„Ich habe nicht einen einzigen Sklaven in Katar g‘sehn. Die laufen alle frei ‘rum.“ (Franz Beckenbauer)
Fast aus dem Nichts erschien im Frühjahr 2023 diese Zusammenstellung von Niko Schabel's Radio Citizen Projekt, das von Mitte der nuller bis in die zehner Jahre hinein einigen Staub aufwirbeln konnte. Vor allem das umwerfende Debut "Radio Serengeti" aus dem Jahr 2006 (erschienen auf Ubiquity Records) mit den Hits "The Hop" und "Birds" versüßte mir so einige Tage und Nächte in meiner Wiesbadener Hood, und auch der Nachfolger "Hope And Despair"null war nach der sich aufgrund leicht angezogener Komplexität zeigenden Eingewöhnungszeit ein totales Highlight. Danach verlor ich Radio Citizen unerklärlicherweise aus den Augen, vielleicht einhergehend mit meinem sich immer stärker zeigenden Hang in Richtung Ambient und Dubtechno. Irgendwas rutscht ja immer vom Radar und hinterher hat man dann den Salat.
Auf "Lost & Found" stehen zehn bislang unveröffentlichte Tracks, die sich an genau jenem Sound der ersten beide Alben orientieren: eine betörende, unwiderstehlich groovende Mischung aus krautigem Soul und Funk mit jazzigen Nuancen und einem freien, urbanen Electronica-Vibe. Wie schon auf den früheren Alben setzt Sängerin Bajka die prominentesten Akzente in diesem so breitbandig inszenierten, an allen Ecken und Enden brodelnden Sound: ihre an Jazzgrößen wie Nina Simone erinnernde Stimme hat soviel Tiefe und Charisma, ihre Phrasierung soviel Einzigartigkeit, dass sich damit praktisch jede gespielte Note in jene Sphären schrauben lässt, die üblicherweise nur von echten Legenden bewohnt werden. Auch die instrumentalen Songs wie beispielsweise "Mountains" lassen mich mit smarten Arrangements und den akzentuierten Dynamiken für verdiente Standing Ovations auf den Wohnzimmertisch klettern. "Lost & Found" ist eine der schönsten Überraschungen des letzten Jahres. Ich weiß nicht, ob man diesen Sound im Kontext der musikalischen Entwicklungen der letzten Jahre mittlerweile schon anachronistisch nennen darf, aber in meinem Buch klingen diese Songs - auch wenn sie einige Jahre auf dem Buckel haben dürften - immer noch frisch und sind mit ihrer funkensprühenden Lebendigkeit absolut zeitlos.
Eigentlich bin ich geneigt zu sagen: wir brauchen heute mehr denn je genau diese Vibes. Herr Schabel, bitte übernehmen Sie. Ich bin bereit für mehr.
Als meine Wenigkeit vor fast exakt vier Jahren einen halbsteifen Beschwerdebrief in die eigenen vier Wände sandte, weil es beinahe unerklärlich sei, dass "Good Day" des britischen Songwriters nicht in der Liste der damaligen besten Platten des Jahres 2018 auftauchte - wo doch vor allem die Herzallerliebste einen regelrechten Narren an den so markanten wie zwanglosen Songs Jeremiahs gefressen hatte und wir "Good Day" also überdurchschnittlich oft (und gerne) hörten - ließ sich gleichfalls eine gewisse Ratlosigkeit in meinen Ausführungen nieder. Immer diese Stilfragen. Was ist das denn hier eigentlich? Und wo kommt es her?
Überzogen mit einer Patina aus den sechziger und siebziger Jahren, mit Orchester-Grandezza und manchmal gar einem Galabühnen-Vibe, aber andererseits unmittelbar, glänzend, frisch und modern. Irgendwie, und ich nehme jetzt allen Mut zusammen: hip! Wer nun obenrum möglicherwiese mit einer opulenteren Ausstattung protzen darf, wird derlei stilistische Lästigkeiten aus den tödlichen Fängen des Egos nicht weiter beachten und stattdessen einfach die Musik genießen. Aus welchen Gründen schreibt der Musikexpress denn auch sonst seine Rezensionen? Frage ich Sie!
Aber wir sind glücklicherweise nicht im mentalen Springer-Hochhaus und damit im Keller jeglicher Moral, sondern in fucking Sossenheim, bitches! Hier darf sich nach Herzenslust der gelbe Schmackes mit rostigen Nägeln aus der Hinrinde gekratzt und im Warum, Wieso, Weshalb regelrecht gebadet werden.
Im Vergleich mit "Good Day" erscheint mir "Horsepower For The Streets" tatsächlich stärker amerikanisch geprägt zu sein. Die "europäische Eleganz", die ich auf dem Vorgänger ausmachen (im Sinne von "identifizieren") konnte und die man auch als vornehme Zurückhaltung interpretieren darf, ist in meiner Wahrnehmung etwas in den Hintergrund getreten und hat jenem kalifornischen Weichzeichner mehr Raum überlassen, den ich gleichfalls bereits vor vier Jahren auf "Good Day" zu entdecken glaubte. Ein bisschen mehr Form über Funktion, ein bisschen mehr Pathos denn Ironie, ein bisschen mehr Vogelperspektive als Detailtiefe. Das zeigt sich auch im Sound, vor allem das Schlagzeug und die Arrangements der Chöre sind mittlerweile full blown Petula Clarke im Jahr 1965, wenn auch sicher mit deutlicher Moll-Färbung und mit all der neuen Komplexität, mit der sich ein Mittvierziger in heutigen Zeiten beschäftigen muss. "Horsepower For The Streets" ist insgesamt melancholischer und introvertierter als "Good Day", steht deutlicher im Sixties/Seventies-Soul, und wäre immer noch der passende Soundtrack für eine Autofahrt im Ami-Schlitten-Cabrio am Strand von San Diego. Ein bisschen Klischee muss sein.
Vinyl: Schönes, sehr ansprechend gestaltetes Gatefold-Cover mit tollem Foto auf der Innenseite. Die Pressung auf schwarzem Vinyl ist abgesehen von einigen No-Fills zu Beginn von "Sirens In The Silence", dem letzten Stück auf der B-Seite, fehlerfrei. (++++)
Bring me the snowfall, bring me the cold wind, bring me the winter
(New Model Army)
Ein neuer Sound, ein neuer Weg, schon wieder. Elektronische Beats, Jamaica, Bass. Viel Bass. Viel Raum. Überzeugung, Emanzipation und Mut. Darunter ein beinahe durchgängig raschelnder Geräuschteppich, der nach Waldboden unter den tanzenden Füßen klingt.
