25.12.2016

All Hail The Wünschelrute




TARA JANE ONEIL - WHERE SHINE NEW LIGHTS


Das glimmende Räucherstäbchen in meinem Wohnzimmer, der auf das Terassenvordach prasselnde Regen, der in der "Morgenmuffel"-Tasse vor sich hin dampfende Kräutertee, die gelb gefärbten Blätter des kranken Kirschlorbeerbaums, die schamanischen Verbiegungen des Frontallappens: es ist Zeit für "Where Shine New Lights". Ein Album, mit dem sich problemlos ein kompletter verregneter Samstag vor dem Plattenspieler verbringen lässt. Ein subtil arrangiertes, sich um ausgedehnte Melodien würmelndes Werk voller großer Ruhe. Introspektiv wäre eine Untertreibung. Jede Note am richtigen Fleck zur richtigen Zeit. Kilometertiefes Plüschfutter zum ganz tiefen Einsinken in Deine Welt, Deine Gedanken und Deine Liebe.

Tara ist vielen Post- und Noiserock-Aficionados älteren Semesters möglicherweise noch aus ihrer Zeit mit Rodan bekannt, einer in kleinem Rahmen durchaus einflussreichen, wenngleich weitgehend obskur gebliebenen Band, die sich nach dem ersten und einzigen Album "Rusty" aus dem Jahr 1994 auflöste und stilistisch zwischen Slint, frühen Tarentel und June Of '44 agierte. Seitdem ist die Multiinstrumentalistin weit gereist: Konzeptkunst, Malerei, Soloprojekte, Soundtracks, Theater. Sieben Soloalben stehen seit dem im Jahr 2000 erschienenen Soloalbum "Peregrine" auf der Agenda, und "Where Shine New Lights" ist möglicherweise die vollkommenste Verbindung ihrer experimentellen, bisweilen launischen Kunst und ihrem klassischen, in Blues und Folk verwurzelten Singer/Songwriter-Ansatz. 

Besonders eindrücklich sind jene Momente, die das Album urplötzlich als Einheit präsentieren, wenn sich also aus geheimnisvollen Minuten tiefer Pulsschläge, aus ätherischer Weite und dissonanter Gesangsarrangements völlig unverhofft die große Melodie unter der ganz großen Bühne zeigt - ganz kurz, wie ein in Sekundenbruchteilen erhaschtes Blinzeln auf den Reichtum des Grand Canyon: gerade lang genug, um die Ahnung zu füttern, was es hier alles zu Entdecken gibt. Und ebenso lange genug, um zu verstehen, dass diese Ahnung ohne das Vorspiel, die Hinführung durch tiefrot geklöppeltes Buschland nicht möglich gewesen wäre. Herausragende Beispiele hierfür sind "Glow Now" und ganz besonders "Elemental Finding", das es auch unten als Video zu bestaunen gibt: immer wieder durch kurze und intime Instrumentalpassagen unterbrochen, steht am Ende ein zurückgezogener Folkschunkler mit violett pumpender Aura mitten in der Natur, im Innern, im Licht.




Erschienen auf Kranky, 2014.



17.12.2016

Dauerfeuerbrennerlöscher



YOUNG MAGIC - STILL LIFE


Es gab in 2016 so einige Platten, die mein Leben vermutlich auch über das immer noch andauernde Superscheißjahr 2016 hinaus prägen werden; in erster Linie, weil ich mit Ihnen eine bestimmte Zeit, auch ganz besonders ein Lebensgefühl verbinden werde. Und einige davon werden vielleicht wichtig für das restliche Leben werden, sei es, weil sie besondere Saiten in mir angeschlagen haben, sei es, weil ich mit ihnen überhaupt nicht rechnete und die Überraschung und Begeisterung nicht zuletzt genau davon getragen wird und wurde. "Still Life" könnte so eine Platte werden.

Das Debut "Melt", vor einigen Jahren für kleines Geld und in erster Linie wegen des umwerfenden Coverartworks gekauft, gefiel mir gut, aber mit etwas despiktierlichem Mut ließe ich mich zu der Bewertung hinreißen, seine Existenz verdanke es fast ausschließlich der Erfolgssingle "You With Air" - einer faszinierend subtil arrangierten und von einem Weirdo-Charakter getragenen Popnummer, die "Melt" mit sich riss und mit sich reißen konnte. Der Nachfolger "Breathing Statues" fiel hingegen nach wenigen Momenten des Zuhörens komplett durch die Qualitätskontrolle - ich kann das nicht weiter ausführen, außer der Feststellung, dass ich es keine 2 Minuten hören konnte. Und wollte. 

