepressten Schallplatte sowohl eindrucksvoller als auch schmerzhafter als hier. Ein einzigartig beißender Gitarren- und Basssound, ein die Mauern von Jericho zum Einsturz bringendes Drumset und eine Stimme, die zu gleichen Teilen selbstbewusst, sexy und fragil eine ungeheure Präsenz ausstrahlt. Die grundsätzliche Idee, "Dry" exakt auf diese Art zu inszenieren, war für den im karierten Flanellhemd steckenden "Flori" (Mama) schon 1992 eine bemerkenswerte Entscheidung - knapp dreißig Jahre später wird sie dank dieser Neuauflage zur Sensation.


 



Erschienen auf Too Pure, 1992/2020.