"Songs Of An Unknown Tongue" entstand in Zusammenarbeit mit den beiden Produzenten Wu-Lu und Kwake Bass nach einem längeren Aufenthalt in Jamaica, wo McFarlane die traditionellen Rhythmen und Melodien jamaikanischer Riten und Tänze wie Bruckin oder Dinki Mini erforschte. Das Ergebnis ist nach der schon beim letzten Album "Arise" vorgenommenen Öffnung eine erneute Erweiterung ihres Stils, dieses Mal noch deutlicher als zuletzt: anstatt sich wie auf ihren vorangegangenen Werken und hinsichtlich der Instrumentierung in einem weitgehend traditionellen Jazz/Soul-Umfeld zu bewegen, richtet sie "Songs Of An Unknown Tongue" auf ein elektro-akustisches Konzept aus, das die Künstlerin in bislang noch nicht erschlossenes Gebiet bringt. In tief pumpendem Bass-Gestrüpp hängen Gesangsarrangements, die sich nicht zwischen Avantgarde und Tradition entscheiden können und wie Farbklekse auf eine Leinwand geworfen werden, mal unmittelbar und frei, mal bis ins letzte Detail durchkomponiert. Ihre Stimme hat eine ganze Menge zu leisten, denn wenn es hinter ihr minimalistich pluckert, schnarrt und raschelt, braucht es die Struktur ihres charaktervollen Gesangs, die den Laden zusammenhält - oder aber in voller Absicht nicht mal das, wie beispielsweise in "Run For Your Life" oder "Saltwater", zwei Tracks, die auch im ohnehin nicht kerzengeraden Albumkontext ziemlich weit draußen ihre Kreise ziehen. Im Gegensatz dazu stehen weite Teile der B-Seite, deren Songs versöhnlicher klingen und mit dem herausragenden "Roots Of Freedom" beinahe eine moderne, spirituelle Version eines alten Grace Jones-Klassikers anbietet - abzüglich dessen Hedonismus, versteht sich; damit hat McFarlane auf dieser sehr geerdeten und erdigen Produktion nichts an der Frisur.
"Songs Of An Unknown Tongue" erzählt vom Leben einer schwarzen Frau im urbanen London. Es zieht Linien zwischen Rassismus, Kolonialismus und der eigenen Identität, es feiert die Geschichte ihrer Vorfahren. Diese Musik vermittelt die Suche nach dem eigenen Ich und dessen Platz in dieser Gesellschaft mit Hilfe einer ebenfalls suchenden Musik - deren Grenzen eingerissen werden müssen, bis sie frei schwingen kann.
Kein Platz und keine Zeit für Zorn. Was wir brauchen ist ein aufrichtiger Blick in eine selbstbestimmte, selbstbewusste, freie Zukunft.
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Pressung: Was für Brownswood-Pressungen üblicherweise richtig ist, gilt auch hier: flach, keine Störgeräusche. Einfach gut. (+++++)
"I'm New Here" ist möglicherweise die wichtigste Platte des vergangenen Jahrzehnts. Mir wurde das in vollem Umfang erst in den letzten Tagen so richtig bewusst, als ich mich nochmal mit dem Werk beschäftigte, um die richtigen Worte für diesen Text zu finden (und im Anschluss des neuerlichen ersten Durchlaufs natürlich dann doch die kürzlich veröffentlichte Jubiläumsausgabe auf pinkem und grünem Vinyl bestellte - einfach, weil ich nie gesagt habe, ich sei nicht quadratverblödet).
Bis in den Februar des Jahres 2010 war mir der Name Gil Scott-Heron zwar durchaus geläufig, aber ich kann mich nicht daran erinnern, seine Musik jemals bewusst gehört zu haben. In den 1980er und in weiten Teilen der 1990er Jahre wäre ich für seinen Sound sowieso noch komplett juvenil-vernagelt gewesen, und die erste Hälfte der nuller Jahre waren hinsichtlich der musikalischen Ausrichtung noch zu sehr von den Irrungen und Wirrungen meiner Orientierungslosigkeit aus den späten neunziger Jahren geprägt, als ich mit den neuen Entwicklungen in der alten Komfortzone nicht mehr klar kam. Oder deutlicher: als Heavy Metal anfing, so richtig knalldoof zu werden. Erst mit der Entdeckung Coltranes in der zweiten Hälfte der 2000er Jahre wurde vieles wieder klarer. Und just, als ich knietief in Freejazz-Kakophonien von Clifford Thornton und William Parker stand und mich mit entsprechender Literatur immer tiefer in den Kaninchenbau hineinwühlte, holte Produzent und XL Recordings-Gründer Richard Russell den vom Leben gebeutelten Scott-Heron aus der Versenkung. Ich war bereit.
Russell hatte dieses Projekt schon lange geplant. Er kontaktierte Scott-Heron erstmals, als jener noch wegen Kokainbesitz auf Rikers Island einsaß und erzählte später, sie hätten schon in ihren ersten Briefwechseln auf einer Wellenlänge miteinander kommuniziert. Russells Begeisterung war offenbar ansteckend: der Godfather of Rap lehnte normalerweise die meisten Anfragen ab, für "I'm New Here" sagte er jedoch sofort zu - auch wenn er später davon sprach, das Album sei in erster Linie Russells Werk:
"This is Richard's CD. My only knowledge when I got to the studio was how he seemed to have wanted this for a long time. You're in a position to have somebody do something that they really want to do, and it was not something that would hurt me or damage me—why not? All the dreams you show up in are not your own."
Richard hatte von Beginn an eine Vision für "I'm New Here", die von Scott-Herons Debut "Small Talk at 125th and Lenox" beeinflusst war: minimalistisch, spartanisch, dürr. Auch die kurze Spieldauer von gerade mal 29 Minuten entspringt diesem Gedanken, denn auch, wenn die Sessions mehr aufgenommenes Material hergaben, sollte die Platte in einem hochkonzentrierten Durchgang alles sagen, was es zu sagen gibt. Das ist geglückt. "I'm New Here" ist ein tief grummelndes, nachdenkliches Stück Musik zwischen dystopisch pumpenden Beats und dunkel schimmerndem Blues, in dessen Kern Scott-Herons schlackernder Bariton-Sprechgesang das Leben reflektiert, Bilanz zieht. Und so hart er mit sich selbst ins Gericht geht, so weise sind seine Pointen.
Because I always feel like running
Not away, because there is no such place
Because if there was I would have found it by now
Because it's easier to run
Easier than staying and finding out you're the only one
Who didn't run
(aus "Running")
And I'm shedding plates like a snake
And it may be crazy, but I'm
The closest thing I have
To a voice of reason
(aus "I'm New Here")
Ich war von "I'm New Here" ab der ersten Sekunde fasziniert. Alles, was dieser Mann in diesen 29 Minuten sang und sprach klang wichtig. Fürs Leben. Fürs Anerkennen der eigenen Limitiertheit. Fürs Erforschen der Möglichkeiten - weil es hinterm Horizont eben weitergeht, dem eigenen zumal. Wusste schon Udo "Dichter Denker" Lindenberg. Und hinter meinem Horizont ging es tatsächlich weiter, denn "I'm New Here" war die Initialzündung für das Entdecken von Scott-Herons Musik. Die frühen Arbeiten aus den 1970er Jahren mit seinem kongenialen Mitstreiter Brian Jackson. Die drei Soloalben aus den Achtzigern, die bislang nicht neu aufgelegt wurden und kommerziell nie an die früheren Klassiker heranreichten. Das 1994er Album "Spirits", das seinen Ruf als "Godfather of Rap" nur weiter im Boden des zu jener Zeit in voller kommerzieller Blüte stehenden HipHops verwurzelte.