"Still Life" bringt mich an meine Grenzen, über Musik zu sprechen und zu schreiben, und ich gebe Überlegungen zu, den Text einfach mit einem "Diese Musik zieht mich magisch an." zu beginnen und gleich danach mit einem "Isso!" zu schließen. Macht damit, was ihr wollt. Mir fällt dazu nicht mehr ein.

Sängerin Melati Malay schrieb "Still Life" während ihren Reisen nach Tokyo und Bali, in ihrer Heimat New York, in den Catskills und während ihres Aufenthalts an ihrem Geburtsort auf Java, Indonesien. Sie verarbeitet mit diesem Album den Tod ihres Vaters im vergangenen Jahr mit einer sphärischen und mystischen Musik, die melodisch zu gleichen Teilen undeutlich als auch opulent ist. Für letztgenannte Einschätzung ist Auseinandersetzung gefragt, denn eingängig ist hier gar nichts. "Still Life" hält sich energetisch als weißer Rauch kurz über Normal Null. Unauffällig und in seiner extremen Verhuschung doch überaus stimmungsvoll - auch wenn ich die Stimmung beim besten Willen nicht dechiffrieren kann: Malay und ihr Partner Isaac Emmanuel haben nicht nur in dieser Frage ein paar falsche Fährten gelegt und sich praktisch unsichtbar gemacht, sie haben ebenfalls dafür gesorgt, dass die Einflüsse und Wurzeln ihrer Musik kaum mehr zu erkennen sind. "Still Life" ist alles - und gleichzeitig nichts. Die Nennung indonesischer Musik, Pop aus den 1980er Jahren, urbaner Avantgarde aus dem brodelnden New Yorker Underground, Clubsounds und Indie-Shoegazer ist nicht nur eine untaugliche, weil heillos unvollständige Auflistung von Genres, es ist angesichts dieses echten Schmelztiegels und der beinahe vollständigen Auflösung von Konturen, Grenzen und Strukturen völlig irrelevant. 

“In a way, Still Life became a kind of antithesis to a world where people tell you who to pray to, what to buy into, and who your enemies should be. It’s my reaction. Still Life is my way to celebrate music from all corners…my home without borders.” 

Mir kommt sowas nicht oft über die Lippen, aber ich glaube es wirklich: "Still Life" ist ein Meisterwerk.





Erschienen auf Carpark, 2016.

09.12.2016

Resurrection




JUD - GENERATION VULTURE


Trump wird Präsident der USA und Jud bringen ein neues Album raus - beides wäre noch vor wenigen Monaten völlig undenkbar gewesen. Während die Wahl der faschistischen "Whiny Little Bitch" (Bill Maher) nebst der Nominierung rassistischer, antisemitischer, christlich-fundamentalistischer Blowhards für weitere Regierungsposten selbst im weit von Washington entfernten Sossenheim für eine Familienportion Depressionen sorgte, breitet sich in Sachen "Generation Vulture" zunehmend große Freude aus. Die letzten zwei Wochen im Hause Dreikommaviernull standen eindeutig im Zeichen dieses völlig unverhofften Comebacks, und die Anmerkung in meinem Textlein zur "Doppelgängers EP" von The Life And Times, dass also ebenejene gemeinsam mit "Generation Vulture" meinen Rock'n'Roll für die nächsten Monate bestimmen werden, kommt nicht von ungefähr: beide Bands haben die alte Schule besucht, in der Tiefgang, Komplexität, Groove und Melodie im Prüfungsfach "Klischeefreie Rockmusik für die Überlebenden der 90er Jahre" abgefragt und bewertet werden und bestehen jede noch so schwere Prüfung schon seit Jahren mit einem Extrasternchen.  

Immerhin satte acht Jahre liegen zwischen dem letzten Werk "Sufferboy" und "Generation Vulture" und obwohl Bandchef David Judson Clemmons auch während dieser acht Jahre neben seinem in Berlin ansässigen Antiquitätenladen musikalisch immer noch und meistens mit Soloauftritten aktiv war, durfte man nicht zuletzt wegen der vermutlich sehr übersichtlichen Verkäufe des Vorgängers wirklich nicht mit einer Auferstehung rechnen. Jud waren irgendwie immer die Vergessenen und selbst dann, wenn der Zeitgeist ihnen eigentlich wohlgesonnen war, tat sich auf der Popularitätsskala so gut wie gar nichts. Schon das Debut "Something Better", immerhin von Korn/Sepultura/Slipknot-Knöpfchendreher Ross Robinson klanglich vollveredelt, ging 1996 trotz dezenter Indie- und Alternative-Schlagseite völlig unter, die beiden Nachfolger "Chasing California" und "The Perfect Life", beides glasklare 10 Punkte Klassiker aus dem viel zu oft zitierten Bilderbuch, konnten an jenem Zustand gleichfalls nichts ändern; dabei hätte gerade "The Perfect Life" mit seinen melodisch verschrammelten Powerindiedoom mit dem Tiefgang eines Ozeandampfers doch wirklich für einen Achtungserfolg sorgen können. Aber es tat sich nichts. Gar nichts. 

