LAV - A NEW LANDSCAPE
Ein Album wie ein Mikrokosmos.
Der schwedische Produzent Lav aka Christopher Landin ist auf diesem Blog bereits mehrfach mit überschwänglichem Lob bedacht worden. Das liegt vor allem an "A State Of Becoming", das mit Beteiligung von Purl aka Ludvig Cimbrelius entstandene Meisterwerk aus dem Jahr 2017, das in meinem Buch zu den drei besten Ambient-Alben aller Zeiten zählt. Nach einigen weiteren Veröffentlichungen auf so illustren Labels wie Dewtone, deren Homepage-Radio ich nur allerwärmstens empfehlen kann, Amone Recordings und natürlich A Strangely Isolated Place (das eigene 9128-Radio ist ebenfalls überaus lohnenswert), ist "A New Landscape" Lavs zweites vollständiges Album - und das erste ohne eine erweiterte Zusammenarbeit mit anderen Musikern.
Lav lebt mit seiner Familie auf der schwedischen Insel Gullholma und betreibt dort autarken okölogischen Landbau, über den er regelmäßig mittels Videoaufnahmen berichtet - jedenfalls glaube ich das, denn ich verstehe kein Wort: meine Kenntnisse über die schwedische Sprache sind überaus übersichtlich ausgebildet. Er könnte somit auch über Kartoffeldruck und Atomphysik sprechen, aber weil öfter Zucchinis als Brennstäbe im Bild zu sehen sind, gehe ich von Gemüseanbau aus. Darüber hinaus scheint ein überdurchschnittlich ausgeprägtes Interesse für Pilze zu bestehen. Das Coverartwork von "A New Landscape" zeigt beispielsweise den Schleimpilz Badhamia utricularis, der in seiner Lebensweise Eigenschaften von Tieren und Pilzen gleichermaßen vereint, biologisch aber zu keiner der beiden Gruppen gehört. Das Foto wurde von Lav nur einige Gehminuten von seinem Haus entfernt gemacht.
In diesem Zusammenhang erscheint es klug, ihn selbst zu Wort kommen zu lassen:
"To me this album is about perception. Every day we pass over them, without seeing. Fungi, slime molds and other small beings issue an invitation to dwell for a time right at the limit of our ordinary perception. All it requires of us, is attentiveness. Look in a certain way and a whole new landscape can be revealed."
"A New Landscape" ist Natur. Ein kalter, feuchter Waldboden. Die Baumrinde jahrhundertealter Tannen. Der Blick über sich im Wind schaukelnde Baumwipfel. Das Panorama aufs offene Meer. Der Geschmack von Gebirgsluft. Die Sonne auf der Haut. Lavs organischer Ambient Techno, mal technisch nach vorne treibend wie in "Under The Microspope", mal rhythmisch verschachtelt und mehrdimensional wie in "Collaborative Survival", mal ohne jeden Beat und mit gröberer Auflösung operierend in "Below The Forest Floor", fordert und fördert Vergegenwärtigung, Empathie und Demut.
Das gelingt einerseits durch die Musik, also über den reinen Klang mit viel Atmosphäre und tief versunkenen Flächensounds und andererseits mittels der Bilder und Stimmungen, die auf der Reise ein- und ausgeblendet werden - es fühlt sich manchmal so an, als würde man mit dem Elektronenmikroskop in die Vergangenheit reisen und dem Leben beim Entstehen in Zeitlupe zuschauen. Oder wie mit beiden Händen in Mutterboden zu stecken und eine spirituelle Verbindung aus einer anderen Galaxie gechannelt zu bekommen. Die Auseinandersetzung mit dieser Musik entwickelt das ganz natürliche Bewusstsein, sich mit spielerischer Faszination diesen verborgenen Welten zu nähern, sie als Realität für andere Lebewesen wahrzunehmen und den eigenen Platz in dieser Welt zu erkennen, aufmerksam und -gerichtet zu sein. Die andauernde Lärmbelästigung, die Diarrhoe der Sensation, des Tumults, das ständige Bombardement der Empörung - "'s ist doch wurscht." (Schmidt) - braucht einen Krampflöser. Es wird Jahre brauchen, den Dreck aus unseren Systemen zu spülen.
Das braucht Ursprung. Nullpunkt. Reset.
Vinyl: Das stimmungsvolle Cover-Artwork ist eine Sensation und zusammen mit dem Vinyl in *checks notes* Marigold zum Dahinschmelzen schön. Ungefütterte Innenhülle, Bandcamp-Downloadcode. Die Pressung ist nicht perfekt, aber ordentlich. (++++)
Erschienen auf Past Inside The Present, 2022.