So wie Iron Maidens "Live After Death" mich zum Metal, "Nevermind" zum Alternative Rock, Bad Religions "Generator" zum Punk, bvdubs "The Art Of Dying Alone" zum Ambient und das SF Jazz Collective zum Jazz brachte, öffnete "I'm New Here" die Türen zum Soul und Funk. All diese Begegnungen mit Musik waren lebensverändernd, grenzenlos wichtig für das eigene Selbstverständnis, zur Selbstidentifikation. Ich sah die Welt jedes Mal mit anderen Augen, wenn sie mir von Steve Harris, Kurt Cobain, Greg Graffin, Brock van Wey, John Coltrane und Gil Scott Heron in neuem Licht gezeigt wurde.
Vielleicht ging es vielen Menschen mit "I'm New Here" ähnlich. Richard Russell sollte sein Ziel, Scott-Heron auch jungen Menschen näher zu bringen erreichen - was nicht zuletzt mit den aus den Sessions entstanden Remix- und Tributeplatten gelingen sollte, die Jamie XX mit "We're New Here" und kürzlich Schlagzeuger Makaya McCraven mit "We're New Again" produzierten.
I think, for whatever reason, I feel a bit of duty to introduce him to people because he was never that commercial, crossover figure. What Makaya [McCraven] did and what I asked Jamie [xx] to do earlier is all a part of that reintroducing. Historically, there’s a lot of great artists who get overlooked. It makes me happy that Gil is not one of them and that people are still discovering him.
Ich habe Gil Scott Heron wegen Richard Russell entdeckt. Der Einfluss auf mein Leben war und ist bis heute allgegenwärtig. Dankbarkeit.
"Unter strengen Maßstäben" (Schäuble) müsste hier eigentlich nur die Videoverlinkung zu Timberlakes Auftritt in der US-amerikanischen Talkshow "Ellen" zu sehen sein, ohne jeden weiteren Kommentar. Um nicht zu sagen: kommentarlos. Nicht nur, dass er das nicht gerade leicht zu singende "Mirrors" bis auf die letzte Nuance perfekt auf die Bühne bringt und der Song ohnehin einer der Höhepunkte auf dem ersten Teil seines "The 20/20 Experience"-Projekts ist - die Performance mit seiner Begleitband The Tennessee Kids ist so atemberaubend groß und mit positiven Power-Vibes geflutet, dass es mir einen Adrenalinschub nach dem anderen durch die müde Hülle meines irgendwie noch immer eher weltlichen Daseins peitscht. Noch dazu, und auch das muss gesagt werden, löst der smarte Timberlake einen leichten Man-Crush bei mir aus. Wie es ein ehemaliger Arbeitskollege einmal ausdrückte:"Flo, im nächsten Leben bin ich eine Frau und habe Fixgehalt." Count me the fuck in!
Auch über "Mirrors" hinaus ist Teil 1 der "20/20 Experience" immer noch von herausragender Qualität. Ich bleibe zwar bei meiner früheren und außerdem hier geäußerten Einschätzung, das Album komme mit dem ungewöhnlichen Eröffnungsdoppel "Pusher Love Girl" (alleine die Chuzpe, mit diesem achtminütigen Slomo-Feger zwischen klassischen Streicherarrangements, Ketamin-RnB und Future Beats den Startschuss zu geben) und der ersten Single "Suit & Tie" noch etwas schwer in die Gänge, aber dann Jeschäftsfreunde! Aaaaber dann!
Ab "Don't Hold The Wall" brechen alle Dämme. Timberland und Timbaland schütteln federleichte und gleichzeitig mit ordentlich Gravitas verzierte Sieben- bis Achtminüter aus dem Pophimmel, mit all den pompösen Albernheiten und funky Arschgewackel und auf die Knie zwingendes Pathos und Schmetterlinge im Bauch und Marriannengraben-Tiefe mit dreifach-doppelten Böden und gefühlsechtem Blümchensex und JALECKENSIEMICHDOCHAMARSCH: so geil war's seit "Thriller" oder "Lovesexy" nicht mehr. Alles am Ende gekrönt von der ungewöhnlich subtil arrangierten Megaballade "Blue Ocean Floor", die mit all dem unwürdigen Rest aus der Kotzekiste eines schmierigen Pop-Produzenten und dessen fürs ewig krähende Formatradio gezüchteten Gesangsdarstellern den fucking Boden aufwischt.
"The 20/20 Experience I" ist das beste, anspruchsvollste und ausgefeilteste Album Timberlakes. Und ich will jetzt kein peinliches Geflenne wegen N'Sync und Teenie und Dauerwelle hören.
Eine Bestenliste des letzten Jahrzehnts ohne diesen Meilenstein ist kaum vorstellbar. Auch auf die Gefahr hin, ein bisschen zu dick aufzutragen: "The Epic" hat die Welt verändert, praktisch aus dem Nichts. Und jeder, der es hörte, ahnte schon früh, dass die Ohren bitteschön zu spitzen seien.
Denn etwas Großes war im Gange, man möchte fast zum despektierlichen "Größenwahn" greifen: 180 Minuten Musik verteilt auf drei LPs beziehungsweise CDs, ein Orchester, ein Chor, überlange Songs, für deren Arrangements die Beschreibung "opulent" nichts weiter als ein abgeschmackter Euphemismus ist, ein ikonisches Coverartwork und eine inszenierte Sogwirkung, die in ihrer Begeisterung alles mitriss, was sich nicht in die hinterste Ecke des Jazzclubs zu den anderen Betonköpfen retten konnte, die seit 50 Jahren auf "Bitches Brew" herumquallen und dabei langsam zu Staub zerfallen.
"The Epic" wurde zum großen Vermittler und zur spirituellen Einigungsstelle und ja, "The Epic" hat die Welt zu einem besseren Ort gemacht. Das mag angesichts eines Irren, der nur 18 Monate später als herumstammelnde Hämorrhoide das Weiße Haus besetzen sollte, etwas schwer zu begreifen sein - aber wer diese Platte gehört hat, wird schon verstehen.
(Mehr Hintergrundinformationen gibt es in meinen alten Posts HIER und HIER)
Möglicherweise ist der Sound dieses Produzenten-Duos aus Neuseeland zu speziell und zu anspruchsvoll für den Mainstream - ich habe ansonsten keine Erklärung dafür, warum ganz besonders dieses Album so dermaßen unter jedem Radar blieb.