Ob sich das Bild mit "Generation Vulture" ändern wird, ist höchst zweifelhaft - und wieder bleibt festzuhalten, dass der Band qualitativ nichts, aber auch so gar nichts vorzuwerfen ist. Über drei Jahre wurde penibel an dem neuen Werk gearbeitet und man hört es "Generation Vulture" zu jeder Sekunde und im allerbesten Sinne an. Die Produktion ist mehr als nur state of the art - ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich zuletzt ein so imposant in Szene gesetztes Album einer Rockband hörte; einer Indieband zumal, die nicht von Majors, A&Rs und Managern mit ein paar Scheinchen aus der Megaseller-Schatulle gefördert wird. Glasklar, druckvoll, bretthart - und doch soviel Transparenz und Intelligenz, um ihren ureigenen und einzigartigen Signature-Sound wie einen großen Mittelfinger in Richtung der Legion von talentlosen Nichtskönnern zu schmettern, die sich hinter ihrer totproduzierten Plastikscheiße verstecken müssen. Die sieben Songs, drei davon ungewohnterweise jeweils um die acht Minuten lang, gehören mit zum Besten, was diese Band jemals geschrieben hat: groovebetont wie eh und je, fräsen sich vor allem die ersten drei Tracks "Blind Society", "Where We Come From" und "Summer Of Love" mit monströsem Riffing in jedes Rockerherz, das auch ohne breitgetretene Klischees nicht die Arbeit einstellt, sondern stattdessen lieber das Emotionszentrum aufheizt. Große Gefühle, große Bühne, großer Gummiknüppel. Ich erlebe vor allem in jenen Momenten Gänsehautschauer - and that's the fucking truth! - die sich harmonisch und atmosphärisch deutlich am 1998er Zweitwerk orientieren. "Chasing California" blitzt tatsächlich manchmal durch und das ist deswegen so auffällig, weil nur Clemmons solche Harmonien schreibt. Niemand sonst. Kann auch sonst niemand. 

Freudenschreie. Luftschlagzeug. Luftgitarre. Schmerzverzerrtes, weil mitleidendes und mitlebendes Gesicht. Becker-Faust. Bohlen-Pimmel (gebrochen). Dreifacher Salto mit zweieinhalbfacher Schraube von 28 Meter Turm. Alles auf der Autobahn und bei 140 Sachen. 

Nach "Summer Of Love" folgt eine kleine Zäsur, denn jetzt wird's sperrig und die eigentliche Arbeit beginnt: "Find Us, Heal Us" kratzt erstmals an der acht Minuten Marke und ist eine komplex arrangierte Achterbahnfahrt zwischen Drama und Melancholie. "The Operation" taut erst nach knappen drei Minuten so richtig auf und basiert im Prinzip auf nur einem dreckig gespielten Bluesriff. Dazwischen: viel Schmutz, viel Dreck, ein ganz kleines bisschen Gitarrensolo und ein praktisch komplett durchgeschlagenes Crash-Becken. Und Tiefe. Tiefe, Tiefe, Tiefe. 

Wem über die letzten Jahre mit Streaming, Downloads und kultureller Verwahrlosung die echte Auseinandersetzung mit Musik abhandengekommen ist, muss spätestens hier zwangsläufig die weiße Flagge hissen. "Humanity, The Lie" setzt tatsächlich nochmal einen drauf und ist möglicherweise das Kernstück von "Generation Vulture": über acht Minuten lang türmt sich ein Emotions- und Riffklotz über den nächsten auf, bis das so entstandene Intensitätsgebirge fast schon körperlich erfahrbar wird. Was - außer Pudding in den Beinen und einem signifikant beschleunigten Puls - kann nach einem solchen Hammer noch kommen? Können wir jetzt bitte wieder ein bisschen abkühlen? Ich muss mal an die frische Luft. 

"How The West Was Won" beginnt tatsächlich zunächst etwas dezenter, bis ich inmitten des cleveren, an Postrockgrößen wie Godspeed You! Black Emperor erinnernden Spannungsaufbau spüre, dass die Band schon wieder am nächsten Brocken tüftelt - bis zum finalen Einsturz. Ich will nicht zuviel verraten, aber es endet alles ganz anders. Und plötzlich merke ich, wie viel Sinn das hier alles macht. Wie sich der Kreis nach diesen Songs schließt. 