Seit ihrem im Untergrund gefeierten Debut aus dem Jahr 2010 mit prominenten Fürsprechern wie beispielsweise Gilles Peterson, warte ich eigentlich auf den ganz großen Durchbruch für Electric Wire Hustle - stattdessen ist es nach ihrem letzten Album "The 13th Sky" beunruhigend leise geworden. "Love Can Prevail" ist ein Geniestreich: die Mischung aus Soul, Broken Beats, Jazz und Electronica ist völlig einzigartig, Songs wie "Loveless", "Light Goes A Long Way" oder mein Favorit auf Lebenszeit "Blackwater" oszillieren zwischen visionärem Sounddesign und Pop-Appeal, und das Video zur Single "By & Bye" ist in der künstlerischen Eleganz in Verbindung mit einem rastlosem, nie so recht ankommen wollenden Arrangement das Beste, was in den letzten zehn Jahren zu Klang gedreht wurde.
Thinking Man's Urban Soul Party.
Erschienen auf Somethink Sounds, Okayplayer Records, 2014.
Urlaube waren dank unseres Haustierzoos rar in der letzten Dekade. Als es uns 2017 doch mal in die Ferne trieb, genauer gesagt zu einem Herbsturlaub an die stürmische Nordsee, machten wir zu später Stunde Gebrauch vom im Strandhaus befindlichen Kamin, öffneten eine Flasche Rotwein und versuchten, die sehr volatil arbeitende Heizung mit Decken und aneinandergekuschelten Körpern zu ignorieren. Es liest sich wie billigstes Klischee, aber der Chronist in mir verlangt nach Akkuratesse.
Jedenfalls: wir hörten Zara McFarlanes "If You Knew Her" bis in die frühen Morgenstunden und es wurde einer jener Momente, in denen aus einer sehr, sehr guten Platte eine wird, die man künftig nur selten auflegen mag, aus Angst, diesem magischen Moment etwas von seiner überwältigenden Romantik zu nehmen.
Der unten verlinkte Hit "Open Heart" darf als Blaupause für eine Platte gelten, die randvoll mit so subtil wie selbstbewusst inszeniertem Souljazz gepackt ist - urban und nokturn, zerbrechlich und mit einer nur selten gehörten Dringlichkeit.
Wenn der ganze Misthaufen um uns herum in nasagenwirmal: 20 Jahren wirklich noch steht, im Sinne von fröhlich vor sich hindampft wie Jockel Fischer in der Sauna oder in der Kantine von Siemens, 's eh schon alles scheißegal, dann wird es Menschen geben, die "No World" als vergessene Perle, als unterschätztes und unbekanntes Meisterwerk bezeichnen - darauf verwette ich ein Maxi-Eiweißshake "Straciatella" mit aufgeschäumten Büffelsperma.
Denn auch wenn das Bruder-Duo aus Kalifornien es irgendwie geschafft hat, sich in den Soundtrack des Videospiels Grand Theft Auto reinzuschummeln und die Gamer den Song "The Place" auf fast eine Million Views auf Youtube geschoben haben, ist ihr sedierter Slomo-R&B unter wirklich jedem Mainstream-Radar geblieben. Bon, die beiden sehr schüchtern wirkenden und sich fast schon schmerzhaft natürlich gebenden Jungs sind vielleicht auch nicht gerade der feuchte Traum eines Marketingprofis. Immerhin war "No World" für einen der etwas skurrileren Beiträge auf diesem Blog verantwortlich. Ich weiß nicht genau, was mich damals geritten hat und ich sage auch nicht, dass selbst ich alles davon verstanden habe, aber unterhaltsam ist's schon. Unterhaltsam oder verstörend - manchmal sind die Grenzen ja fließend.
Ihre Musik ist auch sieben Jahre nach der Veröffentlichung von "No World" immer noch einzigartig, stimmungsvoll und unwiderstehlich sexy. Eine Platte wie Kuschelsex auf einer Familienpackung Pilzen.
Urban wie ein Solo-Sonntagsbrunch im Hamburger Neustadt-Kiez mit frisch gedruckter Wochenzeitung, intellektuell wie ein tiefes, reflektiertes Gespräch mit einem guten Freund. Ein bisschen Philosophie über guten Kaffee und die sozialen Verwerfungen in den USA, eine Idee über Tanzen und Realitätsflucht, Jazz und Soul.
Unter der Conscious-Pudelmütze im Arbeitszimmer irgendwo in Brooklyn steckt ein Einzelgänger, ein mutiger, smarter, offener Geist, auf der Bühne steht und derwischt hingegen ein Teamplayer, der mit seiner Begleitband Good Compny jeden Laden in die Knie glühen kann. Ich durfte das Spektakel zwei Mal erleben, und vor allem das Konzert im leider eher unzulänglich besuchten Bett zu Frankfurt im November 2013 wird mir mit seinen positiv geladenen Power-Vibes zwischen klassischem Hip Hop, Soul, RnB und Jazz wohl auf ewig in Erinnerung bleiben. Sicherlich eines der besten Gigs, die ich im vergangenen Jahrzehnt gesehen habe.
Wer es mit eigenen Augen und Ohren erleben will, klickt das folgende Video vom Into The Great Wide Open Festivals aus dem Jahr 2015 an und hält schon mal den Sack für die Glücksgefühle weit auf):
"People Hear What They See" war möglicherweise Oddisees Durchbruch im Hip Hop Underground - und auch wenn die größeren Hits wie "That's Love" oder "Things" auf den späteren, und darüber hinaus ebenfalls brillianten Alben "The Iceberg" und "The Good Fight" erschienen, ist das 2012 erschienene Soloalbum des (ex-)DC-Mannes nicht nur wegen der umwerfend aussehenden Vinylpressung der Klassiker seiner bisherigen Diskografie. Und es ist für mich bis heute ein Rätsel, wie dieser ultradicke und alles niederpumpende Bass auf "People Hear What They See" die Nadel nicht dazu bringt, nach zwei Sekunden aus der Rille zu flumpfen.
Manchmal hat selbst Herr Blödkommatrübetassenull einen ganz guten Riecher: diesen Mashup aus Fela Kuti-Samples und De La Soul-Raps gab es 2012 lediglich als Download über Amerigo Gazaways Bandcamp-Seite, und als wenig später die Erstpressung des Bootlegs bei meinem Lieblingsmailorder auf die Verkaufsliste gesetzt wurde, in schwarzer Blankohülle, ohne Coverartwork oder gar aufgeklebten Titel, konnte ich unmöglich widerstehen.
Mittlerweile hat "Fela Soul" einen derartigen Kultstatus im Untergrund erreicht, dass es regelmäßigen Nachschub mit einer nun hübsch aufgemachten, wenngleich angeblich immer noch mindestens halblegalen Vinylversion (und einer zusätzlichen Tape-Edition!) gibt, die sich auch immer noch hervorragend verkauft. Und das mit Recht, denn jede Jubelarie, die sich jeder coole Hipster über diese 33 Minuten ans dürre H&M-Hütchen steckt, ist wahr. "Fela Soul" ist aus meinem Leben nicht mehr wegzudenken und ist eine jener Platten, die ich immer (IMMER!) in greifbarer Nähe habe - und das in jedem vorstellbaren und passenden Format.
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BONUS TRACKS
Dass Amerigo nach diesem Meisterwerk noch weitere Mashups veröffentlichte, ist Lesern dieses Blogs natürlich geläufig. Zwei Alben davon sind absolutes Pflichtprogramm, und daran geht auch einfach kein Weg vorbei. Sorry, not sorry.
Erstens: A Tribe Called Quest & The Pharcyde - Bizarre Tribe
Zweitens: Yasiin Bey & Marvin Gaye - Yasiin Gaye
Ich verfahre wie immer mit der "Linke Reihe anstellen, jeder nur ein Kreuz"-Regel, daher ist nur Fela Soul in diese Liste gerutscht. Die beiden zusätzlich genannten sind, Achtung, ich sag's nochmal: absolutes Pflichtprogramm.
Wenn's mir eh keiner glaubt, kann mir ja eigentlich ab sofort alles egal sein: nach der ersten Minute von "Black Sands" wusste ich, wie außergewöhnlich die Patte, diese Musik ist. Ich war sofort an Plattenspieler und Lautsprecher gefesselt und schrie(b) Freund Jens umgehend auf allen erdenklichen Kanälen an: "ALTER! BONOBO! BLACK SANDS! MUSST DU HABEN!" - dabei wusste ich vor zehn Jahren schon nicht, was dieses gewisse Etwas ist, das dieses Album so besonders macht. Die umwerfende Stimme von Andreya Triana? Die klassischen Arrangements in Verbindung mit experimentellen Dubstep-Beats und jazzy TripHop-Vibes? Dass es verspielter und eindringlicher ist als die großen Momente der Thievery Corporation, dabei aber mindestens genauso lässig und unprätentiös?
Hinter jedem Ton auf dieser Platte leuchtet auch zehn Jahre später ein Regenbogen aus purem Gold - und der damit ausgelöste Durchbruch war so folgerichtig wie verdient. Dass Bonobo aka Simon Green trotz des mit den beiden folgenden Alben "The North Borders" und "Migration" nebst triumphaler Tourneen sogar weiter ausgebauten Erfolgs an diesen zeitlosen Klassiker seitdem nicht mehr anknüpfen konnte, ist aber mindestens genauso wahr.
Vielleicht das inspirierteste Elektronik-Gefuddel der letzten 10 Jahre. Der Vorgänger "Los Angeles" bedeutete den Durchbruch, "Cosmogramma" holte dann zum großen Schlag gegen jede Form der Apathie und Geistlosigkeit aus: hyperaktives Sci-Fi-Gedaddel aus den grasvernebelten Universen zwischen Sun-Ra-Saturn und Krautrock-Rauhfaser, das Wurzelchakra im purpurnem Astralstaub gebadet, der Stammbaum geht rauf bis zum Merkur. Weil eben alles EINS ist, Stupid!
Die Besessenheit, über Sounds und deren Anstriche so lange zu grübeln, bis auch der siebzehntausendste Schlag auf die Snare richtig sitzt, ist das Eine - aus dieser Lawine an Ideen, Reflexen und Entscheidungen den spirituellen Überbau aus kosmischer Wahrheit und Liebe zu channeln, das Andere.
DURAND JONES & THE INDICATIONS - AMERICAN LOVE CALL
Das selbstbetitelte Debut von Durand Jones & The Indications aus dem Jahr 2016 war bereits ein echter Hinhörer, für den die Musikpresse die große Schublade mit den Superlativen öffnete: das authentischste, oldschooligste, tiefgründigste Soulalbum seit Jahrzehnten sei geboren, der Heiland ist gekommen, usw. usf. - vielleicht hatte man aber auch einfach nur schon wieder das Debut von Charles Bradley vergessen. Natürlich hat es einen Grund, warum ich den 2017 verstorbenen Screaming Eagle Of Soul in diesem Zusammenhang erwähne, denn "American Love Call" ist tatsächlich die beste Soulplatte seit "No Time For Dreaming".
Zweifellos war das Debut des Quartetts aus Indiana eine gute Platte, aber pardon: das hier ist next level shit. Die Band hatte im Gegensatz zum etwas gehudelt aufgenommenen Erstling für "American Love Call" mehr Zeit und Geld, um die Songideen detaillierter und sorgfältiger auszuarbeiten, und es lässt sich zu jeder Sekunde hören. Die vorab ausgekoppelte Single "Morning In America" ist in meinem Buch längst ein echter Klassiker, der mir immer und immer wieder einen Schauer über den Rücken jagt - aber auch die übrigens Songs stehen dem kaum nach: Hits, Hits, Hits. Deep, romantisch, wahnsinnig gut produziert und mit einem schlicht umwerfenden Schlagzeugsound ausgestattet ("Listen To Your Heart"!!!!11elf!), virtuos und zugleich lässig gespielt. Dazu ein zeitlos-elegantes Songwriting, das der Vergangenheit freundlich-anerkennend zunickt, aber gleichzeitig frisch und modern klingt.
Es folgt ein Deppensatz, aber da "müssen" (Steinmeier) wir jetzt gemeinsam durch: Muss man gehört haben.
Erschienen auf Dead Oceans/Colemine Records, 2019.
Die gute Nachricht zuerst: "Flamagra" ist wieder deutlich inspirierter ausgefallen als der Vorgänger "You're Dead", das bis heute einzige FlyLo-Album, das den bitteren Gang zum Second Hand-Dealer antreten musste. Dennoch war auch das sechste Studioalbum zunächst ein Wackelkandidat für die Top 20. Vermutlich ist es meine Erwartungshaltung, die mir (und ihm) immer wieder einen Strich durch die Rechnung machen will, vielleicht macht man ein Album wie "Cosmogramma" aber auch wirklich nur einmal im Leben. Denn auch wenn die Musikredaktionsstuben zwischen zwei Mariacron aus dem Rollcontainer immer noch derart vehement die seit vielen Jahren bekannten zentralen Aspekte des Sounds von Flying Lotus betonen, erkenne ich zumindest stilistisch nichts bahnbrechend Neues auf "Flamagra" - natürlich ist die Detaildichte seines Sounds immer noch hoch, natürlich sind das immer noch die bizarren, übergroß auf die Kinoleinwand projizierten Science Fiction-Drehbücher und natürlich lassen sich selbst in den etwas zurückgenommeneren Momenten noch mehr eingebaute Bells & Whistles in diesem wahnsinnig kuratierten Gedankenfluss finden, als bei jedem anderen Remmidemmi-Produzenten. Was Flying Lotus für mich indes so einzigartig macht, sind seine Interpretationen von Jazz und Hip Hop und deren Verschmelzung in postmoderne Lebensrealitäten.