Are you alone in this world?
And are you ready for the new world war?
Have you decided just what you're gonna fight for?
Are you alone tonight?

Das ist eine große, große Platte. Und ich finde fast keine Worte mehr für die Tragik, dass auch "Generation Vulture" nur von einer Handvoll Eingeweihter gehört und geliebt werden wird. Von denen dafür aber dann umso inniger.





Erschienen auf Supermusic, 2016.



08.12.2016

Blank When Zero - Live in Mainz, 10.12.2016




BLANK WHEN ZERO spielen zum letzten Mal in diesem Jahr live in ihrem Wohnzimmer: das Haus Mainusch in Mainz hat unserem Wunsch zugestimmt, zwei befreundete Bands einzuladen und ein schönes Konzert zu spielen.

Mainzer! Wiesbadener! Frankfurter!

Am Samstag, 10.12.2016 ab 20 Uhr spielen also Church Of Cycology, Vandalism und Blank When Zero im Haus Mainusch. Wir freuen uns alle auf Euch.


Und damit nicht genug: das Mainzer Studentenmagazin STUZ hat uns für seine 200. Ausgabe interviewt - und wir sind sogar auf dem Titel erwähnt. Huch!

Dummerweise ist der Artikel online nicht einsehbar, glücklicherweise haben wir ja alle...äh...Telefone. Enjoy.




Unsere neue Platte ist natürlich immer noch via Bandcamp erhältlich. Kostenlos.






03.12.2016

Infinity




MARSEN JULES - SHADOWS IN TIME


Das Hubble Extreme Deep Field (XDF) ist ein Bild einer kleinen südlichen Himmelsregion, das entstand, indem Aufnahmen des Hubble-Weltraumteleskops eines Teils aus dem Zentrum des Hubble Ultra Deep Field (HUDF) über einen Zeitraum von zehn Jahren zusammengefügt wurden. Es umfasst Aufnahmen von insgesamt 50 Tagen und einer Gesamtbelichtungszeit von zwei Millionen Sekunden (ca. 23 Tage).



Die Lichtlaufzeit von einigen auf dem Bild zu sehenden Galaxien bis zur Erde beträgt 13,2 Milliarden Jahre, die jüngsten auf dem Bild gezeigten Galaxien sind in einem Stadium lediglich 450 Millionen Jahre nach dem Urknall zu sehen.


One important source of inspiration for “Shadows in Time” was the stunning installation “Series 1024x768” by media artist Johannes Franzen: on a computer screen, all 786,432 pixel continuously change their colour with every second, pursuing the aim of running through all potential possibilities. A simple process that is so complex in itself, that even modern high-performance computer systems cannot capture it and to consequently run through it would last far beyond the existence of our solar system. (Marsen Jules)

"Denn die Maschine braucht, in menschlichen Maßstäben gemessen, unendlich lange, um alle Bilder einmal zu generieren. Daß sich während einer Lebenszeit einmal die Bildpunkte zu einem Bild zusammenfügen, das gegenständlich und wiedererkennbar ist (und daß in dem Moment, wenn es erscheint, jemand anwesend ist, der es sieht), ist sehr unwahrscheinlich. Die meisten Bilder, die entstehen, sind völlig abstrakt, eine vielfarbige Kombination aus Punkten, in der man allenfalls ein Überwiegen bestimmter Farbbtöne oder eine nebelhafte Konzentration von 
Farben an bestimmten Stellen wahrnehmen kann.

Die Schönheit der Maschine liegt in ihrem utopischen Potential. Alle möglichen Bilder sind in ihr enthalten und könnten theoretisch im nächsten Augenblick erscheinen. Das bedeutet z. B. alle Bilder die man während einer Zugfahrt aus dem Abteilfenster fotografieren könnte. Oder jede Seite eines Textes, der je geschrieben wurde und geschrieben werden wird. Oder die Reproduktionen aller Gemälde, die je gemalt wurden. Und die Kombination aus alledem. Und doch handelt es sich um eine endliche Zahl von Bildern."




"Shadows In Times" ist der Versuch, die Einmaligkeit zu begreifen. Die Zeit als mehrdimensionales Chaos. Raum und Zeit erleben. Überhaupt: Leben. In Echtzeit in die Vergangenheit schauen. Alles erscheint ausschließlich im Auge des Betrachters. Was macht das mit unserer Vorstellung von Realität? Unserer Idee von Zeit? Unserem Leben? Ist damit nicht wirklich alles Eins? 

Für mich ist das ein sehr befreiender und tröstender Gedanke.




Erschienen auf Oktaf, 2016.