Jede der rund 6420 Sekunden von "Flamagra" scheint für einen klitzekleinen Moment ein Bewusstsein darüber zu haben, woher sie kommt und wohin sie geht Und jede einzelne erzählt in atemberaubender Geschwindigkeit Mikro-Poesie vom Anfang und vom Ende ihrer Welt - und aus diesem virtuellen Netz von Gedanken, Ideen, Hoffnungen und Enttäuschungen speist sich der ganze gottverdammte Scheißkosmos. Blingbling.
Der sehr geschätzte und vor allem loyale Leser dieses Blogs weiß es: ich habe einen Narren an dieser Band gefressen. Seit ihrem "Cali Fever" Album aus dem Jahr 2010 verfolge ich die Wege des Funk-Kollektivs und belästige es auf allen verfügbaren Kanälen des Internets (bislang erfolglos) mit der unterwürfigen Bettelei, doch bitte endlich eine Tour durch Deutschland zu buchen. Stattdessen nehmen sie regelmäßig neue Platten auf, die in erster Linie als Standortbestimmung zu dienen scheinen, als Skizze des derzeitigen Entwicklungsstands. Seit einiger Zeit marschiert die Combo aus den noch etwas räudigen San Francisco-Funkbecken in den etwas smootheren Bereich der Bar, in dem die Sessel mit rotem Samt bezogen sind. Vielleicht steht man mittlerweile mit einem Bein sogar in den 1980er Jahren - und das nicht nur wegen der Extraportion Weichzeichner-Aura des Coverartworks: Was die Entwicklung für den Vorgänger "Beyond The Sun" bereits andeutete, zieht bei "Reasons" nun noch etwas weiter in Richtung Disco und California Rock durch. Und während ich noch die Stirn in Falten lege, ob das möglicherweise dieses Mal nicht vielleicht doch ein bisschen zu viel des Guten ist, überfällt mich der unwiderstehliche Groove dieser Götterband schon im Opener "All Good Things" wie eine amoklaufende Adrenalinspritze auf der Tanzfläche. Alles gekrönt von der immer noch atemberaubend singenden Queen Adryon de Leon, die die kalifornische Sonne in ihren Stimmbändern eingebrannt hat.
Süchtig machende Energie im Zeichen der Discokugel.
England brodelt. Nicht nur politisch, aber auch ganz besonders kulturell. Sicher, die seit Jahren florierende Jazzszene, und hier besonders das Epizentrum in London, ist mittlerweile kein Geheimnis mehr; sie wird auch außerhalb der Landesgrenzen wahrgenommen und gerechterweise gefeiert. Das Ishmael Ensemble um den aus Bristol stammenden Produzenten Pete Cunningham scheint sich jedoch noch etwas unter dem Radar der bekannteren Namen Shabaka Hutchings, Nyubya Garcia oder Alfa Mist aufzuhalten: das Debut "A State Of Flow" heimste zwar fleißig Lorbeeren von den üblichen Verdächtigen wie Gilles Peterson ein, läuft aber immer noch als Geheimtipp durch's 2019er Musik-Dickicht. Umso mehr freue ich mich darüber, diese Platte gefunden zu haben - so zahlt sich die jeden Monat wiederholende und stundenlange Suche nach neuer Musik aus.
"A State Of Flow" ist eine Fusion aus Bonobo'scher Leichtfüßigkeit, der Tiefe des Cinematic Orchestras, Kieran Hebdens Progressivität und den Emotionen des Submotion Orchestras: Jazz, Electronica, Soul und Ambient in bester Tradition des Bristol-Sounds. Vielleicht im Detail noch ein bisschen rough around the edges, aber mir kommt die zwischenzeitliche Störung von allzuviel glattpoliertem Mainstream gerade sehr gelegen. Könnte den Status eines unentdeckten Kultalbums erreichen, wenn Social Media endlich tot ist. Und wenn es wieder möglich ist, "Kult" zu sagen, ohne hinterher vom Knorr-Papi verprügelt zu werden.
Auch Mitte des Jahres 2019 bin ich immer noch mit Aufräumarbeiten aus dem vorangegangenen Jahr beschäftigt, und ein Blick auf die DIE_LISTE beweist, dass immer noch viel zu viel ungesagt, manchmal so gar: ungehört ist. Ich kann ein halbes Jahr später auch wirklich nicht mehr sagen, warum es "Good Day" nicht in die Top 20 schaffte, zumal sogar die Herzallerliebste rare Momente voller Begeisterung zeigte und wiederholtes Abspielen einforderte. Es ist indes fast niemals zu spät, doch nochmal die schwach bloggende Hand zu heben und mit Nachdruck darauf hinzuweisen, dass "Good Day" eines der besten Alben 2018 ist.
Auf den ersten Blick erscheint die Frohlockung ungewöhnlich, weil der Typus des generischen Hipster-Sangesbarden nur selten Einzug in meine Hall Of Fame findet - Musiker wie der Norweger Thomas Dybdahl sind eher die Regel bestätigenden Ausnahmen. Tatsächlich würden wir alle ohne den mit einiger Vehemenz vorgetragenen Hinweis von Freund Jens ("Einfach kaufen, Bongo!") hier und heute nicht sitzen, stehen, laufen und irrlichternd über "Good Day" schreiben und lesen können, allerdings verließen mich meine sämtlichen über die Jahre aufgebauten Vorbehalte gegenüber der erwarteten Schunkelstunde alleine beim Anblick des wunderbar stilvollen und sogar optimistischen Cover Artworks - und das schneller als das Warenkörbchen "Vielen Dank für Ihre Bestellung, Herr Bongo!" ausspucken konnte.
Jeremiah sagt, er sei für "Good Day" vor allem von europäischen Pop der 1960er und 1970er Jahre beeinflusst worden, von Serge Gainsbourg und Jaques Brel. Aufgenommen im Analogstudio des The Kinks-Sängers Ray Davies, klingt die Platte aufgeraut und warm, irgendwo zwischen dem natürlichen Rauschen des Fahrtwinds auf dem Weg in den Sommerurlaub (Villa Elso, Riccione, 1983) und dem in der Ferne simmernden Glanz des Sonnenuntergangs am Meer. Ich kann Jeremiahs Musik eine gewisse europäische Eleganz nicht absprechen; eine Eleganz, die im Vergleich zu den oftmals eher zahmen Vertretern auf der anderen Seite des großen Teichs eindringlicher erscheint. Trotzdem erinnert mich "Good Day" vor allem ob seiner Streicherarrangements an den Kalifornier Jim Sullivan und dessen "U.F.O." Album aus dem Jahr 1969: Sullivan ist natürlich ein Gefangener seiner Zeit, trägt das Hippie-Stirnband nicht nur am, sondern auch vor allem im Kopf und hat diese typische Westküsten-Lässigkeit in seinem Sound. Jeremiah schafft es indes, jenen Vibe im regnerischen London des Jahres 2018 zu spiegeln und ihn ohne Patina und lästigem Imitationsdrang mit dem Geist eines aufgeräumten John Martyn zu verbinden.
"Good Day" ist trotz seines klaren Hangs zur Ästhetik der späten sechziger und frühen siebziger Jahre ein modern klingendes und zu gleichen Teilen optimistisches sowie melancholisches Album. Funktioniert sicher auch im Spätsommer 2019. Einfach kaufen, Bongo!
Der weniger reflektierte "Flohihaan" (Jens W.) empfände diesen Moment wohl als einigermaßen angemessen, um mit tosender Vehemenz auf den eigenen Verzicht und die dafür benötigte Stärke und Disziplin zu verweisen, die aufzubringen sind, um die immer häufiger anzutreffenden LP-Preise von 40 Euro plux X mit einem Handstreich von sämtlichen virtuellen Einkaufslisten, Warenkörben und Merkzetteln zu entfernen, oder den darbenden Besitzer eines Tonträgerfachhandels mit einem stummen Kopfschütteln die kalte Schulter zu zeigen, weil man ja dank Evolution, weißem Glibber im Bregen und Sonnenblumen in der ehemals existenten Schambehaarung noch immerhin nicht derart abgestumpft ist und also das Niveau eines resignierten Zynikers erreicht hat, um dem Sammlerdrang einerseits und - in Anerkennung des durch Lohnarbeit zwar halbierten Lebensglücks, aber dafür verdoppeltem Kontostands - der puren Gelegenheit, vulgo: Disziplinlosigkeit andererseits nicht die Oberhand gewinnen zu lassen, und sie stattdessen als Symptome der eigenen inneren Leere und emotionalen Taubheit anzuerkennen, deren Decouvrierung zwar bisweilen schmerzhaft und enttäuschend ist, aber selbst mit nur einem Hauch innerer Festigkeit und dem moralisch wünschenswerten aber orthopädisch katastrophalen aufrechten Gang in Schach gehalten werden kann.
Der aufklärerische "Floooriii" (Mama) hingegen, der zunächst sich selbst im Zentrum und also Wurzel allen Übels dieser Welt einordnet, weil Bequemlichkeit vom äußeren Ich ins innere Selbst wie Hundekacke am grobstolligen Gummistiefel ins Kaminzimmer hereingetragen wird und sich bei vollem Bewusstsein, wir sind ja immerhin nicht im Wachkoma, durch Nervenbahnen, Ganglien, Energieleitungen wie ein tödliches Geschwür in alle lebens- und fühlensnotwendige Bereiche hinein marodiert, und der sich nicht zuletzt deswegen beinahe so primagut entscheiden kann wie die deutsche Sozialdemokratie, ob sie Schröders Cohiba-Qualm lieber mit dem Arsch inhalieren oder den abgehängten Opfern ihrer Politik gleich lässig ins Gesicht blasen will, muss zerknirscht eingestehen, dass der Betäubungskonsum längst die eigenen auf immer ungezeugten Kinder aufgefressen hat. Angesichts der alleine im vergangenen Jahr heim ins Reich geholten Schallplatten "The Fragile" (55 Euro), "Splendor Solis" (45 Euro) und "Heaven And Earth" (50 Euro) ist der Zeiger für meine Disziplinsperformance schon seit langer Zeit auf dem Status "Bigotter Laberpimmel" eingerastet und -rostet. Auch "The Optimist" des US-amerikanischen Posaunisten Ryan Porter kostete mich im, natürlich: teuersten Plattenladen Kölns glatte 40 Taler, und weil ich absurde Ausflüchte so gerne leiden mag wie einen schönen Einlauf mit "bestem Olivenöl" (Alfred Biolek), wische ich die Schande einfach mit dem Verweis auf meinen an jenem Tag sich zum 41.Male jährenden Geburtstags von der Streckbank:"Ich habe heute Geburtstag, hier ist meine Kreditkarte, Sie Ficker!"
Immerhin handelt es sich bei "The Optimist" um ein 3-LP Set mit gleichfalls dreifach aufklappbaren Cover und übergroßen, schicken Fotos des Protagonisten. Und na klar: der oben erwähnte Nachfolger von "The Epic", Kamasi Washingtons leicht größenwahnsinniges "Heaven And Earth" hat sogar ganze 5 LPs. Da tänzelt man schon ein bisschen ungelenk auf dem Grat entlang, der "Ist halt so, suck it up!" und "Mache mir die Welt widdewiddewie sie mir gefällt." trennt. Und wo das gesagt ist - Achtung, Spoileralert: "Heaven And Earth" hat es nicht in meine diesjährige Top 20 geschafft. Ich versuche, die Trennschärfe zwischen der Distinktion der Ablehnung des wichtigen und mit "Spannung erwarteten" (Peter Illmann) Nachfolgers eines "modernen Klassikers" (Max Dax) und der durch die bizarre Erwartungshaltung, Washingtons neues Mammutwerk würde mich ähnlich auf Links drehen wie der Vorgänger, geformten klitzekleinen Enttäuschung sauber abzubilden. Für gewöhnlich finde ich Hypes für jene Musik, die ich schätze, eher begrüßenswert als störend - bei blanker und unerträglicher Granatenscheiße hingegen ist das ubiquitäre Tamtam Grund genug, sich zu wünschen, die Menschheit solle bitte sofort, umgehend, total und komplett elendig verrecken; und wenn es einen Unterschied zum Besseren mächte, würfe ich mich gar, frei nach Greg Graffin, als erster ins offene Messer. Daher ist weniger der Drang zur Abgrenzung im Falle von "Heaven And Earth" ein Thema, sondern eher der natürlicherweise ausbleibende Überraschungseffekt des alles überstrahlenden Vorgängers, sowie der im direkten Vergleich nochmals hochgefahrene Bombast sowie der seltsam weichgezeichnete Klang die Gründe für die sich weniger euphorisch darstellende Reaktion. Immer noch durchdrehende Jazzpuristen, die doch so gerne in ihrem elitären Streichelzoo unter sich bleiben würden, sind hingegen für mich natürlich immer noch der beste Grund, den Saxofon-Koloss bei jeder sich bietenden Gelegenheit in den güldensten Himmel zu loben.
Dass der logische "Doooorian" (Frank B.) sich in etwas, das mal als Rezension zu "The Optimist" gedacht war und sich aber in der Absenz von allem was "heilig, recht und gut" (Ratzinger) ist, seit mindestens achteinhalb Minuten puren Leseglücks durch stilistisch wenigstens fragwürdige Bandwurmsätze zeilenweise über Kamasi Washington auslässt, hat indes Gründe: ich glaube, "The Optimist" hätte die Rolle spielen können, die "The Epic" vor vier Jahren einnahm. Und selbst das hat ebenfalls Gründe: Hier spielt das West Coast Get Down Kollektiv, das später durch die Führung Washingtons und die Beteiligung an den Blockbusters von Kendrick Lamar weltweite Aufmerksamkeit erhalten sollte. Die Jazztruppe aus Jazz, Hip Hop und Funkmusikern traf sich gegen Ende der Nuller Jahre regelmäßig in Kamasis "The Shack" genannten Proberaum, einer kreativen Keimzelle des neuen US-Westküstenjazz, und nahm die Arrangements Porters in verschiedenen und über zwei Jahre verteilt stattfindenen Sessions auf. Das Probe- und spätere Aufnahmestudio war dabei nicht nur für die Anzahl der teilnehmenden Musiker signifikant unterdimensioniert, sondern liegt bizarrerweise auch noch unter der Landebahn eines Flughafens, was bedeutete, dass die Fenster und Türen geschlossen werden mussten, wenn die Mikrofone offen waren. Porter wird in den Liner Notes mit "The heat was unbearable" zitiert und verweist außerdem darauf, dass jeder Musiker mit totaler Konzentration und Angst in den Knochen spielen musste, um jeden potentiellen Spielfehler zu vermeiden und alsbald wieder Luft in den mit acht Menschen heillos überfüllten Raum zu bekommen. Unter diesen Umständen entstand mit "The Optimist" ein rohes Album, das in Bezug auf die reine Klangqualität sicherlich hier und da Verbesserungspotential offenbart, dafür aber mit etwas Mut zum verbotenen Wort, durch und durch authentisch klingt: funkiger, treibender Fusionjazz mit pulsierenden Grooves, ungeschliffener Kraft und lebendiger Virtuosität, ohne doppelten Boden, ohne unerfüllte Versprechungen und ohne Allüren.
So ist "The Optimist" nicht nur ein fantastisches Stück Musik, es dokumentiert auch den Entwicklungsprozess des West Coast Get Down Kollektivs auf dem Weg zu "The Epic". Ähnlich meiner Faszination für alte Schallplatten und ihrer Geschichten, ihrer Besitzer, ihrer Hersteller (das älteste Exemplar meiner Sammlung, eine LP des Jazzpianisten Thelonious Monk, stammt aus dem Jahr 1955 und befand sich u.a. lange Jahre im Besitz einer nach New York ausgewanderten Stuttgarterin), die sich letzten Endes aus der Liebe für Hingabe, Leidenschaft und Kreativität speist, dient auch "The Optimist" als Geschichtenerzähler, als Zeitmaschine in eine Zeit der Unschuld und Naivität. Man hört den heute weltbekannten Kamasi Washington und seine bereits wuchernde Spiritualität, Miles Mosley's brodelndes Bassspiel (Solo-Plattentipp: "Uprising") und den allerorst gefeierten Pianisten Cameron Graves vor ihrer großen Zeit, unter Sauerstoffmangel eingesperrt in ein kleines unbelüftetes Loch in San Francisco - und wie sie alles in die Waagschale werfen, was sie bis in die hinterletzte Zelle ihres Körpers und Geistes finden konnten.
Ich glaube ja alleine schon wegen meiner eigenen Erfahrungen nicht an Sozialkompromisse wie "Geschmäcker", auf die man sich konfliktlos einigen kann und die so gerne mit schlichter Sozialisation verwechselt werden, weil's eben immer nur in Richtung des Offensichtlichen zu gehen hat und jedes Graben nach Ursachen schon wieder kultureller Linksfaschismus ist. "Jazz ist anstrengend", "Jazz ist prätentiös", "Jazz ist mir zu hoch", "Jazz ist einfach nicht mein Ding" - Ich schlage vor, dass die Schubladen heute mal geschlossen bleiben. Aber es wäre wirklich mal an der Zeit, stattdessen das Herz zu öffnen.
Pressung: +++ (Platten waren zwar trotz Originalverpackung verschmutzt, ließen sich aber mit einer OkkiNokki-Wäsche auf Hochglanz polieren. Alle drei Platten liegen flach auf dem Teller, keine Non-Fills, sehr selten kleinere Unannehmlichkeiten. Das Gefühl einer nicht ganz optimalen Pressqualität existiert, aber es gibt eigentlich keinen nachvollziehbaren Grund dafür)
Ausstattung: +++ (Ungefütterte und -bedruckte Standard-Inlays, dafür aber ein schönes Artwork, dreifach aufklappbares Gatefold, ästehetische Fotos, Linernotes, insgesamt stimmiges Design. Pappe etwas dünn. Wirkt alles etwas Low-Key, ist dafür aber vermutlich so ehrlich, wie es nur sein kann)
Erschienen auf World Galaxy Records/Alpha Pup Records, 2018.
Es ist einigermaßen skandalös, dass "Kites" nicht zum endgültigen Durchbruch für dieses britische Kollektiv geführt hat. Auch nach ihrem heute als Klassiker bezeichneten Album "Finest Hour" von 2011, erschien mir die siebenköpfige Band immer etwas unterbewertet und selbst unter dem Radar der eigentlichen Zielgruppe umherirrend. Die Zielgruppe, die ist dabei Legion: alles, was sich in den letzten zehn Jahren zwischen dem eher gemäßigten Bereich des englischen Spezialistenlabels Ninja Tune, Bonobo, dem Cinematic Orchestra und Matthew Halsall's Gondwana Label hin- und herflippern ließ, muss bei "Kites" sogar sehr uneigentlich heiße Tränen der Freude und Liebe weinen - und das sind ja nun deutlich mehr als zwei Handvoll verwirrter Einzelkämpfer. "Kites" ist schwer, tief, melancholisch, ernst - und manchmal auch hörbar schmerzhaft:
"In the two years since ‘Colour Theory’ there have been a number of significant events for us all including new life and family death. We wanted to use these events as creative inspiration so we bought a disposable camera each and took photos based around these events, or the themes that they represented. Once developed, we selected 10 photos to be used as the inspiration for the 10 tracks on the album. Each track explores a different emotion, theme or event. All are honest, relevant and often hugely personal." (Tommy Evans)
"Jahaaa, dann ist's ja kein Wunder, dass die Leute hier nicht hinhören! Ernst, Melancholie, Schwermut, Introspektion - das will doch niemand hören! Die Leute wollen Parteueueueueu! Guck's Dir an: Trump ist Präsident. Klotzehohl, aber die Leute haben Spaß - selbst wenn sie ihn hassen." (Logger P. Eder, knapp zweistelliger IQ, mag Heringssalat aus der Dose)
Die Wahrheit indes lautet: "Kites" inspiriert. Macht den Blick weit, die Gedanken frei. Ist schwärmerisch, voller Wärme und Liebe. Bringt Dich durch die Kälte.
Ein Breitbandemotikum™.
Eine meiner meistgehörten Platten des Jahres.
Pressung: + (Furchtbar, wird dieser wunderbaren Platte nicht gerecht: durchgehende non-fills und Pops, kein sonderlich großes Vergnügen)
Ausstattung: + (Einzel-LP ohne Bilder, Texte, Liners. Keine gefütterten Inlays. Super low-budget, dafür aber relativ günstig zu haben - und mit "relativ" meine ich "Wäre vor 10 Jahren teuer gewesen.")